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ZÄRTLICHE NÄCHTE AUF IBIZA von TAYLOR, ANNE Ein schwieriger Auftrag bringt die hübsche Sarah nach Ibiza: Sie soll den Maler Ben Adams überzeugen, endlich seine Bilder fertig zu stellen. Warum hat sie niemand gewarnt, wie sexy und leidenschaftlich Ben ist? Und wie schrecklich unwillig, sein Herz zu verschenken? AMORE FÜR IMMER von WINTERS, REBECCA Auf dem eleganten Anwesen am Comer See kümmert Julie sich um Massimo di Rocches kleinen Neffen - und glaubt sich im siebten Himmel, als der Italiener sie überraschend heiß küsst. Aber seine intrigante Familie setzt alles daran, dass sie so schnell wie möglich ihre Sachen packt … WENN DIE LEIDENSCHAFT NEU ERWACHT von MORTIMER, CAROLE Wo sie von Liebe spricht, meint er nur Lust. Sie wünscht sich Kinder, er nicht … Neun Monate nach der Traumhochzeit in Las Vegas scheint alles vorbei zwischen Kenzie und dem Milliardär Dominick. Kann ein romantisches Wochenende die Liebe noch einmal zum Leben erwecken? EIN MILLIARDÄR ZUM KÜSSEN von ASHTON, LEAH Milas zärtliche Gefühle für Sebastian waren ihr größtes Geheimnis. Schließlich war ihr Traummann mit ihrer besten Freundin verheiratet. Aber jetzt ist der Milliardär wieder allein. Das Schicksal gibt Mila eine zweite Chance! Sie muss sich nur trauen, sie zu ergreifen …
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Seitenzahl: 697
Anne Taylor, Rebecca Winters, Carole Mortimer, Leah Ashton
ROMANA EXTRA BAND 60
IMPRESSUM
ROMANA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg, für Anne Taylor: „Zärtliche Nächte auf Ibiza“
© 2008 by Rebecca Winters Originaltitel: „The Italian Tycoon and the Nanny“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Victoria Werner
© 2007 by Carole Mortimer Originaltitel: „The Billionaire’s Marriage Bargain“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Tina Beckmann Deutsche Erstausgabe 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 299
© 2016 by Leah Ashton Originaltitel: „The Billionaire from Her Past“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dorothea Ghasemi Deutsche Erstausgabe by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 60
© Erste Neuauflage in der Reihe ROMANA EXTRABand 60 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Abbildungen: 2010 Regina Garcia / Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733744021
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY
Ben hat nicht die Absicht, seine Villa auf Ibiza mit ir-gendwem zu teilen – bis eine hinreißende junge Frau vor der Tür steht. Ihr zauberhaftes Lächeln gefährdet seine selbstgewählte Einsamkeit …
Massimo weiß, was seine Familie von ihm erwartet: Hochzeit mit einer standesgemäßen Frau aus reicher italienischer Familie. Keineswegs ist dabei die Rede von seiner Liebe zu Julie, dem Kindermädchen seines Neffen …
Als Kenzie ihren Ex bittet, sie vor der Scheidung noch einmal zu einem Familienfest zu begleiten, verlangt Dominick eine Gegenleistung: ein gemeinsames Wochenende. Gibt es noch eine Chance für ihre Liebe?
Jeden Gedanken an die schöne Mila verbietet sich der verheiratete Seb. Aber dann schlägt das Schicksal er-barmungslos zu, und als die Trauer vorbei ist, scheint ein zweites Glück möglich …
Erschrocken blieb Sarah Burton stehen. Beim Betreten der Galerie „Ventham’s“ stand sie unvermutet Ben Adams Auge in Auge gegenüber.
Natürlich nicht dem berühmten Maler selbst, sondern einer lebensgroßen Fotografie von ihm, die im Eingangsbereich der Galerie angebracht war. Die Besucher der Galerie sollten damit auf eine geplante Ausstellung von ihm eingestimmt werden.
Aber irgendetwas an dem Portrait zog Sarah in seinen Bann, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Natürlich hatte sie schon von Ben Adams gehört. Er war in der internationalen Kunstszene der neue Star, dessen Bilder auf Auktionen diesseits und jenseits des Atlantiks regelmäßig Höchstpreise erzielten. Und nach Mr. Venthams Anruf hatte sie den Namen natürlich sofort gegoogelt. Schließlich wollte sie wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Es entsprach nicht Sarahs Art, unvorbereitet zu einem Termin zu erscheinen.
Das, was sie aus den diversen Beiträgen über Ben Adams erfahren hatte, sprach nicht gerade für ihn, auch wenn die Berichte sehr zurückhaltend formuliert waren. Es ließ sich allerdings auch einiges zwischen den Zeilen herauslesen. Von einem „hochsensiblen Genie“ war da die Rede, dessen „kühne und radikale Pinselführung“ einen „verstörenden Blick auf die Welt und das Wesen des Menschen“ warf. Sarah verstand nicht viel von diesen Interpretationen. Ihr erschienen Adams’ Bilder monumental und maßlos, so wie es auch seinem Charakter zu entsprechen schien.
Bei seinen Gemälden handelte es sich meistens um riesige Leinwände, die vorzugsweise in den Farben rot, schwarz und gelb gehalten waren, mit grob umrissenen Formen, die entfernt menschlichen Körpern ähnelten, allerdings grotesk verrenkt und missgebildet. Die Gemälde hatten etwas Verstörendes an sich, aber das war wohl so beabsichtigt.
Und auch Adams’ Foto verstörte Sarah auf eine merkwürdige, sehr körperliche Weise. Ihr war bewusst, dass ihr Herzschlag sich unter dem Blick seiner dunklen Augen beschleunigt hatte.
Das Bild zeigte Adams in lässiger Pose an eine Wand gelehnt, in zerrissenen Jeans, die Hände in den Taschen einer abgewetzten Lederjacke vergraben. Es kam Sarah so vor, als würde er sie direkt ansehen. Ein merkwürdiger Ausdruck lag in seinem Blick – drohend, abschätzig, belustigt. Sie konnte nicht genau sagen, was es war. Seine Lippen in dem schmalen, kantigen Gesicht waren zu einem leichten Lächeln verzogen, so als würde er sich über die Unruhe, die er in ihr hervorrief, amüsieren.
„Ziemlich heißer Typ, oder?“, flüsterte plötzlich eine Stimme an ihrem Ohr. Sarah wirbelte herum.
„Fiona!“
Fiona Denning umarmte sie. „Sarah! Wie schön, dich wiederzusehen! Das ist ja eine Ewigkeit her. Zehn Jahre, oder irre ich mich? Du hast dich kein bisschen verändert.“
Das sollte wohl heißen, dass sie immer noch so langweilig und unscheinbar wie früher war, konstatierte Sarah trocken für sich. Auch Fiona war noch ganz die Alte: laut, sexy und auffallend. Allerdings war es mit ihrer Fülle von rotblonden Locken, den langen Beinen und der üppigen Oberweite nicht allzu schwierig, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Fiona hakte sich vertraulich bei Sarah unter und führte sie durch die Galerie. „Ventham’s“ war eine der renommiertesten Kunsthandlungen von London. Gemälde in Millionenhöhe, von Picasso bis Warhol, säumten ihren Weg.
„Ich bin ja so froh, dass du Zeit hast, diesen Auftrag zu übernehmen, Sarah.“ Fionas Stimme senkte sich zu einem vertraulichen Flüstern. „Mr. Ventham ist kurz davor, durchzudrehen. Dieser Adams macht ihn wahnsinnig. Ich hätte ja angeboten, selbst nach Ibiza zu fliegen, aber Mr. Ventham meinte, ich wäre nicht die Richtige für diese Aufgabe. Er hat wohl Angst, Adams könnte sich in mich verlieben.“
Fiona lachte selbstgefällig. Nein, sie hatte sich wirklich nicht geändert seit der Zeit, als sie beide zusammen das Wirtschaftskolleg besucht hatten. Sie war immer noch völlig eingebildet und von sich selbst überzeugt. Und offensichtlich verstand sie es nach wie vor, jeden Mann um den Finger zu wickeln. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie in einer derart angesehenen Galerie arbeitete, obwohl ihre schulischen Leistungen nicht gerade berauschend gewesen waren. Dazu trug sie absolut unpassend für diese Stellung einen super kurzen, knappen Minirock und schwarze Overknee-Stiefel mit schwindelerregenden Bleistiftabsätzen.
Sarah war wie gewohnt in einen schlichten blauen Hosenanzug und flache Pumps gekleidet, obwohl ein kleiner Absatz bei ihrer Größe von eins zweiundsechzig nicht geschadet hätte. Doch wenn sie den ganzen Tag auf den Beinen war, ließ sich das nur in flachen Schuhen aushalten.
Und dass sie bei Männern kaum begehrliche Blicke auslöste, ob mit oder ohne Absatz, war Sarah gewöhnt. Sie war eigentlich recht hübsch, mit sanft gewellten, brünetten Haaren, die ihr ovales Gesicht umrahmten, und mit großen, ausdrucksstarken braunen Augen. Auch ihre Figur konnte sich durchaus sehen lassen. Sarah war schlank und zierlich, mit weichen, wenn auch nicht übermäßigen Rundungen an den richtigen Stellen.
Doch Sarah legte keinen Wert darauf, ihre körperlichen Vorzüge durch sexy Kleidung oder Make-up zu betonen. Ihre Naturwellen bearbeitete sie jeden Morgen so lange mit dem Glätteisen, bis sie zu einem schnurgeraden Bob gebändigt waren, und außer mit etwas schwarzer Mascara und einem farblosen Lipgloss schminkte sie sich kaum. Von frühester Jugend an war ihr eingebläut worden, unauffällig aufzutreten.
„Ich habe Mr. Ventham erzählt, was du bei Roger Chapman zustande gebracht hast, und er meinte, das wäre genau das, was er sucht“, plauderte Fiona ungezwungen weiter.
Sarah starrte sie einen Augenblick verständnislos an, bis ihr wieder einfiel, wovon Fiona redete. Roger Chapman war ein Mitschüler am Kolleg gewesen, ein ziemlich nachlässiger, renitenter Bursche, der damals kurz davorstand, hinausgeworfen zu werden. Also hatte Sarah sich bereit erklärt, ihm Nachhilfestunden zu geben und es damit tatsächlich geschafft, ihn durch das Studium zu schleusen. Sie hatte es aus Mitleid getan („Barmherzigkeit“, wie ihr Vater sagen würde). Roger sollte eine faire Chance haben, es im Leben zu etwas zu bringen. Das erschien ihr nur gerecht.
Aber es gab noch einen anderen Grund, warum sie ihn unterstützt hatte. Einen Grund, den sie sich selbst nur vage eingestand. Rogers rebellische Art, seine Auflehnung gegen jede Form von Bevormundung, hatte etwas in ihr berührt. Eine Seite von ihr, die für gewöhnlich im Verborgenen blieb.
„So, da wären wir“, unterbrach Fiona ihre Gedanken. Sie klopfte an eine Tür mit dem Schild „George Ventham, Esq.“. Ohne weiteres Zeremoniell schob sie Sarah in ein großes, gediegen wirkendes Büro.
Ein grauhaariger Mann in Anzug und blaugrüner Clubkrawatte kam hinter dem schweren Mahagonischreibtisch hervor und reichte ihr die Hand. „Miss Burton, ich bin unendlich dankbar, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten, mich aufzusuchen. Aber wie Miss Denning in ihrem Telefonat schon angedeutet hat, befinde ich mich in einer absoluten Notsituation.“
George Ventham bot Sarah einen Stuhl an. Dann ließ er sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Sarah schätzte ihr Gegenüber auf Ende sechzig – ein liebenswürdiger Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Das Büro war mit Antiquitäten und schweren dunklen Möbeln eingerichtet. Über eine Wand erstreckte sich ein Bücherregal, vollgestopft mit Bildbänden und dicken Wälzern in Ledereinbänden. Hinter dem Schreibtisch hing ein Alter Meister, eine biblische Szene über die Vertreibung aus Ägypten. Als Kontrast dazu lag ein aktuelles Buch über Ben Adams aufgeschlagen vor Mr. Ventham.
Auf der einen Seite war eines von Adams’ Gemälden abgedruckt, ein scheinbar wirres Durcheinander von Strichen und Formen. Die Kapitelüberschrift auf der anderen Seite lautete „Genie und Wahnsinn“ – ein sehr treffender Titel, wie Sarah fand.
Mr. Ventham breitete in einer entschuldigenden Geste die Hände aus. „Ich habe natürlich Erkundigungen über Sie eingezogen, Miss Burton, nachdem Miss Denning Sie mir empfohlen hatte. Ich hoffe, Sie verstehen das. Andrew lobte Sie in den höchsten Tönen. Er meinte, ich könnte keine bessere Mitarbeiterin finden als Sie.“
Bei der Erwähnung von Sir Andrew Richardsons Namen huschte ein Lächeln über Sarahs Gesicht. Sieben Jahre lang hatte sie als persönliche Assistentin für den bekannten Londoner Industriellen gearbeitet und sich immer in ihrer Stellung wohlgefühlt. Doch nach dem Tod ihres Verlobten war es ihr einfach nicht mehr möglich gewesen, noch länger zu bleiben. Der Unfall von John hatte alles für sie verändert…
Entschlossen drängte Sarah die Bilder der Vergangenheit, die nun in ihr aufstiegen, zurück. Es war genau das: Vergangenheit. Und sie musste endlich aufhören, in ihren Erinnerungen zu leben und sich dem Leben, das jetzt vor ihr lag, stellen.
„Sie verstehen, Miss Burton, dass mein Anliegen sehr heikler Natur ist“, fuhr Mr. Ventham mit gesenkter Stimme fort. „Ben Adams ist – wie soll ich sagen – etwas … schwierig. Er ist ein begnadeter Künstler, darüber besteht gar kein Zweifel. Der begabteste junge Maler, dem ich jemals begegnet bin.“
Mr. Ventham lächelte bei dem Gedanken. „Ich begegnete ihm zu ersten Mal in einer Londoner U-Bahn-Station. Zu dieser Zeit lebte er quasi auf der Straße, obwohl er eigentlich aus einem begüterten Elternhaus stammt. Aber es gab wohl irgendeinen Konflikt mit seinem Vater, über den er allerdings nie sprach. Jedenfalls sprayte er eine exakte Kopie von Da Vincis Mona Lisa an die Wand der U-Bahn-Station, ohne jede Vorlage. Und dann verpasste er ihr einen Schnurrbart.“
„Er scheint Humor zu besitzen“, meinte Sarah.
„Oh ja, das tut er. Aber er hat eben auch seine dunklen Seiten. Ein etwas unausgeglichenes Temperament, wenn Sie verstehen, was ich meine?“
„Ich glaube, ich kann Ihnen folgen“, sagte Sarah zustimmend. Das Bild, das George Ventham von seinem Schützling zeichnete, deckte sich mit den Zeitungsberichten, die sie gelesen hatte.
„Seit Tagen versuche ich verzweifelt, Ben zu erreichen. Er geht einfach nicht ans Telefon. Das ist zwar nichts Ungewöhnliches bei ihm. Aber wir bereiten gerade eine große Ben-Adams-Ausstellung vor, wie Sie vielleicht den Plakaten in der Galerie entnommen haben. Die umfassendste und umfangreichste Show, die es in London jemals gegeben hat. Ich erhoffe mir davon exzellente Verkaufsergebnisse. Allerdings warte ich immer noch auf mehrere Bilder, die Ben mir für die Ausstellung zugesagt hat und die in den Prospekten auch bereits angekündigt wurden. Und jetzt meldet er sich einfach nicht. Wie stehe ich denn vor meinen Kunden da, Miss Burton?“
Der Galerist sah sie Hilfe suchend an. Sarah nickte. „Ich verstehe.“
„Ich würde ja selbst nach Ibiza fliegen, wo Ben sich zurzeit aufhält, aber ich bin hier in London einfach unabkömmlich. Die Vorbereitungen für die Ausstellung laufen auf Hochtouren, in sechs Wochen ist die Eröffnung.“
„Und was genau erwarten Sie von mir?“, unterbrach Sarah seine weitschweifigen Ausführungen.
Mr. Ventham machte ein verlegenes Gesicht. „Ich möchte, dass Sie nach Ibiza fliegen und dafür sorgen, dass Ben die versprochenen Bilder liefert. Egal, wie Sie das anstellen. Miss Denning meinte, dass Sie genau die Richtige für diese Aufgabe wären. Sie sind anscheinend ein Organisationsgenie und selbstbewusst. Genau das braucht Ben. Eine starke Hand. Und lassen Sie sich nicht von ihm einschüchtern. Er kann manchmal etwas ruppig sein. Aber das meint er nicht so. Er ist einfach impulsiv – wie Künstler eben sind.“
Sarah zögerte einen Augenblick. Sie war nicht restlos überzeugt, ob sie für diese Aufgabe wirklich geeignet war. Ben Adams’ dunkle, ausdrucksstarke Augen, die sie so unverhohlen zu mustern und bis in ihre tiefste Seele zu blicken schienen, fielen ihr wieder ein. Wollte sie diesem Mann tatsächlich begegnen? Andererseits war es nur eine Fotografie, die sie gesehen hatte. Reiß dich zusammen, Sarah, ermahnte sie sich selbst. Du kannst dich nicht ewig verstecken! Die Worte ihres Vaters klangen wieder in ihrem Ohr, unerbittlich, wie ihr schien: „Jeder von uns wird im Leben an den Platz geführt, der ihm vorherbestimmt ist.“
Und im Grunde genommen blieb ihr auch gar nichts anderes übrig. Die letzten zwei Jahre, in denen sie sich ihrer Trauer um John hingegeben hatte, hatten ihre Ersparnisse beinahe aufgebraucht. Außerdem machte es bei Bewerbungen keinen guten Eindruck, so lange arbeitslos gewesen zu sein. Sie musste diesen Job annehmen, ob sie wollte oder nicht.
Sarah gab sich einen Ruck. „Natürlich, Mr. Ventham! Ich werde mein Möglichstes tun, um Ihnen die Bilder zu verschaffen.“
Der Galerist strahlte sie erleichtert an. „Würden Sie das wirklich, Miss Burton? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Fiona – ich meine, Miss Denning – mir Ihren Namen nannte. Sie sind wohl sehr gute Bekannte? Natürlich hatte sich auch Miss Denning für die Aufgabe angeboten, aber bei allem Respekt für ihre Fähigkeiten ist sie einfach zu – nun ja, zu …“
„Ich verstehe“, unterbrach Sarah ihn, da er offensichtlich um Worte rang. Fiona war alles, was Sarah nicht war, das wollte er wohl damit sagen.
Mr. Ventham wirkte verlegen. „Für diese Aufgabe braucht es einfach … Durchsetzungsvermögen.“
Im Gegensatz zu Sex-Appeal, ergänzte Sarah in Gedanken. „Wann soll ich abreisen?“
„Sofort, wenn möglich. Miss Denning hat bereits für morgen einen Flug gebucht. Oder ist das zu kurzfristig für Sie?“
„Nein, nein. Ich habe hier nichts Wichtiges mehr zu erledigen“, erwiderte Sarah. Und niemanden, der auf mich wartet.
„Wunderbar! Ich hörte schon, dass Sie zurzeit … äh, freiberuflich tätig sind“, meinte Mr. Ventham taktvoll.
Freiberuflich? Nun, so konnte man es auch ausdrücken. Verzweifelt traf ihre berufliche Situation allerdings eher.
Mr. Ventham überreichte ihr diverse Schreiben, Kuverts und Visitenkarten, sowie ein Flugticket mit ausführlichen Reiseunterlagen. „Sie haben völlig freie Hand, wie Sie mit Ben Adams umgehen wollen, Miss Burton. Aber ich brauche diese Bilder unbedingt, und zwar in spätestens fünf Wochen. Hier ist der Name einer spanischen Speditionsfirma, die üblicherweise den Transport erledigt. Und hier ist Bens Adresse. Ich werde ihm Ihr Kommen ankündigen, per E-Mail und SMS. Natürlich verrate ich ihm nicht, was Ihre eigentliche Aufgabe ist. Ich werde sagen, dass ich eine persönliche Assistentin für ihn gefunden hätte, um ihn zu unterstützen. Bei den Unterlagen ist ein entsprechendes Empfehlungsschreiben, das ich mir erlaubt habe, schon im Voraus aufzusetzen.“
Sarah lächelte schwach. Offensichtlich war Fiona gut informiert, wie es um ihre Situation stand. „Natürlich. Ich verstehe.“
Mr. Ventham begleitete sie zur Tür. „Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, was dieser Verrückte treibt. Und lassen Sie sich nicht von ihm unterkriegen!“
George Venthams Worte klangen noch immer in ihren Ohren, als Sarah keine 24 Stunden später in einer British-Airways-Maschine Richtung Ibiza unterwegs war. Sie fragte sich, ob es wirklich klug von ihr gewesen war, diesen Auftrag anzunehmen.
Sich dem Leben zu stellen, war eine Sache. Es mit Ben Adams aufzunehmen, offensichtlich eine ganz andere. Was sie seit dem letzten Tag noch in den Klatschspalten über den exzentrischen Maler gelesen hatte, überstieg ihre schlimmsten Befürchtungen. Er hatte den Ruf eines ruppigen, ungehobelten Zeitgenossen, der nur tat, wozu er gerade Lust hatte. Journalisten pflegte er anzupöbeln oder mitten im Gespräch einfach stehen zu lassen. Die alkohol- und sexgeschwängerten Partys in seiner Villa auf Ibiza waren legendär. Dass er mit siebenunddreißig noch unverheiratet war, ließ sich wohl nur darauf zurückführen, dass keine Frau es länger als zwei oder drei Monate mit ihm aushielt. Und umgekehrt. Und ausgerechnet Sarah sollte diesen Berserker bändigen!
Nachdenklich zog Sarah ein kleines, in graues Leder gebundenes Buch aus ihrer Handtasche. Es war ihr Tagebuch, das sie führte, seit sie ein Teenager war. Alles, was sie bewegte, vertraute sie Abend für Abend seinen weißen Seiten an. An der Innenseite des Einbands steckte immer noch Johns Foto. Es war abgegriffen und begann, allmählich zu verblassen. So wie die Erinnerung an ihn mehr und mehr verschwand. Doch der Schmerz über seinen Verlust steckte immer noch wie ein Messer in ihrem Herzen.
„Ach, John“, flüsterte Sarah lautlos. „Warum hast du mich allein gelassen?“
Sie erinnerte sich wieder an den grauen, nebelverhangenen Vormittag, als Sir Andrew sie in sein Büro rief. In jenes Büro, in dem sie fünf Jahre zuvor John Carlisle kennengelernt hatte. Einen aufstrebenden jungen Ingenieur, der in Sir Andrews Ölförderfirma arbeitete. Erst waren sie und John nur Kollegen gewesen, doch allmählich wurde daraus eine wachsende Vertrautheit und schließlich Liebe. John versprach, ihr all das zu bieten, wovon sie träumte: ein Zuhause, eine Familie, eine glückliche Zukunft. Sie planten bereits ihre Hochzeit. Doch dazu kam es nicht.
Mit belegter Stimme hatte Sir Andrew ihr mitgeteilt, dass es auf der Ölbohrinsel, auf der John arbeitete, einen Unfall gegeben hatte. Ein Kran war umgestürzt. Sarah hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Sir Andrews Gesichtsausdruck sagte ihr mehr als jedes Wort.
Immer noch traten bei dem Gedanken daran Tränen in ihre Augen, auch noch nach mehr als zwei Jahren. Eine ganze Welt, die sie sich in ihren Träumen mit John aufgebaut hatte, war von einer Sekunde zur anderen zusammengebrochen. Und sogar jetzt saß sie immer noch inmitten der Trümmer und versuchte verzweifelt, sich wieder aufzurappeln.
Der Flieger neigte sich zum Landeanflug. Ibiza tauchte zu Sarahs Rechten auf, ein graugrüner Fleck, wie ein schmutziger Smaragd in einem azurblau schimmernden Meer. Die Außentemperatur betrug um sieben Uhr abends immer noch 28 Grad Celsius, teilte der Kapitän den Fluggästen mit. Sarah wurde klar, dass die langärmelige Seidenbluse unter ihrem grauen Kostüm vielleicht doch nicht die richtige Wahl gewesen war. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.
Als sie das Flughafengebäude verließ, traf die Hitze sie wie ein Schlag. Ihre Bluse war im Nu durchgeschwitzt, ihr strenger Bob begann sich zu kräuseln. Sarah hoffte, dass wenigstens das Taxi klimatisiert sein würde, aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Das Taxi war klein, heiß und laut. Sarah musste Ben Adams’ Anschrift nach vorne schreien, worauf der Fahrer eine dramatische Litanei auf Spanisch vom Stapel ließ, von der sie nur so viel verstand, dass sich die gesuchte Adresse auf der anderen Seite der Insel befand, etwa 25 Kilometer entfernt.
Das schien nicht übertrieben weit zu sein. Aber die Straße wand sich durch eine raue, zerklüftete Landschaft, vorbei an kleinen Ortschaften, einzelnen einsamen Gehöften und endlosen kargen Feldern, sodass es schon dunkel war, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Ben Adams’ Villa war bereits von Weitem sichtbar. Sie thronte auf einem Felsvorsprung oberhalb einer steilen Klippe, ein Palast aus Glas und Beton, der, einem Leuchtturm gleich, hell erleuchtet in die Dunkelheit hinaus strahlte. Das Meer dahinter ließ sich nur als schwarze, bedrohliche Masse erahnen.
Ein plötzliches Gefühl der Beklommenheit überkam Sarah. Weit und breit war kein anderes Haus, geschweige denn eine Ortschaft, zu sehen. Sie war ganz allein. Alleine mit diesem Ben Adams, dem sie noch nie in ihrem Leben begegnet war. Und von dem sie nur wusste, dass er entfernte Ähnlichkeit mit dem Teufel persönlich hatte.
Oh, mein Gott, dachte Sarah mit wachsender Verzweiflung. Worauf habe ich mich da nur eingelassen?
Das Taxi war weg. Obwohl sie seit mehr als zehn Minuten klingelte, war im Haus nichts zu hören außer laut hämmernder Rockmusik. Frustriert drückte Sarah die Klinke nach unten und stellte überrascht fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Zögernd trat sie ein.
Sie stellte ihren Koffer im Vorzimmer ab und betrat einen weitläufigen Wohnraum, der im typischen spanischen Finca-Stil eingerichtet war, mit viel Holz, rotbraunen Steinfliesen und farbenfrohen Polstern und Teppichen. Unwillkürlich kam ihr der Lieblingsausdruck ihres Vaters in den Sinn: „Sündenpfuhl“. Obwohl das Ganze auf sie eher einen sinnlich-verspielten Eindruck machte. Aber die Angst vor der „Sünde“ war ihr von frühester Jugend an eingeimpft worden.
In der Mitte des Raumes saß ein junger Mann und starrte angestrengt auf einen großen Flachbildschirm, auf dem ein Videospiel lief. Sarah kramte in ihrer Erinnerung nach den paar Fetzen Spanisch, die sie am Kolleg gelernt hatte. „Perdón! Vive aqui el señor Ben Adams?“
Der junge Mann warf nur einen kurzen Blick, der keinerlei Erstaunen verriet, in ihre Richtung. „Ja, sicher! Kommst du zur Party?“, antwortete er auf Englisch und mit einem deutlichen amerikanischen Akzent.
„Party?“
„Ich bin sicher, heute steigt noch eine Party“, murmelte der Amerikaner, während er weiter an seinem Controller hantierte.
Sarah seufzte. Viel war aus ihm nicht herauszubekommen. „Und wo finde ich Mr. Adams?“
„Ben? Im Atelier, wo denn sonst?“
„Und wo ist das Atelier?“
Der junge Amerikaner machte eine vage Kopfbewegung. „Na, oben. Aber ich würde da lieber nicht raufgehen. Ben mag es nicht, wenn er bei der Arbeit gestört wird.“
Doch Sarah stieg bereits die breite Steintreppe mit dem schmiedeeisernen Geländer hinauf. Wenn Adams arbeitete, war das zumindest ein gutes Zeichen. „Welche Tür?“, rief sie nach unten.
„Zweite rechts.“
Entschlossen ging Sarah auf die Tür zu und trat ohne zu klopfen ein. Doch auch bei ihrer zweiten Konfrontation mit dem Maler prallte sie erschrocken zurück. Ben Adams stand mit dem Rücken zu ihr vor einer lebensgroßen Leinwand, die das vage Bild einer nackten Frau zeigte. Das Modell dazu rekelte sich auf einem Bett an der gegenüberliegenden Wand.
Mit einem breiten Pinsel zog der Maler einen roten Strich quer über das Gemälde. Als sein Arm nach hinten schwang, trafen mehrere dicke rote Farbspritzer Sarah im Gesicht und auf ihrer Bluse.
Überrascht wirbelte Ben herum, als er hinter sich einen leisen Schrei hörte. Dieser Idiot Dennis wusste doch, dass er nicht gestört werden durfte! Aber vor ihm stand nicht Dennis, sondern eine junge Frau mit knallrotem Gesicht. Wo die Farbspritzer aufhörten und die natürliche Röte, die in ihre Wangen geschossen war, anfing, ließ sich nur schwer sagen. Die junge Frau starrte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Verlegenheit an, die Ben beinahe zum Lachen brachte.
Mit geübtem Blick taxierte er den Neuankömmling: schlank, zierlich – auch wenn sich unter der unförmigen grauen Kostümjacke (wer zum Teufel trug im Hochsommer auf Ibiza eine Kostümjacke?) nicht allzu viel erkennen ließ. Weiches brünettes Haar umrahmte das Gesicht, und ihre Beine waren ausgesprochen wohlgeformt, auch wenn sie durch flache Gesundheitsschuhe und einen lächerlich altmodischen, knielangen grauen Rock verschandelt wurden. Alles in allem war sie nicht unattraktiv. Der Typ scheues Reh, den Mike immer so anziehend gefunden hatte. Der Gedanke an seinen Bruder ließ Bens Züge hart werden.
„Raus“, bellte er die Frau an.
„Mr. Adams, ich bin …“
Wütend schleuderte Ben den Pinsel beiseite. „Jetzt haben Sie es verdorben! Das ist alles Ihre Schuld. So kann ich nicht arbeiten!“
Natürlich stimmte das nicht ganz. Er plagte sich schon seit Tagen mit diesem blöden Bild herum, aber er kam einfach nicht weiter damit. Und Estelle war auch ein lausiges Modell. Aber wenn diese lächerliche Person mit ihrem roten Gesicht und den großen braunen Augen nicht hereingeplatzt wäre, dann hätte er vielleicht …
Kurzentschlossen packte Ben das Bild, hob es über den Kopf und trug es durch die weitgeöffneten französischen Fenster hinaus auf den Balkon. Ohne zu zögern, schleuderte er die Leinwand einfach über das Geländer in die Tiefe.
„Nein“, schrie die junge Frau hinter seinem Rücken. „Sind Sie verrückt geworden? Ich meine …“
Verlegen brach sie ab, als er sich zu ihr umdrehte. Die Röte in ihrem Gesicht vertiefte sich.
„Wer zum Teufel sind Sie überhaupt?“, fuhr Ben sie an, unfreundlicher als er beabsichtigt hatte. Andererseits, warum sollte er nicht unfreundlich sein, wenn sie ihn bei der Arbeit störte? Nur weil sie aussah wie ein kleiner Vogel, der aus seinem Nest gefallen war? Das genügte noch nicht, um Mitleid zu erwarten, und schon gar nicht von ihm.
Die junge Frau schob sich an ihm vorbei zum Balkongeländer und starrte unsicher in die Tiefe. Schäumend schlugen die Wellen gegen die Klippe, auf der das Haus stand. Die tosende Brandung schien sie zu verunsichern. Rasch trat sie einen Schritt zurück und wandte sich ihm zu.
„Mein Name ist Sarah Burton. Hat Mr. Ventham Sie nicht über mein Kommen in Kenntnis gesetzt?“
„Ich lese nie Georges Mails, das weiß er. Was wollen Sie hier?“
Ben ging zurück ins Atelier, und die Engländerin (denn das war sie ihrem Akzent nach) folgte ihm.
„Mr. Ventham schickt mich, Ihnen behilflich zu sein …“
„Wobei?“, unterbrach Ben sie. Seine Lippen verzogen sich zu einem belustigten Grinsen. „Sollen Sie mich abends ins Bett bringen?“
Befriedigt stellte er fest, dass die rote Farbe in ihrem Gesicht sich erneut verstärkte. „Ich brauche kein Kindermädchen. Das letzte hatte ich, als ich …“
„Sechzehn war“, wollte er sagen, aber die Worte kamen nicht über seine Lippen. Als er sechzehn war und Mike fünfzehn, kurz bevor …
„Mr. Ventham meinte, Sie könnten eine Sekretärin brauchen“, redete die Engländerin weiter, aber Ben hörte nur mit halbem Ohr zu. „Die Ihre Termine koordiniert, Ihre Korrespondenz erledigt und Ihre Mails beantwortet.“
Sie betonte das Wort Mails so laut, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde. Beinahe feindselig starrte Ben sie an.
„Und warum sollte ich das wollen?“
Er trat an einen kleinen Tisch, der mit halbleeren Flaschen und Gläsern beladen war, und schenkte sich ein Glas Champagner ein. Champagner hatte immer eine beruhigende Wirkung auf ihn. Zumindest redete er sich das ein. Und es spielte auch nicht wirklich eine Rolle.
„Um Ihren Verpflichtungen Mr. Ventham gegenüber nachzukommen.“
Die Engländerin (Wie war noch mal ihr Name?Sarah irgendwas) trat an seine Seite und sah ihn mit ihrem rot gesprenkelten Gesicht eindringlich an. Eigentlich wirkte sie absolut lächerlich, wenn nicht dieser eigentümlich scheue, verletzliche Ausdruck in ihren braunen Augen gewesen wäre. So als hätte sie Angst davor, ihn anzusehen.
Unerklärlicherweise verspürte Ben das Bedürfnis, sich zu ihr zu beugen und sie zu küssen, seine Hände in ihren Haaren zu vergraben und sie an sich zu ziehen – was kompletter Schwachsinn war. Sie war nicht einmal sein Typ. Er bevorzugte Blondinen mit üppiger Oberweite und endlos langen Beinen. Keine blassen Engländerinnen. Verdammt, alles an ihr erinnerte ihn an England und an ein Zuhause, das es nicht mehr gab!
Ben leerte das Glas Champagner in einem Zug. „Geht es um die verdammten Bilder? Dann sagen Sie George, er bekommt die Bilder, wenn sie fertig sind. Punkt.“
„Aber die Ausstellung …“
„Wenn George unbedingt diese Ausstellung machen will, dann ist das sein Problem, nicht meines“, unterbrach Ben sie ungehalten.
„Aber es ist auch Ihre Ausstellung. Eine Präsentation Ihrer Werke!“
Ihr Blick wurde beinahe flehentlich, wie der eines Rehs, das hilflos in die Scheinwerfer eines heranrasenden Autos starrte. Warum zum Teufel berührte ihn dieser Blick so?
„Und warum sollte mich das interessieren?“, entgegnete Ben schroff, wobei er sich nicht sicher war, ob er damit ihr eine Antwort gab oder sich selbst. Er malte nicht, um anderen zu gefallen. Er malte, um die Bilder, die ihn seit einundzwanzig Jahren verfolgten, aus seinem Kopf zu bekommen.
„Weil …“ Sie suchte verzweifelt nach Worten. „Weil Ihre Arbeit doch ein Ausdruck Ihrer Persönlichkeit ist.“
Das hätte sie nicht sagen sollen. Ben machte einen beinahe drohenden Schritt auf sie zu. „Was wissen Sie schon über meine Persönlichkeit? Denken Sie …?“
„Ben, mir wird langsam kalt. Kann ich mich wieder anziehen?“, hörte er Estelle träge hinter sich murren.
Ben wirbelte herum. „Zieh dich an und verschwinde“, fauchte er die junge Frau auf dem Sofa an.
Dann wandte er sich wieder der Engländerin mit den verschreckten Rehaugen zu, die ihn so ansah, als könnte er sie mit einem Wort von ihrem Leid erlösen. Was wusste sie schon von ihm? Was wusste sie von irgendeinem Leid? „Und Sie auch. Ich brauche keinen Aufpasser!“
Wütend schleuderte er das Champagnerglas in eine Ecke und stürmte aus dem Raum.
Sarah war wie vor den Kopf gestoßen. So hatte sie sich ihr erstes Zusammentreffen mit Ben Adams beim besten Willen nicht vorgestellt.
Nicht nur, dass sie sich lächerlich gemacht hatte, schien sie ihn auch aus irgendeinem Grund gegen sich aufgebracht zu haben. Auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb.
Tränen drohten in ihre Augen zu schießen, die sie verbissen niederkämpfte. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie musste diesen Job durchziehen, koste es, was es wolle. Sie musste beweisen, dass sie … Aber sie wusste selbst nicht so genau, was sie beweisen musste. Sie wusste nur, dass sie nicht aufgeben durfte. Sonst war sie verloren.
„Nehmen Sie sich das bloß nicht so zu Herzen“, ließ sich die junge Frau auf dem Sofa vernehmen, während sie mit entspannten Bewegungen in eine türkisfarbene Tunika schlüpfte. „Ben schreit immer herum, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. Und dann beruhigt er sich wieder.“
Sarah wandte sich der Frau zu. Der Anblick ihres weichen, wohlgeformten Körpers, der sich unter dem dünnen Seidenstoff abzeichnete, die üppigen schwarzen Locken und das blendend weiße Lächeln riefen einen Hauch von Neid in Sarah hervor. Die junge Frau streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Estelle. Willkommen im Irrenhaus!“
Ihr Lächeln war offen und ansteckend. Trotzdem musste Sarah sich überwinden, zu fragen: „Sind Sie Mr. Adams Freundin?“
„Ich?“ Estelle schüttelte sich. „Um Himmels willen, nein. Das wäre mir zu gruselig.“
„Gruselig?“
Estelle zuckte etwas verlegen mit den Schultern. „Ben ist ein netter Kerl, aber er ist so – du hast ihn ja selbst erlebt. Einen Moment ist er ganz lieb und freundlich, und im nächsten Moment flippt er völlig aus. Das wäre nichts für mich. Ich bin mit Dennis zusammen. Er ist Amerikaner, aus Kalifornien. Er will mich mitnehmen, wenn er wieder zurückfliegt. Dann werde ich vielleicht in Hollywood entdeckt. Ich will nämlich Schauspielerin werden. So wie Penelope Cruz.“
Sarah erwiderte ihr naives, freundliches Lächeln. Estelle brachte bestimmt alle Voraussetzungen mit, ein glückliches, sorgloses Leben zu führen. Manche Menschen schienen dafür bestimmt zu sein, und manche nicht. „Gott liebt die Mühseligen und Beladenen“, pflegte ihr Vater zu sagen, aber Sarah hatte sich immer gegen diese Vorstellung gesträubt, dass es nichts als Kummer und Sorgen im Leben geben sollte.
Estelle beugte sich zu ihr. „Hast du einen Freund?“, wollte sie in vertraulichem Tonfall wissen.
Sarah biss sich auf die Lippen. „Nicht … im Moment“, erwiderte sie ausweichend, was nicht wirklich gelogen war, aber eben auch nicht ganz der Wahrheit entsprach. Zumindest nicht der Wahrheit, die ihre Antwort suggerierte.
Estelle kicherte. „Schade. Ich fände es cool, ein bisschen über die Jungs zu lästern. Das macht Spaß.“
Sie hakte sich bei Sarah unter. „Na, komm. Ich zeig dir, wo du schlafen kannst.“
„Mr. Adams will doch, dass ich wieder abreise…“, warf Sarah ein, aber Estelle machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das meint er doch nicht so. Außerdem geht heute sowieso kein Flug mehr.“
„Wohnt ihr beide auch hier, du und Dennis?“
„Manchmal. Eigentlich hat Dennis ein Ferienhaus unten am Strand gemietet, aber seit wir vor drei Wochen Ben kennengelernt haben, verbringen wir die meiste Zeit hier.“
Sarah warf einen Blick zurück zum Balkon. „Wirft Mr. Adams, also Ben viele Bilder aus dem Fenster?“
„Ziemlich viele“, erwiderte Estelle unbekümmert. „Eigentlich fast alle, die er malt.“
Verzweifelt rieb Sarah an ihrem Gesicht herum, bis sie kaum noch zwischen den Farbsprenkeln und ihrer geröteten Haut unterscheiden konnte. Das verflixte Zeug ging einfach nicht ab!
Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Was hatte sie nur dazu bewogen, hierherzukommen? In das Haus dieses Irren, der sie nicht wollte, um eine Aufgabe zu übernehmen, der sie nicht gewachsen war?
Estelle hatte sie mit ihrem Koffer in einem der zahlreichen Schlafzimmer der Villa abgesetzt. Sarah konnte hören, wie die junge Frau und der Amerikaner lachend das Haus verließen. Offensichtlich wollten sie noch ausgehen, nachdem hier doch keine Party mehr stattfand. Ben Adams war verschwunden, der Himmel mochte wissen, wo er steckte.
Und die Klippen unterhalb der Villa waren mit zertrümmerten Gemälden in Millionenhöhe bedeckt. Was sollte sie nur Mr. Ventham erzählen? Halten Sie mich auf dem Laufenden, hatte er sie ermahnt. Worüber? Dass er seine Ausstellung in den Wind schießen konnte?
Sarah holte tief Luft, versuchte, ruhig zu werden. Nein, sie durfte sich von Ben Adams nicht einschüchtern lassen. Sie musste zumindest versuchen, ihn zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. So schnell durfte sie nicht aufgeben. Vielleicht sah die Welt ja morgen wirklich anders aus und Ben Adams hatte sich wieder beruhigt, so wie Estelle es angedeutet hatte.
„Sie müssen Terpentin verwenden“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihrem Rücken.
Sarah wirbelte herum. In der Tür des blau-weiß gekachelten Badezimmers lehnte Ben Adams und starrte sie mit einem halb amüsierten, halb feindseligen Blick an. Wie lange er schon dagestanden und sie beobachtet hatte, konnte Sarah nicht sagen.
„Wie kommen Sie hier herein?“, fragte sie eine Spur zu schrill. Sie hatte doch die Schlafzimmertüre abgeschlossen.
„Der Balkon verläuft über die gesamte Breite des Hauses“, erklärte Ben.
Und Estelle hatte das französische Fenster im Schlafzimmer geöffnet, um die Tageshitze hinauszulassen, wie sie sagte. Trotzdem …
„Das gibt Ihnen nicht das Recht …“, setzte Sarah an, aber Ben unterbrach sie ungerührt: „Ich habe Terpentin im Atelier. Kommen Sie mit.“
Als sie nicht reagierte, packte er sie einfach am Arm und zog sie hinter sich her. Er ging mit weiten, ausladenden Schritten, sodass Sarah Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten. Vielleicht war ja jetzt eine Gelegenheit, ihm ihr Anliegen zu unterbreiten?
„Mr. Adams, ich wollte …“
„Sie brauchen mir nichts zu erklären“, erwiderte Ben gleichmütig. „George Ventham macht sich Sorgen. Deshalb hat er sie geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Aber Sie müssen wissen, Miss – wie war noch mal Ihr Name?“
„Sarah Burton.“
„Sie müssen wissen, Miss Burton, dass sich George Ventham immer Sorgen macht. Wenn die Sonne scheint, sorgt er sich, dass ihre Strahlen die Bilder in seiner Galerie beschädigen könnten. Und wenn es regnet, befürchtet er, dass die Gemälde durch die Feuchtigkeit angegriffen werden. Er kann nicht begreifen, dass es sich bei diesen Bildern nur um imaginäre Dinge handelt, mit einem imaginären Wert. Sie sind nichts weiter als ein Stück Leinwand oder Papier mit etwas Farbe darauf. Sie haben nichts mit dem realen Leben zu tun.“
„Aber viele Menschen schätzen diese imaginären Dinge, wie Sie es nennen“, versuchte Sarah einzuhaken. Sie gingen über den Balkon zu Bens Atelier. Unter ihren Füßen konnte Sarah die Brandung spüren, die gegen die Klippen schlug, und ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit.
„Weil sie Idioten sind“, wies Ben sie streng zurecht. „Weil sie keine Ahnung haben, was im Leben wirklich zählt.“
Als sie in seinem Atelier ankamen, griff er nach einem Lappen, träufelte etwas Flüssigkeit aus einer braunen Flasche darauf und begann mit geübter Hand, Sarahs Gesicht zu bearbeiten.
„Das Leben muss man sich nehmen“, fuhr er beinahe trotzig fort. „Jedes einzelne Stück davon. Man muss es genießen und aussaugen bis zum letzten Tropfen. Es wird einem bestimmt nichts geschenkt oder auf einem silbernen Tablett serviert.“ Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Und man sollte versuchen, glücklich zu sein, solange man dazu in der Lage ist.“
Sarah starrte ihn an. Warum sagte er so etwas? Und wie kam er dazu, genau das auszusprechen, was sie vor Kurzem selbst gedacht hatte? Zum ersten Mal hatte sie den Mut, ihn genauer anzusehen. Ein bitterer Zug lag um seine schmalen Lippen, und seine dunklen Augen schienen geradewegs durch sie hindurchzusehen. Trotzdem wischte er mit unerwarteter Sanftheit über ihre Wange, während seine linke Hand leicht auf ihrer Schulter ruhte.
Die Berührung sandte ein eigenartiges Kribbeln durch Sarahs Körper. Gegen ihren Willen wanderte ihr Blick weiter über seinen Oberkörper und seine Arme, die sich muskulös und sehnig unter seinem dünnen Shirt abzeichneten. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie nicht so empfinden sollte. Sie war nicht zu ihrem Vergnügen hier, sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
„Ich … ich kann das selbst“, versuchte sie, Ben Adams Hand abzuwehren. Aber der Griff seiner linken Hand auf ihrer Schulter wurde fester, während er mit seiner Tätigkeit fortfuhr.
„Können Sie nicht. Also, halten Sie still. Und hören Sie auf, ständig rot zu werden, oder ich erwische nie die echte Farbe!“
Bei diesen Worten schoss erst recht Hitze in ihre Wangen. Ben Adams Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen. Sie durfte sich nicht ständig von ihm aus der Fassung bringen lassen, ermahnte Sarah sich selbst. Offenbar machte es ihm Spaß, sie in Verlegenheit zu stürzen.
Ben trat einen Schritt zurück. „So, jetzt könnte man Sie fast wieder als menschlich bezeichnen.“
Für einen Augenblick ruhte sein Blick mit einem beinahe zärtlichen Ausdruck auf ihr, doch sofort verdunkelten sich seine Augen wieder. Schroff schob er sie von sich. „Und jetzt sollten Sie schlafen gehen. Damit Sie morgen möglichst früh Ihren Rückflug buchen können.“
Bevor Sarah sich von ihrer Verblüffung erholen und zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte er bereits das Atelier verlassen und die Tür mit festem Griff hinter sich geschlossen.
Verloren stand Sarah in dem halbdunklen Raum. Dieser Ben Adams war ein Rüpel durch und durch, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie das von Anfang an gewusst hatte. Noch bevor sie ihm begegnet war. Dennoch wusste sie nicht, wie sie mit seiner schwierigen Art umgehen sollte.
Mit plötzlicher Heftigkeit sehnte Sarah sich zurück in die heile, sichere Welt der Vergangenheit. Als sie noch in dem Glauben lebte, dass sie eines Tages John Carlisles Frau sein würde, mit Kindern und einem Zuhause, um das sie sich kümmern konnte. Damals war alles so klar und einfach gewesen. Jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt. Wenn sie versagte, welche Möglichkeiten hatte sie dann noch?
Das düstere alte Cottage im Lake District, in dem sie aufgewachsen war, tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Der Job in der Pfarrkanzlei, der immer für sie offenstand, wie ihr Vater ihr nach Johns Tod angeboten hatte. Nein, nur das nicht! Sarah fröstelte bei dem Gedanken, trotz der warmen Brise, die durch die geöffneten Balkontüren in das Atelier wehte.
Zaghaft sah sie sich in dem großen Raum um. Mehrere Leinwände in verschiedenen Größen lehnten an den Wänden, aber sie waren allesamt leer. Ein Bild stand verhüllt auf einer Staffelei. Als sie das Tuch anhob, fand sie darunter ein halbfertiges Portrait von Estelle. Aber aus irgendeinem Grund war es nicht gelungen. Etwas fehlte, auch wenn Sarah nicht sagen konnte, was es war. Offensichtlich hatte das auch Ben Adams gespürt, denn ein breiter roter Strich zog sich quer über das Gemälde.
Seufzend ließ Sarah das Tuch sinken. Offensichtlich war das alles, was Ben in den letzten Wochen gemalt hatte. Und der Rest lag am Fuß der Klippen. Vorsichtig trat Sarah an das Balkongeländer und blickte in die Tiefe, wo sie in der Dunkelheit jedoch nichts erkennen konnte. Nur das Schäumen der Brandung war zu hören, was erneut ein flaues Gefühl in ihrem Magen auslöste.
Sei kein solcher Angsthase, schalt Sarah sich selbst. Du kannst schwimmen. Wenn auch nicht allzu gut, wie sie in einem Nachsatz hinzufügen musste. Wasser war nicht ihr Element. Die dunklen Tiefen, die sie beim Schwimmen in einem See oder Teich unter sich spürte, hatten ihr immer Angst gemacht. Als würde da unten etwas lauern, das sie in die Dunkelheit ziehen wollte. Aber das waren natürlich nur kindliche Hirngespinste. Und das Schwimmen konnte man trainieren. Vielleicht würde sie hier auf Ibiza Gelegenheit dazu haben.
Im Augenblick hatte sie allerdings Dringenderes zu tun. Sorgfältig verschloss Sarah die Balkontüre, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Ihr Blick fiel auf das graue Tagebuch, das auf dem Nachttisch lag. So viel hatte sie im Kopf, das sie ihm nach diesem ersten Tag anvertrauen wollte. Aber sie war zu müde und erschöpft. Sie würde morgen über alles nachdenken, sich eine Strategie zurechtlegen, wie sie Ben Adams doch noch von sich überzeugen konnte. Rasch schlüpfte sie in ihren Pyjama, löschte das Licht und war sofort eingeschlafen.
Ben versuchte, nicht an die Engländerin zu denken. Aber irgendetwas an dem Blick ihrer braunen Augen, als er ihr Gesicht gesäubert hatte, ließ ihn nicht los. Es war eine Mischung aus Furcht, Unsicherheit und hoffnungsvollem Vertrauen gewesen.
Der alte Zynismus stieg in ihm auf. Sie würde schon noch lernen, dass man ihm nicht vertrauen konnte. Dass er geübt darin war, alles, was er liebte, zu zerstören. So wie seine Bilder. Oder seine Beziehungen. Oder …
Düster starrte Ben auf das nächtliche Meer hinaus. Er saß auf einem Felsvorsprung unterhalb seines Hauses, knapp über der Wasserlinie, sodass er die Gischt spüren konnte, die zu ihm heraufspritzte. Die warme Nachtluft hüllte ihn ein, trotzdem konnte sie die Kälte in seinem Inneren nicht vertreiben. Ben fühlte sich ausgebrannt und leer. Er arbeitete Tag und Nacht, aber keines der Bilder, die er malte, konnte ihn zufriedenstellen. Alles, was er vermitteln wollte, schien bereits gesagt worden zu sein. Dennoch spürte er tief in seinem Inneren ein merkwürdig drängendes Gefühl, das er einfach nicht in Worte, geschweige denn in Bilder fassen konnte.
Frustriert vergrub Ben sein Gesicht in den Händen. Alles schien so sinnlos zu sein. Wenn er nicht mehr malen konnte, was sollte er dann tun, um die Leere in seinem Inneren zu füllen?
Am nächsten Morgen stand Sarah gegen sechs Uhr auf. Die Sonne schien warm und einladend in ihr Zimmer, und auch das Meer unter ihren Fenstern war ruhig und glatt wie ein tiefblauer Spiegel. Die Schatten der vergangenen Nacht schienen gebannt, und Sarah blickte mit neuer Zuversicht in den Tag. Sie würde es schaffen, diese Aufgabe zu erledigen. Hatte sie das nicht immer getan?
Sie entschied sich für eine Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt. Business-Outfits waren in dieser Umgebung eher nicht angesagt, wie sie mittlerweile herausgefunden hatte. In der Küche, die sie nach kurzer Suche fand, bereitete eine ältere Spanierin am Herd etwas zu essen zu. Auch sie schien nicht erstaunt zu sein, auf einmal einer fremden Frau gegenüberzustehen.
„Frühstück, Señora?“, fragte sie in gebrochenem Englisch.
„Si, por favor“, antwortete Sarah und zauberte damit ein Lächeln auf das Gesicht ihres Gegenübers.
Die Spanierin tischte Berge von Toast, gebratenem Speck, Rühreiern, Würstchen, Schinken und eine Kanne Kaffee für Sarah auf. Dabei erzählte sie in einem bunten Kauderwelsch aus Englisch und Spanisch, dass sie Bens Haushälterin sei, die täglich vorbeikam, um für Ordnung im Chaos der Villa zu sorgen. Ihr Name war Rosita, und sie lebte in San Miguel, einem kleinen Dorf etwa fünf Kilometer entfernt.
Während Sarah frühstückte, schlurften Dennis und Estelle schlaftrunken in die Küche. Offenbar waren sie irgendwann im Lauf der Nacht zurückgekommen. Sarah ergriff die Gelegenheit beim Schopf, sich sogleich ihren Aufgaben zu widmen. Sanft, aber bestimmt nahm sie die Kaffeetassen, nach denen die beiden greifen wollten, und bugsierte Ben Adams Hausgäste zur Tür.
„Ich fürchte, dass Mr. Adams in den nächsten Tagen keine Zeit für euch haben wird. Er muss dringend seiner Arbeit nachgehen. Warum geht ihr nicht in der Zwischenzeit zurück in euer Strandhaus? Mr. Adams wird sich bei euch melden, wenn er es einrichten kann.“
Die beiden waren offensichtlich zu müde und überrumpelt, um irgendeinen Protest einzulegen. Anstandslos packten sie ihre Habseligkeiten zusammen und ließen sich von Sarah hinauskomplimentieren, während Rosita vergnügt zusah. Lachend schüttelte sie den Kopf, als sich die Tür hinter Dennis und Estelle schloss.
„Das wird Señor Ben nicht gefallen. Oh, nein, das wird ihm gar nicht gefallen!“
Aber Sarah fühlte allmählich ihr altes Vertrauen in ihre Fähigkeiten zurückkehren. Mit ruhiger Entschlossenheit bestrich sie einen weiteren Toast mit Butter und wartete auf Señor Bens Erscheinen.
Gähnend betrat Ben kurz nach acht Uhr die Küche. Er war am Vorabend für seine Verhältnisse früh zu Bett gegangen, noch vor Mitternacht, trotzdem fühlte er sich wie gerädert. Die Engländerin saß am Tisch und aß Speck mit Eiern. Natürlich hatte er nicht wirklich erwartet, dass sie abreisen würde. Und wenn er ehrlich war, hätte er es sogar bedauert. Auch wenn er selbst nicht wusste, weshalb. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, die er schwarz trank, und setzte sich Sarah gegenüber. Mit einem abschätzigen Blick betrachtete er die junge Frau.
„Na, wenigstens haben Sie sich heute etwas Vernünftiges angezogen“, bemerkte er ohne Einleitung. Das weiße T-Shirt verriet mehr von ihrer Figur, die äußerst zufriedenstellend zu sein schien.
Sie warf ihm einen beinahe koketten Blick aus ihren großen braunen Augen zu. „Dann kann ich bleiben?“
Obwohl sie sich bemühte, gleichmütig zu klingen, schwang Sorge in ihrer Stimme mit, so als wäre die Frage von ungeheurer Bedeutung für sie. Ben musterte sie aufmerksam. Etwas versteckte sich hinter dieser ruhigen, geschäftsmäßigen Fassade, die sie an den Tag legte. Was hatte die korrekte Miss Burton zu verbergen?
Betont gleichgültig zuckte er die Achseln. „Meinetwegen. Wenn Sie schon mal da sind, können Sie sich genauso gut nützlich machen. Dieser ganze Bürokram interessiert mich sowieso nicht.“
Er sagte sich, dass er tatsächlich Hilfe brauchen konnte, um frei zu sein für seine Malerei. Obwohl das natürlich nur die halbe Wahrheit war. Aber diese Miss Burton interessierte ihn aus irgendeinem Grund. Vielleicht … vielleicht war sie ja wirklich der Ansporn, den er brauchte, um wieder zu seiner alten Form zu finden.
Mit einem Ausdruck von Erleichterung auf ihrem Gesicht beugte Sarah sich vor. „Mr. Ventham meinte …“
„Wie lange arbeiten Sie schon für den guten George?“, unterbrach Ben sie. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie schon einmal in seiner Galerie gesehen zu haben.“
Und sie wäre ihm bestimmt aufgefallen, auch wenn sie nicht wirklich auffällig war. Nicht so wie diese unmögliche Rothaarige, mit der George sich so gern umgab. Aber Sarah Burton hatte etwas, das seinen Blick gefangen hielt.
Er konnte sehen, dass er sie mit seiner Frage in Verlegenheit brachte. „Ich … das ist … noch nicht sehr lange. Ich bin eine Bekannte seiner Assistentin, Miss Denning.“
„Die schöne Fiona?“ Ben verzog spöttisch die Lippen. Dass diese beiden Frauen irgendetwas gemein haben sollten, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. „Die muss doch schon über vierzig sein!“
„Sie ist dreißig, so wie ich. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“
Ben konnte hören, dass sich in Sarahs Empörung ein Hauch von Befriedigung mischte. Offensichtlich ging ihr die aufdringliche Miss Denning genauso auf die Nerven wie ihm. Für einen Moment erlaubten sie sich beide ein verschmitztes Grinsen. Dann sah Ben sich um. Ihm fiel auf, dass es ungewöhnlich still im Haus war.
„Wo sind Estelle und dieser Amerikaner? Wie heißt er noch mal?“
„Dennis“, half Sarah ihm aus. „Ich habe sie nach Hause geschickt. Sie wohnen, wie es scheint, in einem Ferienhaus ganz in der Nähe.“
„Wirklich?“ Ben konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Kompliment! Wie ist Ihnen das gelungen? Ich versuche die beiden seit drei Wochen hinauszuekeln und habe es bis jetzt noch nicht geschafft.“
Sarah antwortete nicht, sondern aß mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck weiter. Über den Rand seiner Tasse hinweg beobachtete Ben sie. Amüsiert nahm er zur Kenntnis, dass sie seine ungenierte Musterung irritierte. Offensichtlich hatte sie es in ihrem Leben noch nicht oft mit bösen Jungs zu tun gehabt. Diese Erfahrung durfte er ihr auf keinen Fall vorenthalten. Denn schließlich, konstatierte Ben zynisch, lernte man nur aus den schlechten Erfahrungen. Die guten pflegte man als selbstverständlich hinzunehmen.
„Der gute George ist also besorgt um mich“, begann er das Gespräch erneut.
Sarah schob einen Umschlag über den Tisch. „Hier ist ein Schreiben von Mr. Ventham, in dem er Sie bittet, meine Dienste zu akzeptieren. Er meint …“
„Reden Sie immer so geschwollen?“, unterbrach Ben sie. „Das ist ja nicht auszuhalten! Rosita!“
Die Haushälterin erschien in der Tür. „Si, Señor Ben?“
„Einen Whiskey“, befahl Ben. „Ich brauche was zur Aufmunterung.“
Er sah Sarah scharf an, aber sie ließ sich nicht anmerken, ob seine unhöflichen Worte sie getroffen hatten. Rositas Gesicht nahm einen flehenden Ausdruck an. „Señor Ben … bitte! Nicht Whiskey am Morgen!“
„Rosita!“ Bens Stimme wurde messerscharf, und die Spanierin verschwand unterwürfig, nur um gleich darauf mit einem Glas zurückzukehren, das mit einer goldbraunen Flüssigkeit gefüllt war. Ben kippte den Whiskey in einem Zug hinunter. Das Getränk brannte wie die Hölle in seiner Kehle, aber das verhinderte wenigstens, dass er irgendetwas anderes fühlte.
Die ganze Zeit über ließ er Sarah nicht aus den Augen, die seinen Blick mit eisiger Miene erwiderte. Sie wirkte ziemlich tough, trotz ihrer zierlichen Figur und der rehbraunen Augen. Allerdings entging Ben nicht, dass ihr akkurat geschnittener Bob sich an den Spitzen einzudrehen begann und sanfte Locken um ihr Gesicht formte. Die unerschütterliche Miss Burton hatte also doch nicht alles so unter Kontrolle, wie sie glaubte. Ein amüsiertes Lächeln umspielte Bens Lippen. Er hatte das Gefühl, dass er mit dieser Engländerin noch viel Spaß haben würde.
Ein Geräusch ließ sie beide aufblicken. In der Küchentür stand eine großgewachsene blonde Frau in einer fließenden weißen Seidenbluse, die sie kühl und unnahbar erscheinen ließ. Die Frau trat ohne Gruß auf Ben zu und küsste ihn.
Mit einem harten, slawisch klingenden Akzent rief sie: „Ben, Darling, wie schön, dich zu sehen! Du hast dich eine Ewigkeit nicht mehr blicken lassen! Ich musste einfach vorbeikommen und sehen, ob alles in Ordnung ist. Ich habe schon angefangen, mir Sorgen um dich zu machen.“
Ben bedachte sie mit einem Blick, der halb Begehren und halb Verachtung ausdrückte. Seine Mundwinkel zuckten. „Niemand braucht sich Sorgen um mich zu machen. Du weißt doch, Daria: Unkraut vergeht nicht.“
Sein Blick wanderte zu Sarah zurück. Herausfordernd sah er sie an, so als wären die Worte an sie gerichtet gewesen und nicht an die fremde Frau. Sarah hatte den Kuss mit einem merkwürdigen Gefühl von Beklommenheit beobachtet. Fühlte sie etwa Eifersucht in sich aufsteigen? Unsinn, sagte sie sich selbst. Sie war hier, um zu arbeiten. Um ihre Aufgabe zu erledigen und wieder so etwas wie einen Sinn in ihrem Leben zu finden. Wer oder wer nicht die aktuelle Geliebte dieses Malers war, konnte ihr gleichgültig sein.
Trotzdem blieb dieses nagende, unangenehme Gefühl bestehen.
Daria war Bens Blick gefolgt und musterte Sarah nun eindringlich. Die Frau war etwa Mitte vierzig, vielleicht auch älter. Ihr sorgfältiges Make-up, das besonders ihre eisblauen Augen betonte, sowie ihre Frisur, die in weichen hellblonden Wellen ihr Gesicht umspielte, kaschierten ihr Alter jedoch sehr geschickt. Der funkelnde, zweifelsohne echte Schmuck, den sie trug, tat ein Übriges, sie zeitlos und begehrenswert erscheinen zu lassen.
„Deine neue Haushälterin, Darling?“, fragte sie mit einem spöttischen Unterton.
„Nein, mein Kindermädchen!“ Ben grinste, als Sarah empört das Gesicht verzog. „Wie du siehst, wird gut auf mich achtgegeben.“
„Das sehe ich.“ Daria griff nach Bens Tasse und nahm wie selbstverständlich einen Schluck daraus. Dabei ließ sie Sarah nicht aus den Augen. Ben ließ seinen Blick vergnügt zwischen den beiden Frauen hin und her wandern. Offensichtlich amüsierte ihn die Spannung, die in der Luft lag.
„Daria, darf ich vorstellen: Sarah Burton. Miss Burton: Daria Andreeva, eine sehr liebe alte Freundin von mir.“ Bei dem Ausdruck „alt“ kräuselten sich Darias Lippen unerfreut. Aber sie sagte nichts darauf. „Daria ist Kunstsammlerin. Sie besitzt eine der größten Galerien in Moskau“, fuhr Ben fort.
„Dann gehört sie wohl zu den Leuten, die imaginären Dingen hinterherlaufen?“, fragte Sarah mit einem Anflug von Bosheit in ihrer Stimme.
Ben grinste sie mit einem übermütigen Funkeln in seinen dunklen Augen an. Sarah fühlte sich auf eine merkwürdige Weise mit ihm verbunden, so als würden sie beide ein Geheimnis miteinander teilen.
Auch Daria schien das zu spüren. Ihre Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. Demonstrativ legte sie ihre Hand auf Bens Schulter. „Du kommst doch zu meiner Party morgen, Darling?“
Ben blinzelte. „Eine Party? Davon weiß ich noch gar nichts.“ Sein Blick ließ Sarah nicht los. Er betrachtete sie mit einer plötzlichen Ernsthaftigkeit, die ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Bauch verursachte.
Daria lächelte säuerlich. „Ich hatte dir doch davon erzählt. Und du hast fest versprochen zu kommen.“
„Da musst du mit meinem Kindermädchen reden. Sie entscheidet, ob ich Ausgang bekomme oder nicht. Ich muss nämlich erst noch ein paar Bilder fertig malen. Für die große Ausstellung in London, du weißt doch.“
Daria betrachtete Sarah mit neuem, feindseligem Interesse. „Oh ja, die Ausstellung. Ich plane übrigens eine ähnliche Show in Moskau. Es wäre mir eine große Ehre, einen so bedeutenden Maler wie Ben Adams in meiner bescheidenen Galerie präsentieren zu dürfen.“
Ben lachte laut. „Daria, nichts an dir oder deiner Galerie ist bescheiden.“
Daria Andreeva bedachte Sarah mit einem eisigen Blick. „Sie werden mir doch nicht meine Party verderben, Miss Burton? Ich bin sicher, das wäre auch nicht in Bens Interesse.“ Sie beugte sich zu Ben und hauchte einen Kuss auf seine Wange. „Ich zähle auf dich, Darling. Bis morgen.“
Dann stöckelte sie kühl und selbstsicher aus dem Raum.
Sarah blinzelte irritiert. Hatte sie das eben richtig verstanden? Plante diese Frau etwa, Ben von der Galerie Ventham abzuwerben?
Ben stand auf. „Dann werde ich mich wohl besser an die Arbeit machen. Ich will nicht zwei Frauen an einem Tag verärgern. Das wäre sogar für mich zu viel.“
Er bedachte sie mit einem weiteren eindringlichen Blick, aber Sarah achtete kaum auf ihn. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie nur tun? Mr. Ventham informieren? Und ihm noch mehr schlaflose Nächte bereiten? Nein, sie beschloss, erst noch genauere Informationen einzuholen. Und sie wusste auch schon, wer ihr diese Informationen beschaffen konnte. Allerdings brauchte sie eine Gelegenheit, um allein und in Ruhe zu telefonieren.
Als Rosita kam, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen, wandte Sarah sich an die Haushälterin. „Wie weit ist es bis nach San Miguel, wo Sie wohnen, Rosita?“
„Oh, nicht weit. Vier oder fünf Kilometer.“ Rosita machte eine vage Handbewegung in nördlicher Richtung. „Es gibt einen Pfad die Küste entlang, der direkt nach San Miguel führt.“
Sarah holte rasch ihre Tasche aus dem Zimmer und marschierte los. Es war ein strahlender und vor allem wieder heißer Tag. Sarah schwitzte sogar in ihrem dünnen T-Shirt. Zu ihrer Linken glitzerte und funkelte das Meer wie ein blauer Spiegel. An einem ruhigen Tag wie diesem konnte Sarah ihre Ängste selbst nicht verstehen. Wie konnte sie nur so dumm sein, sich vor ein bisschen Wasser zu fürchten? Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie im Augenblick größere Probleme hatte als ihre mangelnden Schwimmkenntnisse.
Verzweifelt drehte Sarah ihr Handy nach allen Richtungen, aber sie bekam einfach keinen Empfang. Vielleicht gab es ja in San Miguel einen Sendemast? Hoffentlich!
Sie musste unbedingt Fiona erreichen. Wenn jemand etwas über eine andere Person herausfinden konnte, dann sie. Klatsch und Tratsch waren schon immer Fionas Spezialität gewesen. Als Sarah sich dem kleinen Dorf mit seinen niedrigen, weiß getünchten Häusern näherte, zeigte ihr Handy endlich wieder eine Verbindung an. Rasch wählte sie Fionas Nummer.
„Galerie Ventham, Fiona Denning am Apparat“, meldete sich die vertraute, leicht lispelnde Stimme ihrer Schulkameradin.
„Fiona, hier ist Sarah!“
„Sarah, Schatz, wie ist Ibiza? Und vor allem – wie ist Ben Adams?“ Sarah konnte geradezu vor sich sehen, wie Fiona ihr verschwörerisch zuzwinkerte. „Willst du mit Mr. Ventham sprechen?“
„Nein, nur das nicht“, platzte Sarah heraus. „Ich meine – Fiona, du musst mir helfen! Aber die Sache ist vertraulich. Hier ist heute Morgen eine Russin aufgetaucht. Ihr Name ist Daria Andreeva. Ich glaube, sie versucht, Ben Adams für ihre Galerie abzuwerben!“
Fiona wurde schlagartig ernst. „Oh Gott, das wäre ja entsetzlich! Du hast recht, das darf Mr. Ventham nicht erfahren. Er ist ohnehin schon mit seinen Nerven am Ende. Was soll ich tun?“
„Versuch, so viel über diese Russin herauszufinden, wie du kannst. Ich melde mich wieder bei dir.“
Sarah klappte ihr Handy zu. Während des Gesprächs mit Fiona war sie in den kleinen Ort hineinmarschiert und hatte ihre Schritte wie selbstverständlich in Richtung der Kirche gelenkt. Unter einer riesigen Platane auf dem Platz vor der Kirche stand eine verwitterte Holzbank. Darauf ließ Sarah sich nieder, lehnte ihren Rücken an den rauen Stamm des Baumes und schloss erschöpft die Augen.
Sie durfte diesen Job nicht vermasseln. Nur das nicht!
Ben stand in seinem Atelier und starrte auf die leere Leinwand auf der Staffelei. Er versuchte, das Bild zu fassen, das in ihm aufstieg, das Bild, das er malen wollte – malen musste. Aber es blieb vage und verborgen. Er fand keinen Anfang, keinen Strich, dem er folgen konnte. Außerdem wurde das Bild immer wieder von einem anderen verdrängt: dem von Sarah Burton. Was zog ihn so zu dieser Frau hin?
Ben versuchte, einen unsicheren Strich auf der Leinwand, aber er wusste im selben Augenblick, dass der Strich falsch war. Das war es nicht, was er malen wollte. Kurz war er versucht, die Leinwand zu packen und ins Meer zu werfen, so wie es seine Gewohnheit war. Aber dann ließ er sie stehen.
Im Schneidersitz setzte er sich auf den Boden und zog seinen Skizzenblock heran. Wie von selbst begann der Stift in seiner Hand ein Augenpaar zu zeichnen. Sarahs Augen. Groß, braun, irgendwie verletzt und verletzlich. Vielleicht erinnerten sie ihn daran, dass er nur zu gut wusste, was es bedeutete, andere zu verletzen und selbst verletzt zu werden.
Vielleicht war sie ja eine verwandte Seele? Vielleicht hatte auch sie ein dunkles Geheimnis? Auch wenn Ben das selbst nicht glauben konnte. Niemand war so wie er. Niemand hatte erlebt und gesehen, was ihm widerfahren war. Niemand konnte verstehen, was in ihm vorging. Warum sollte es ausgerechnet diese Engländerin Sarah tun?
Sie war eine Frau wie jede andere, und Frauen waren in seinem Leben in großer Zahl ein und aus gegangen. Denn für eine ernsthafte Beziehung brauchte es Vertrauen. Und irgendjemandem zu vertrauen, hatte er sich vor langer Zeit abgewöhnt. Er zog es vor, sein wahres Ich freiwillig hinter einer Mauer aus Unfreundlichkeit und Menschenverachtung zu verstecken, ehe jemand herausfinden konnte, was sich hinter dieser Mauer verbarg.
Gedankenverloren hatte Ben weitere Striche auf das Papier gezeichnet, um das Augenpaar herum, und daraus Sarahs Gesicht geformt. Es war das Gesicht einer Frau, die zu tiefsten Gefühlen fähig war, wenn sie sich diese Gefühle selbst erlaubte, wie Ben plötzlich erkannte. Und er spürte den Wunsch in sich, diese Gefühle in ihr zu wecken, zu sehen, wozu Sarah Burton imstande war.
Aber das war natürlich Unsinn. Er hatte keinerlei Interesse an ihr.
Entschlossen riss Ben das Blatt von seinem Block, knüllte es zusammen und warf es in eine Ecke. Unvermittelt tauchte das Bild von Madame Celeste, ihrem französischen Kindermädchen, vor ihm auf.
„Jun–gens! Jun–gens“, hatte sie immer verzweifelt mit ihrem französischen Akzent gerufen, wenn sie in ihr Zimmer kam. „Diese Unordnung, mon dieu! Bitte aufräumen!“
Und Mike und er hatten sich gegenseitig in die Rippen gestoßen und waren wie die Wiesel aus dem Fenster und über das alte Efeugerüst nach unten geklettert. Die arme Madame Celeste hatte keine Chance, sie zu erwischen.
Ben lächelte in Gedanken. Es waren schöne Erinnerungen, an eine Zeit, die noch heiter und sorglos und unbeschwert war. Lange bevor…
Abrupt hob er den Kopf. Wo steckte eigentlich sein neues Kindermädchen? Sollte sie nicht hinter ihm stehen und sichergehen, dass er auch fleißig arbeitete?
„Rosita!“