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DAS GEHEIMNIS EINER RÖMISCHEN NACHT von LUCY GORDON In einer zärtlichen Nacht in Rom hat Lucio sie in den Himmel der Liebe entführt – jetzt muss Charlotte ihm ein Geständnis machen! Wie soll sie ihn bloß finden? Sie kennt nur seinen Vornamen und weiß, dass er Winzer in der Toskana ist … RENDEZVOUS IM LAVENDELGARTEN von BELLA BLOOM Ein Château umgeben von Lavendel: Anna ist bezaubert – und fasziniert von David Lefleur, dem Besitzer. In seinen schönen Augen liest sie den gleichen Wunsch, den sie hat: noch einmal lieben. Aber kann sie das nach dem Verrat ihres Ex-Freundes überhaupt? SOBALD ES NACHT WIRD IN NEW YORK von BARBARA WALLACE Ist die schöne Kellnerin Roxy eine geldgierige Betrügerin – oder tatsächlich eine Millionenerbin? Solange der New Yorker Staranwalt Mike Templeton nicht mehr über seine neue Klientin weiß, muss er ihren Sex-Appeal ignorieren! Doch das ist nicht leicht …
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Seitenzahl: 519
Lucy Gordon, Bella Bloom, Barbara Wallace
ROMANA EXKLUSIV BAND 372
IMPRESSUM
ROMANA EXKLUSIV erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Erste Neuauflage 2024 in der Reihe ROMANA EXKLUSIV, Band 372
© 2012 by Harlequin Enterprises ULC Originaltitel: „The Secret That Changed Everything“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dorothea Ghasemi Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 18
© 2015 by CORA Verlag, Hamburg Originaltitel: „Rendezvous im Lavendelgarten“ Deutsche Erstausgabe 2015 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 27
© 2013 by Barbara Wallace Originaltitel: „The Billionaire’s Fair Lady“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Johannes Martin Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 15
Abbildungen: Liderina / Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 03/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751523974
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, TIFFANY
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Da war er!
Der Mann, den sie so verzweifelt gesucht hatte. Zuerst war sie sich nicht ganz sicher gewesen, denn damals hatte er anders ausgesehen. Er war chic angezogen gewesen und hatte sich sehr selbstsicher in jener Bar, einer der angesagtesten in Rom, bewegt.
Er war um die dreißig, groß und durchtrainiert und hatte schwarzes Haar. In dem lässigen Hemd und den Jeans, die er jetzt trug, schien er allerdings genauso hierher in die Toskana zu gehören. Im Schein der untergehenden Sonne betrachtete er konzentriert die Weinreben und bemerkte nicht, dass sie ihn aus einiger Entfernung beobachtete.
Lucio Constello.
Schnell nahm sie den Zettel aus ihrer Tasche und warf noch einen Blick darauf. Wenn man jemandem schlechte Nachrichten überbrachte, sollte man wenigstens seinen Namen richtig aussprechen. Damals hatte sie ihn nur unter seinem Vornamen kennengelernt, denn er war verschwunden, als sie noch schlief.
Vergeblich hatte Charlotte versucht, die Erinnerungen zu verdrängen. Doch immer wieder tauchte das Bild seines nackten Körpers vor ihrem geistigen Auge auf, und sie glaubte, seinen warmen Atem zu spüren und zu hören, wie er ihren Namen flüsterte.
Er hatte immer einen fragenden Unterton in der Stimme gehabt, als wollte er von ihr wissen, ob sie sich sicher war. In ihrem Leben gab es allerdings keine Sicherheit mehr. Sie hatte sich an ihre Familie und an ihren Freund geklammert. Dieser hatte sie jedoch fallen lassen, und in ihrer Familie hatte es heftig gekriselt. Nur deshalb war sie mit Lucio ins Bett gegangen – weil ihr damals alles egal gewesen war.
Als er plötzlich aufblickte und sie bemerkte, erstarrte er. Hatte er sie etwa erkannt und den Grund für ihr Kommen erraten? Oder hatte er die Frau, mit der er vor einigen Wochen für wenige Stunden zusammen gewesen war, schon vergessen?
Als Lucio aufblickte, blendete ihn die Sonne so, dass er zunächst nichts richtig erkennen konnte. Nur schemenhaft nahm er wahr, dass eine Frau zwischen den Weinstöcken auf ihn zusteuerte.
Wie oft hatte er Maria aus der Ferne auf sich zukommen sehen? Aber Maria war tot.
Die Frau, die sich ihm jetzt näherte, war jedoch eine Fremde und ihm trotzdem seltsam vertraut. Unverwandt richtete sie den Blick auf ihn.
Und in dem Moment wusste er, dass nichts wieder so sein würde wie vorher.
Nach Italien zu gehen, war – wie Charlotte fand – eine brillante Idee gewesen. Sie konnte ihre Sprachkenntnisse verbessern, Land und Leute kennenlernen und die Tatsache verdrängen, dass sie New York fluchtartig verlassen hatte.
Ein Schatten war auf ihr Leben gefallen, seit sie fälschlicherweise an die große Liebe geglaubt hatte. Sie gehörte zu niemandem, und niemand gehörte zu ihr. Vielleicht hatte diese Einsicht sie veranlasst, ihren Laptop vorerst nicht zu benutzen und so unerreichbar zu sein.
Zwei Monate lang war sie durch Italien gereist, auf der Suche nach etwas, das sie nicht ergründen konnte. Mit siebenundzwanzig, also in einem Alter, in dem die meisten Menschen ihren Weg gefunden hatten, wusste sie immer noch nicht, wohin ihrer führte.
Im Zug von Neapel nach Rom hatte sie an Don gedacht, den Mann, den sie einmal zu lieben geglaubt hatte. Da er sich jedoch nicht hatte binden wollen, war sie schnell auf Abstand gegangen.
Charlotte bereute es nicht, weil sie in ihrem tiefsten Inneren wusste, dass er nicht der Richtige für sie gewesen war. Es war Zeit für etwas Neues. Doch wohin sollte sie gehen?
In Rom angekommen, hatte sie sich ein Taxi zum Geranno in der Via Vittorio Veneto, einer der elegantesten und teuersten Straßen der Stadt, genommen. Das Hotel verfügte sogar über ein Internetcafé, das sie sofort aufsuchte, um Kontakt zu ihrer Familie und ihren Freunden aufzunehmen. Um Don mitzuteilen, dass sie ihm gegenüber keinen Groll hegte und sie beide Freunde bleiben konnten, rief sie seine Seite in dem sozialen Netzwerk auf, in dem er aktiv war.
Erschrocken entdeckte sie dort die Zeilen, mit denen er sich für die Glückwünsche zu seiner und Jennys Verlobung bedankte.
Jenny! Sie hatte Don immer schöne Augen gemacht und war sehr sexy mit ihren aufreizenden Kurven.
Ganz anders als ich, dachte Charlotte.
Manch eine Frau hätte sie zwar um ihr Aussehen beneidet, denn sie war groß, schlank und mit ihrem dunklen Haar und den dunklen Augen ein Typ, der auffiel, und es war kein Wunder, dass sie immer Verehrer gehabt hatte.
Dass Don ihr nicht nachtrauerte, sollte ihr nur recht sein. Was vorbei war, war vorbei.
Als Charlotte schließlich ihre E-Mails abrufen wollte, sah sie sofort eine von ihrer Schwester Alex mit der Betreffzeile Das glaubst du nie!
Da Alex einen Hang zur Theatralik hatte, dachte Charlotte sich zunächst nichts dabei. Doch als sie die Nachricht las, erstarrte sie.
„Mom …“, flüsterte sie entsetzt, „das kann nicht sein!“
Ihre Mutter Fenella war in zweiter Ehe mit Cedric Patterson verheiratet. Ihr erster Mann war der texanische Rancher Clay Calhoun gewesen. Nach der Hochzeit mit Cedric war sie nach New York gezogen und hatte vier Kinder bekommen: die Zwillinge Matt und Ellie, sie und ihre jüngere Schwester Alexandra.
Liebe Charlotte,
anscheinend war Mom schon mit Matt und Ellie schwanger, als sie Clay verlassen hat. Sie hat es ihm in einem Brief mitgeteilt, aber zu dem Zeitpunkt war er schon mit Sandra zusammen, die ihm das Schreiben offenbar unterschlagen hat. Niemand wusste vor dem Tod der beiden davon. Clay ist letztes Jahr gestorben, und man hat die Nachricht ungeöffnet gefunden. Also hat er offenbar nie von der Existenz der Zwillinge erfahren. Was sagst Du dazu? Die beiden sind also nur unsere Halbgeschwister! Als Ellie es mir erzählt hat, konnte ich es nicht fassen. Ich bin immer noch ganz durcheinander.
Liebe Grüße
Alex
Schnell überflog Charlotte ihre anderen E-Mails, doch anders als sie erwartet hatte, war keine von Ellie dabei. Ihre Schwester hatte es also nicht für nötig befunden, ihr die Neuigkeit mitzuteilen, sondern es Alex überlassen. In diesem Moment fühlte sich Charlotte, als würde sie gar nicht richtig zur Familie gehören.
Auf dem Rückweg zur Lobby beschloss sie, in die Bar zu gehen, denn sie konnte jetzt einen Drink gebrauchen.
Sie holte sich einen Tequila, konnte allerdings nur am anderen Ende des Raums einen freien Platz entdecken. An die Wand gelehnt, ließ sie den Blick durch die Bar schweifen. Sie war in verschieden große Nischen unterteilt. In den kleinen saßen Pärchen, in den größeren Gruppen. Alle Gäste sahen toll aus und waren sehr chic gekleidet, sodass man den Eindruck bekommen konnte, als hätte sich an diesem Abend die Creme der Gesellschaft hier versammelt.
In der Nische direkt neben ihr befand sich eine siebenköpfige Gruppe, deren Personen sich ausnahmslos auf einen Mann konzentrierten. Dieser war etwa Anfang dreißig und sehr attraktiv. Wenn er lachte, stimmten alle mit ein. Wenn er sprach, lauschten die anderen ihm wie gebannt.
In seinem Leben herrscht bestimmt nie Stillstand, dachte Charlotte ein wenig neidisch.
Genau in dem Moment blickt er auf und ertappte sie dabei, dass sie ihn beobachtete. Fragend sah er sie an, bis eine der Frauen ihn ansprach und er sich ihr mit einem gewinnenden Lächeln zuwandte.
Charlotte wünschte, sie wäre sich ihrer auch so sicher. Ihre Zukunft erschien ihr ziemlich düster. Nach New York zurückzukehren, käme einer Niederlage gleich. Sie konnte ein Jahr in Italien bleiben, wie sie es sich vorgenommen hatte, aber das erschien ihr nun nicht mehr so erstrebenswert, wenn sie an die Entwicklung der Dinge in ihrer Familie dachte.
Und plötzlich ertrug sie es nicht mehr, niemanden zu haben. Nachdem sie ihren Tequila getrunken hatte, blickte sie starr in das leere Glas.
„Entschuldigen Sie, darf ich?“
Es war der Mann von nebenan, der an der Bar offenbar etwas bestellen wollte. Als Charlotte sich zurücklehnte, um ihm Platz zu machen, stieß er versehentlich gegen sie.
„Verzeihen Sie“, entschuldigte er sich auf Italienisch.
„Keine Ursache“, versicherte sie. „Es ist nichts passiert.“
„Ich darf Ihnen aber einen Drink spendieren, oder?“
Nachdem sie genickt hatte, wies er den Barkeeper an: „Bringen Sie der Dame bitte ein Glas von Ihrem besten Chianti, und meine Freunde und ich hätten gern auch noch eine weitere Flasche Wein.“
Sofort servierte ihr der Angestellte das Gewünschte, und als Charlotte einen Schluck trank, stellte sie fest, dass sie noch nie einen so herrlichen Wein gekostet hatte. Dabei bemerkte sie, dass der Italiener sie beobachtete, und prostete ihm zu, woraufhin er auch sein Glas hob. Fast schien es, als wollte er die Frau neben ihm eifersüchtig machen, wie Charlotte amüsiert feststellte.
Zu ihrem Erstaunen unterhielt sich die Gruppe auf Englisch, denn sie konnte einige Satzfetzen verstehen. Wie sie vermutet hatte, gehörten diese Leute zu den Reichen und Schönen, denn ihr Small Talk drehte sich um Segeltörns und Partys. Fasziniert verfolgte Charlotte, wie die besagte Frau und eine andere förmlich um die Aufmerksamkeit des Mannes buhlten.
Sie konnte es nur zu gut verstehen, denn er sah nicht nur fantastisch aus und trug teure Kleidung, sondern wirkte auch sehr selbstsicher. Er schien ein Mann zu sein, der keine Angst und Zweifel kannte, was total im Gegensatz zu ihr stand.
Zu allem Überfluss saß neben ihr auch noch eine Italienerin, die mit ihrem Begleiter ständig verliebte Blicke wechselte und schließlich Arm in Arm mit ihm die Bar verließ.
Sofort stand der Mann in der Nische auf, entschuldigte sich bei seinen Begleitern und nahm auf einem der leeren Barhocker Platz.
„Darf ich Ihnen noch einen Drink spendieren?“, erkundigte er sich.
„Ja, aber bitte nichts Starkes. Ich muss eigentlich los.“
„Sind Sie allein?“, fragte er nach einem Moment.
„Ja.“
Nun lächelte er jungenhaft. „Es wäre besser, wenn Sie einen Begleiter hätten, der Sie vor solchen Typen wie mir beschützt.“
„Ich kann auf mich selbst aufpassen.“
„He, Lucio!“, rief plötzlich einer von der Gruppe. „Lass uns gehen.“
Die anderen waren bereits aufgestanden.
„Ich komme nicht mit“, erwiderte er. „Ich bin hier in einer halben Stunde mit jemandem verabredet. Es war schön, euch zu sehen.“
Nachdem die Leute verschwunden waren, wirkte er sichtlich erleichtert.
„Sie scheinen Ihre Freunde ziemlich enttäuscht zu haben“, bemerkte Charlotte mit einem vorwurfsvollen Unterton.
„Das waren nur oberflächliche Bekannte. Zwei davon habe ich heute zum ersten Mal getroffen. Ich will Geschäfte mit ihnen machen.“
„Und nun warten Sie auf Ihr nächstes Opfer?“
Der Mann lächelte lässig. „Nein. Ich wollte sie nur loswerden.“
Damit er nicht merkte, wie sehr sie sich darüber freute, blickte Charlotte schnell in ihr Glas.
„Ich bin übrigens Lucio …“
Da in diesem Moment ein Gast etwas rief, verstand sie seinen Nachnamen leider nicht. „Charlotte“, stellte sie sich vor.
„Sind Sie wirklich Italienerin?“, erkundigte Lucio sich, den Kopf leicht zur Seite geneigt. „Ich kann Ihren Akzent nicht so ganz einordnen. Kommen Sie aus Neapel?“
„Es könnte auch Sizilien sein, oder?“, neckte Charlotte ihn.
„Nein, ganz bestimmt nicht“, erwiderte er prompt.
„Dann scheinen Sie die Insel gut zu kennen.“
„Ja. Aber wir hatten gerade über Sie gesprochen.“
„Ich bin Amerikanerin“, gestand sie schließlich. „Ich komme aus New York.“
„Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen! Sie sprechen wie eine Einheimische.“ Als sich jemand an ihnen vorbeidrängte, meinte Lucio: „Es wird immer voller. Kommen Sie, lassen Sie uns gehen.“ Er umfasste ihren Arm und führte sie zur Tür.
Charlotte registrierte die neidischen Blicke einiger weiblicher Gäste. Doch sie fand Lucio nett und hatte Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Dass er fantastisch aussah und so selbstsicher war, empfand sie nur als Pluspunkt.
„Also, warum haben Sie Italienisch gelernt?“, erkundigte er sich, als sie wenig später die Via Veneto entlangschlenderten.
„Italienisch hat mich von allen Fremdsprachen immer am meisten fasziniert. Deswegen habe ich mich richtig hineingekniet.“
„Und sich dann einen Job hier gesucht. Ich nehme an, Sie haben einen Job in der amerikanischen Botschaft.“
„Nein, ich arbeite als freiberufliche Übersetzerin in New York. Ich übersetze Bücher aus dem Italienischen. Manchmal werde ich auch von Universitäten engagiert, damit ich alte Manuskripte durchsehe. Irgendwann hatte ich dann Lust, Land und Leute kennenzulernen, und habe mir ein Flugticket gekauft.“
„Sind Sie denn nicht gebunden? Was ist mit Ihrer Familie?“
„Ich habe Eltern und Geschwister, aber niemanden, der mich in meiner Freiheit einschränken könnte.“
„Freiheit“, wiederholte Lucio versonnen. „Darum geht es Ihnen also, ja?“
„Unter anderem.“ Charlotte lachte ironisch. „Von uns Schwestern ist Ellie die schöne, Alex die liebenswerte, und ich bin die verrückte.“
„Erzählen Sie mehr.“
„Ich wollte zum Beispiel unbedingt einen gewissen Typen heiraten. Meine Eltern waren dagegen, denn wir waren erst siebzehn. Und da ich auf keinen Fall nachgeben wollte, sind wir miteinander durchgebrannt.“
„Sie haben tatsächlich so jung geheiratet?“
„Nein. Schon nach wenigen Meilen sind wir zur Vernunft gekommen.“
Lucio lachte schallend. „Und wie haben Ihre Eltern reagiert?“
„Meine Mutter ist eine sehr kluge Frau und hat in aller Ruhe mit mir darüber geredet. Sie kannte solche verrückten Dinge schon von mir.“
„Ist denn die Ehe der Weg in die Freiheit? Ein Ehemann kann einen doch ziemlich einschränken.“
Charlotte lachte. „Daran habe ich damals nicht gedacht. Ich habe mir einfach vorgestellt, dass er nach meiner Pfeife tanzt. Bevor es jedoch zu spät war, habe ich zum Glück erkannt, dass meine Vorstellung nicht der Wirklichkeit entsprach.“
„Dann sind Sie also immer noch ungebunden?“
Betont lässig meinte sie: „Das ist heutzutage schließlich nicht ungewöhnlich.“
„Stimmt. Früher hat sich eine unverheiratete Frau fragen müssen, warum kein Mann sie will. Heute dagegen überlegt sie, wie sie sich die Typen am besten vom Leib hält.“
„Genau“, bestätigte sie in amüsiertem Tonfall. „Manchmal muss man wirklich erfinderisch sein. Und manchmal einfach rücksichtslos.“
„Sie scheinen, was das betrifft, eine Expertin zu sein oder eine Frau, die schlechte Erfahrungen gemacht hat und zurückschlägt.“ Als er ihren ironischen Gesichtsausdruck sah, fuhr Lucio schnell fort: „Es tut mir leid, das geht mich nichts an.“
„Das ist schon gut. Wenn wir uns immer nur um unsere Angelegenheiten kümmern würden, hätten wir keine interessanten Gesprächsthemen mehr.“
„Muss ich jetzt nervös werden?“
„Ich könnte Sie jetzt nach Sizilien fragen, oder? Haben Sie dort eine heimliche Ehefrau? Oder zwei? Das wäre wirklich interessant.“
„Nein, ich habe weder eine Frau noch irgendwelche Geheimnisse. Ich wurde auf Sizilien geboren, habe die Insel aber schon vor Jahren verlassen, weil ich mir dort ein Leben nicht vorstellen konnte. Genau wie Sie habe ich die Welt kennenlernen wollen und bin dann bei einer Winzerfamilie gelandet. Ich habe den Weinbau von Anfang an geliebt. Die Besitzer haben mich so gut wie adoptiert und mir dann das Gut hinterlassen.“
Und er hat das Geschäft ausgebaut und offenbar großen Erfolg damit, dachte Charlotte. Seine Kleidung und die unverhohlene Bewunderung seiner Begleiter in der Bar schienen dafür zu sprechen.
Sie hatten inzwischen das Ende der Straße erreicht, und als sie jetzt um die Ecke gingen, blieb Charlotte verblüfft stehen.
„Da ist ja der Trevi-Brunnen“, sagte sie ehrfürchtig. „Den wollte ich schon immer sehen. Er ist so schön …“
Dahinter erhob sich die Fassade eines Palastes mit einem Triumphbogen. In der Mitte des Brunnens befand sich die halb nackte Figur des Meeresgottes Neptun, der von verschiedenen Skulpturen, über die sich Wasser ergoss, umgeben war. Von vielen Strahlern angeleuchtet, bot die Touristenattraktion einen überwältigenden Anblick.
Wenig später suchten Charlotte und ihr Begleiter ein Straßencafé auf und beobachteten von dort das Treiben ringsum.
„Eigentlich erstaunlich, dass Menschen sich so amüsieren können“, bemerkte Charlotte leise und ein wenig traurig.
„Heißt das, dass Sie momentan unglücklich sind?“
„Nein“, versicherte sie schnell. „Im Moment finde ich mein Leben nur etwas langweilig. Die Beschäftigung mit juristischen Texten und mit Geschichtsbüchern … manchmal muss ich mir einfach ins Gedächtnis rufen, dass es noch andere Dinge im Leben gibt.“
Forschend betrachtete Lucio sie. Ob er wohl dachte, dass eine Frau mit ihrem Äußeren mit Männern jede Menge Spaß haben konnte?
„Italien hat aber mehr zu bieten als trockene Geschichte“, stellte er fest.
„Ich weiß. Man braucht nur in der Dämmerung durch die Straßen von Rom zu gehen und entdeckt eine Menge Dinge.“
Sein jungenhaftes Lächeln und die Art, wie er zustimmend nickte, sprachen Bände. Zweifellos fehlte es ihm nicht an Spaß im Leben.
„Sie sind also das schwarze Schaf der Familie, weil Sie mit siebzehn durchgebrannt sind?“, hakte er nach.
Charlotte lachte. „Nicht nur deswegen. Es gab da mal einen Politiker, einen echten Saubermann, der zu Besuch in New York war. Er hatte den ersten Abend an einem Ort verbracht, wo er sich lieber nicht hätte blicken lassen sollen. Ich habe ihn dort gesehen und ihn bei einer Podiumsdiskussion darauf angesprochen.“
„Schämen Sie sich!“
„Ja, ich besitze wirklich keinen Anstand. Doch jedem das Seine. Während meine Schwester Ellie eine begnadete Tänzerin ist und meine Schwester Alex eine hervorragende Tierärztin, bin ich eben so.“
„Und Sie sind sehr sprachbegabt.“
„Ach, das! Mit dem Übersetzen verdiene ich nur meinen Lebensunterhalt. Nein, mein wahres Talent ist, meinen Willen durchzusetzen. Was das betrifft, bin ich praktisch ein Genie.“
„Jetzt beginnen Sie mich wirklich zu interessieren. Haben Sie deswegen alles hinter sich gelassen, um auf Reisen zu gehen?“
„Gewissermaßen schon. Ich wollte eine andere Welt entdecken, und das tue ich gerade. So ist das im Leben nun einmal. Man muss sich darüber klar werden, was man will, und dann alles daransetzen, es auch zu bekommen.“ Charlotte prostete Lucio zu. „Und Sie haben bestimmt auch dunkle Seiten, oder?“
Er tat schockiert. „Ich? Nein, ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mein Geld mit ehrlicher Arbeit zu verdienen.“
„Solche Phrasen machen mich sofort misstrauisch. Ich glaube Ihnen kein Wort.“
Eine Weile plänkelten sie so und lachten dabei viel. Als Charlotte schließlich einen Blick auf ihre Uhr warf, stellte sie erstaunt fest, dass es schon spät war. Doch auf seltsame Weise fühlte sie sich mit Lucio verbunden, fast als wäre er ein Bruder von ihr.
Als er im nächsten Moment den Kopf wandte und sie sein Profil im Licht der Strahler des Brunnens sah, weckte er allerdings keine schwesterlichen Gefühle in ihr, denn er war viel attraktiver als alle anderen Männer, die sie bisher kennengelernt hatte.
Unwillkürlich erinnerte sie sich an das erste Mal, als sie mit Don geschlafen hatte. Irgendetwas hatte gefehlt, wie ihr erst jetzt bewusst wurde.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte Lucio sich.
„Ja. Ich glaube, ich habe nur Hunger.“
„Die Snacks hier sind sehr lecker. Ich hole mal die Speisekarte.“
„Ich nehme einfach das, was Sie wählen.“
Er bestellte für sie und sich jeweils eine calzone, die sie sich in einvernehmlichem Schweigen schmecken ließen.
„Warum sehen Sie mich so an?“, erkundigte Charlotte sich nach einer Weile.
„Ich versuche nur, Ihr Geheimnis zu ergründen. Sie kommen mir nicht wie eine Frau vor, die es einem Mann überlässt, etwas für sie auszusuchen.“
„Stimmt. Aber das hier ist alles neu für mich, und ich lerne täglich dazu.“
„Dann entdecken Sie mich also auch?“
„Auf jeden Fall. Ich stoße gern auf etwas Unerwartetes. Sie etwa nicht?“
„Manchmal denke ich, in meinem Leben ist schon zu viel Plötzliches passiert. Schließlich braucht man Zeit, um sich an die Dinge zu gewöhnen.“
Charlotte hoffte, Lucio würde es näher erläutern, denn inzwischen faszinierte sie alles, was er sagte. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, wurde es auf der Piazza lauter, weil immer mehr Menschen zum Brunnen strömten. Deshalb saßen sie eine Weile nur da und beobachteten, wie die Leute Münzen ins Brunnenbecken warfen.
„Obwohl wir in einem modernen Zeitalter leben, sind die Menschen anscheinend immer noch abergläubisch“, meinte Charlotte versonnen. „Indem sie Geld ins Wasser werfen, glauben sie, ihre Wünsche würden in Erfüllung gehen.“
„Vielleicht ist das gar nicht so falsch“, erwiderte Lucio. „Zu viel Vernunft kann gefährlich sein.“
„Und was ist mit den anderen Gefahren, die auf uns lauern?“
„Man muss sich entscheiden, mit welchen man sich auseinandersetzt und welche man meidet“, sagte er.
Sie nickte. „Der Weg führt in die Freiheit.“
„Und die ist Ihnen wichtiger als alles andere, stimmt’s?“
„Ja, man muss allerdings aufpassen, denn wenn man glaubt, man wäre frei, kann etwas passieren, was in die völlige Isolation führt.“
Offenbar ließ ihr Tonfall ihn aufhorchen. „Erzählen Sie mir, woran Sie dabei denken“, bat Lucio sanft.
„Ich habe angenommen, ich würde meine Familie kennen. Ich habe einen älteren Bruder und eine ältere Schwester, beides Zwillinge, und eine jüngere Schwester. Und nun hat sich herausgestellt, dass es die ganze Zeit ein großes Familiengeheimnis gegeben hat.“ Charlotte seufzte. „Und ich habe es als Letzte erfahren. Es kommt mir jetzt so vor, als würde ich gar nicht mehr dazugehören.“
„Gibt es sonst noch jemanden, der Ihnen nahesteht?“, hakte Lucio nach.
Nun verzog sie das Gesicht. „Ja, da war mal jemand. Wir sind nur langsam vorangekommen, aber ich dachte, wir würden irgendwann ankommen. Aber auch in der Hinsicht bin ich eine Außenseiterin. Es kommt mir so vor, als würde ich durch eine Einöde wandern.“
Eigentlich hatte sie ihm das gar nicht erzählen wollen. Doch sie war damit herausgeplatzt, weil er vieles zu verstehen schien.
„Ich kenne das Gefühl“, gestand er, „aber eine Einöde vermag durchaus ein freundlicher Ort sein. Für eine Weile kann man sich dort ausruhen und Kräfte sammeln. Irgendwann kehrt man dann zurück und zeigt es allen.“
Zu gern hätte sie ihn gefragt, ob er aus Erfahrung sprach. Überall um sie her öffneten sich Türen und Fenster zu geheimnisvollen Wegen, die sie lockten. War es allerdings richtig, ihre Befürchtungen einem Fremden anzuvertrauen?
Als sie dann den Ausdruck in seinen Augen sah, schien es ihr, als würde Lucio ihr die Hand reichen. Ja, warum eigentlich nicht?
„Ich glaube, mein wahres Problem ist, dass ich mir nicht mehr sicher bin, wer ich bin“, gestand Charlotte deshalb.
Lucio nickte. „So etwas ist beängstigend.“
„Stimmt. Bei Don hatte ich immer das Gefühl, als hätte ich die Fäden in der Hand. Dann habe ich jedoch festgestellt, dass es nicht der Fall ist. Oh nein, das klingt so, als wäre ich dominant.“
„Manchmal braucht ein Mann so etwas, damit das Beste an ihm zutage tritt.“
„Ist es Ihnen so ergangen?“
„Nein, sie war nicht dominant genug. Anderenfalls hätte sie mich rechtzeitig an sich binden können, um uns beide zu retten.“ Schnell fügte er hinzu: „Erzählen Sie weiter von sich.“
Nun fühlte sie sich Lucio seelenverwandt, und das Sprechen fiel ihr leichter.
„Was ist aus Ihrer Gabe geworden, dass Sie immer Ihren Willen bekommen?“
„Das funktioniert leider nicht immer.“
Lautes Jubeln vom Brunnen her veranlasste sie, in die Richtung zu blicken, aus der es kam.
„Mit der Vielzahl der Münzen wachsen auch die Wünsche“, stellte Lucio fest.
„Wünscht man sich nicht, nach Rom zurückzukehren?“
„Ja, aber darüber hinaus auch noch etwas anderes, und meistens geht es dabei um die Liebe.“
„Ich würde auch gern noch mal zum Brunnen gehen.“
Sie beschlossen zu bezahlen und schlenderten dann zu der Sehenswürdigkeit.
Als sie schließlich davor standen, nahm Charlotte zwei Münzen aus ihrer Tasche und warf eine in das Becken. „Ich möchte nach Rom zurückkehren“, rief sie dabei.
„Und jetzt müssen Sie sich wünschen, dass Don zu Ihnen zurückkehrt“, sagte Lucio.
„Nein, wir passen nicht zusammen. Das weiß ich jetzt. Lieber verliebe ich mich in einen Italiener. Aber was ist mit Ihnen? Vielleicht taucht Ihre Freundin wieder bei Ihnen auf und nimmt die Zügel in die Hand, weil Sie es ja offenbar wollen.“
Doch er schüttelte den Kopf. „Sie ist an einem Ort, von dem sie niemals zurückkommt.“
„Oh, das tut mir sehr leid. Ist es jetzt erst passiert?“
„Nein“, erwiderte er leise. „Es ist eine Ewigkeit her.“
Charlotte nickte. Nur zu gut konnte sie nachvollziehen, dass die Zeit keine Wunden heilte. Ein flüchtiger Gedanke ging ihr durch den Kopf. Eine andere Frau hatte zwischen ihr und Don gestanden. Doch sie war plötzlich verschwunden und hatte nur Fragen hinterlassen.
Impulsiv streckte Charlotte die Hand aus und legte sie ihm auf die Wange.
„He, ihr beiden, soll das etwa alles sein?“, rief ein junger Mann neben ihnen. „Das hier ist der Brunnen der Liebe. Seht euch um.“
Überall lagen Pärchen einander in den Armen. Einige küssten sich leidenschaftlich. Lucio blickte Charlotte nur kurz an, bevor er sie an sich zog.
„Wir sollten die anderen nicht enttäuschen“, sagte er. Dann presste er die Lippen auf ihre – verlangend und tröstlich zugleich. Es bestärkte sie in dem Gefühl, dass sie mit dem richtigen Menschen am richtigen Ort war.
„Ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe“, flüsterte Lucio dann.
„Mir geht es genauso.“
Dann schlenderten sie langsam zur Via Veneto zurück. Erst als sie das Hotel erreichten, brach Lucio das Schweigen. „Komm, ich bringe dich auf dein Zimmer.“
In diesem Augenblick wurde Charlotte klar, dass sie sich längst entschieden hatte, was sie jetzt tun würde. Es war richtig, und sie würde mit den Folgen leben.
Als Charlotte am nächsten Morgen aufwachte, war sie allein. Neben ihrem Bett lag ein Zettel: Ich danke dir von ganzem Herzen. Lucio.
Beim Frühstück blickte sie sich um, konnte ihn allerdings nirgends entdecken. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie nicht einmal seinen Nachnamen kannte. Seltsamerweise war sie darüber nicht traurig. Es war nur eine flüchtige Begegnung gewesen, und sie hatten es beide gewollt und gebraucht. Lucio war ein leidenschaftlicher und gleichzeitig zärtlicher und rücksichtsvoller Liebhaber gewesen und hatte ihr das Gefühl vermittelt, dass sie überhaupt keine Probleme mehr hatte. Stärker und zuversichtlicher konnte sie nun in die Zukunft blicken.
Einige Wochen später stellte Charlotte jedoch fest, was die Zukunft für sie bereithielt. Nichts würde mehr wie vorher sein. Vor allem musste sie Lucios Nachnamen in Erfahrung bringen. Nach einigen Stunden Onlinerecherche hatte sie in Erfahrung gebracht, dass er Lucio Constello hieß und mit zahlreichen Weingütern im ganzen Land zu den Branchenführern gehörte. Das bekannteste lag in der Toskana.
Kurz darauf hatte sie sich auf den Weg gemacht, um mit ihm zu reden, und nun würde sie bald erfahren, wie es weiterging.
Dahinten stand er jetzt. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen, und es gab jetzt kein Zurück mehr.
„Du bist … hier? In der Toskana?“, fragte Lucio ungläubig. „Das ist ja toll, aber ich fasse es nicht.“
„Warum nicht? Es bestand doch immer die Möglichkeit, dass wir uns irgendwann wiedersehen.“ Charlotte gab sich bewusst lässig, damit er nicht merkte, wie verzweifelt sie nach ihm gesucht hatte. Diese Begegnung hatte ihr sehr bevorgestanden, und sie versuchte jetzt, ihre Gefühle mit einem fröhlichen Lächeln zu überspielen.
„Ich fühle mich geschmeichelt, dass du dich überhaupt an mich erinnerst“, sagte sie.
„Natürlich tue ich das“, erwiderte er leise. „Schließlich hatten wir einen schönen Abend miteinander verbracht. Du hast mich zum Lachen gebracht.“
War das alles, was ihm im Gedächtnis geblieben war?
„Du mich auch“, antwortete sie betont locker.
„Es tut mir leid, dass ich am nächsten Morgen so plötzlich wegmusste. Du hast ganz tief geschlafen, und ich wollte dich nicht wecken.“
Das stimmte nicht ganz. Er hatte jene wundervolle, perfekte Nacht von allen anderen Erinnerungen trennen wollen. Deshalb hatte er sich davongestohlen und nur eine unverbindliche Nachricht hinterlassen, aus der Charlotte weder Rückschlüsse auf seinen Namen noch auf seinen Wohnort hätte schließen können.
Ihr Anblick erfüllte ihn jetzt mit einer unbändigen Freude. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte.
Dann machte sie jedoch alles kaputt.
„Ich musste dich ausfindig machen“, erklärte sie und atmete tief durch. „Ich bin schwanger.“
„Was?“
„Ich bekomme ein Kind von dir.“
Plötzlich konnte Lucio keinen klaren Gedanken mehr fassen, und alle positiven Gefühle verflogen. Es schien ihm, als hätte Charlotte ihm ins Gesicht geschlagen.
„Bist du dir … sicher?“, fragte er, ohne zu überlegen.
„Ja. Es gab keinen anderen vor oder nach dir. Du bist der Vater.“
Charlotte verlor den Mut, als sie Lucio betrachtete. Nun wird er mich genauso zurückweisen, wie Don es getan hat, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie rang sich ein Lachen ab. „Kein Grund zur Panik.“
„Ich bin nicht …“
„Armer Lucio, dachtest du etwa, ich will dich zu einer Heirat zwingen? Du und ich? Das würde niemals funktionieren. Wir würden immer … Egal. Jedenfalls hast du von mir nichts zu befürchten. Ich wollte es dir nur erzählen, weil es dein gutes Recht ist, davon zu erfahren.“
Als sie seinen unsicheren Gesichtsausdruck bemerkte, triumphierte sie insgeheim. Das geschah ihm recht.
„Jetzt weißt du es also. Wenn du darüber reden möchtest, findest du mich hier.“ Sie drückte ihm einen Zettel in die Hand. „Und wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Leb wohl, Lucio. Es war schön, dich kennenzulernen.“
Schnell wandte sie sich ab und ging davon, bevor er sie weiter mit seiner Verwirrung verletzen konnte.
Nachdem sie einige Hundert Meter gegangen war, drehte sie sich jedoch noch einmal um. Wider Erwarten blickte er ihr nicht nach, sondern stand wie erstarrt da und betrachtete starr den Zettel in seiner Hand.
Dieser verdammte Mistkerl!
Schnell schlüpfte sie zwischen den Weinstöcken hindurch, sodass sie sich in der nächsten Reihe befand, und machte dasselbe noch einige Male. Dann rannte sie zu ihrem Auto, stieg ein und fuhr weg.
Was hattest du denn erwartet? fragte sie sich. Da er damals am Morgen danach einfach verschwunden war und sie die eindeutige Botschaft ignoriert hatte, war sie selbst schuld, wenn sie sich jetzt zurückgewiesen fühlte.
Lucio hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber er hatte bestimmt nur taktvoll sein wollen. Ich werde nie wieder etwas von ihm hören, überlegte sie, ich habe aber wenigstens mein Gewissen erleichtert.
Dann dachte sie an ihre Familie. Wie würde diese reagieren, wenn sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr? Vermutlich würde es ihre Angehörigen nicht überraschen, weil sie ja schon immer die Schwierige, Unberechenbare gewesen war, die Frau, die nirgendwohin passte.
Auch der One-Night-Stand wäre in den Augen ihrer Familie typisch für sie, weil sie so abenteuerlustig war. Vielleicht war sie ja doch ein böses Mädchen …
Charlotte wünschte, ihr Bruder Matt wäre bei ihr, weil er ihr am nächsten stand. Allerdings hätte er sie vermutlich auch gefragt, warum sie Lucio ausfindig gemacht hatte, wenn dieser ihr nicht einmal seinen Nachnamen genannt hatte.
Vielleicht hat er ihn mir ja gesagt, ging es ihr durch den Kopf. Ich erinnere mich nur nicht mehr daran. Aber an dem Abend war es auch nicht wichtig. Ich wollte nur meinen Spaß haben.
Lucio ausfindig zu machen, war allerdings nicht so witzig gewesen. Bei ihrer Internetrecherche hatte sie sich wie eine Dienstmagd aus dem neunzehnten Jahrhundert gefühlt, die man sitzen gelassen hatte. Und das hatte ihre Laune nicht gerade gebessert.
Den Artikeln im Internet zufolge verkaufte Lucio seine Weine auf der ganzen Welt und schien ein glamouröses Leben zu führen. Er verkehrte mit Promis und machte alles zu Geld. Viele Fotos hatten ihn mit schönen Frauen gezeigt, und ein Journalist hatte ihn als Mann beschrieben, der sich zu amüsieren wusste. Also war ein One-Night-Stand sicher nichts Ungewöhnliches für Lucio.
Er besaß Weingüter in ganz Italien und besuchte sie alle regelmäßig. Zum Glück hatte sie in einem Artikel gelesen, dass er den Mai normalerweise in der Toskana auf dem Gut Vigneto Constanza verbrachte.
Eine innere Stimme sagte ihr allerdings, dass es keinen Grund gab, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Was hatte dieses Baby mit Lucio zu tun? Er gehörte der Vergangenheit an.
Andererseits musste sie an ihre Mutter denken. Und auch wenn sie Verständnis für deren Verhalten hatte, wollte sie ehrlich sein. Also beschloss sie, Lucio zu schreiben.
Da sie aber nicht die richtigen Worte fand, fuhr sie in die Toskana, wo sie in einem Hotel in der malerischen Altstadt von Florenz eincheckte und sich einen Mietwagen nahm. Als sie kurz vor dem Ziel nach dem Weg fragte, stellte sie fest, dass alle das Gut kannten und das Wohnhaus sogar als Palazzo bezeichneten. Offenbar hatte Lucio viele Arbeitsplätze geschaffen.
Das Gebäude erinnerte tatsächlich an einen Palast, denn es verfügte über drei Stockwerke und wirkte ausgesprochen nobel.
Als Charlotte sich ihm näherte, kam eine Frau mittleren Alters heraus und blieb wartend auf der Treppe stehen.
„Guten Morgen“, begrüßte sie Charlotte, als diese aus dem Wagen stieg. „Ich bin Elizabetta, die Haushälterin. Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich möchte zu Signor Constello.“
„Er ist leider nicht da“, erwiderte die Angestellte. Dann fügte sie jedoch hinzu: „Er ist gerade in den Weinbergen auf der anderen Seite und sieht sich die Reben an. Er kommt erst sehr spät zurück, und manchmal übernachtet er bei einem der Arbeiter, die dort wohnen.“
„Ich muss ihn unbedingt sprechen. Können Sie mir den Weg dorthin beschreiben?“
Wenige Minuten später fuhr Charlotte los. Erstaunt stellte sie fest, wie weitläufig das Gut war. Es hätte sie nicht überrascht herauszufinden, dass sie auf einem fremden Planeten gelandet und Lucio gar nicht da war.
„Reiß dich zusammen“, ermahnte sie sich streng. „Da hinten ist er. Alles wird gut.“
Aber nichts war gut. Er hatte so seltsam reagiert, dass sie schon nach wenigen Minuten die Flucht ergriffen hatte. Und jetzt war sie wieder in Florenz und ging aufgewühlt in ihrem Hotelzimmer auf und ab.
Auf dem Zettel, den sie ihm gegeben hatte, standen der Hotelname und ihre Handynummer. Er würde sie bestimmt bald anrufen, und dann würden sie alles besprechen. Da er sich allerdings auch Stunden später nicht meldete, musste sie sich damit abfinden, dass sie wieder allein war.
Als es dunkel wurde, setzte sie sich ans Fenster und sah hinaus. Von hier aus hatte sie einen wunderschönen Blick auf den Arno mit der Ponte Vecchio, der berühmten Brücke, die auf beiden Seiten von kleinen Läden gesäumt war, deren Lichter sich gegen den dunklen Abendhimmel abhoben und im Wasser spiegelten.
Spontan beschloss Charlotte, nach draußen zu gehen und die Brücke zu erkunden. Sie nahm ihr Handy mit, in der Hoffnung, dass Lucio sich melden würde. Er sollte nur nicht denken, dass sie hier saß und auf ihn wartete.
Wenige Minuten später ging sie auf die Straße zu, die am Fluss entlang verlief. Es waren viele Menschen unterwegs: Touristen, Familien und Liebespaare. Auf der Ponte Vecchio angekommen, ging sie zu einer Stelle, von der aus sie aufs Wasser blicken konnte. Auch hier standen verliebte junge Leute und turtelten miteinander.
War es wirklich möglich, glücklich verliebt zu sein?
Und was bedeutete Liebe überhaupt?
Für eine Weile hatte sie geglaubt, mit Don die Antwort gefunden zu haben. Inzwischen wusste sie es besser, denn in nur einer Nacht mit Lucio waren alle bisherigen Erfahrungen völlig verblasst.
Nun, da sie auf das funkelnde Wasser blickte, fühlte sie sich wieder in ihr Hotelzimmer in Rom zurückversetzt und glaubte ihn zu spüren: seinen warmen Atem, seine Lippen auf ihren.
Bis zu dem Moment hatte ihr Verstand ihr noch geraten, sich nicht mit einem Mann einzulassen, den sie gerade erst kennengelernt hatte. Lucios leidenschaftlicher Kuss hatte ihr jedoch alle Zweifel genommen.
Obwohl ihr klar war, dass er viele Geliebte gehabt haben musste, vermittelte er ihr das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Als er sie auszog, betrachtete er sie beinah ehrfürchtig. Nachdem er ihr das Kleid abgestreift hatte, zog er erst sein Jackett und sein Hemd aus, sodass sie im Schein der Lichter draußen seinen muskulösen Oberkörper sehen konnte. Erst als er neben ihr auf dem Bett lag, zog er ihr BH und Slip aus.
Dann lächelte er.
Und etwas an diesem Lächeln veranlasste sie, ihm die restlichen Sachen abzustreifen, bis er nur noch Boxershorts trug. Nun lächelte sie ebenfalls. Dieser Mann würde sich als erfahrener Liebhaber erweisen.
Sein Körper war fantastisch. Beinah zaghaft schob sie die Finger unter den Bund seiner Boxershorts.
In seinen Augen lag ein fragender Ausdruck, als wollte Lucio wissen, ob sie irgendwelche Zweifel hegte. Sie verstärkte allerdings nur ihren Griff und gab ihm damit zu verstehen, dass er sich und sie auch ihrer restlichen Sachen entledigen sollte, was er umgehend tat.
Federleicht ließ er anschließend die Fingerspitzen über ihre Brüste gleiten. Beinah verzweifelt fragte Charlotte sich dabei, wie sie derart heftig auf eine so zarte Berührung reagieren konnte. Doch schon im nächsten Moment vergaß sie alles um sich her.
Ihr Instinkt sagte ihr, dass kein Mann eine Frau so streichelte, wenn er sie nicht verstand. Sie hätte die Empfindungen, die sie durchfluteten, nicht unterdrücken können, selbst wenn sie es gewollt hätte. In diesem magischen Moment gehörte sie ihm ganz, und nichts wünschte sie sich sehnlicher, als mit ihm eins zu werden.
Danach küsste er sie zärtlich und strich ihr übers Haar, bis die Müdigkeit sie übermannte. Kurz bevor sie einschlief, flüsterte er: „Du bist wundervoll.“
Und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war Lucio verschwunden.
Die Erinnerung an seine leisen Worte quälte sie. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder hatte er das tatsächlich gesagt, bevor er gegangen war? Immer wieder rief sie sich den Augenblick ins Gedächtnis und zerbrach sich den Kopf darüber, fand jedoch keine Antwort.
In den darauf folgenden Wochen war ihr klar gewesen, dass sie ihn hätte lieben können, wenn er mit irgendeinem Zeichen verraten hätte, dass er ihre Liebe wollte. Stattdessen hatte er sie brutal zurückgewiesen.
Was für eine Ironie des Schicksals, dass ihre Begegnungen mit Lucio an zwei so romantischen Orten wie dem Trevi-Brunnen und in der Toskana stattgefunden hatten, die wie für Liebende gemacht waren! Aber statt das Zusammensein mit einem tollen Mann zu genießen, war sie wieder allein. Unerwünscht, wie so oft zuvor in ihrem Leben.
Doch es reichte ihr jetzt. Dies war das letzte Mal, dass sie sich außerhalb des magischen Kreises befand und sich nach einem Zeichen von drinnen sehnte. Nie wieder würde sie warten, bis ein Mann sich entschied. Sie hatte sich entschieden, und Lucio sollte damit leben.
Charlotte eilte zurück zum Hotel. Nachdem sie am Empfangstresen erfahren hatte, dass niemand eine Nachricht für sie hinterlassen hatte, bat sie um die Rechnung und teilte der Angestellten mit, dass sie in einer halben Stunde auschecken würde.
Während sie in Windeseile packte, beschloss sie, sich ein Taxi zum Bahnhof zu nehmen und dort in den nächstbesten Zug zu steigen.
Zwanzig Minuten später verließ sie das Hotel und winkte ein Taxi herbei.
„Wohin?“, fragte der Fahrer.
„Zum Bahnhof.“
„Nein“, ließ sich in diesem Moment plötzlich eine vertraute Stimme hinter ihr vernehmen, und im nächsten Moment griff jemand nach ihrem Arm. „Zum Glück bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen.“
Charlotte erschrak, als sie aufblickte und Lucio sah. „Lass mich los“, forderte sie ihn auf.
„Noch nicht. Wir müssen erst miteinander reden. Keiner von uns sollte eine voreilige Entscheidung treffen, Charlotte.“ Sanft, aber energisch umfasste er ihre Schultern. „Es war nicht fair, einfach zu verschwinden“, warf er ihr vor. „Ich habe dir vertraut. Vielleicht war das ein Fehler.“
„Vielleicht hätte ich dir nicht vertrauen sollen. Ich habe dir erzählt, was passiert ist, und du hast überhaupt nicht reagiert. Ich habe die Botschaft verstanden.“
„Was für eine denn? Ich war nur durcheinander und habe eine Weile gebraucht, um es zu begreifen. Außerdem dachte ich, du würdest zumindest eine Nacht bleiben und mir ein paar Stunden zum Nachdenken geben.“
„Was gibt es da zu überlegen?“, brauste sie auf. „Das Baby ist hier in meinem Bauch und wartet darauf, alles zu verändern. Entweder bist du dafür oder dagegen.“
Ironisch verzog Lucio das Gesicht. „Ich bin nicht sofort gesprungen, als du mit den Fingern geschnippt hast, und das sollte ich büßen, stimmt’s?“
„Unsinn“, entgegnete Charlotte, obwohl er damit fast ins Schwarze getroffen hatte.
„Lass uns nicht streiten. Es steht zu viel auf dem Spiel.“ Dann wandte er sich an den Taxifahrer, entlohnte ihn und führte die völlig überraschte Charlotte zu seinem Wagen.
„Du hast vielleicht Nerven“, beschwerte Charlotte sich.
„Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du abreist, ohne mir eine Chance zu geben.“
„Na gut, vielleicht war es ein bisschen übereilt“, räumte sie widerstrebend ein.
„Ich frage mich, ob es bei uns immer so sein wird – dass jeder in eine andere Richtung geht.“
„Tolle Überlegung. Hätte ich noch einen Funken Verstand, würde ich in diesem Moment in eine andere Richtung fahren.“
„Hättest du noch einen Funken Verstand, hättest du dich überhaupt nicht mit mir eingelassen“, konterte Lucio trocken. „Wir fahren jetzt zu einem kleinen Café, wo wir in Ruhe miteinander reden können.“
Vor dem Café angekommen, beschlich Charlotte sofort ein ungutes Gefühl, weil fast nur Pärchen unter den Gästen zu sein schienen. Lucio führte sie zu einem Tisch am Fenster mit Blick auf den Arno.
Inzwischen hatte sie sich etwas beruhigt und schämte sich sogar, weil sie vorschnell über ihn geurteilt hatte. Dass er die Kontrolle übernommen hatte, machte ihr allerdings zu schaffen. Als sie jetzt aufsah, stellte sie fest, dass er sie betrachtete, während ein Lächeln seine Lippen umspielte.
„Wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt unter dem Tisch liegen“, meinte er lässig.
„Was hättest du denn getan, wenn ich nicht mitgekommen wäre?“
Sein Lächeln bewirkte, dass ihr Herz sich zusammenkrampfte. „Wahrscheinlich hätte ich den Rat angenommen, den du mir in Rom gegeben hast. Weißt du noch? Man muss sich darüber klar werden, was man will. Und dann alles daransetzen, es auch zu bekommen. Ich weiß, was ich will, und …“ Er machte eine ausdrucksvolle Geste.
„Du glaubst also, du könntest tun, wonach dir der Sinn steht, und dass ich mich nicht beschweren dürfe, weil ich es dir eingebrockt habe.“
„Genau. Ich hätte es nicht besser formulieren können.“ Dann wandte er sich an den Ober. „Bringen Sie mir bitte den üblichen Wein und Mineralwasser für die Signorina.“
„Ich hätte auch lieber Alkohol getrunken“, sagte Charlotte, sobald sie wieder allein waren.
„In den nächsten Monaten solltest du es lieber lassen. Es wäre nicht gut für dich oder die Person in deinem Bauch.“
Seine Wortwahl schockierte sie. Für Lucio war der Embryo offenbar schon ein Mensch. Instinktiv legte sie sich die Hand auf den Bauch.
Als Charlotte aufblickte, nickte Lucio ihr aufmunternd zu. Nun, da sie Gelegenheit gehabt hatte, sich zu sammeln, legte sich ihre Feindseligkeit.
Als der Ober ihnen die Getränke servierte, bestellte Lucio für sie beide einen Snack, wieder ohne sie zu fragen. Charlotte nahm es ihm allerdings nicht übel, weil sie das Gleiche am Trevi-Brunnen gegessen hatte, was eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. Dass er sich noch daran erinnerte, ließ ihn in einem anderen Licht erscheinen.
Als sie ihn forschend betrachtete, fiel ihr noch etwas auf. Der Mann in Rom war ihr wie ein Playboy und Genussmensch erschienen, der auf dem Weingut hingegen hatte viel bodenständiger gewirkt, so als könnte er zupacken.
Der Mann, der jetzt vor ihr saß, trug dieselben Sachen wie am Nachmittag – einen Pullover und dunkle Jeans – und wirkte äußerlich gelassen, doch sie spürte seine Anspannung. Warum war er nervös? Ihretwegen? Oder hatte es einen anderen Grund?
„Dass es so gelaufen ist, tut mir leid. Ich hätte allerdings nie für möglich gehalten, dass du sofort abreisen würdest.“
„Und ich dachte, du würdest es so wollen. Dein Schweigen war ziemlich aussagekräftig.“
„Es war das Schweigen eines Mannes, der ziemlich durcheinander war und sich erst einmal über einiges klar werden musste. Dachtest du, so etwas würde mir ständig passieren? Dass eine Frau mich mit einer Schwangerschaft konfrontiert?“
„Natürlich nicht“, erwiderte Charlotte unbehaglich.
„Sei ehrlich.“
„Ich kenne dich doch überhaupt nicht.“
„Genauso wenig wie ich dich“, meinte Lucio ironisch. „Genau das ist unser Problem, oder? Wir haben das Wichtigste ausgelassen, und jetzt ist alles anders. Ich habe mich nicht früher bei dir gemeldet, weil ich unter Schock stand. Ich wollte dich anrufen, denn ich musste dich sehen und von dir hören, wie es dir damit geht. Sei ehrlich, Charlotte, willst du dieses Baby?“
Entgeistert blickte sie ihn an. „Natürlich will ich es. Ich würde nie auf die Idee kommen, es abtreiben zu lassen.“
„Das meinte ich auch gar nicht. Es ist nur …“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Möchtest du es wirklich, oder versuchst du nur, das Beste aus der Situation zu machen?“
Langsam atmete sie ein. „Keine Ahnung. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Als ich es erfahren habe, fühlte ich mich vor vollendete Tatsachen gestellt.“
Lucio nickte. „Das kenne ich. Man hat sich daran gewöhnt, sein Leben zu planen, aber plötzlich macht das Leben die Pläne für einen. Vielleicht ist es manchmal sogar besser so. Es kann einem eine Menge Probleme ersparen.“
„Das klingt, als würdest du an Schicksal glauben.“
„Vielleicht tue ich das“, gestand er leise. „Wenn man denkt, man hätte sich mit etwas abgefunden, passiert etwas Neues, und alles beginnt wieder von vorn. Und irgendwie müssen wir unseren Weg durch dieses Labyrinth finden.“
Er wirkte genauso durcheinander, wie sie sich fühlte.
„Ich kann kaum glauben, dass du schwanger bist“, fuhr er fort. „Du bist genauso schlank wie damals.“
„Ich bin erst im dritten Monat. So früh sieht man noch nichts.“
„Und wann hast du es erfahren?“
„Vor ein paar Wochen. Meine Regel war überfällig, und als ich einen Test gemacht habe …“ Charlotte zuckte die Schultern. „Das war’s.“
Statt sie zu fragen, warum sie ihn nicht früher aufgesucht hatte, schwieg er. Sie war froh darüber, denn sie hätte ihr anfängliches Gefühlschaos schlecht beschreiben können.
Noch immer wollte sie sich nicht eingestehen, dass sie ein Baby erwartete. Es musste sich als Irrtum erweisen. Sie hatte ihre Reise durch Italien fortgesetzt und war erst nach Messina und dann nach Sizilien gefahren, wo sie vier Wochen verbracht hatte.
Dann war sie in den Norden gereist, und nun saß sie hier und wünschte sich weit weg.
„Sag mir, was du denkst“, ermunterte Lucio sie. „Wohin führt der Weg deiner Meinung nach?“
„Darauf kann ich nicht antworten. Ich sehe ein Dutzend Wege, die alle in verschiedene Richtungen führen. Welcher der richtige ist, weiß ich erst, wenn wir miteinander geredet haben.“
„Wohin wärst du gefahren, wenn ich nicht aufgetaucht wäre?“
Charlotte zuckte die Schultern.
„Nach New York?“ Forschend betrachtete er sie. „Du weißt es nicht, stimmt’s?“
„Spielt es denn eine Rolle?“
„Was ist mit deiner Familie? Was sagt sie dazu?“
„Ich habe es meinen Leuten noch nicht erzählt.“
„Ach so.“ Wieder schwieg er einen Moment, und als er weitersprach, war sein Tonfall sanft. „In Rom hast du mir erzählt, es gäbe ein Familiengeheimnis, von dem du als Letzte erfahren hättest, und du würdest dich fühlen, als würdest du nicht mehr richtig dazugehören. Geht es dir immer noch so?“
„Ich glaube schon.“
„Hast du dich in den letzten Wochen niemandem anvertraut?“
„Es wäre kein guter Zeitpunkt gewesen. Außerdem kann ich auf mich selbst aufpassen“, fügte Charlotte bissig hinzu.
„Nun leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Hättest du mir heute Nachmittag eine Chance gegeben …“
„Na gut, ich hätte nicht einfach weglaufen dürfen“, räumte sie ein. „Aber du hast so entsetzt gewirkt …“
„Ich war nur überrascht“, unterbrach er sie sanft. „So etwas ist mir noch nie passiert, und ich hätte niemals damit gerechnet.“ Ironisch verzog er das Gesicht. „In dem Moment war ich schlichtweg überfordert. Vielleicht war es auch Feigheit.“
„Du brauchst dir darüber nicht den Kopf zu zerbrechen“, erklärte sie. „Du musst dich zu nichts verpflichten. Ich habe dir von dem Baby erzählt, weil es dein gutes Recht war, es zu erfahren, aber ich erwarte nichts von dir …“ Bestürzt verstummte sie, als seine Miene erstarrte.
„Danke“, sagte er schroff. „Deutlicher hättest du deine Verachtung für mich nicht ausdrücken können. In deinen Augen bin ich der Situation offenbar überhaupt nicht gewachsen. Mit anderen Worten, du hältst mich für eine Niete.“
„So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte dir nur nicht den Eindruck vermitteln, dass ich dich unter Druck setze.“
„Sollte man einen Mann, der ein Kind gezeugt hat, denn nicht unter Druck setzen?“
„Na ja, wie du schon sagtest, kennen wir uns nicht besonders gut.“ Außer in einer Hinsicht.
Charlotte fiel es schwer, sich an den charismatischen Liebhaber zu erinnern, dem sie in jener Nacht in Rom verfallen war. Wie er am Brunnen gelacht und sie ermuntert hatte, Wünsche zu äußern. Sie hatte auch gelacht, die Augen geschlossen und dann nur die Lippen bewegt, weil sie es ihm nicht verraten wollte.
Tatsächlich hatte sie sich nur gewünscht, nach Rom zurückzukehren, weil es so viele Dinge gab, die sie sich ersehnte.
Auf dem Weg zum Hotel hatte sie ihn damit aufgezogen, und selbst beim Ausziehen hatten sie viel gelacht. Das Licht hatten sie nicht eingeschaltet, um das Geheimnisvolle zu wahren. Sein Körper war genauso gewesen, wie sie es erwartet hatte: schlank und durchtrainiert, aber nicht übermäßig muskulös.
Alles an ihrer Begegnung war lustig gewesen. Es war unmoralisch und skandalös gewesen, nichts, was eine anständige junge Frau getan hätte. Sie, Charlotte, hatte es aber umso mehr genossen, weil sie das Gefühl hatte, damit gegen alle Konventionen zu rebellieren.
Und nun war sie jäh auf dem Boden der Tatsachen gelandet.
Charlotte blickte sich in dem Café um. Überall saßen nur Pärchen, als wäre es ein Geheimtipp für Verliebte. Als sie Lucio anschaute und den Ausdruck sah, mit dem er die anderen Gäste beobachtete, atmete sie scharf ein. Er wirkte beinah gequält, als wäre er von einer Traurigkeit befallen, von der er sich niemals ganz befreien konnte.
Schnell wandte sie den Blick ab.
„Also, mal sehen, ob wir uns irgendwie einig werden können“, riss der Klang seiner Stimme sie dann aus ihren Gedanken.
Jetzt wird Lucio mir bestimmt irgendwelche Unterhaltszahlungen vorschlagen, und ich werde ihn dafür hassen, ging es Charlotte durch den Kopf.
„Ich habe seit heute Nachmittag eine Menge nachgedacht“, fuhr er fort. „Und eins ist mir klar geworden. Du sollst nicht allein sein. Ich möchte, dass du zu mir kommst und bei mir bleibst.“
Verwirrt krauste sie die Stirn. „Heißt das …?“
„Bei mir zu Hause. Du musst dich nicht sofort entscheiden. Komm für eine Weile mit, dann reden wir darüber, und du entscheidest dich.“
Völlig entgeistert blickte sie Lucio an. Damit hätte sie niemals gerechnet.
„Bitte, Charlotte. Du kannst nicht einfach verschwinden. Ich möchte mich um dich und unser Kind kümmern.“
Sie atmete tief durch. Wann hatte sie sich das letzte Mal erwünscht gefühlt?
„Das verstehst du doch, oder?“, hakte Lucio nach.
„Ja, ich schätze, ich bin wie du. Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.“
„Worüber denn? Wir bekommen ein Kind. Also sind wir eine Familie. Wir sollten es zumindest versuchen.“
„Ja, ich glaube schon …“
„Dann sind wir uns ja einig. Gehen wir?“
„Ja“, erwiderte Charlotte langsam, bevor sie seine Hand nahm und sich von ihm hochhelfen ließ.
Die Würfel waren gefallen. Sie hatte nicht die Absicht, Lucio jetzt zu verlassen. Benommen ließ sie sich von ihm zu seinem Wagen führen und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Kurz darauf fuhren sie aus der Stadt, die Straße entlang, die zu seinem Weingut führte.
Der Vollmond tauchte die sanften Hügel der Toskana in silbriges Licht, ein atemberaubender Anblick. Lucio schwieg, und Charlotte war froh darüber, weil sie das Ganze erst einmal verarbeiten musste.
Wenige Kilometer bevor sie ihr Ziel erreichten, machte er kurz am Straßenrand Halt, um zu telefonieren.
„Mamma? Wir sind gleich da … Gut … Danke!“
Als er weiterfuhr, erklärte er: „Fiorella ist nicht meine richtige Mutter. Sie und ihr Mann Roberto waren die Eigentümer des Weinguts, als ich vor zwölf Jahren hierherkam. Ich habe für sie gearbeitet, und wir haben ein sehr enges Verhältnis zueinander entwickelt. Fast hätte ich ihre Tochter Maria geheiratet. Aber sie ist gestorben, und kurz danach ist Roberto ihr gefolgt und hat mir das Gut hinterlassen.“
„Hätte er es denn nicht seiner Frau vererben sollen?“, fragte Charlotte.
„Keine Angst, ich bin kein Erbschleicher. Er hat ihr ein Vermögen vermacht. Damit hätte sie alle Möglichkeiten gehabt, aber sie wollte bleiben, weil sie hier immer glücklich war. Sie ist wie eine Mutter zu mir, und ich bin froh, dass ich sie habe.“
Ihr schwirrte der Kopf. Lucio war also mit Fiorellas Tochter verlobt gewesen. Wie würde Fiorella sich fühlen, wenn eine Fremde, die von Lucio schwanger war, in ihrem Haus auftauchte? Bestenfalls würde sie sie als Eindringling betrachten.
„Das hättest du mir früher erzählen sollen“, sagte Charlotte vorwurfsvoll.
„Warum? Sie möchte dich kennenlernen.“
„Weil es eine schwierige Situation ist. Ihre Tochter … Du …“
„Charlotte, bitte, mir ist klar, es ist schwierig, aber ich kann nichts dafür. Du weißt seit Wochen von deiner Schwangerschaft und hast mich aus heiterem Himmel damit konfrontiert. Jetzt musste ich mich schnell entscheiden, und falls ich dabei ungeschickt war, tut es mir leid. Sieh mich bitte nicht so an.“
Obwohl er den Blick auf die Straße gerichtet hatte, hatte er offenbar gespürt, dass sie ihn wütend anfunkelte. Sie presste die Lippen zusammen.
Was mochte er Fiorella von ihr erzählt haben? Und was hatte Elizabetta ihm gesagt?
In der Ferne sah Charlotte ein palastartiges Haus auftauchen, das auf einem Hügel lag, hell erleuchtet war und das sie als seins wiedererkannte. Als sie sich ihm näherten, konnte sie zwei Frauen vor der Haustür ausmachen. Eine war Elizabetta, bei der anderen musste es sich um Fiorella handeln.
Regungslos verharrten die beiden, als Lucio in seinem Wagen vorfuhr. Erst als er die Beifahrertür öffnete und Charlotte heraushalf, kamen sie auf sie zu.
„Das ist Charlotte“, stellte er sie vor. „Sie wird für eine Weile bei uns wohnen.“
Anscheinend hatte er die beiden vorher informiert, denn sie stellten keine Fragen. Elizabetta nickte lächelnd, während Fiorella zu Charlottes Verblüffung die Arme ausbreitete.
„Herzlich willkommen“, begrüßte sie sie.
Charlotte schwirrte der Kopf. Mit so viel Herzlichkeit von einer Frau, mit deren Tochter Lucio verlobt gewesen war, hatte sie nicht gerechnet. Maria hätte ein Kind von ihm bekommen sollen, nicht sie.
Nachdem sie sich bei Fiorella bedankt hatte, führten die beiden Frauen sie ins Haus, während Lucio ihr Gepäck holte.
„Elizabetta hat ein Zimmer für Sie hergerichtet“, informierte Fiorella sie. „Sie bringt Ihnen auch gleich etwas zu essen. Morgen essen wir alle zusammen, aber heute sind Sie bestimmt müde und wollen sicher gleich ins Bett.“
Sie hatte recht, und Charlotte bedankte sich wieder bei ihr. Allerdings vermutete sie, dass es noch einen anderen Grund gab. Vermutlich wollte Fiorella von Lucio noch einiges über sie erfahren.
Er führte sie die Treppe hinauf, die so prächtig war, dass Charlotte sich wirklich in einem Palast wähnte. Dann folgte sie ihm einen breiten Korridor entlang, in dem viele Gemälde hingen, bis er vor einer Tür stehen blieb.
„Das hier ist dein Zimmer.“ Er ging voran und trat dann einen Schritt zur Seite.
Es war ein wunderschöner Raum, extravagant möbliert, mit einem frisch bezogenen Doppelbett und einer Tür, die zu einem Badezimmer führte.
„Dies ist die Unterkunft für unsere Ehrengäste“, erklärte Lucio. „Ich glaube, du wirst dich hier wohlfühlen.“
„Bestimmt“, erwiderte Charlotte höflich.
Im nächsten Moment erschien Fiorella, gefolgt von Elizabetta, die einen Servierwagen mit einer reichhaltigen Auswahl an Delikatessen und Fruchtsäften vor sich herschob.
„Schlafen Sie gut“, sagte Fiorella. „Morgen können wir uns besser kennenlernen. Soll Elizabetta Ihre Sachen auspacken?“
„Nein danke“, erwiderte Charlotte schnell, weil der Instinkt ihr riet, vorsichtig zu sein.
„Dann lassen wir dich jetzt allein“, meinte Lucio. „Geh bald schlafen. Es ist schon spät.“
Es wäre ihr lieber gewesen, wenn er geblieben wäre, doch er würde bestimmt später noch einmal kommen.
Nachdem sie etwas gegessen hatte, packte sie ihre Sachen aus und hängte sie in den Kleiderschrank. Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr.
Damit Lucio nicht auf falsche Gedanken kam, zog sie ein schlichtes Seidennachthemd an. Wenn sie diesmal mit ihm redete, wäre es anders. Ihr Gespräch wäre entscheidend für die Zukunft, und diese erschien ihr so rosig wie schon seit Monaten nicht mehr.
Eigentlich musste sie dankbar sein. Nachdem sie fast schon mit Feindseligkeit gerechnet hatte, behandelte man sie wie einen Ehrengast. Lucio wollte das Kind offenbar und schien fest entschlossen zu sein, ein guter Vater zu werden. Allerdings lag ihm wohl nur das Baby am Herzen und nicht sie. Wie es mit ihnen weiterging, würde die Zeit zeigen.
Charlotte legte sich aufs Bett und blickte starr an die Decke. Wie viel mochte Maria ihm bedeutet haben? Als er von ihr sprach, hatte er keine Gefühle gezeigt, aber vielleicht hatte er auf sie Rücksicht genommen. Möglicherweise wäre es auch nur eine Vernunftehe gewesen. Zu ihrer Beunruhigung beschäftigte diese Frage sie sehr.
„Wenn du dich für etwas entschieden hast, musst du auch den Mumm haben, mit den Konsequenzen zu leben“, hatte einmal jemand zu ihr gesagt. Sie hatte sich entschieden, und vielleicht wendete sich sogar alles zum Guten.
Vielleicht verlieben wir uns sogar ineinander, überlegte Charlotte. Noch bin ich nicht in Lucio verknallt, aber es könnte durchaus passieren. Ist das nicht schon eine Vorstufe zur Liebe? Sie lächelte versonnen.
Und ich könnte sein Herz erobern, oder? Ich weiß es, wenn ich ihn nachher sehe. Er kommt bestimmt bald.
Doch die Stunden vergingen, und Lucio ließ sich nicht blicken.
Von seinem Schlafzimmer aus war Lucio in der Lage, das Fenster von Charlottes Zimmer zu sehen. Die Gardinen waren zugezogen, doch er konnte ihre Silhouette ausmachen. Eine Weile ging sie hin und her, bis sie schließlich das Licht ausschaltete.
Er schlüpfte ins Bett und dachte daran, dass sie genau wie er allein in der Dunkelheit dalag. Ob sie auch durcheinander war? Hatten sie das ebenfalls gemeinsam?
Er war alles andere als stolz auf sich. Als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte, war er vor Angst förmlich erstarrt. Danach war er stundenlang ziellos durch die Weinberge gelaufen und hatte versucht, damit klarzukommen.
Schließlich war er zu einem Entschluss gelangt. Das Leben hatte ihm eine Chance gegeben. In dem Moment hatte er sich gefühlt wie ein Ertrinkender, dem man einen Rettungsring zuwarf.
Im Nachhinein wunderte er sich darüber, wie geregelt sein Leben ihm noch an diesem Morgen erschienen war und wie schnell sich das als Illusion erwiesen hatte. Aber so war es schon immer gewesen.
Seine Kindheit auf Sizilien war schön und manchmal sogar glücklich gewesen, obwohl er immer spürte, dass seine Eltern einander mehr bedeuteten als er ihnen. Er litt allerdings nicht darunter, sondern fühlte sich vielmehr frei. Und falls er manchmal einsam war, verdrängte er es einfach.
Irgendwann wurde ihm dann bewusst, dass sein über alles geliebter Vater anderen Angst machte. Er konnte nicht nachvollziehen, warum jemand einen Rechtsanwalt fürchten sollte. Schon bald stellte er jedoch fest, dass Mario Constellos Klienten im günstigsten Fall dubios und im schlimmsten kriminell waren. Sie setzten ihre Ziele durch Drohungen durch, wenn nötig, mithilfe ihres Anwalts.
Diese Entdeckung veranlasste Lucio, gegen seinen Vater zu rebellieren. Als er ihn zur Rede stellte, reagierte dieser ehrlich verwirrt und machte ihm klar, dass er Unehrlichkeit und Gewaltbereitschaft billigte, wenn man damit Geld verdienen konnte.
Kurz darauf beschloss Lucio, sein Zuhause zu verlassen. Er flehte seine Mutter an mitzukommen, aber sie weigerte sich. Sie kannte ihren Mann, war allerdings nicht einmal ihrem Sohn zuliebe bereit, ihn zu verlassen.
„Er ist ein Unmensch, mamma“, erklärte Lucio.
„Für mich nicht, mein Sohn“, erwiderte sie. „Du bist erst siebzehn. Eines Tages wirst du begreifen, dass Liebe sich nicht mit dem Verstand steuern lässt, sondern eine Frage des Herzens ist.“
„Und wenn dein Herz dir zu etwas rät, das dir schaden könnte?“, konterte er. „Sollte man nicht spätestens dann auf seinen Verstand hören?“