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Roman Paket 10 Mitternachtsthriller um Liebe und Geheimnis von Alfred Bekker & Ann Murdoch & Carol East (899) Dramatische Romantic Thriller in einem Band: Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Darum geht in diesen packenden romantischen Spannungsromanen. Dieses Buch enthält folgende Romane: Carol East: Die Braut des Geisterpiraten Alfred Bekker: Die Gruft des bleichen Lords Ann Murdoch: Briefe aus dem Totenreich Ann Murdoch: Geheime Wege ins Verderben Alfred Bekker: Das Geheimnis des Tempels Carol East: Sie tanzte für das Böse Carol East: Ein Schlossgespenst zum Verlieben Ann Murdoch: Steinerne Rache Alfred Bekker: Das Phantom von Tanger Ann Murdoch: Alptraum aus der Gruft
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Roman Paket 10 Mitternachtsthriller um Liebe und Geheimnis
Alfred Bekker et al.
Published by Alfred Bekker präsentiert, 2021.
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Roman Paket 10 Mitternachtsthriller um Liebe und Geheimnis
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Die Braut des Geisterpiraten
Die Gruft des bleichen Lords
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Briefe aus dem Totenreich
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Geheime Wege ins Verderben
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Das Geheimnis des Tempels
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Verliebt in ein Gespenst: 5 Romantic Thriller
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Sie tanzte für das Böse
Ein Schlossgespenst zum Verlieben
Steinerne Rache
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Das Phantom von Tanger
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Alptraum aus der Gruft
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Further Reading: 10 Ferien Thriller: Krimi-Lesefutter für lange Nächte
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About the Author
About the Publisher
von Alfred Bekker & Ann Murdoch & Carol East
––––––––
Dramatische Romantic Thriller in einem Band: Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Darum geht in diesen packenden romantischen Spannungsromanen.
Dieses Buch enthält folgende Romane:
Carol East: Die Braut des Geisterpiraten
Alfred Bekker: Die Gruft des bleichen Lords
Ann Murdoch: Briefe aus dem Totenreich
Ann Murdoch: Geheime Wege ins Verderben
Alfred Bekker: Das Geheimnis des Tempels
Carol East: Sie tanzte für das Böse
Carol East: Ein Schlossgespenst zum Verlieben
Ann Murdoch: Steinerne Rache
Alfred Bekker: Das Phantom von Tanger
Ann Murdoch: Alptraum aus der Gruft
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
von Carol East
Es herrschte Windstille auf dem offenen Meer, und dennoch fegten Nebelfetzen vorbei, wie von unsichtbaren Verfolgern gejagt.
Sara Perres beobachtete sie verwirrt. Sie schüttelte ihr üppiges Blondhaar zurück, weil eine Strähne drohte, ihr ein wenig die Sicht zu nehmen, und blies die Wangen auf. Das sah ja gerade so aus, als würde es nicht mit rechten Dingen zugehen: Was trieb die Nebelfetzen eigentlich an? Und es wurden immer mehr. Dabei wuchsen sie heran, quirlten in sich, als hätten sie ein gespenstisches Eigenleben, veränderten ständig ihre Form.
Sara schaute nach rechts, von wo sie kamen, diese Nebelfetzen, die beinahe zu so etwas wie Nebelkreaturen geworden waren. Aber sie konnte zunächst nichts Bedeutsames erkennen. Irgendwo in der Ferne schien ihr Ursprung zu sein. So jedenfalls ihr erster Eindruck. Aber als sie länger in diese Richtung schaute, erkannte sie einen regelrechten Nebelberg, der allmählich aus dem Meer heranwuchs.
Auf einmal stockte ihr der Atem. Sie begann endlich zu begreifen: Nein, nicht die Nebelgebilde bewegten sich, sondern in Wahrheit... das Schiff, auf dem sie stand.
Ganz vorn befand sie sich, seitlich versetzt, so daß rechterhand von ihr die Spitze des Schiffes sich befand. Sagte man nicht Bug dazu? Und sagte man nicht Steuerbord anstatt rechts? Oder war das umgekehrt und war Steuerbord im Gegenteil links und jetzt müßte sie Backbord sagen?
Sara hatte keine Ahnung von der sogenannten christlichen Seefahrt. Dennoch wunderte sie sich vorerst keine Sekunde lang darüber, daß sie sich an Bord eines Schiffes befand, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie überhaupt hierhergelangen konnte. Sara hatte nur Augen für die Nebelgebilde und dann vor allem für ihren Ursprung.
Um erneut die Feststellung zu machen: Nein, nicht die Nebelgebilde bewegten sich, sondern eben... ihr Schiff. Es pflügte mit recht hoher Geschwindigkeit durch die beinahe brettebene See, die aufgrund der Windstille nur von eher unscheinbarem Wellengang geprägt war. Auch wuchs der Nebelberg nicht aus dem Meer hervor, wie zunächst angenommen, sondern er kam einfach nur näher, weshalb dieser Eindruck entstand. Und wenn nicht endlich mal jemand auf die Idee kam, das Schiff zu verlangsamen, stießen sie mitten hinein, ohne zu wissen, was sie innerhalb des Nebelberges erwartete. Eine Katastrophe könnte das für sie bedeuten.
Aufgeregt schaute sie nach links, um sich zu orientieren. Das war eine ziemlich große Segelyacht. Ihr Blick fiel auf das Steuerrad, zu dem man ihres Wissens nach Ruder sagte. Dort hätte jetzt jemand stehen müssen, um die Yacht zu lenken, aber der Platz am Ruder war leer.
Ihr Blick wanderte weiter hinauf. Sämtliche Segel fehlten. Die Masten und vielen Seile, die für Sara in einer geradezu verwirrenden Art und Weise angeordnet waren, ragten kahl in die Höhe. Segel hätten bei dieser Windstille ja auch gar nichts genutzt. Aber wenn das Schiff einen starken Motor hatte, der es auf eine solche Geschwindigkeit bringen konnte, hätte Sara ihn doch jetzt hören müssen, nicht wahr? Aber sie hörte überhaupt nichts, noch nicht einmal den Fahrtwind. Genauso wenig spürte sie ihn.
Sara wurde es ganz klamm um das Herz. Dieses unangenehme Gefühl breitete sich aus und nistete sich so stark in der Bauchgegend ein, dass ihr prompt übel wurde. Was, um alles in der Welt, ging hier vor? War sie denn allein auf dieser Yacht irgendwo auf hoher See? Und was war das für seltsamer Nebel?
"Hallo, ist da wer?" wollte sie rufen. Ja, wollte, denn kein Laut drang über ihre Lippen. Alles blieb so stumm, als habe sie ihr Gehör verloren.
Sie erschrak: Ja, das war eine Möglichkeit: Sie hörte deshalb nichts, weil ihre Ohren... Doch eines sprach dem entgegen: Sie konnte ja auch keinen Fahrtwind spüren, obwohl bei dieser Geschwindigkeit ein solcher obligatorisch gewesen wäre.
Rätsel über Rätsel, und sie versuchte noch einmal den Ruf: "Hallo, ist da wer?" Aber wo nichts zu hören war, gab es auch keine Antwort.
Ein Blick wieder voraus: Der Nebelberg war bereits bedrohlich nah. Sie wußte ja nicht, wie groß er in Wirklichkeit war, deshalb konnte sie auch nicht abschätzen, wie weit er noch weg war vom Schiff - oder umgekehrt: Wie weit das Schiff noch entfernt war von ihm. Vielleicht hatte sie ja doch noch eine Chance?
Sie setzte sich endlich in Bewegung und lief leichtfüßig hinüber zum Ruder. Dabei umschmeichelte das dünne Gewand ihren schlanken, hochgewachsenen Körper. Das machte sie stutzig, und noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, schaute sie an sich herab:
"Mein Gott, ich habe ja ein Nachthemd an - und sonst nichts!" Im Nachhinein wußte sie nicht zu sagen, ob es ihr wirklich gelungen war, diese Worte laut auszusprechen. Kein Wunder, denn es beschäftigte sie vielmehr der Inhalt dieser Aussage: Der war für sie nämlich in doppelter Hinsicht ungewöhnlich, denn sie haßte Nachthemden seit ihrer frühesten Kindheit und außerdem... im Nachthemd mitten auf einem ihr unbekannten Meer und auf einem noch unbekannteren Schiff? Wie passte denn das überhaupt zusammen?
Sie erreichte das Ruder und griff in die Speichen. Zwar rückte in ihr jetzt endlich doch noch die Frage in den Vordergrund, was sie überhaupt hier sollte, aber wichtiger blieb zunächst, die Hochseeyacht auf einen anderen Kurs zu bringen, an dem drohenden Nebelberg vorbei. Sie war sich jetzt nämlich hundertprozentig sicher, dass der Nebelberg eine Insel verbarg, und sie würde mit der Yacht in voller Geschwindigkeit dort auflaufen. Das würde nicht nur die Yacht zerstören, sondern diesen Aufprall konnte sie unmöglich überleben.
Sie drehte das Ruder, jetzt voller Panik. Egal, ob rechts und links Steuerbord oder Backbord hießen, sie wollte ganz einfach nur die Yacht an der Insel vorbeilenken.
Und tatsächlich, ihre Bemühungen versprachen Erfolg. Zwar wendete sich der Bug des Schiffes nur geringfügig vom Zentrum des Nebelberges ab, driftete dann auch noch ein zusätzliches Stückchen weiter nach rechts, doch im gleichen Maße wuchs der Nebelberg mächtig heran. Wenn er die Größe eines echten Berges hatte, war die Entfernung höchstens noch zwei- bis dreihundert Meter. Dafür war die Richtungskorrektur zu geringfügig. Die Geschwindigkeit des Schiffes war einfach zu hoch.
Die ersten Schweißperlen erschienen auf Saras Stirn. Nicht nur von der Anstrengung herrührend, sondern vor allem der Angst. Diese war ja durchaus begründet. Wenn sie es nicht doch noch schaffte, war sie rettungslos verloren. Dabei war es zunächst einmal wahrlich gleichgültig, wieso sie sich allein auf einer so großen Yacht befand.
Wie verrückt drehte sie am Ruder. Schon stach es bedrohlich in ihrer Lunge, doch es ging um Leben und Tod, da durfte sie sich nicht einen Sekundenbruchteil der Schwäche gönnen.
Sie drehte und drehte - und tatsächlich, das Schiff schwenkte jetzt rascher nach rechts, obwohl sie den Eindruck hatte, als würde es dabei gleichzeitig noch schneller werden - immer noch von keinem Wind und auch von keinem Motor getrieben. Als wäre es der Nebelberg selber, der es wie an unsichtbaren Fäden herbeizog.
Jetzt spürte sie plötzlich einen deutlichen Widerstand beim Drehen des Ruders, als wollte eine unsichtbare Macht verhindern, dass ihr Vorhaben gelang und das Schiff an dem Nebelberg vorbeisauste.
Überhaupt wunderte sie sich in ihrem tiefsten Innern, dass sie die ganze Zeit über drehte, wobei dies völlig unsinnig erschien: Normalerweise konnte man ihres Wissens nach ein Ruder nur bis zum Anschlag bewegen. Das genügte dann auch, um ein Manöver einzuleiten. Aber was war hier, in ihrer Situation, schon normal?
Inzwischen gelang es ihr trotz des immer stärker werdenden Widerstandes, das Boot tatsächlich mit dem Bug an dem Nebelberg vorbeizulenken. Und dann war dieser auch schon heran. Die Yacht fetzte durch die äußeren Nebelschleier, die wie Geisterhände nach ihr zu greifen schienen, bewegte sich weiter - und wurde im nächsten Moment seitlich angesaugt, um von einem Augenblick zum anderen in dem wallenden und undurchdringlich erscheinenden Nebel zu versinken.
"Es gibt keine Aussicht auf Flucht!" sagte in diesem Moment jemand deutlich hinter ihr.
Sara fuhr mit einem Aufschrei herum: Ja, sie hörte nicht nur die Stimme, sondern auch ihren eigenen Aufschrei: Niels Orsted, ihr Freund, stand unmittelbar hinter ihr. Er hielt die Augen geschlossen. Sein Gesicht war bleich, aber entspannt, als würde er schlafen. Noch einmal murmelte er: "Es gibt keine Aussicht auf Flucht..." Es klang, als würde er im Schlaf fantasieren. Und dann fügte er hinzu: "...wenn der Geisterpirat dich ruft!"
Und dann verschwand alles um sie herum und machte Platz... ihrem Schlafzimmer!
Sara saß aufrecht und in Schweiß gebadet in ihrem Bett. Ihr Blick hetzte hin und her. Das Fenster stand offen, und der pralle Vollmond schickte sein Licht ungehindert herein. So konnte sie alle Details recht gut erkennen: Ja, tatsächlich, es handelte sich zweifelsfrei um ihr Schlafzimmer.
"So ein doofer Traum!" meinte sie kopfschüttelnd: "Ich und auf einer solchen Hochseeyacht? Wie sollte ich jemals zu einer Seefahrt auf einer solchen Luxusyacht kommen, was mich sowieso noch nie interessiert hat? Und dann auch noch im Nachthemd?" Sie schüttelte abermals den Kopf und schaltete das Licht ein, um damit die Angst zu vertreiben, die immer noch in ihr hockte, obwohl ihr in Wirklichkeit nicht die geringste Gefahr drohte - niemals drohen würde, wie sie in diesem Moment noch fest glauben wollte.
*
Trotz des Traumes konnte sie später wieder ruhig weiterschlafen. Aber als sie erwachte, konnte sie sich an jedes noch so winzige Detail erinnern. Sehr ungewöhlich für einen Traum. Nicht nur, dass er so realistisch erschienen war, jetzt diese lückenlose Erinnerung? Das hatte sie noch nie zuvor erlebt. Für gewöhnlich wußte sie gar nicht, ob sie überhaupt nachts träumte. Immer dann, wenn ihr Freund Niels Orsted ihr von seinen eigenen Träumen erzählte, zog er sie damit auf, weil sie überhaupt nichts dergleichen zu erzählen wußte.
Diesmal war alles völlig anders.
"Als wäre es überhaupt kein echter Traum gewesen", sinnierte sie laut und erschrak über ihre eigene Stimme, als sie das Bad ihres winzigen Apartments betrat. Dabei wurde ihr wieder einmal bewußt, wie oft schon Niels ihr vorgeschlagen hatte, daß sie zusammenzogen. Sie zu ihm, das schloß sie sowieso kategorisch aus, weil er immer noch im Haus seiner Eltern wohnte. Das konnte sie nicht leiden, obwohl sie nichts in dieser Hinsicht sagte, um des lieben Friedens willen. Er zu ihr scheiterte allein schon am mangelnden Platzangebot. Also bliebe noch eine gemeinsame Wohnung sozusagen auf neutralem Boden. Aber aus einem Grund, den Sara gar nicht näher benennen konnte, scheute sie vor diesem Schritt zurück. Sie hatte den Verdacht, es müßte mit ihrer letzten Beziehung zusammenhängen. Diese war ein einziges Desaster gewesen, und sie hatte verzweifelt nach einem Ausweg suchen müssen. Ihre viel zu kleine Wohnung hier, das war der Ausweg gewesen, um nicht zu sagen: der Fluchtweg. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich nicht im Geringsten leisten können, etwa wählerisch zu sein. Dennoch waren ihr die eigenen vier Wände inzwischen irgendwie ans Herz gewachsen. Sie fühlte sich sehr wohl in dieser Enge, die eben nicht nur beengte, sondern gleichermaßen Geborgenheit versprach. Die Wände waren schallisoliert, so daß sie kaum etwas von den Nachbarn mitbekam. Zwar bedeutete das eine gewisse Anonymität, aber sie hätte lügen müssen, um darin einen Nachteil zu sehen. Sie hatte jedenfalls auf Dauer ihr Ruhe.
Niels sah alles dies naturgemäß anders und hatte bereits ungezählte Vorschläge gemacht, was das Zusammenziehen betraf. Sara hatte gottlob bis jetzt immer eine glückliche Ausrede gefunden. Lange jedoch, so fürchtete sie inzwischen, würde sie ihn nicht mehr hinhalten können. Dann mußte sie sozusagen Farbe bekennen und ihm ganz konkret mitteilen, daß sie ein Zusammenziehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt eben noch nicht wünschte. Ganz klar, dass er das niemals verstehen würde. Sicherlich würde er alles andere als positiv reagieren in seinem Unverständnis. Darauf war Sara gefaßt, deshalb wagte sie es ja auch nicht, ihm sobald die Wahrheit zu sagen.
Alle diese Gedanken gingen ihr blitzartig durch den Kopf, wie fast jeden Morgen, wenn sie das Bad betrat. Das war sogar stärker als die Erinnerung an das nachts Erlebte, bei dem sie sich weigerte, es einfach nur als dummen Traum abzutun. Doch dadurch provozierte sie erneut die zentrale Frage: Wenn kein Traum - was war es dann gewesen?
"Geisterpirat?" fiel ihr ein Wort ein. Niels hatte es benutzt. Noch nie im Leben zuvor hatte sie es gehört. Da war sie ziemlich sicher, weil sie grundsätzlich keine gruseligen Geschichten mochte - und welche, in denen etwa Geisterpiraten eine Rolle spielten, erst recht nicht.
"Und überhaupt: Wie sollte ich auf so eine teure Yacht kommen?" Zwar waren die Eltern von Niels als erfolgreiche Geschäftsleute einigermaßen betucht, aber das würde sogar deren Möglichkeiten überschreiten. Zumal Niels noch niemals zuvor erwähnt hatte, daß seine Eltern überhaupt an Seefahrt interessiert waren. Wenn sie es recht bedachte, hatte auch Niels selber genauso wenig Interesse daran wie sie, Sara.
Abermals schüttelte sie den Kopf und erledigte endlich ihre Morgenroutine, obwohl sie die Gedanken an das nächtliche Erlebnis dabei leider nicht abstellen konnte.
Am Ende sah sie sich vor dem großen Spiegel in der winzigen Ecke, die sie Flurgarderobe nannte, was nichts anderes war als der schmale Bereich unmittelbar hinter der Eingangstür. Wenn man die Tür öffnete, war der Bereich praktisch verschwunden - und wenn man wirklich Garderobe hinhängte, konnte man letztlich die Tür gar nicht mehr öffnen.
Aber wenigstens für den großen Spiegel hatte sie ein Plätzchen gefunden. Sie drehte sich davor und war mit ihrem Outfit halbwegs zufrieden. Heute war ihr letzter Bürotag. Morgen begann der Urlaub. Die Semesterferien von Niels, der Geschichte studierte, hatten bereits begonnen. Ursprünglich hatten sie hinunter ins sonnige Kalifornien fliegen wollen, aber nach erfolgtem Kassensturz hatte Sara ablehnen müssen. Gut, Niels, mit seinen Eltern im Hintergrund, hätte sie finanziell unterstüzen können, aber das war etwas, was ihr noch mehr gegen den Strich ging als eine gemeinsame Wohnung. Sicherlich war es der Wunsch nach einer gewissen Unabhängigkeit von ihrem Freund, der sie zu ihrer ablehnenden Haltung bewog. Schuld daran war eindeutig ihr Exfreund. Dem hatte sie sich leichtsinnigerweise regelrecht ausgeliefert, und das hatte sie später bitter bereuen müssen.
Gewaltsam verdrängte sie die Erinnerung an all die unerfreulichen Dinge, die sie damals hatte über sich ergehen lassen müssen, und konzentrierte sich wieder auf Niels: Er mußte es einfach einsehen, daß sie ein gebranntes Kind und deshalb vielleicht übervorsichtig war. Wenn sie sich mal lange genug kannten und sie endlich auch gefühlsmäßig begriffen hatte, daß Niels ein völlig anderer Mensch war als ihr Exfreund... Ja, dann sah sicher alles ganz anders aus.
"Oder ich habe bis dahin Niels für immer vergrault!" sagte sie plötzlich skeptisch. Sie schürzte die Lippen und streckte ihrem Spiegelbild kurz die Zunge heraus. Nicht gerade damenhaft zwar, aber es amüsierte sie so sehr, dass sie darüber sogar vorübergehend das nächtliche Erlebnis vergaß.
Wesentlich besser gelaunt als noch vor einer Minute verließ sie ihr Apartment und ging zum Fahrstuhl. Fast hätte sie ihn erreicht, als sich die Tür öffnete und ein abgehetzt wirkender junger Mann ihn verließ: Niels Orsted, ihr Freund.
Überrascht blieb Sara stehen. Was machte denn Niels um diese Zeit hier bei ihr? Das war doch überhaupt nicht verabredet gewesen? Und wieso hatte er vorher nicht angerufen?
"Uff!" machte er. "Bin ich froh, daß ich dich noch erwischt habe."
"So?" machte sie mißtrauisch. "Und dein Telefon hast du so geschickt verlegt, daß es unauffindbar ist oder wie?"
Er schaute sie verduzt an. Dann winkte er lachend ab. "Ach was, ich habe dich deshalb nicht angerufen, weil ich unbedingt persönlich mit dir reden muss."
Ihr Mißtrauen blieb. "Was ist denn so wichtig, daß du persönlich hier erscheinst - und gleichzeitig so unwichtig, daß du es nicht schon längst per Telefon gesagt hast?"
Er schielte zu ihrer Wohnung hinüber. "Äh, könnten wir nicht kurz...?"
"Nein, ich habe es eilig. Bin sowieso schon reichlich spät dran. Bei dem Betrieb dauert es eine Ewigkeit, bis ich im Büro bin, und heute ist mein letzter Tag vor dem Urlaub. Soll ich denn zu spät kommen?"
"Ich fahre dich mit dem Auto."
"Na, toll, noch schlimmer: Meinst du, nur die S-Bahn ist überfüllt? Die Straße etwa nicht?"
"Immerhin bin ich rechtzeitig bis hierher zu dir gekommen", versuchte er einzuwenden. Das Lachen, das er dabei auch noch versuchte, ging kläglich schief, denn er erkannte das Mißtrauen von Sara und konnte das nicht verstehen. "Was ist denn eigentlich los mit dir, Sara? Ich bin's, dein Freund Niels Orsted! Der Mann, den du liebst und der seinerseits auch dich liebt. Schon vergessen? Du schaust ja gerade so, als sei ich dein Todfeind, von dem du das Schlimmste befürchten mußt."
Jetzt wurde es Sara selber klar, und sie mußte lachen. "Also gut, komm mit herein, aber fasse dich bitte superkurz. Du weißt ja nun warum."
"Tu ich: So kurz wie es eben geht!" versprach er hoch und heilig und hob dabei die Rechte wie zum Schwur.
Sara sperrte eilig auf und schlüpfte in ihre Wohnung. Niels folgte ihr dichtauf. Sie ging in der Wohnung unwillkürlich auf Distanz und wich sogar beinahe seinem Begrüßungskuß aus. Was war denn eigentlich los mit ihr? Das fragte sie sich inzwischens selber. Wieso verhielt sie sich mißtrauisch und abweisend gegenüber ihrem Freund? Gestern abend war doch noch alles in Ordnung gewesen zwischen ihnen beiden.
Der Traum! erkannte sie plötzlich. Falls es überhaupt ein Traum war und nichts anderes: Jedenfalls sah sie unwillkürlich das bleiche Gesicht ihres Freundes, als er die Worte mit dem Geisterpiraten von sich gegeben hatte, wie ein Schlafwandler. Ein Bild, das sich jedesmal über den Anblick des realen Niels Orsted schob und sie zurückschrecken ließ.
"Also, ganz kurz: Als ich heute morgen mit meinen Eltern frühstückte, kam der Anruf. Du weißt doch, sie wollten ebenfalls Urlaub machen..."
"Ja, wollten sie?" unterbrach ihn Sara, weil sie sich nicht erinnern konnte. Hatten sie überhaupt darüber gesprochen oder hatte es sie ganz einfach nicht interessiert?
"Na, jedenfalls, sie können nicht. Beziehungsweise, Vater kann nicht, aus geschäftlichen Gründen. Und Mutter will jetzt natürlich nicht ohne ihn... Sag mal, Sara, hörst du mir überhaupt zu? Ich denke, ich soll mich kurz fassen?"
"Na, dann tu es auch!" entgegnete sie schärfer als beabsichtigt.
"Also gut, Sara: Vater hat mich gefragt, ob wir beide denn nicht einspringen könnten."
"Einspringen? Wobei?" wunderte sich Sara ehrlich.
"Na, es geht doch um einen wichtigen Geschäftspartner. Der hat sie eingeladen, und wenn Vater ihm jetzt einen Korb gibt, wo doch alles für morgen schon vorbereitet ist... Das würde ihm geschäftlich mit Sicherheit gewaltig schaden. Es ist sowieso schon eine besondere Ehre, daß er meine Eltern überhaupt..."
"Wovon, um alles in der Welt, redest du eigentlich die ganze Zeit?" regte sich Sara auf und schielte zur Wanduhr. Also, wenn sie sich jetzt nicht endlich auf den Weg machte, war ihr ein Donnerwetter vom Chef gewiß, und sie würde in echte Erklärungsnot geraten.
"Ich rede von dem Segeltörn oder wie das heißt!" rief Niels Orsted aus. "Habe ich dir gar nicht davon erzählt, dass dieser Geschäftsfreund eine Hochseeyacht der Superlativen besitzt, so richtig mit eigener Besatzung und so, weil er ja selber wenig Ahnung hat vom Führen eines solchen Schiffes? Was ist denn jetzt wieder los mit dir, Sara?" Er wirkte erschrocken, und das nicht ohne Grund, denn Sara hatte bei seinen Ausführungen plötzlich das Gefühl bekommen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Der Traum, der möglicherweise mehr war als das - und jetzt diese Eröffnung von Niels? Sollten sie etwa...? "Du meinst, wir beide sollen jetzt anstelle deiner Eltern...?"
"Ja, das hat nir Vater vorgeschlagen - und wir würden ihm damit auch noch einen riesigen Gefallen tun, glaube mir! Oh, ich weiß, du bist nicht so für Segeltörns oder ähnliches, ich ja selber nicht. Aber in diesem speziellen Fall... würden wir uns sozusagen zu Gunsten von Vater opfern. Ein Opfer, das es sicherlich wert wäre. Wir müssen ja nicht groß die sieben Weltmeere besegeln, sondern suchen uns irgendwo ein schönes Plätzchen in einem Yachthafen und machen das Beste daraus. Na, was hältst du davon?"
Er hatte wie ein Wasserfall geredet, als müsste er besonders schnell alles loswerden, ehe Sara auf die Idee kam, etwa ihm zu widersprechen. Das hatte Sara jedoch regelrecht schwindlig gemacht, und die letzten Worte bekam sie schon gar nicht mehr mit, denn sie stürzte haltlos zu Boden, ehe es Niels verhindern konnte.
"Um Gottes Willen!" stammelte er und beugte sich über sie. Aber da kam sie auch schon wieder zu sich.
Sie blinzelte verwirrt, und dann bat sie ihn inständig: "Bitte, sag, daß dies alles nur ein blöder Scherz ist und niemals dein Ernst sein kann!"
*
Niels half seiner Freundin auf die Beine. Sie nahm seine Hilfe dankbar an.
"Wieso?" machte er und schüttelte den Kopf.
"Ein blöder Scherz, nichts weiter!" ermunterte sie ihn.
"Aber ganz und gar nicht", protestierte Niels verdattert. "Es ist so, wie ich sagte: Wir tun Vater einen riesigen Gefallen und müssen ja nicht wirklich weit hinaussegeln und so..."
"Also doch!" sagte Sara entmutigt. "Da kommst du daher gerauscht mit einer solchen Eröffnung. Und was ist mit Bedenkzeit und so? Gleich morgen oder habe ich mich verhört?"
"Ja, gleich morgen, aber du hast doch ab dann sowieso Urlaub, und ich..."
"Nein, ohne mich, Niels. Also, wirklich! Das ist nichts für mich. Ich und auf einer teuren Luxusyacht, was ich mir sowieso nie leisten könnte?"
"Aber gerade deshalb wird es uns besonders Spaß machen oder meinst du, ich könnte mir das normalerweise leisten? Und meine Eltern auch nicht. Dieser Geschäftspartner ist so etwas von reich. Wenn Vater dem erzählt, daß nichts daraus wird, ist er bei dem untendurch. Das verzeiht Vater mir nie."
"Ja, sage einmal, bist du denn der Notnagel für deine Eltern oder was?" Sie winkte mit beiden Händen ab. "Ach, egal, wie auch immer: Das ist deine Sache. Anscheinend hast du schon zugesagt. Also mußt du die Suppe auch allein auslöffeln, die du dir eingebrockt hast. Ich jedenfalls setze keinen Fuß auf irgendein Schiff und insbesondere nicht auf eine Hochseeyacht der Luxusklasse." Sie schaute ihren Freund an und sah deutlich sein bleiches Gesicht aus dem Traum. Geisterpirat? Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre blonde Mähne flog, und bekräftigte noch einmal: "Ohne mich!" Dann drängte sie sich an ihm vorbei hinaus. "Wenn du mir jetzt endlich gestatten würdest, ins Büro zu gehen? Ist zwar sowieso zu spät, aber übertreiben muss ich es ja nun doch nicht. Gottlob komme ich nur selten später und bin ansonsten meistens eine der ersten. Vielleicht hat mein Chef ein Einsehen und ist nicht allzu erbost..."
Er ging nicht von allein. Erst als Sara ihn hinauszerrte. Und auch da gehorchte er nur widerwillig.
"Dein letztes Wort?" fragte er brüchig.
"Genau!" Sie hauchte ihm ein flüchtiges Küßchen auf die Wange und eilte zum Fahrstuhl, der seltsamerweise immer noch offenstand. Glück gehabt, dachte sie, als sie sich hineinstellte und wartete, bis sich die Tür schloss.
Niels blieb draußen. Er stand vor der verschlossenen Tür ihrer Wohnung wie ein begossener Pudel. Beinahe tat er Sara leid, aber nur beinahe, denn sie mußte wieder an das nächtliche Erlebnis denken und an... den Geisterpiraten! Nein, was immer das zu bedeuten hatte, sie wollte gar nicht wissen, was dahintersteckte. Ganz im Gegenteil: Sie wollte dies alles möglichst schnell wieder vergessen und zwar total. Selbst wenn sie den ganzen Urlaub über auf Niels verzichten mußte, der dann ohne sie auf See schipperte.
Als sie unten aus dem Fahrstuhl stieg, um zur Haustür zu laufen, kamen ihr plötzlich doch noch Bedenken: Wenn Niels wirklich ohne sie die Yacht benutzte... Was würde mit ihm geschehen? Dann war sie zwar in Sicherheit, aber was war mit Niels? Konnte sie denn einfach so tun, als sei das heute nacht gar nicht passiert und würde es keine wirkliche Gefahr geben, weder für sie noch für Niels? Aber wenn es keine Gefahr gab, wieso weigerte sie sich dann überhaupt, mitzureisen?
Diese Fragen verwirrten sie zutiefst. Beinahe wäre sie beim Hinauslaufen gestolpert, weil sie die niedrige Stufe vor dem Eingang vergessen hatte. Gerade noch konnte sie ihren Sturz verhindern und taumelte weiter.
"Hoppla!" machte ein älterer Herr, der zufällig vorbeikam, amüsiert. "So früh und schon so stürmisch? Nur weiter so, meine Arme sind für jede Schönheit offen."
Sara mußte über die Bemerkung lachen. "Entschuldigen Sie, aber ich bin nur gestolpert."
"Ach - und ich dachte schon, es sei meinetwegen. So eine Enttäuschung aber auch!" Sein Lachen strafte diese Worte Lügen.
"Noch einen schönen Tag!" wünschte Sara gespielt fröhlich und beeilte sich, in Richtung S-Bahn-Station davonzulaufen.
"Ihnen auch - und nicht wieder stolpern", rief er ihr hinterher. "Es wäre doch schade um die hübschen Beine, die Sie sich dabei brechen könnten."
Schon war der Abstand groß genug. Weitere Worte konnte sie nicht mehr verstehen. Sara begann jetzt sogar zu rennen. Das war auch nötig. Normalerweise haßte sie es, zur Bahn zu hetzen, und ging lieber eine Viertelstunde zu früh aus dem Haus, aber heute morgen schien alles schiefzugehen - und das nur, weil Niels mit diesem unmöglichen Vorschlag gekommen war.
Unmöglicher Vorschlag? Wie hätte sie denn eigentlich reagiert - ohne diesen Traum letzte Nacht?
Beinahe wäre sie erschrocken stehengeblieben. Im letzten Augenblick besann sie sich und verringerte ihr Tempo nur geringfügig. Das war auch gut so, denn in der Nähe der S-Bahn-Station begann schon gleich das Gedränge. Noch ein paar Meter, dann konnte sie es endgültig vergessen, sich zu beeilen. Gerade jetzt begann der Hauptbetrieb. Sie mußte sogar noch Glück haben, um einen Stehplatz in der S-Bahn zu ergattern. Vielleicht hätte sie doch besser den Vorschlag ihres Freundes angenommen und hätte mit ihm das Auto benutzt? Aber wenn sie auf die Straße schaute, sah es dort eher schlimmer aus als vor dem Eingang zur S-Bahn. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als endlich zu akzeptieren, daß sie an ihrem letzten Tag vor dem Urlaub hoffnungslos zu spät in das Büro kam.
Da fiel ihr etwas ein: Wenn sie jetzt vielleicht bei ihrem Chef anrief und sich entschuldigte? Dann wurde es sicher nicht ganz so schlimm. Sie kramte im Weitergehen in ihrer Handtasche. Drinnen war doch irgendwo ihr Telefon...? Nein, war es nicht! Sie konzentrierte sich kurz. Ja, genau, sie hatte es gestern Abend an das Kabel gehängt, um den Akku aufzuladen - und dort hing es immer noch.
"Mist!" entfuhr es ihr. Eine ältere Dame schaute sie dabei erschrocken an. Sara ignorierte sie und bahnte sich einen Weg weiter durch das Gedränge, bis zu ihrer S-Bahn. Zwar fand sie dort nach kurzer Wartezeit einen Stehplatz, aber nur, weil sie dabei ihre Platzangst unterdrückte. Wäre sie früher gefahren, wie jeden Morgen und auch wie für heute geplant, wäre alles nur halb so schlimm gewesen. Jetzt kam sie nicht nur zu spät, sondern mußte auch noch das Martyrium durch dieses Gedränge ertragen. Wieviel freier war man da doch auf einem Schiff, draußen auf dem Meer... Das mußte sie unwillkürlich denken, obwohl gleichzeitig wieder dieses Wort in ihr auftauchte: Geisterpirat! Klang das nicht schrecklich? Und sie sah vor ihrem geistigen Auge das bleiche Gesicht von Niels Orsted, der vor sich hin murmelte, es gäbe kein Entrinnen oder so.
Niels Orsted?
Ihre hübschen, schmalen Augenbrauen verengten sich plötzlich: War das wirklich Niels, ihr Freund, gewesen? Sie sah das bleiche Gesicht jetzt so deutlich, als würde es sich direkt vor ihr befinden. Im Traum hatte es die Augen geschlossen gehalten. Jetzt öffnete es die Augen auf einmal - und sie erkannte, dass es nicht die Augen ihres Freundes waren. Ja, es gab zweifelsohne eine starke Ähnlichkeit, aber das war nie und nimmer ihr Freund Niels.
Und jetzt wußte sie auch, wieso ihr die Stimme gleich so seltsam vorgekommen war: Weil es eben nicht die Stimme von Niels gewesen war! Aber wieso hatte sie diesen Fremden überhaupt mit Niels verwechseln können? Wie war das denn nur möglich? Sie schloß ihre Augen und sah dennoch das Gesicht des Fremden vor sich. Diese Nähe. Diese Vertrautheit - irgendwie... Als würde sie ihn kennen, in- und auswendig, wie ihren Freund. Dasselbe Gefühl beinahe. Sie liebte Niels, auch wenn es ihr noch davor graute, mit ihm zusammenzuziehen. Das hatte nichts mit ihren tiefen Gefühlen für ihn zu tun. Aber dieser Fremde? Wie kam sie dazu, für ihn etwas zu empfinden, wo sie ihn doch noch niemals zuvor gesehen hatte - und jetzt auch nur in diesem gruseligen Traum? Das Gedränge, der Lärm, das Rütteln des Waggons... Alles glitt von ihr zurück. Nur noch dieses Gesicht blieb, mit den offenen Augen, die sie unendlich traurig musterten. "Es gibt keine Aussicht auf Flucht...", sagte er, und diese unendliche Trauer schwang auch in seiner Stimme mit. Jedes seiner Worte klang gepreßt, als würde es ihn unermeßlich viel Mühe bereiten, "...wenn der Geisterpirat dich ruft!"
Schlagartig war das Gesicht weg und das Gedränge, der Gestank und der Lärm wieder da. Es traf sie wie der sprichwörtliche Keulenschlag. Sie wäre jetzt zu Boden gestürzt, aber die Umstehenden standen so dicht zu ihr, daß allein dies es verhinderte. Gottlob schaute sie jetzt niemand an. Jeder tat so, als wären die anderen gar nicht da. Eine typische Situation, die eigentlich jedem unangenehm war, so dicht gedrängt stehend mit all den wildfremden Menschen darum herum.
Selten zuvor war sie so froh gewesen über diese Anonymität in der Menge, denn wenn sie jetzt jemand angesprochen hätte, Sara wußte nicht, wie sie das noch hätte verkraften können. Der Boden schwankte unter ihr, nicht nur wegen der rasanten Fahrt. Sie hoffte inbrünstig, daß sie sich von diesem Schwächeanfall erholt hatte, wenn der Zug stoppte und sie aussteigen mußte. Das waren nur ein paar Minuten noch, und diese vergingen im wahrsten Sinne des Wortes wie im Flug.
Am Ende hatte sie gar keine andere Wahl, als den Waggon zu verlassen: Sie wurde von dem Gedränge einfach mitgespült. Erst draußen kam sie halbwegs zu sich. Sie mußte sich mühsam orientieren, um zu erkennen, in welche Richtung sie weiterzugehen hatte, obwohl sie doch diesen Weg jeden Morgen ging.
Wie betäubt taumelte sie über den Bahnsteig, hoffend, daß es die richtige Richtung war.
"Wie, Herr im Himmel, soll ich diesen Tag überhaupt überstehen?" fragte sie sich unterwegs und hatte dabei keine Ahnung, ob sie das nur gedacht oder laut ausgesprochen hatte.
*
Ähnliches fragte sich Sara auch, als dieser Arbeitstag für sie zuende war: "Wie ist es mir überhaupt gelungen, diesen Tag bis jetzt zu überstehen?" Sie konnte sich kaum noch erinnern, vor allem nicht an Einzelheiten. Wie in Trance hatte sie ihre Arbeit erledigt. Das einzige, was in ihrem Gedächtnis haften geblieben war, neben den diversen Anrufen von Niels, war die Unterredung mit ihrem Chef. Gott, sie hatte das Schlimmste befürchtet. Wahrscheinlich deshalb, weil sie selber es besonders haßte, wenn jemand zu spät kam. Sie hatte schon geglaubt, weil sie sich das selbst nicht verzeihen wollte, würde ihr Chef zwangsläufig genauso denken. Deshalb war sie schnurstracks erst zu ihm gegangen, um sich zu entschuldigen.
Ihr Chef hatte sie ganz verdattert angesehen und dann auf die Uhr geschaut. Dann hatte er gesagt: "Tatsächlich, Sie sind später dran als sonst, Sara. Wäre mir gar nicht aufgefallen." Er überlegte kurz, dann beeilte er sich zu versichern: "Äh, nicht daß Sie das jetzt falsch verstehen, Sara, ich habe Sie nicht deshalb nicht vermißt, weil sie im Team unwichtig sind, sondern einfach, weil ich bei Ihnen weiß, daß ich nicht auf die Uhr zu schauen braiche. Sie sind stets überpünktlich... Ach was, wenn ich alle Minuten zusammenrechne, die Sie schon zu früh gekommen sind, müßte ich Ihnen dafür sogar Urlaub geben. Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht: Wir verrechnen das einfach miteinander, einverstanden?" Er hatte gelacht wie über einen besonders gelungen Scherz, und sie hatte überhaupt nicht gewußt, wie sie sich verhalten sollte.
Ganz verlegen war sie dann an ihren Schreibtisch gegangen, und er hatte sich auch noch im Nachhinein über ihre Bedenken amüsiert. Das hatte er anfangs der Mittagspause sogar noch einmal angesprochen: "Sara, daß Sie mir ja nicht zu spät aus der Pause kommen!"
Weil sie erschrocken reagierte, entschuldigte er sich bei ihr für den Scherz und meinte: "Ehrlich, Sara, bei Ihrer sprichwörtlichen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sollten Sie eigentlich Feierabend machen und auf den Rest des Arbeitstages verzichten. Schließlich haben Sie ab morgen Urlaub. Na, was halten sie denn davon?"
Sie druckste erst herum, ehe sie sich wagte, zu widersprechen: "Das ist sehr großzügig von Ihnen, und ich würde es liebend gern annehmen, aber leider habe ich noch eine Menge Arbeit auf dem Schreibtisch liegen. Ich glaube kaum, daß unsere Kunden oder auch die Kolleginnen, die dann für mich einspringen müßten, Verständnis dafür hätten, wenn ich alles einfach so liegenlassen würde. Bitte, ich weiß Ihr Angebot wirklich zu schätzen und bedanke mich auch dafür, aber ich hätte ein dermaßen schlechtes Gewissen, wenn Sie erlauben..."
Das war kein falscher Schmus von ihr, und er wußte das, sonst hätte er nicht kopfschüttelnd entgegnet: "Wieso wundert mich das eigentlich nicht bei Ihnen, Sara? Also, da muß ich mir wirklich etwas anderes einfallen lassen..." Dabei beließ er es vorerst. Sara war ihm auch dafür dankbar.
Und jetzt stand sie vor dem hohen Bürogebäude, das unter anderem die Firma beherbergte, für die sie arbeitete, und erwachte wie aus einem Traum.
Was hatte sie eigentlich aufmerksam gemacht? Sie schaute sich irritiert um: Niels Orsted, ihr Freund. Er hatte ihren Namen gerufen. Erst jetzt wurde ihr das bewußt.
"Komm schnell, Sara, ich stehe im absoluten Halteverbot. Besser, wenn wir uns beeilen."
"Du holst mich ab mit dem Auto?"
"Ja, freust du dich denn nicht?"
Nachdem er sie mit seinen Anrufen regelrecht genervt hatte, war sie ziemlich patzig gegen ihn geworden, indem sie ihm unmißverständlich erklärt hatte, er solle es unterlassen, sie im Büro anzurufen, weil das verständlicherweise nicht erwünscht sei. Das hatte gewirkt. Er hatte jedenfalls nicht weiter angerufen. Und jetzt stand er mit betretener Miene vor ihr, als wollte er sich entschuldigen und hätte nur noch nicht die richtigen Worte gefunden.
"Ach, Niels, natürlich freue mich mich. Ich bin halt nur überrascht."
"Wieso denn, Liebes? Es ist doch nicht das erste Mal, daß ich dich am Feierabend abhole, auch ohne es vorher mit dir abzusprechen."
"Ich muß mich echt bei dir entschuldigen, Niels. Das war wirklich nicht so gemeint von mir. Auch das am Telefon. Ich könnte verstehen, wenn du jetzt sauer wärst auf mich, aber es ist tatsächlich so, daß private Anrufe..."
Er unterbrach sie lächelnd und mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Schwamm drüber, Liebes!" Er beugte sich vor zum Kuß, und Sara tat ihm den Gefallen. Ihre Lippen berührten sich. Aber im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, das wäre gar nicht ihr Freund Niels Orsted, sondern ein... Fremder! Es war dasselbe Gefühl in ihrer Brust, wie bei ihrem Freund. Er war ihr vertraut, und sie wünschte sich, er würde sie hier, vor den Augen aller Leute, fest in die Arme nehmen und sie mal ordentlich drücken, damit sie endlich wieder zu Sinnen kam. Seit jenem unseligen Traum... Aber gleichzeitig schreckte sie zurück, weil zu dem Vertrauten irgend etwas... Fremdes hinzukam. Fremd und unerklärlich. Aber nicht erschreckend. Deshalb widerstand sie dem Impuls, Niels von sich zu stoßen. Das hätte er ihr wahrscheinlich nie verziehen - und er brauchte es auch nicht. Denn jetzt nahm er sie tatsächlich in seine starken Arme, um sie fest an sich zu drücken. Sie spürte seine Nähe und genoß sie, wie immer. Er war Niels, der Mann, den sie aus ganzem Herzen liebte, aber irgendwie... war er nicht nur Niels. Da war irgend etwas - oder irgend jemand? - anderes. Niels hatte damit gar nichts zu tun. Er spürte es noch nicht einmal selber. Sara war sich darin völlig sicher. Nur sie spürte es - und jenes Fremde, das dominieren wollte, wie ein Erzrivale von Niels. Nicht gegenständlich, sondern aus dem Unsichtbaren, Unwägbaren heraus. Spürbar, aber im wahrsten Sinne des Wortes unbegreiflich.
Niels drückte sie so fest, daß sie fast keinen Atem mehr bekam - und bemerkte nicht den Widerstreit ihrer Gefühle. Die feste Nähe gab ihr Kraft und weckte ihre Sinne, um diesen unseligen Traum endlich nicht mehr länger über sich triumphieren zu lassen. Gleichzeitig jedoch war da jenes Fremde, das sie sowohl erschreckte als auch für sich einnahm. Ein Zwiespalt, der sie schier zur Verzweiflung trieb, weil sie nicht verstand, was da vor sich ging. Und als Niels sie endlich wieder losließ und auf Armlänge von sich wegschob, um ihr lachend in die Augen zu schauen, war der Zwiespalt mit einem mal wie weggeblasen. Vor ihr war nur noch Niels, der Mann, den sie so sehr liebte - und er umgekehrt sie genauso. Das Fremde war nicht mehr da. Nur noch das Vertraute, das von Niels ausging. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie so stark empfunden wie bei Niels. Er war der Mann ihres Lebens. Umso unverständlicher war es für sie selbst, wenn sich alles in ihr dagegen sträubte, fest mit ihm zusammenzuwohnen. War es wirklich nur wegen ihrem Exfreund und den traurigen Erfahrungen, die sie mit diesem hatte machen müssen? Aber was sonst? Sie war sich doch völlig seiner sicher. Niels und kein anderer. Für immer. Aber dennoch mußte sie sich jetzt an das andere Gefühl erinnern, an das Unerklärliche, das sie mit magischer Gewalt anzog. Seit dem Traum. Seit diesem Fremden, der Niels nicht wirklich so sehr ähnelte. Es war nur beinahe dasselbe Gefühl gewesen. Jetzt war sie sich völlig darüber im klaren.
Niels redete auf sie ein, aber Sara hatte davon kein einziges Wort aufgenommen. So sehr hatten sie ihre eigenen Gedanken verwirrt. Zwar hatte ihr Niels die Kraft zurückgegeben, die sie dringender als alles andere brauchte, aber die Erinnerung an den Traum und an diesen Widerstreit ihrer Gefühle hatten es trotzdem geschafft, sie wieder zu beherrschen, um sie von der Wirklichkeit abzulenken.
"...nicht böse deshalb, wirklich, Sara. Ich habe das Vater gesagt, daß du nicht mitkommen willst - und daß ich ohne dich... He, wieso schaust du mich denn so an, Sara? Habe ich jetzt schon wieder was falsch gemacht?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nicht doch, Niels, du machst überhaupt nichts falsch. Ja, du jedenfalls nicht, aber ich dagegen... Heute morgen das, es tut mir schrecklich leid. Ich war so blöd zu dir, ich weiß. Und dann habe ich dir auch noch einen solchen Korb gegeben. Dabei hast du es wirklich nur gut gemeint. Außerdem, wenn es deinem Vater auch noch einen Vorteil bringt... Ich hatte kein Recht, dich so schlecht zu behandeln. Du bist immer so gut zu mir, Niels, Liebster - und ich zicke dumm herum."
"Ach, Sara, das stimmt doch gar nicht. Ich habe dich damit heute morgen regelrecht überfahren, und meinetwegen bist du gewiß auch noch zu spät zur Arbeit gekommen. Alles meine Schuld. Und dann meine oberlästigen Anrufe... Das war nur wegen meinem schlechten Gewissen, sonst nichts."
"Dabei habe ich dich so schlecht behandelt, armer Niels." Sie streichelte ihm über das Gesicht, und er reagierte darauf sehr verlegen.
"Also, bevor wir uns jetzt gegenseitig im Entschuldigen zu übertrumpfen versuchen...", setzte er wie zu einem Scherz an, um sogleich ernst fortzufahren: "...vergessen wir die ganze Angelegenheit und freuen uns auf unseren gemeinsamen Urlaub. Der wird dann genauso werden, wie du ihn dir wünschst."
"Ehrlich?" vergewisserte sie sich und schaute ihn aus großen, runden Augen an.
"Ja, ehrlich. Diese Seefahrt ist jedenfalls kein Thema mehr."
"Aha, also doch nicht!"
"Was meinst du damit?"
"Wenn das jetzt mein Wunsch gewesen wäre?"
Er lachte. Es klang ein wenig zu bitter. "Ach, Sara, können wir das Thema denn nicht lassen? Ich habe selber schon genug darauf herumgeritten. Es tut mir ja auch wirklich leid."
"Muß es gar nicht. Schließlich habe ich den ganzen Tag über Zeit gehabt, mir das gründlich zu überlegen. Heute morgen, da war ich überrumpelt gewesen. Aber nach reiflichem Nachdenken..." Sie sah, daß er überrascht die Augenbrauen lupfte. Aber sie war selber überrascht: Sie lauschte ihren eigenen Worten nach und konnte sie nicht begreifen. Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Als würde die eigene Stimme ihr nicht mehr gehören. Und dann kamen ihre nächsten Worte, die ihr regelrecht einen Stich mitten ins Herz versetzten: "Ja, nach reiflichem Nachdenken bin ich zu dem Entschluß gekommen: Wieso eigentlich nicht? Wenn ich es genau betrachte, wollte ich schon immer mal so einen Segeltörn unternehmen, aber ich hätte es nie für möglich gehalten, daß dieser heimliche Traum jemals in Erfüllung gehen könnte. Worauf warten wir eigentlich noch, Leichtmatrose Niels Orsted? Mach die Takellagen klar, wir stechen in See, daß dem Klabautermann hören und sehen vergeht."
Sie hörte die wie im Scherz gesprochenen Worte und spürte gleichzeitig diesen Stich. Doch der tat nicht weh, sondern erzeugte eine seltsame Wärme in ihrer Brust, vergleichbar mit so etwas wie... Vorfreude.
Niels konnte es immer noch nicht fassen. Aber dann nahm er sie wieder kräftig in die Arme und rief aus: "Ich habe echt geglaubt, du wolltest mich verkohlen, aber ich sehe dir an, daß du es wirklich ernst meinst. Gott, Sara, wir machen das Beste daraus. Das verspreche ich dir. Wir beiden elenden Landratten auf hoher See. Wenn da mal den armen Fischen keine Bedenken kommen..." Er lachte und fügte noch ein paar Scherze dieser und ähnlicher Art hinzu.
Sara hörte sie gar nicht mehr. Sie wunderte sich immer noch über sich selber: Niels hatte ihr angesehen, daß sie es ernst gemeint hatte? Aber sie meinte es ganz und gar nicht ernst damit! Ja, eigentlich hatte sie es selber gar nicht gesagt. Als hätte etwas Fremdes nicht nur ihre Stimme, sondern sogar ihr Mienenspiel übernommen.
Sie dachte an den nächtlichen Traum. Eigenartig, auf einmal fürchtete sie sich trotzdem allem, trotz der mehr als mysteriösen Umstände, nicht mehr vor der bevorstehenden Seefahrt.
Deutlich sah sie vor sich den drohenden Nebelberg und die wie lebendig wirkenden Nebelfetzen, die davon ausgingen. Er saugte sie regelrecht an. Nicht nur das Schiff, sondern vor allem... sie. Und sie wollte es gar nicht mehr anders. Auch wenn sie sich noch so sehr darüber wunderte.
*
Hand in Hand liefen sie zum Wagen ihres Freundes. Sara den Kopf schwer von den wirren Gedanken, die sie beherrschten, und Niels Orsted lachend und scherzend. Sein Wagen stand in der Tat ziemlich verboten am Straßenrand. Autofahrer, die sich vorbeischieben mußten, schimpften lauthals über den Besitzer des Fahrzeuges. Als sie sahen, daß Niels die Fahrertür öffnete, tippten sie sich vielsagend an die Stirn. Auch unbeteiligte Fußgänger schüttelten zumindest tadelnd den Kopf.
Niels ließ sich dadurch nicht die gute Laune verderben, und Sara bekam das alles sowieso nicht richtig mit. Wie betäubt stieg sie auf der Fahrerseite ein, die zum Bürgersteig hin offen war. Wenn sie jetzt versucht hätte, den Wagen zu umrunden, um die Beifahrertür zu öffnen, hätte es eine Katastrophe geben können, bei dem Verkehr, der an dem Bürogebäude vorbeirauschte. Kein Wunder, daß hier absolutes Halteverbot verfügt worden war. Das hatte durchaus seinen Sinn in diesem speziellen Fall.
Die schlanke Sara rutschte über den Fahrersitz auf die Beifahrerseite. Das war zwar ziemlich unbequem, aber es machte ihr nichts aus. Niels nahm neben ihr Platz und hielt Ausschau nach einer Gelegenheit, sich in den fließenden Verkehr einzufädeln. Er blockierte die gesamt linke Fahrspur, was einen Rückstau verursacht hatte, weil seinetwegen die Autos die Spur wechseln mußten - und das war um diese Tageszeit alles andere als einfach.
Schlimmer kann es auf hoher Seee nicht werden als es hier, im sogenannten Großstadtdschungel, ist, wollte sich Sara selber die Laune verbessern. Es mißlang kläglich, weil sogleich wieder vor ihrem geistigen Auge der Nebelberg auftauchte, der sie mit unwiderstehlicher Gewalt ansaugte. Davor hatte sie aus ungewissen Gründen zwar keine Angst mehr, aber es stimmte sie auch nicht gerade fröhlich...
"Geisterpirat!" murmelte sie unwillkürlich.
"Bitte?" fragte Niels, wobei er immer noch konzentriert in den Verkehr spähte. Den Motor hatte er gestartet, der erste Gang war eingelegt.
Anstatt zu antworten, schlug Sara vor: "Wieso bleibst du nicht einfach auf dieser Spur, die du sowieso schon blockierst? Weiter vorn wird sich dann schon noch eine Gelegenheit bieten."
Wie zur Bekräftigung ertönte hinter ihnen ein wahres Hupkonzert. Niels schaute sie überrascht an und meinte dann, ärgerlich über sich selbst: "Ja, bin ich den blöd oder was? Wieso ist mir das nicht selber aufgefallen?" Und dann fuhr er endlich los, auf der Spur, die er die ganze Zeit blockiert hatte mit seinem parkenden Auto, wie von Sara empfohlen. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Seine gute Laune war wie weggeblasen.
Kein Wunder, dachte Sara und betrachte ihren Freund von der Seite. Er machte einen ziemlich verwirrten Eindruck - und das raubte ihr schier den Atem. Wieso war ihr das eigentlich nicht früher aufgefallen? Schon heute morgen, als er aufgetaucht war... Er hatte abgehetzt und irgendwie da schon... verwirrt gewirkt. Und jetzt das: hatte vor sich freie Bahn und versuchte trotzdem, sich in den Verkehr einzufädeln, was natürlich keiner dieser stets in Eile befindlichen Autofahrer erlaubte. Eben weil sie selber sahen, dass er eigentlich nicht zwingend die Spur wechseln mußte. Was war denn eigentlich los mit Niels?
Es stockte ihr deshalb der Atem, weil es nur eine mögliche Antwort auf diese Frage gab: Er mußte irgendwie doch etwas gemerkt haben. Oder gab es bei ihm sogar einen... ähnlichen Traum?
Sie mußte kurz die Augen schließen und sich sammeln, sonst hätte sie jetzt womöglich vor Schreck aufgeschrien. Nein, jetzt bloß nichts anmerken lassen. Niels mußte sich endlich auf die Straße konzentrieren, sonst baute er noch einen Unfall, so verwirrt wie er zur Zeit war.
Die rote Ampel hielt sie auf. Sara schielte nach Niels neben sich und atmete erleichtert durch. Gottlob, er hatte sich wieder gefangen. Und jetzt konnte er sogar lächeln.
"Manchmal ist man blind und blöd zugleich. Wenn man dann noch einen Funken Verstand übrig hätte, müßte man auf der Stelle den Führerschein abliefern."
"Oder einem anderen das Steuer überlassen", erinnerte ihn Sara und versuchte ein Lächeln: "Schon vergessen: Ich habe ebenfalls den Führerschein, wenn ich auch zur Zeit kein Auto besitze. Aber logisch, wer läßt schon gern eine Frau ans Steuer, zumal, wenn man ein richtiger Mann ist."
Niels mußte laut lachen, denn er wußte, daß Sara das nicht ernst meinte: Er war alles andere als ein Macho und hatte Sara deshalb nicht angeboten, das Steuer zu übernehmen, weil erfahrungsgemäß seine Freundin sowieso nicht gern Auto fuhr. Das war auch der Grund, wieso sie keins besaß.
Er erwiderte ihren Blick und meinte leichthin: "Jetzt bist du wieder ganz die Alte."
"Wie bitte? Ich und alt? Wir sind noch längst nicht verheiratet und schon nennst du mich deine Alte?"
Niels lachte abermals. Sara fiel in das Lachen ein.
"Du weißt ja, wie ich es meine.
"So, Niels, weiß ich das? Was ist denn jetzt anders als noch vorhin?"
Schlagartig wurde er wieder ernst. Er schaute auf die Ampel, die gerade umsprang. Im Anfahren antwortete er auf die Frage: "Du warst heute morgen schon ganz durch den Wind, als hättest du eine schlechte Nacht hinter dich bringen müssen. Was war denn los?"
Sie zögerte kurz und musterte ihn erst prüfend, ehe sie darauf einging: "Ich hatte einen blöden Traum, der mich irgendwie beschäftigte", gab sie zu.
"Bis vorhin?"
"Das hast du erkannt?"
"Ja, habe ich."
"Dann sage mir mal, was deinerseits dazu beigetragen hat, daß du vorhin so verwirrt warst. Wenn ich mich recht erinnere, warst du heute morgen auch schon ziemlich durch den Wind. Ich meine, es war mehr als ungewöhlich, daß du aufgetaucht bist, ohne vorher anzurufen. Das Ganze hättest du mir echt auch am Telefon sagen können. Dann hätte ich Zeit gehabt, mir alles gründlich zu überlegen."
"Richtig." Er schürzte die Lippen und konzentrierte sich auf das Fahren, ehe er weitersprechen konnte: "Ich hatte ebenfalls einen seltsamen Traum. Jetzt, wo du es erwähnt hast, kommt er mir noch viel seltsamer vor. Ich habe noch nie in meinem Leben so etwas geträumt. Und als dann heute morgen Vater mir eröffnete, ich solle kurzfristig seine und Mutters Reise mit dieser Yacht übernehmen... Da bin ich sozusagen aus allen Wolken gefallen."
"Weil dein Traum mit genau dieser Segelyacht zu tun hatte?" erkundigte sich Sara erschrocken.
Trotz des dichten Verkehrs mußte er einen Blick auf Sara werfen. "Du hattest das auch?"
"Ja, in der Tat. Aber erzähle mir erst deinen Traum. Hatte er auch zu tun mit dem... Geisterpiraten?"
Er runzelte die Stirn und dachte nach.
"Geisterpirat? Nie gehört!"
"Na, dann erzähle doch mal", verlangte Sara.
"Irgendwann in der Nacht sah ich mich auf einem luxuriösen Segelschiff. Wir waren beide dort, aber ich konnte dich nirgendwo finden. Ich fragte die Besatzung und durchsuchte die ganze Yacht. Kein Glück. Es war schrecklich, und ich hatte auf einmal eine Heidenangst, daß dir etwas passiert sein könnte. Schließlich war es mitten in der Nacht und dann auf hoher See. Aber der Mann am Ruder beteuerte hoch und heilig, dich nicht an Deck gesehen zu haben. Zwei der Seeleute waren ebenfalls auf Deck gewesen, weil es unter Deck ziemlich schwül war und sie frische Luft schnappen wollten, wie sie behaupteten. Wärst du an Deck gewesen, hätten zumindest diese es bemerkt. Aber wo warst du dann abgeblieben? Wir hatten uns beide in unsere Kabine zurückgezogen. Daran konnte ich mich deutlich erinnern. Dann wurde ich wach, und du warst verschwunden. Alle deine Sachen waren noch da. Aber wohin konntest du mit nur dem Nachthemd bekleidet...?"
"Nachthemd?" fiel ihm Sara ins Wort. "Ich schwöre dir, Niels, ich habe so etwas überhaupt nicht."
Er runzelte abermals die Stirn. "Ja, auch daran erinnere ich mich: Das Nachthemd war nicht von dir. Aber ich weiß nicht mehr, wieso du es angezogen hast. So ein Blödsinn aber auch..."
"Was geschah noch in deinem Traum?" wollte Sara unbedingt wissen.
"Nichts weiter. Ich wurde wach - und kann mich immer noch an jede Kleinigkeit erinnern." Er warf schon wieder einen Blick auf Sara, obwohl er weiter vorn abbiegen mußte. "Jetzt sage bloß, du hast geträumt, wo du dich befunden hast?"
"Nicht gerade das, aber..." Sara brach ab.
Niels lachte humorlos. "Wäre ja noch schöner gewesen. Ist sowieso völlig unlogisch, daß wir anscheinend beide von der Segelyacht träumten, zu einem Zeitpunkt, wo wir überhaupt noch nicht wissen konnten, was uns echt bevorstand."
"In der Tat!" entfuhr es Sara.
"Jetzt erzähle doch mal selber. Wie kommst du eigentlich auf die Bezeichnung Geisterpirat?"
"Ach, das?" Sie zögerte, und dann entschloß sie sich, nicht die Wahrheit zu erzählen, ohne selber zu wissen wieso. Als wäre da wieder jenes Fremde - oder jener Fremde? -, der die Wahrheit verhinderte: "Ich träumte ebenfalls von der Segelyacht. Es war Nacht, und wir waren auf hoher See. Ich ging an Bord, weil ich wegen der Schwühle nicht schlafen konnte. Und ich hatte dieses Nachthemd an, was ich überhaupt nicht begreifen will."
"Du gingst an Deck? Aber wieso haben die mich angelogen?"
"Weil es eben nur ein Traum war!" belehrte sie ihn.
"Da wäre ich mir nicht sicher. Wann jemals hatten zwei Menschen denselben Traum und dann noch von etwas, was zwei Tage später tatsächlich eintreten würde und wovon sie zum Zeitpunkt des Traumes nicht das Geringste ahnen konnten?" Es war das dritte Mal, daß er sie kurz anschaute, obwohl der Verkehr dies verbot. "Sag, Sara: Bist du etwa... ins Wasser gefallen oder was?"
"Im Traum?" Sara mußte unwillkürlich lachen. "Nein, bin ich nicht. Ich war einfach nur an Deck, und dann wurde ich wach."
"Aber wieso habe ich dich nicht finden können?"
"Bestimmt, weil ich vor dir wach geworden bin. Ich lag halt wieder in meinem Bett, während du noch allein an Bord geblieben bist."
Niels Orsted zuckte bei diesen Worten zusammen wie unter einem Peitschenhieb. "Tatsächlich?" murmelte er entgeistert. "Das könnte die Begründung sein."
"Spinnst du?" zog Sara ihn auf. "Das war doch jetzt nur ein Scherz gewesen."
Er schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, Sara, tut mir leid, aber im Zusammenhang mit dem Traum, da ist mir absolut nicht zu Scherzen zumute, glaube mir. Das war alles so total realistisch - und dann die Umstände... Wirklich, Sara, da halte ich alles für möglich."
"Auch daß es vielleicht besser wäre, diese Segelreise zu unterlassen?" erkundigte sich Sara vorsichtig.
"Ja, meinst du?" Er schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. "Ich war regelrecht versessen darauf, den Trip zu unternehmen, heute morgen, nach der Eröffnung durch Vater. Ich wollte einfach wissen, was es mit diesem Traum auf sich hatte."
"Vielleicht wolltest du auch wissen, wo ich denn in diesem Traum abgeblieben war?"
"Sara!" rief er aus. "Verdammt, du sagst da Dinge... Ja und noch einmal: Ja! Das war so gruselig, und ich habe mir solche Sorgen gemacht, dich nicht zu finden. Ich meine, die Yacht ist zwar sehr groß, aber doch nicht groß genug, daß man sich darauf so gut verstecken könnte." Er stockte kurz. "Hattest du dich denn versteckt?"
"Niels, du redest ja wirklich so, als hätten wir beide den Traum gleichzeitigt!" warf Sara ihm vor, der allmählich das Gespräch gruseliger vorkam als der Traum an sich.
"Natürlich, wieso nicht? Hast du nun von derselben Yacht erzählt oder nicht?"
"Habe ich, klar, aber..." Beinahe hätte sie gesagt: "...aber es muß zu einem anderen Zeitpunkt sich abgespielt haben, denn als ich davon träumte, da war die ganze Yacht ohne Besatzung, und irgendwie stimmte etwas nicht mit dem Ruder. Und dann war doch noch jemand aufgetaucht, ein Fremder, der mir vertraut vorkam, als wärst du er oder er wäre du." Im letzten Moment konnte sie es sich verkneifen. Nicht nur, weil es ziemlich unpassend geklungen hätte, wie sie meinte, sondern vor allem, weil sie sich plötzlich fragte: Und wenn es trotzdem zum selben Zeitpunkt gewesen war? Für Niels war alles normal geblieben, aber ich befand mich zwar auf demselben Schiff, aber irgendwie in einer... anderen Sphäre! Und dort gab es keinen Niels und keine Besatzung mehr. Dafür gab es den Nebelberg - und jenen Fremden.
Niels sagte in diesem Moment etwas, aber Sara verstand es gar nicht. Sie murmelte vor sich hin, ohne es verhindern zu können: "Geisterpirat!"
"Schon wieder dieses Wort? Sara, was hat es zu bedeuten?"
"Ich war an Deck, ja, aber da war noch jemand."
"Der Geisterpirat?"
Sara sah den Fremden deutlich vor sich. Wie ein Schlafwandler war er ihr erschienen. Er hatte aber doch vom Geisterpiraten in dritter Person gesprochen. Wieso neigte sie jetzt zu der Meinung, er könnte es selber gewesen sein - nämlich der Geisterpirat? Auf einmal war sie nicht nur der Meinung, sondern hundertprozentig überzeugt davon!
"Sage es mir endlich Sara: Was war das für ein Traum, den wir beide hatten? Wir träumten irgendwie dasselbe, aber ich habe dich gesucht und nicht gefunden. Hatte es denn... mit diesem Geisterpiraten zu tun?"
"Ich weiß es nicht, Niels, ehrlich, weil ich wach wurde, kurz nachdem er aufgetaucht war." Damit hatte Sara noch nicht einmal gelogen. Sie war ja tatsächlich kurz nach dessen Auftauchen wachgeworden.
"Das war nie und nimmer ein Traum!" war Niels jetzt fest überzeugt. "Bleibt die Frage: Sollen wir nun wirklich das Wagnis eingehen oder nicht?"
"Wagnis?"
"Sara, überlege doch mal: Ich habe dich vergeblich gesucht. Was, wenn wirklich etwas Schreckliches dort draußen auf dem Meer auf uns wartet? Vielleicht hat uns eine Art göttliche Macht den Traum geschickt, um uns eindringlich zu warnen?"
"Das glaubst du wirklich, Niels?"
"Ich glaube gar nichts. Ich weiß nur, so einen Traum hatte ich noch nie, und ich kenne auch niemanden, dem Ähnliches widerfuhr. Außer dir, Sara. Bestimmt, weil unser beider Schicksal eng damit verwoben ist, aus welchem Grund auch immer."
"Wenn wir morgen die Reise nicht antreten, werden wir die Wahrheit nie erfahren", murmelte Sara tonlos.
"Und was ist, wenn einer von uns beiden diese Reise nicht lebend übersteht? Oder wenn wir beide gar...?"
"Wir wissen es nicht, weil der Traum aufhörte, ehe wir mehr erfahren konnten. Ich mache dir einen Vorschlag, Niels: Sage deinem Vater zu. Bringe mich natürlich erst heim und gehe sofort danach zu deinem Vater. Wir packen unsere Sachen für die Reise. Und dann legen wir uns hin, um zu schlafen."
"Und zu träumen?"
"Genau das!"
"Und wenn kein weiterer Traum kommt?"
"Das werden wir bis morgen wissen. Und dann können wir immer noch überlegen, was zu tun ist."
"Ich kann doch nicht heute meinem Vater noch einmal zusagen, daß er anschließend seinem Geschäftspartner Bescheid gibt, und dann morgen womöglich wieder absagen!" protestierte Niels.
"So, kannst du nicht? Dann nenn mir eine Alternative!"
Niels grübelte darüber nach, aber es fiel ihm offensichtlich nichts ein, weshalb er am Ende zustimmte: "Also gut, machen wir es so."
Gerade hatten sie Saras Adresse erreicht. Er stoppte am Straßenrand. Sie schauten sich lange und sehr ernst an, bevor sie sich zum Abschied umarmten und küßten. Beinahe fühlten sie sich dabei, als wäre es ein Abschied für lange Zeit. Vielleicht sogar... für immer?
*
Sara nahm zwei Reisetaschen, weil sie glaubte, das sei besser als ein großer Koffer, wenn sie mit Niels an Bord der Segelyacht ging. In die eine Tasche packte sie leichte Sachen für die Hitze des Tages und in die andere alles, was sie benötigte für möglicherweise kalte Nächte. In Rekordzeit war sie fertig mit dem Packen. Sie hatte es geschafft, dabei möglichst nicht an all das Mysteriöse zu denken, das mit der bevorstehenden Seereise zusammenhing. Nachdenklich betrachtete sie die Reisetaschen, eigentlich voll und ganz überzeugt davon, Wichtiges für unterwegs vergessen zu haben. Es wäre ja zu schön gewesen, jetzt schon zu wissen, was das im einzelnen sein würde!