Romantic Mystery Sommer 2015: Sechsmal Liebe und Geheimnis - Alfred Bekker - E-Book
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Romantic Mystery Sommer 2015: Sechsmal Liebe und Geheimnis E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Sechsmal Liebe und Geheimnis

von Alfred Bekker & Ann Murdoch

Der Umfang dieses Buchs entspricht 625 Taschenbuchseiten.

Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Darum geht in den packenden romantischen Spannungsromanen von Alfred Bekker und Ann Murdoch.

Dieses Buch enthält folgende sechs Romane:

Alfred Bekker: Kaltes Grauen

Ann Murdoch: Steinerne Rache

Alfred Bekker: Dämonen-Dschungel

Ann Murdoch: Galopp in die Hölle

Alfred Bekker: Höllensumpf

Ann Murdoch: Verhängnisvolle Beschwörungen

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Alfred Bekker, Ann Murdoch

Romantic Mystery Sommer 2015: Sechsmal Liebe und Geheimnis

Cassiopeiapress Spannung

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Romantic Mystery Sommer 2015

Sechsmal Liebe und Geheimnis

von Alfred Bekker & Ann Murdoch

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 625 Taschenbuchseiten.

 

Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Darum geht in den packenden romantischen Spannungsromanen von Alfred Bekker und Ann Murdoch.

 

Dieses Buch enthält folgende sechs Romane:

Alfred Bekker: Kaltes Grauen

Ann Murdoch: Steinerne Rache

Alfred Bekker: Dämonen-Dschungel

Ann Murdoch: Galopp in die Hölle

Alfred Bekker: Höllensumpf

Ann Murdoch: Verhängnisvolle Beschwörungen

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Authors

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

Kaltes Grauen

von Alfred Bekker

Es lauert unter den Straßen Londons... Patricia Vanhelsing begegnet dem kalten Grauen...

1

Nacht über London...

Eine schwarze Katze jaulte angstvoll auf, als das dumpfe Grollen unter der Erde ertönte.

Tief, sehr tief unter der engen Cumberland Street war etwas...

Die Katze verschwand zwischen den überquellenden Mülltonnen. Scheppernd fiel eine von ihnen um.

Sekundenbruchteile später zog sich ein Riss durch den Asphalt der schmalen Seitenstraße, verzweigte sich wie das Delta eines Flusses. Ein ächzender Laut durchschnitt die Nacht und übertönte sogar die Geräusche der nahen Hauptstraße.

Die Straßendecke brach auf. Faustgroße Brocken wurden meterhoch emporgeschleudert. Manche von ihnen knallten auf das Blech parkender Wagen.

Eine totenbleiche Hand streckte sich aus der Öffnung im Asphalt heraus.

Sie war von einer dünnen Schicht aus grauweißem Eis überzogen.

Das Krächzen wurde lauter, mischte sich mit einem hörbaren Atemgeräusch. Etwas versuchte an die Oberfläche zu gelangen. Kalter, weißer Nebel drang jetzt aus dem Loch ins Freie. Tischgroße Stücke wurden aus der Betondecke herausgebrochen. Mit einem Zischen quoll weiterer Nebel aus der Tiefe empor.

Mit geradezu gespenstischer Leichtigkeit schob die Gestalt die zentnerschweren Betonbrocken zur Seite und stieg an die Oberfläche.

Die Gestalt hatte ein graues, verwestes Totengesicht. Sie sah aus wie eine gefrorene Leiche.

Ein Zombie aus schmutzigem Eis und den Überresten eines Toten.

Die Augenhöhlen waren leer.

Seine hartgefrorene Kleidung bestand aus einem fleckigen Totenhemd.

Der Zombie bewegte sich mit steifen Bewegungen vorwärts.

Kalter Atem dampfte aus seinem Mund heraus.

Eine grausige Leichenpuppe, die unendlich lange Zeit in einer Mischung aus Schlamm und Eis gelegen haben musste.

Wie eine an unsichtbaren Fäden gezogene Marionette bewegte sich das Wesen vorwärts in die Straßenmitte.

Ein Wagen bog um die Ecke.

Die Scheinwerfer beleuchteten jedes furchtbare Detail des Zombies. Der Fahrer trat mit aller Gewalt auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen zum Stehen.

Eine Fontäne aus weißem, eiskaltem Nebel schoss aus dem Mund der unheimlichen Kreatur heraus und traf auf die Windschutzscheibe. Innerhalb eines einzigen Augenaufschlags war diese von einer dicken Eisschicht bedeckt. Der Wagen setzte zurück. Der Fahrer musste von grenzenlosem Entsetzen erfasst worden sein. Er fuhr gegen ein parkendes Fahrzeug.

Bevor er wieder nach vorne setzen konnte, hatte der Zombie die Fahrertür erreicht.

Sein augenloses Gesicht drehte sich etwas.

Der Mund öffnete sich halb.

Die bleiche, knochenmagere Totenhand schnellte vor und prallte gegen die Scheibe der Beifahrertür. Das Glas splitterte. Blitzschnell schloss sich die kalte Hand des Eis-Zombies um den Hals des Fahrers. Ein schauerlicher Todesschrei gellte durch die Cumberland Street. Ein Schrei voller namenlosem Entsetzen.

Im gleichen Moment schoss erneut eine Fontäne aus eiskaltem Atem aus dem Mund der Kreatur. Der Schrei erstarb.

Kraft..., durchzuckte es die Kreatur. Mehr Kraft...

Energie... Leben...

Mehr Leben...

Nach all der Zeit des Todes und des Vergessens!

2

Tante Lizzys Augen leuchteten freudig erregt, als wir die Bibliothek ihrer verwinkelten Villa betraten. Die Wände waren von überquellenden Bücherregalen bedeckt, in denen sich dickleibige, ledergebundene Folianten aneinanderreihten.

In der ganzen Villa sah es so aus - abgesehen von der Etage, die ich bewohnte.

Tante Lizzy verfügte über einer der umfangreichsten Sammlungen von Schriften, die sich mit dem Übersinnlichen befassten. Dieses Archiv sprengte längst den räumlichen Rahmen, den das altehrwürdige, noch aus viktorianischer Zeit stammende Gebäude setzte. Doch das hinderte meine Großtante Elizabeth Vanhelsing - für mich Tante Lizzy - keineswegs daran, ihrer Sammel- und Forscherleidenschaft im Bereich des Okkulten freien Lauf zu lassen.

Zwei Männer standen rechts und links eines eigenartigen Schreibtisches, der in einer Ecke der Bibliothek untergebracht war. An allen vier Ecken befanden sich geschnitzte Köpfe von Fabelwesen, die halb Tier, halb Mensch waren.

Diese geisterhaften Gesichter mit ihren weit aufgerissenen, zahnbewehrten Mäulern gaben dem vermutlich aus dem 18. Jahrhundert stammenden Möbelstück eine seltsame Aura.

Angeblich hatte dieser Tisch einst dem Geisterseher Guy de Traliere gehört, war danach aber durch Dutzende von Händen gegangen. Tante Lizzys Nachforschungen zu Folge musste es in dieser Antiquität noch ein bislang unentdecktes Geheimfach geben, über dessen Inhalt sich nur spekulieren ließ.

Mindestens ein Dutzend Fachleute hatte Tante Lizzy bisher ins Rennen geschickt, um sich mit den Geheimfachkonstrukteuren des 18. Jahrhunderts zu messen.

Bislang vergeblich.

Die beiden Männer sahen Tante Lizzy mit triumphierenden Gesichtern an.

Sie hießen beide Conroy und waren die Besitzer des Antiquitätengeschäftes Conroy & Son Ltd. aus der Londoner Riddleton Street. Vater und Sohn waren ausgewiesene Experten ihres Fachs und wie es schien, war ihnen tatsächlich das nahezu Unmögliche gelungen...

"Mrs. Vanhelsing, sehen Sie bitte her!", sagte Mr. Conroy senior mit beinahe feierlichem Tonfall. Beide Conroys teilten offenbar die Liebe zu alten Dingen mit meiner Großtante. Die Art und Weise, in der die beiden Männer das kostbare Möbelstück behandelten, sprach Bände darüber.

"Sie haben das Geheimfach gefunden?", fragte Tante Lizzy mit bebender Stimme.

"...und den Mechanismus enträtselt", erklärte Conroy senior nicht ohne Stolz in der Stimme.

Sie sah mich kurz an. "Oh, Patricia! Wie lange habe ich darauf gewartet!"

Mr. Conroy junior zog eine der Schubladen heraus.

Sie war leer.

"Sehen Sie gut zu, Mrs. Vanhelsing!", sagte Conroy mit bedeutungsschwerer Stimme.

Er steckte einem der tierhaften Holzgesichtern den Zeigefinger tief in den Rachen. Gleichzeitig zog er die Schublade erneut heraus.

Tante Lizzy und ich sahen mit atemloser Spannung zu, wie sich ein doppelter Boden zurückzog. Darunter wurde der Blick auf ein kleines Fach sichtbar. Es bildete eine Vertiefung unter dem hinteren Drittel der Schublade, das sich nicht aus dem Schreibtisch herausziehen ließ.

Ein kleines, leinengebundenes Büchlein befand sich darin.

Es wirkte sehr alt und war gewiss seit langer Zeit nicht nicht mehr aus dem Fach herausgenommen worden.

Eine Staubschicht hatte sich auf dem Einband abgesetzt.

Tante Lizzy nahm es mit zitternder Hand heraus.

"Das ist es also, was dieses Fach enthielt..."

"Es muss dem Vorbesitzer sehr viel Wert gewesen sein, dass er es hier versteckt hat", meinte ich.

Conroy schob die Schublade wieder hinein, um sie im nächsten Moment erneut herauszuziehen. Aber nun war von der Vertiefung im hinteren Drittel nichts mehr zu sehen. Die Schublade ließ sich nun auch wesentlich weiter herausziehen, ehe sie gegen einen Widerstand stieß.

"Eine geniale Konstruktion", meinte der junge Conroy.

Sein Vater nickte. "Könnte aus der Werkstatt von Adriano Inchingoli kommen, einem Meister aus Florenz, der zu den berühmtesten Geheimfachkonstrukteuren des frühen 18. Jahrhunderts zählte."

Tante Lizzy blätterte indessen in dem Buch.

"Worum handelt es sich?", fragte ich.

"Es ist ein Notizbuch", erwiderte sie. "Verfasst in einer Handschrift, die mir nur allzu bekannt ist... Nein, das ist nicht möglich!"

Tante Lizzy war völlig fasziniert.

Sie hielt mir das Buch hin.

Ich zuckte nur verständnislos die Achseln.

"Ich werde das natürlich genauer überprüfen lassen, aber wenn mich nicht alles täuscht, dann ist dies die Handschrift von keinem Geringeren als Hermann von Schlichten!", sagte Tante Lizzy sichtlich ergriffen.

3

Später, als die Conroys gegangen waren, verwandelte sich die provisorisch wirkende Ordnung der Bibliothek im Handumdrehen in etwas, das jeder Außenstehende als Chaos angesehen hätte.

Jeder, außer Tante Lizzy.

Dutzende von Büchern zog sie aus den Regalen heraus. Und ich half ihr dabei, einen großen Karton aus dem Keller heraufzuschleppen, der nichts anderes als Briefe enthielt.

Briefe, die der deutsche Okkultist Hermann von Schlichten um die Jahrhundertwende mit verschiedenen Gönnern und Gleichgesinnten auf den britischen Inseln gewechselt hatte.

So unter anderem mit einem Hutmacher aus Bristol, der die obskuren Forschungen von Schlichtens großzügig unterstützt hatte.

Tante Lizzy hatte einige dieser Briefwechsel antiquarisch erworben und inzwischen zu einem großen Teil auch geordnet.

Hermann von Schlichten war gleichermaßen einer der genialsten und geheimnisumwittersten Personen, die sich mit der Erforschung des Übersinnlichen befasst hatten.

Sein großes Kompendium des Übersinnlichen, ein Buch mit dem Titel ABSONDERLICHE KULTE, verfasste von Schlichten in mittelalterlichem Latein. Damit hatte er die schwarzen Rituale und Beschwörungen, die es in großer Zahl enthielt, vor dem Zugriff Unbefugter bewahren wollen.

Den in den Händen gewissenloser Menschen waren diese Rituale eine furchtbare Waffe, mit der äonenaltes Grauen heraufbeschworen werden konnte. Dämonen, Untote, magische Wesen und Verbindungen in andere Dimensionen und ihren nichtmenschlichen Bewohnern, denen das Schicksal der Menschen so gleichgültig war, wie uns der Tod eines erschlagenen Insekts.

Tante Lizzy besaß neben einem Original-Exemplar der ABSONDERLICHEN KULTE auch mehrere Übersetzungen, die sich jedoch teilweise erheblich unterschieden.

Der Streit um die richtige Interpretation mancher Stellen in diesem Kompendium des Unvorstellbaren, würde unter Okkultismus-Forschern sicher noch Jahrzehnte andauern.

Hermann von Schlichten schien von dem Gedanken an eine Verschlüsselung seines Werkes geradezu besessen gewesen zu sein und so gab es Spekulationen darüber, dass manche Stellen in den ABSONDERLICHEN KULTEN zusätzlich chiffriert worden waren.

Außerdem gab es immer wieder Gerüchte darüber, dass es vielleicht noch einen zweiten, verschollenen Band der ABSONDERLICHEN KULTE gegeben hatte.

Zumindest legten einige Stellen in von Schlichtens umfangreicher Korrespondenz diesen Schluss nahe.

Tante Lizzy hatte das Notizbuch auf einen der kreisrunden Tische gelegt, die sich in der Bibliothek befanden. Sie hielt einen der Briefe daneben. Sorgfältig strich sie das vergilbte Papier glatt.

"Sieh nur, Patricia! Ich werde natürlich ein graphologisches Gutachten einholen, aber ich verstehe inzwischen durchaus genug selbst von der Materie, um mit einiger Sicherheit sagen zu können, dass Hermann von Schlichten der Verfasser der Notizen in diesem Buch sein muss..."

Die erste Seite gab immerhin einen Hinweis in diese Richtung.

Dort waren die Initialen H.v.S. eingeprägt.

"Ist es denn möglich, dass dieser Schreibtisch früher einmal im Besitz von Schlichtens gewesen ist?", erkundigte ich mich.

Tante Lizzy zuckte die Achseln.

"Das muss nicht unbedingt sein", gab sie zurück. "Ein späterer Besitzer des Tische könnte unabhängig davon dieses Notizbuch erworben und hier versteckt haben. Die Erben hatten dann keine Ahnung von dem Geheimfach und seinem brisanten Inhalt..."

Tante Lizzy blätterte in den Notizen herum.

Dann seufzte sie.

"Was ist?", fragte ich die alte Dame, die mir seit meinem zwölften Lebensjahr wie eine Mutter gewesen war.

"Was würde ich jetzt darum geben mittelalterliches Latein zu beherrschen - oder wenigstens etwas mehr Deutsch, als ich in der Schule gelernt habe! So werde ich auf die Entschlüsselung dieser Zeilen noch etwas warten müssen... Vielleicht verbirgt sich eine Sensation darin..." Tante Lizzy sah mich an.

"An was für eine Art von Sensation hast du denn gedacht?", fragte ich.

"Naja, nicht an die Art, mit der du in deinem Job bei den LONDON EXPRESS NEWS zu tun hast!", lächelte sie. "Obwohl du ja dafür sorgst, dass ab und zu auch mal etwas über Ereignisse aus dem Bereich des Okkultismus und des Übersinnlichen berichtet wird..."

"Aber für den zweiten Band der ABSONDERLICHEN KULTE ist das da etwas zu dünn!", meinte ich und deutete dabei auf das Notizbuch.

An Tante Lizzys Gesichtsausdruck sah ich, dass ich ihren geheimen Wunsch genau getroffen hatte - auch wenn sie es nie offen zugegeben hätte.

"Da hast du leider recht", gab sie zu. "Trotzdem, auf jeder dieser vergilbten Seiten kann ein wertvoller Hinweis verborgen sein, der uns vielleicht ganz neue Einsichten in von Schlichtens Werk gibt!"

"Unter den ehemaligen Kollegen von Onkel Frederik werden sicher einige Experten sein, die dir bereitwillig weiterhelfen", war ich überzeugt. Frederik Vanhelsing war von einer archäologischen Forschungsreise in den südamerikanischen Regenwald nicht zurückgekehrt. Seitdem war er verschollen. Aber zu vielen seiner Kollegen hatte Tante Lizzy nach wie vor guten Kontakt. Und das nutzte sie hin und wieder für ihre Forschungen aus.

4

Tante Lizzy war seit der Entdeckung des Notizbuches von geradezu unbändiger Energie erfüllt. Vermutlich würde sie mehr oder minder die ganze Nacht damit zubringen, in alten Folianten und magischen Schriften von obskurer Herkunft zu stöbern, um dem Geheimnis dieses Buches zumindest Ansatzweise auf die Spur zu kommen.

Außerdem war da natürlich der äußerst umfangreiche Briefverkehr des Okkultisten, der angesichts dieses Fundes eingehend studiert werden musste.

Ich half Tante Lizzy zunächst so gut ich konnte. Erstens war das Übersinnliche ja auch mein eigenes Spezialgebiet und alles, was mit Hermann von Schlichtens Notizen zusammenhing interessierte mich brennend. Und zweitens hatte Tante Lizzy mir umgekehrt sehr oft bei meinen Recherchen geholfen.

Schließlich war ihr Archiv geradezu unerschöpflich.

Irgendwann jedoch wurde es mir einfach zu spät.

Schließlich musste ich am Morgen wieder im Redaktionsbüro der LONDON EXPRESS NEWS meine Frau stehen. Und müde Reporterinnen konnte unser mitunter recht grantiger Chefredakteur Michael T. Swann einfach nicht ausstehen...

"Du bist mir nicht böse, aber ich brauche ein Minimum an Schlaf", sagte ich daher zu Tante Lizzy.

"Natürlich, Kind. Geh nur ins Bett. Ich mache auch gleich Schluss..."

Ich wusste im Voraus, dass sie das nicht tun würde.

Ihre Lesebrille war ihr von der Nasenwurzel heruntergerutscht. Sie starrte fasziniert auf einen der von Schlichten-Briefe, griff aus dem immer weiter ausufernden Chaos in der Bibliothek gezielt ein anderes Schriftstück heraus und verglich beide. Ihre Stirn legte sich in Falten.

"Gute Nacht, Tante Lizzy..."

Ein Ruck ging durch ihren Körper.

Sie blickte auf.

Ein verhaltenes Lächeln umspielte ihre zuvor so angestrengt wirkenden Züge.

"Gute Nacht, Kind", sagte sie.

Kind - so nannte sie mich noch immer, trotz meiner 27 Jahre. Aber für sie würde ich wohl immer ihr Kind bleiben.

Ich verließ die Bibliothek, trat in den halbdunklen Flur.

Auch dessen Wände waren von Bücherregalen bedeckt. Hin und wieder wurden die langen Reihen der staubigen Folianten durch archäologische Fundstücke unterbrochen, die Onkel Frederik einst von seinen Forschungsreisen mitgebracht hatte. Dazu gesellten sich noch verschiedene okkulte Gegenstände, die Tante Lizzy auf Auktionen, Flohmärkten und Nachlassverwertungen erworben hatte. Schrumpfköpfe, Geistermasken, Kristallkugeln. Das alles bildete ein eigenartiges Sammelsurium. Tante Lizzy sprach selbst oft von ihrer 'Ausstellung' - und irgendwie traf dieser Ausdruck die Sache ziemlich gut. Eine Menagerie, die jedem Außenstehenden sehr eigenartig erscheinen musste.

Ich ging die Treppe hinauf. Meine eigene Etage war die einzige 'okkultfreie Zone' in diesem Haus, von dem Tante manchmal scherzhaft sagte, dass sie es als Kulisse für Gruselfilme vermieten würde, sollte sie mal in finanzielle Bedrängnis geraten.

Ich betrat meine Räume, erreichte schließlich das Schlafzimmer. Der Mond schien als messerscharf geschnittene Sichel durch das Fenster.

Vor meinem inneren Auge sah ich ein Gesicht, das von dunklem Haar umrahmt wurde. Meergrüne, geheimnisvolle Augen blickten mich liebevoll an und ein charmantes, etwas verhaltenes Lächeln umspielte die Lippen...

Tom...

Meine Gedanken waren bei dem Mann, in den ich liebte und der zu den ganz wenigen Menschen gehörte, denen ich so weit vertraute, dass ich ihnen mein größtes Geheimnis preisgab.

Die Tatsache nämlich, dass ich selbst eine leichte übersinnliche Begabung besaß.

"Tom..."

Meine Lippen flüsterten unwillkürlich seinen Namen. Ich war voller Sehnsucht und hatte beinahe körperlich das Gefühl, seine Lippen auf den meinen zu spüren. Der Blick dieser grünen Augen erinnerte mich an das Rauschen des Meeres, an den Geruch von Seetang und an ein unendliches, unentdecktes Land voller Geheimnisse. Die Erinnerung an Augenblicke voller Zärtlichkeit erfüllte mich und empfand tiefe Liebe. Eine Welle der Leidenschaft durchdrang mich.

Ich bin sehr froh, ihn kennengelernt zu haben, dachte ich.

Tom Hamilton arbeitete genau wie ich als Reporter bei dem Boulevard-Blatt LONDON EXPRESS NEWS.

Und die Tatsache, dass mich in diesen Momenten so sehr nach ihm sehnte, hatte auch damit zu tun, dass Tom seit ein paar Tagen in Nizza weilte, um ein Interview mit dem französischen Schauspiel-Star Gerard Depardieu durchzuführen.

Zeitpunkt der Rückkehr ungewiss - wie so oft in unserem Job.

Vielleicht heute Nacht oder morgen, vielleicht auch erst drei Tage später, wenn der Schauspieler Tom wider erwarten doch noch anbieten sollte, seine privaten vier Wände für das Auge der Presse zu öffnen.

Ich zog mich aus und machte mich fürs Bett fertig.

Bleierne Müdigkeit erfüllte mich mehr und mehr.

Kein Wunder, es war schon weit nach Mitternacht.

Ich durfte gar nicht daran denken, in aller Frühe wieder aus den Federn zu müssen.

Bevor ich mich schlafen legte griff ich noch zum Telefon auf meinem Nachttisch.

Ich wählte Toms Nummer.

Der Anrufbeantworter war noch eingeschaltet - und wenn ich ehrlich war, hatte ich auch nichts anderes erwartet. Ich wartete bis zum Piepton. "Tom, ich bin es", sagte ich dann.

"Ich liebe dich..."

Ich wusste, dass ihn diese Nachricht erreichen würde, sobald er in seine Wohnung in der Ladbroke Grove Road zurückkehrte.

Den Anrufbeantworter hört er nämlich stets als erstes ab.

Ich zog die Decke über die Schultern und fiel in einen tiefen Schlaf...

5

Ich wälzte mich im Bett herum. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, wie lange ich geschlafen hatte.

Einen Moment lang wusste ich nicht einmal sicher, wo ich war...

Da war nur dieses unangenehme Pochen hinter meinen Schläfen.

Das untrügliche Zeichen dafür, dass da etwas war.

Eine Kraft.

Ein Wesen...

Etwas, bei dem einem schon das bloße Wissen um seine Existenz kalte Schauder über den Rücken treiben konnte.

Ich fror.

Die Decke zog ich bis zum Hals und öffnete kurz die Augen. Die vertrauten Schatten meines Schlafzimmers umgaben mich. Der Mond tauchte alles in fahles, bleiches Licht...

Ich fühlte mich benommen. Alles drehte sich vor mir.

Und dann ließ ein eigenartiger, ächzender Laut mich zusammenzucken. Schränke und Regale vibrierten auf gespenstische Weise.

Ich setzte mich auf.

Mit Entsetzen bemerkte ich, wie die Fenster von einem dünnen Panzer aus Eis überzogen wurden... Eine unbeschreibliche Kälte herrschte plötzlich. Mein gesamter Körper wurde binnen Sekunden von einer Gänsehaut überzogen.

Eigenartige, luftblasenähnliche Gebilde sah ich dann durch die Luft schweben. Sie krochen mit einer Wolke aus grauem, eiskaltem Nebel in mein Zimmer hinein. Die Tür stand einen Spalt breit offen, aber dort schien nicht der Ursprung dieser Gebilde zu sein. Sie kamen von überall her. Plötzlich schälten sie sich aus den Wänden heraus und schwebten auf mich zu.

Langsam bildeten sie konturiertere Formen.

Aus den blaugrauen Blasen wurden faustgroße...

Köpfe!

Winzige, transparente Totenschädel mit leeren Augenhöhlen, in denen nichts als pure Finsternis war.

Manche von ihnen öffneten den Mund, so als wollten sie einen Klagegesang anstimmen.

Ein geisterhafter Chor dumpfer, schmerzerfüllter Laute erklang. Mir stellten sich die Nackenhaare auf.

In den Chor dieser verdammten Seelen mischte sich etwas, das wie ein höhnische Lachen aus weiter Ferne klang.

Ich zitterte.

Dann wurde der Türspalt etwas größer.

Langsam öffnete sie sich.

Schritte waren zu hören.

Ich wollte schreien, als ich die grauenhafte Gestalt sah, die die Tür mit einer steifen, aber sehr heftigen Bewegung zur Seite stieß. Geräuschvoll schlug sie mit der Klinke gegen die Wand.

Vor mir stand eine Kreatur, die furchterregender aussah, als alles, was ich bisher gesehen hatte.

Eine Leiche, durchschoss es mich. Eine Leiche, von Eis überzogen und doch auf geheimnisvolle Weise einigermaßen beweglich...

Das Totenhemd war fleckig und an manche Stellen zerrissen.

Die Füße bloß und weiß...

Die Augenhöhlen waren so leer wie jene der kleinen transparenten Totenschädel, die mich umschwirrten.

Ein lebender Leichnam...

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag.

Die Kreatur wankte in Richtung meines Bettes. Gleichzeitig spürte ich mit geradezu schmerzhafter Intensität die Anwesenheit einer mentalen Kraft...

Schwindelgefühl und Benommenheit nahmen zu.

Ich schrie.

Und obwohl ich all meine Kraft in diesen Schrei zu legen versuchte, hatte ich den Eindruck, dass er kaum zu hören war.

Das Blut drohte mir buchstäblich in den Adern zu gefrieren.

Ich fühlte mich steif und starr.

Weißen, kalten Atem sah ich als eine Art Nebel aus dem halb geöffneten Mund des grauenerregenden Zombies herausdampfen...

Ein dumpfer Laut presste sich zwischen seinen totenbleichen Lippen hindurch. Er hob die knochenmagere Hand, streckte sie in meine Richtung, so als wollte er nach mir greifen...

Ich schlug die Decke zur Seite und stieg aus dem Bett.

Der unheimlichen Kreatur konnte ich nicht ausweichen.

Hinter mir war nur noch die Fensterfront, durch die man eigentlich hinaus in Tante Lizzys Garten blicken konnte.

Der Eispanzer, der sich über die Scheiben gelegt hatte wurde zusehends dicker.

Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich versuchte, mich festzuhalten, um nicht zu taumeln.

Als meine linke Hand das Eis berührte, hatte ich ein Gefühl, als ob ich eine Art Stromschlag versetzt bekommen hätte. Ich zuckte zusammen, schrie auf.

Hinter meinen Schläfen pochte es unangenehm...

Diese fremde übersinnliche Energie...

Sie musste immens sein, das spürte ich überdeutlich.

Jede Faser meines Körper war zum Zerreißen gespannt.

Ich war kaum fähig, mich zu bewegen.

Eine unheimliche Kraft hatte mich in ihrer eisigen Gewalt.

Sekunden des Grauens vergingen.

Der Zombie wankte auf mich zu. Seine Bewegungen wirkten wie die einer Marionette. Sie waren grob und ungelenk, wie an unsichtbaren Fäden gezogen.

Seine Hand griff nach mir, packte meinen Hals...

Ich blickte verzweifelt in das dunkle Nichts, dass hinter seinen leeren Augenhöhlen verborgen lag...

Sein kalter Atem raubte mir die Sinne. Ich glaubte zu erfrieren...

Der Gestank der Verwesung stieg mir in die Nase.

Die eiskalten Finger des Zombies legten sich um meinen Hals.

Ich versuchte den Angriff dieser grauenhaften Kreatur abzuwehren und umfasste das Handgelenk dieser bleichen Totenhand, deren Griff mir die Luft raubte.

Ein heiserer, ächzender Laut kam zwischen den aufgesprungenen Lippen des Zombies hervor. Der Mund öffnete sich noch weiter, und ein Schwall weißgrauen Nebels schoss auf mich zu.

Eisige Kälte umfing mich.

Ich wollte schreien, öffnete halb den Mund, aber kein einziger Laut war zu hören...

Alles drehte sich. Ein Chaos aus Licht, Finsternis und verschiedenen Bildeindrücken bildete eine eigenartige Melange.

Ich hatte das Gefühl zu fallen.

Eine Hand hielt mich an der Schulter.

Der Griff des Eis-Zombies...

"Nein!", hauchte ich.

Es nicht viel mehr als ein Gedanke.

Dann war da nur noch Dunkelheit um mich herum. Alles schien sich aufzulösen. Die Lethargie des Todes breitete sich in mir aus. Gleichgültigkeit erfüllte mich.

Und Kälte.

6

"Hallo, Tom", sagte Michael Swann, seines Zeichens Chefredakteur der LONDON EXPRESS NEWS. Swann war ein hemdsärmeliger, energiegeladener Mann. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals, die Ärmel seines Pilotenhemdes waren hochgekrempelt. Michael T. Swann hatte so gut wie kein Privatleben. Morgens war er der Erste, der im Büro der Redaktion zu finden war und abends oft der Letzte.

Und so verwunderte es Tom Hamilton auch nur mäßig, als er Swann auch jetzt noch - weit nach Mitternacht hier antraf.

"Hallo, Mr. Swann. Keine Ahnung, ob ich Ihnen jetzt einen guten Morgen oder einen guten Abend wünschen soll!"

"Können Sie halten, wie Sie wollen, Tom. In dem künstlichen Neonlicht hier kriegt man den Unterschied ohnehin kaum mit!"

Tom lächelte matt.

Die Übernächtigung war ihm durchaus anzusehen. Die Ringe unter seinen Augen sprachen eine deutliche Sprache.

"Sie kommen direkt vom Flughafen, Tom?"

"Ja, ich wollte das Tonband mit dem Depardieu-Interview hier hinterlegen, damit es gleich morgen früh in den Computer eingegeben werden kann..."

"So eine Arbeitsauffassung lobe ich mir!", meinte Swann anerkennend. "Nicht so, wie bei unserem Kollegen Jim Field, der glaubt, dass er neben seinem Job bei den NEWS auch noch alle möglichen Nebentätigkeiten ausüben kann!"

"Man tut, was man kann", meinte Tom. Er war etwas überrascht über Swanns Lob. Eigentlich sah der Chef einen derartigen Einsatz nämlich als Selbstverständlichkeit an. Er erwartete von seinen Mitarbeitern denselben Einsatz, den er selbst dem gesamten Team Tag für Tag vorlebte. Für einen Mann wie Swann war das keiner besonderen Erwähnung wert.

Um so erstaunter war Tom dann über das, was der Chefredakteur als nächstes sagte.

"Hören Sie, Tom, Sie haben sich nach der Strapaze in Nizza einen freien Tag verdient..."

"Oh..."

"Schlafen Sie sich aus!"

"Nichts lieber als das!"

"Aber vorher müssen Sie mir noch einen Gefallen tun!"

"Ah, daher weht der Wind..."

"Tun Sie nicht so, Tom! Sie sind ein harter Brocken! Und sagen Sie mir bloß, dass Sie in Ihrer Zeit als Agentur-Korrespondent in Asien nicht auch mal 36 oder 48 Stunden durchgemacht haben."

Tom seufzte.

"Worum geht es?"

"Ein eigenartiger Vorfall in der Cumberland Street. Es gibt einen Toten. Scotland Yard ist schon da..."

"Hören Sie den Polizeifunk ab?"

"Wie können Sie so etwas auch nur denken Tom!", erwiderte Swann in gespieltem Zorn. "Nein, ein Anwohner - und treuer NEWS-Leser - hat uns angerufen."

"Ich nehme an, der spekuliert darauf, in dem Artikel erwähnt zu werden!"

"Vermutlich..."

Tom blickte kurz auf die Uhr. Er war direkt vom Flughafen London Heathrow hier her, in die Lupus Street gefahren, wo sich das Verlagsgebäude der NEWS befand. Er hatte zwar versprochen, Patricia anzurufen, aber während des Fluges war der Betrieb von Handys nicht erlaubt und nach der Landung war es zu spät gewesen, sie noch aus dem Bett zu klingeln.

"Okay", seufzte er. "Ich mache mich auf die Socken..."

"Wollen Sie vorher noch einen Becher Kaffee?", fragte Swann.

Tom schüttelte den Kopf und fuhr sich dann mit der Hand über das Gesicht.

"Der ist bestimmt wieder so dünn, dass ich davon auch nicht wacher werde!"

Eine Viertelstunde später erreichte Tom Hamilton die Cumberland Street. Seinen Volvo musste er bereits in einiger Entfernung vom Ort des Geschehens abstellen. Vor lauter Einsatzfahrzeugen der Polizei, des Leichenbeschauers und anderer offizieller Stellen war kaum ein Durchkommen. Nicht zu vergessen die Presse-Konkurrenz, die natürlich auch nicht schlief. Tom registrierte beiläufig, wie ein Kollege vom Frühstücksfernsehen vor sich eine Video-Kamera aufbaute, um seinen Aufsager zu bringen.

Tom trug eine Kamera bei sich und knipste ein paar Bilder.

Er näherte sich dem Ort des Geschehens. Einem uniformierten Beamten hielt er beiläufig den Presseausweis hin.

"Was ist hier passiert?", fragte Tom den Officer fassungslos, als er die aufgerissene Straßendecke sah. "Das sieht ja aus, als ob hier der Erdboden aufgerissen wäre..."

"Ja", nickte der Officer, der sichtlich schockiert war.

"Hier muss ein Bulldozer gewütet haben."

"Es soll einen Toten geben..."

"Dort hinten, in dem Wagen.... Der Gerichtsmediziner kümmert sich gerade um die Leiche!"

Tom ließ den Officer stehen, der keinerlei Versuch machte, ihn aufzuhalten.

Bei dem Wagen handelte es sich um ein Coupe. Es war mit der Rückfront gegen ein parkendes Fahrzeug geprallt.

Im Licht der Straßenbeleuchtung warf Tom einen Blick ins Innere...

Der Anblick konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Der Fahrer saß starr hinter dem Steuer.

Er war in einem Eisblock gefroren, der langsam schmolz.

Wasser tropfte aus dem Wagen heraus.

Seine Augen waren weit aufgerissen und blickten starr und tot ins Nichts. Namenloses Grauen spiegelte sich in diesem Blick.

Tom hörte, wie der Gerichtsmediziner sich mit einem Scotland Yard-Beamten unterhielt.

"Ich habe so etwas noch nie gesehen", bekannte der Arzt mit schreckensbleichem Gesicht. Tiefe Furchen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Und sein Blick wirkte verstört, obgleich er mit Sicherheit alles andere als zart besaitet war. "Es sieht fast so aus, als wäre dieser Mann plötzlich erfroren... Aber so etwas ist eigentlich unmöglich! Vielleicht wird die Obduktion genaueres ergeben. Aber dazu muss der Leichnam erst einmal auftauen."

Ein großer, massiger Mann mit kurzgeschorenen Haaren näherte sich. Im Licht der Straßenlaternen erkannte Tom ihn sofort. Es handelte sich um Scotland Yard Inspector Gregory Barnes, mit dem Tom und Patricia schon das eine oder andere Mal zu tun hatten. Das letzte Mal war Barnes unerwarteter Weise aufgetaucht als die beiden Reporter der LONDON EXPRESS NEWS in Folkstone den Tod eines Mannes zu recherchieren versuchten, der im Zusammenhang mit einer verbrecherischen Weltuntergangssekte mit der Bezeichnung ORDEN DER MASKE gestanden hatte.

Barnes verzog das Gesicht zu einem völlig deplatziert wirkenden Grinsen. "Ah, Mr. Hamilton", meinte er. "So habe ich mir das gedacht! Die LONDON EXPRESS NEWS mal wieder in vorderster Front der Schmieren-Journaille! Wie hätte es auch anders sein können."

Tom blieb gelassen.

"Wie schön, dass Sie unsere Arbeit zu schätzen wissen, Inspector", versetzte er ironisch. "Leiten Sie diese Untersuchung?"

"Etwas dagegen?"

"Erwarten Sie darauf wirklich eine Antwort?"

"Nein, nicht wirklich. Auf meine Informationen werden Sie sicher ohnehin verzichten wollen und sich lieber selbst eine dramatische Story aus den Fingern saugen - so wie ich Ihr geschätztes Blatt kenne."

"Vielleicht sollten Sie es öfter mal lesen!"

"Ich bitte Sie!" Gregory Barnes verzog das Gesicht und entblößte dabei zwei Reihen makellos blitzender Zähne. Sein ganzes Auftreten wirkte auf die meisten, die ihm begegneten einschüchternd. Er kalkulierte diese Wirkung bewusst ein und so ärgerte es ihn, dass sie sich bei Tom einfach nicht einstellen wollte. "Wo haben Sie übrigens Ihre Kollegin, Miss Vanhelsing gelassen? Die weicht doch sonst nicht von Ihrer Seite!"

"Ich werde ihr Ihre freundlichen Grüße ausrichten, Inspector Barnes", versprach Tom.

"Tun Sie, was immer Sie nicht lassen können..."

Der Inspector ging ein paar Schritte an Tom vorbei.

"Inspector..."

"Was ist noch?" Er drehte sich halb herum und steckte sich dabei ein Kaugummi in den Mund.

"Darf ich Sie so zitieren: 'Scotland Yard steht vor einem Rätsel!"

"Sie dürfen gar nichts!"

"Vergessen Sie nicht, dass das Vereinigte Königreich ein Land mit Pressefreiheit ist!", gab Tom zu bedenken.

Barnes zuckte die Schultern. "Wenn ich mir die NEWS so ansehe, weiß ich nicht, ob das einen zivilisatorischen Fortschritt darstellt, Mr. Hamilton!"

"Was ist hier passiert, Inspector?"

"Besuchen Sie unsere Pressekonferenz, Hamilton!"

"Der Mann sieht aus wie schockgefroren!"

"Sehen Sie: Schon basteln Sie sich Ihre eigene Story zusammen. Machen Sie ruhig weiter, Hamilton! Ich hindere Sie nicht!"

Einer der uniformierten Beamten trat auf den Inspector zu.

"Wir haben hier etwas, das ein Fußabdruck sein könnte, Sir", meinte der Officer.

Barnes nickte.

"Ich sehe es mir an", murmelte er, bedachte Tom Hamilton noch mit einem verächtlichen Blick und folgte dann dem Officer.

Tom sah sich noch ein bisschen um.

Viel würde er hier nicht mehr erfahren können. Als Reporter verfügte er über genug Routine, um das instinktiv zu erfassen.

Statt dessen konnte ihm vielleicht jemand anderes weiterhelfen.

Die Person, die in der NEWS-Redaktion angerufen und den Tipp gegeben hatte.

Swann hatte ihm die Adresse gegeben. Der Mann hieß Graham Stokes und wohnte ganz in der Nähe. Tom Hamilton suchte die Fassaden nach den Hausnummern ab. Es dauerte nicht lange, bis er die Richtige gefunden hatte.

Tom ging zwischen den Polizisten und Reporterkollegen hindurch und stand einige Augenblicke später in dem schlecht beleuchteten Hauseingang eines mehrstöckigen Altbaus.

Tom musste mehrfach klingeln, ehe sich die Tür öffnete. Auf dem Treppenabsatz empfing ihn ein grauhaariger Mann, der eine abgetragene Strickjacke trug.

"Mr. Graham Stokes?", fragte Tom. "Ich bin Tom Hamilton von den LONDON EXPRESS NEWS..."

Tom hielt ihm seinen Presseausweis entgegen.

Der Mann kam zu ihm hinunter und sah sich das Dokument stirnrunzelnd an.

"Sie haben in unserer Redaktion angerufen", stellte Tom fest.

Stokes nickte.

"Ja, das habe ich..."

"Was ist da draußen passiert?"

Stokes sprach mit gedämpfter Stimme. "Ich habe alles gesehen, Mr. Hamilton. Alles... Oben von meiner Wohnung aus. Wissen Sie, ich kann schlecht schlafen und daher schaue ich oft den größten Teil der Nacht fern..."

"Was haben Sie gesehen?", unterbrach Tom ihn.

Stokes' Gesicht veränderte sich. Seine Augen traten etwas hervor. In ihnen flackerte es unruhig. Das Grauen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Er schluckte.

"Es war furchtbar... Der Boden brach auf. Löcher bildeten sich im Asphalt. Ganze Brocken von hartem Asphalt flogen durch die Luft und hagelten auf die parkenden Fahrzeuge nieder. Ich bin sofort zum Fenster gegangen, als ich den Lärm hörte."

"Was geschah dann?"

" Etwas kam aus dem Boden heraus... Vielleicht halten Sie mich jetzt für betrunken oder verrückt. Aber ich bin weder das eine noch das andere. Da war eine Gestalt, die aus der Erde herauskam. Für einen Moment sah ich sie im Licht einer Straßenlaterne..." Der Mann stockte. Sein Blick war nach innen gekehrt. "Ein lebender Leichnam, überzogen von grauem Eis...Es war ein Anblick, den man nicht vergisst, Mr. Hamilton!"

Er hob den Kopf.

Stokes blickte Tom jetzt direkt in die Augen.

"Sie glauben mir nicht."

"Nun, ich..."

"Sie denken vielleicht, dass ich mich nur wichtig machen will. Aber was ich gesehen habe, ist die Wahrheit. Die Gestalt stoppte dann den Wagen, in dem der Tote hinter dem Steuer sitzt. Diese Kreatur muss den Fahrer auf dem Gewissen haben!"

"Haben Sie Scotland Yard schon gesagt, was Sie gesehen haben?"

"Ich möchte nicht in eine Nervenheilanstalt eingewiesen werden."

"Verstehe..."

"Ich bin eigentlich ein nüchterner Mensch, Mr. Hamilton. Ich glaube weder an UFOs noch nehme ich an Seancen, Geisterbeschwörungen und all diesem Zeug teil, das heutzutage, wie sagt man gleich, in ist... Aber das, was da draußen geschehen ist, ist die Realität! Der Asphalt ist aufgebrochen, es sieht aus, als hätte ein dem Wahnsinn verfallener Baggerfahrer ein gewaltiges Chaos angerichtet..."

Sein Gesicht war aschfahl geworden. Tom spürte, dass das Grauen echt war, das dieser Mann empfand - was auch immer er gesehen haben mochte.

"Ich habe die Leiche gesehen", sagte Tom.

"Den Mann im Wagen? Ja, den habe ich auch gesehen. Noch bevor die Polizei eintraf..."

"Haben Sie irgendeine Erklärung dafür, dass der Mann völlig eingefroren ist?"

"Nein."

"Die Frontscheibe war jetzt noch teilweise von einer Eisschicht bedeckt."

"Es passt weder zur Jahreszeit noch zum Wetterbericht, Mr. Hamilton. Aber Sie, ich und all die Scotland Yard-Beamten da draußen haben es gesehen..."

7

Undeutlich nahm ich eine Gestalt vor mir war. Ich schrie.

Die Gestalt trug ein weißes Gewand.

Zwei kräftige Hände schüttelten mich an den Schultern.

"Patti!"

Ich blickte in Tante Lizzys entsetztes Gesicht. "Patricia, komm zu dir!", sagte sie eindringlich.

Ich öffnete halb den Mund, wollte etwas sagen. Aber ich brachte keinen Ton heraus. Meine Kehle war staubtrocken. Ich schluckte. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich begriff, dass der grauenerregende Eis-Zombie, dessen gefrorene, glitschig-kalte Hände sich gerade noch um meinen Hals gelegt hatten, einem Alptraum entsprungen sein musste.

Einem Alptraum, der zweifellos in Zusammenhang mit meiner übersinnlichen Begabung stand, die sich vor allem in seherischen Träumen oder Visionen offenbarte.

"Tante Lizzy", flüsterte ich.

Die Erinnerung an die halbverweste Gestalt des lebenden Leichnams stieg wieder in mir auf. Dazu die wie Gasblasen wirkenden, transparenten Totenkopfwesen, die um den Zombie herumgeschwebt waren.

Ich hatte ein Gefühl als ob sich eine grabeskalte Hand auf meine Schulter gelegt hätte.

"Kind, du zitterst ja."

"Es war so furchtbar, Tante Lizzy..."

"Eine Vision, nicht wahr?"

"Ja... Aber sie war dermaßen real, dass ich wirklich geglaubt habe..." Ich brach ab. Tante Lizzy strich mir über das Haar, so wie sie es früher immer getan hatte, als ich noch kleines Mädchen gewesen war.

Einige Augenblicke standen wir so da, dann sagte ich schließlich: "Lass uns nach unten gehen, Tante Lizzy... Ich glaube nicht, dass ich in dieser Nacht noch ein Auge zudrücken werde!"

Unten in der Bibliothek erzählte ich Tante Lizzy dann von dem, was mir widerfahren war.

Tante Lizzy hörte nachdenklich zu, während ich mit stockender Stimme nach den richtigen Worten suchte.

"Diese Kreatur hatte gewaltige übersinnliche Kräfte", erklärte ich. "Ich konnte sie deutlich wahrnehmen..."

Ich atmete tief durch.

Tante Lizzy sagte indessen mit bedauerndem Tonfall: "Ich fürchte, so einfach kann ich dir jetzt auch nicht weiterhelfen. Vielleicht hast du ein Bild aus der Zukunft oder von einem weit entfernten Ort gesehen. Etwas, das in irgendeiner Weise mit deinem Schicksal zusammenhängt. Genauso gut könnte es sein, dass diese Vision auf symbolischer Ebene zu verstehen ist und erst entschlüsselt werden muss...."

"Nein", sagte ich - ohne zu überlegen.

Tante Lizzy hob erstaunt die Augenbrauen.

"So sicher?"

"Ja", sagte ich. "Ich bin selbst überrascht darüber. Aber ich weiß, dass es diese Kreatur gibt, die ich gesehen habe. Jetzt, in diesem Moment, irgendwo... Ein Wesen, das einen entsetzlichen Hunger hat..."

"Hunger?", echote Tante Lizzy.

"Hunger nach der Energie der Lebenden. Ich glaube, das war auch der Grund dafür, dass das Wesen mich angriff." Ich begann allein bei dem Gedanken daran schon zu zittern. Ein Frösteln überkam mich, obwohl in der Bibliothek eigentlich sehr warm war. Aber diese Kälte kam von innen. Sie erfüllte jeden Winkel meiner Seele, sobald ich auch nur eine Sekunde lang an diese grauenvolle Erscheinung dachte. "Dieses Wesen lebt", murmelte ich. "Es existiert und ich glaube, dass ich ihm irgendwann in nächster Zeit begegnen werde."

"Ich kann nur hoffen, dass du dich irrst..."

Wie zufällig streifte mein Blick den Schreibtisch, dessen Geheimfach die Conroys am Abend endlich gefunden hatten.

Für Sekundenbruchteile stand ein sehr deutliches Bild vor meinen Augen, dessen Intensität ich mich nicht entziehen konnte.

Ich sah den Eis-Zombie, sah seine leeren Augenhöhlen und das graue, schmutzige Eis, das seinen toten Körper wie einen Panzer überzog und glücklicherweise den Anblick des verwesenden Fleisches etwas milderte.

Der Zombie hob die Hand mit einer ruckartigen Bewegung.

Seine knochendürren Finger hielten zitternd...

Ein Buch!

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag vor den Kopf. Ich war wie konsterniert.

"Das Notizbuch Hermann von Schlichtens...", murmelte ich halblaut vor mich hin.

"Wie bitte?", fragte Tante Lizzy.

Das Bild verschwand.

Ich wandte den Kopf zu Tante Lizzy herum.

"Dieses Notizbuch, das die Conroys aus deinem antiken Schreibtisch herausgeholt haben! Es hat etwas mit dem zu tun, was ich gesehen habe, Tante Lizzy."

"Bist du dir sicher?" Tiefe, sehr sorgenvolle Furchen erschienen auf Tante Lizzys Gesicht.

Ich nickte.

"Ganz sicher", murmelte ich. "Ich weiß es einfach... Und du weißt, dass ich mich auf meine Ahnungen immer gut verlassen konnte."

8

Ich weiß nicht genau, wann es geschah, aber schließlich schlief ich in dem großen Ohrensessel in Tante Lizzys Bibliothek ein. Als ich am Morgen erwachte, bemerkte ich, dass Tante Lizzy mir eine Wolldecke übergeworfen hatte.

Meine Großtante war bereits wach, vielleicht hatte sie auch gar nicht geschlafen.

"Ich habe etwas in meinem Archiv gestöbert, ob es irgendwann Erscheinungen wie jene gegeben hat, von der du mir berichtet hast", erklärte sie mir beim Frühstück. "Allerdings bin ich nicht sehr weit gekommen, wie du dir denken kannst..."

"Ach, Tante Lizzy, ich wollte dich nicht beunruhigen..."

"Aber du bist beunruhigt, Patti", unterbrach sie mich. "Und das allein schon ist für mich Grund genug, mir Sorgen zu machen."

Ich lächelte matt und nahm einen Schluck vorzüglichen Tees, den Tante Lizzy zubereitet hatte.

Etwas später fuhr ich mit meinem kirschroten Mercedes 190 in die Lupus Street zum Verlagsgebäude der LONDON EXPRESS NEWS.

Ich stellte den Wagen auf dem vorgelagerten Parkplatz ab, stieg aus und ging schnellen Schrittes in Richtung Haupteingang.

Einige Minuten später erreichte ich das Großraumbüro, in dem unsere Redaktion untergebracht war. Hier herrschte ständiges Kommen und Gehen zwischen den Schreibtischen der einzelnen Mitarbeiter.

Lediglich unser Chef Michael T. Swann hatte ein Büro für sich allein. Und wenn er unerwarteterweise aus seiner Bürotür heraustrat, dann bewirkte das stets, dass irgendwo augenblicklich ein Kaffeebecher zur Seite gestellt wurde.

Ich strebte geradewegs auf meinen Arbeitsplatz zu, da stutzte ich plötzlich.

Vor einem der Computerterminals saß Tom Hamilton.

Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und griff dann nach einem Kaffeebecher.

Ich trat erstaunt zu ihm.

"Hallo, Tom...", sagte ich.

Er blickte auf.

"Patti!"

Ein mattes Lächeln spielte um seine Lippen.

"Das ist die Arbeitshaltung, die dich im Handumdrehen zu Mr. Swanns persönlichem Lieblingsreporter macht!", meinte ich ironisch.

Tom grinste. "Vielleicht bin ich das schon..."

"Wie meinst du das?"

"Ganz einfach: Swann ist mir mehr als nur einen Gefallen schuldig!"

"Der kann so etwas ganz schnell vergessen, Tom!", gab ich zu bedenken.

Tom stand auf, nahm mich in den Arm. Ich schmiegte mich an ihn. Unsere Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen, atemlosen Kuss. Ich fühlte Toms Arme in meinem Rücken und war froh, den Mann, den ich liebte, endlich wieder in meiner Nähe zu spüren.

"Ich bin gestern Nacht zurückgeflogen. Es war schon etwas zu spät, um dich noch anzurufen", meinte Tom. "Leider habe ich den Fehler gemacht, noch kurz in der Redaktion aufzutauchen. Swann war noch hier und bat mich um einen Gefallen..."

"Verstehe."

Toms Gesicht wurde ernster. Die dunklen Augenbrauen zogen sich zu einer Schlangenlinie zusammen. "Ich bin auf Grund eines Anrufes in die Cumberland Street gefahren. Es gab dort einen Vorfall, der dich interessieren dürfte..." Tom unterdrückte ein Gähnen und deutete auf den Computerschirm.

"Erst hat Swann mir einen freien Tag versprochen, dann meinte er, ich solle den Artikel gleich fertig machen. Falls du das Vergnügen haben solltest, ihn zu korrigieren, sei mir nicht böse. Ich war hundemüde und es sind bestimmt jede Menge Rechtschreibfehler drin. Aber lesen solltest du ihn auf jeden Fall. Mich würde nämlich interessieren, was du davon hältst."

"Okay", nickte ich.

"Ich werde mich jetzt etwas aufs Ohr hauen, sonst schlafe ich noch im Stehen ein."

"Was ist denn in der Cumberland Street passiert?"

"Ein Mann ist auf sehr seltsame Weise ums Leben gekommen und einer der Anwohner will eine Art Zombie gesehen haben, der aus dem Asphaltboden herausgekrochen ist..." Toms Augen wurden schmal. Er sah mich fragend an. "Was ist denn? Du bist plötzlich so blass!"

Mir blieb keine Gelegenheit, Tom darauf zu antworten, denn in diesem Moment trat Michael T. Swann aus seinem Büro heraus.

"Miss Vanhelsing!", rief er laut durch das Großraumbüro, während sein Blick umherstreifte.

"Wir sehen uns nachher, ja?", sagte ich an Tom gewandt.

"Ja..."

"Sobald ich hier fertig bin!"

Noch einmal küsste ich Tom, strich ihm mit der Hand zärtlich über die Schulter, ehe ich mich dann von ihm löste. "Bis nachher", flüsterte ich.

Michael T. Swann empfing mich mit ernstem Gesicht. Er kratzte sich am Hinterkopf und nickte mir knapp zu. "Morgen, Patricia. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen."

"Naja..."

"Kommen Sie in mein Büro. Ich muss mit Ihnen eine heikle Angelegenheit besprechen."

Ich folgte ihm.

Michael T. Swanns Ankündigung klang nicht gerade nach einem gemütlichen Routine-Tag in der NEWS-Redaktion.

Man brauchte keine übersinnliche Begabung, um zu erahnen, dass es irgendwelchen Ärger gab.

"In den nächsten 10 Minuten keine Störungen bitte!", ranzte Swann seine Sekretärin an.

Dann hatten wir sein Büro erreicht. Der Schreibtisch war - entgegen dem gewohnten Anblick - beinahe völlig leergeräumt.

Keine Manuskriptstapel türmten sich in schwindelerregende Höhe, kein Stapel ungeöffneter Post drohte von der Tischplatte zu rutschen. Als ich mich in einen der schlichten Ledersessel fallenließ, konnte ich sehen, wie Swann das Problem gelöst hatte. Er hatte all das, was sich bislang auf dem Schreibtisch gestapelt hatte, jetzt einfach neben ihn auf dem Boden aufeinandergestapelt.

Swann lehnte sich gegen die Tischkante und verschränkte die Arme.

"Mr. Hamilton gehört ins Bett, deswegen wollte ich ihn mit der Sache jetzt nicht mehr belästigen. Außerdem werden Sie ihm ohnehin jedes Wort weitergeben, wie ich annehme...", begann Swann.

"Worum geht es?"

"Um Ihre Reportage-Serie über die Machenschaften des ORDENS DER MASKE in der Bretagne..."

Ich begriff sofort.

Swann hatte die Serie überschwänglich gelobt. Und ich hatte meinerseits großen Respekt davor, dass unser Chef es fertiggebracht hatte, sie gegen alle Bedenken auch auf die Seiten unseres bunten Blattes zu bringen. Bedenken, die es vor allem von Verlagsseite gegeben hatte.

Beim ORDEN DER MASKE handelte es sich um eine verbrecherische Weltuntergangssekte, deren Mitglieder im Auftrag eines außerirdischen Wesens auf den Weltuntergang hinarbeiten sollten. Dieses Wesen hieß Cayamu und residierte auf Cayamus Welt, dem Planeten einer fernen Doppelsonne.

Cayamu strebte einen Zugang zu unserer Welt an, um im Moment der Apokalypse die Weltherrschaft antreten zu können.

Die Erde würde im Chaos und der Vernichtung versinken, während die Anhänger dieses unheimlichen ORDENS, dessen Mitglieder sich mit Hilfe geheimnisvoller Masken mit Cayamu in Verbindung setzen konnten, entmaterialisierten.

In einer Höhle, unterhalb einer uralten Burg in der Bretagne hatten Mitglieder des ORDENS versucht, ein furchtbares, säurespeiendes Ungeheuer heranzuzüchten, das aus einer sich mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit wachsenden Galertmasse bestand und die Welt um ein Haar an den Rand des Abgrunds gestoßen hätte. Tom und ich waren den dortigen Machenschaften des ORDENS auf die Spur gekommen.

Seine Mitglieder operierten weltweit.

Mit Hilfe ihrer Masken verwandelten sie sich mitunter in grauenerregende Bestien - Geister der Sonne, wie die Bezeichnung in den Mythen der mittelamerikanischen Talketuan-Kultur war, deren Ruinen ein frühes Zugangstor zu Cayamus Welt darstellten.

Swann hielt mir ein Schreiben hin, sauber getippt auf blütenweißem Papier, in das ein Wasserzeichen eingearbeitet war. Der Briefkopf stammte von einer der größten Anwaltskanzleien Londons.

"Das ist juristisches Kauderwelsch", sagte Swann dann. "Im Klartext heißt das, es gibt Ärger, Patricia. Es ist eine beliebte Methode solcher Seiten, ihre Gegner mit Prozessen zu überziehen und damit mundtot zu machen. Das wäre nun wirklich nicht der erste Fall."

"Aber die können doch nichts machen!", entgegnete ich.

"Die Artikel sind juristisch einwandfrei! Schließlich sind sie durch die Rechtsabteilung der NEWS eingehend geprüft worden!"

"Ja, mag sein", entgegnete Swann. "Und natürlich tritt dieser ORDEN niemals offen auf. Er wird sich hüten, schließlich ist bekannt, dass auf sein Konto auch einige Morde gehen! Nein, Patricia. Die Sache läuft anders. Erst einmal gibt es eine Reihe von Strohmännern, die sich plötzlich erheben und sich durch Ihre Reportage persönlich diffamiert fühlen. Leute beispielsweise, die bei dieser Druidin Maraguene in Heilbehandlung waren, der das Chateau gehörte... Im Handumdrehen werden die Ihren Einfluss auf Anzeigenkunden ausüben... Ich soll Ihnen jedenfalls von der Verlagsleitung ausrichten, in diesen Dingen nichts mehr auf eigene Faust zu unternehmen. Alles, was Sie darüber recherchieren, muss erst der Geschäftsleitung vorgelegt werden."

"Und Sie lassen sich das gefallen, Mr. Swann?"

Swann hob die Augenbrauen. Dann erschien ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.

"Das denken Sie nicht im Ernst von mir, Patricia!" Er schüttelte energisch den Kopf. "Verstecken Sie sich ruhig hinter meinem breiten Rücken."

"Und wenn's hart auf hart kommt?"

"Sind wir Journalisten oder Angsthasen?"

"Na, ich hoffe doch ersteres."

"Ich wusste, dass wir in dieser Sache ähnlich denken, Patricia. Ich wollte Sie nur warnen..."

Ich nickte.

"Danke, Mr. Swann."

"Ich stehe jedenfalls hinter Ihnen."

"Gut zu wissen..."

9

Ich überflog Toms Artikel und konnte kaum glauben, was ich da las. Vor meinem inneren Auge entstand das Bild jenes Eis-Zombies, den ich in meiner Vision gesehen hatte.

Schrecklich kalt war mir auf einmal.

Nichts war geblieben von der bleiernen Müdigkeit, die mich kurz zuvor noch erfüllt hatte.

Ich war jetzt hell wach, wozu der dünne Redaktionskaffee sicher nur unwesentlich beitrug.

Am Nachmittag fuhr ich zu einem Friedhof in der Oxton Street, auf dem es offenbar Grabschändungen gegeben hatte.

Jedenfalls war das die erste Meldung, die kursierte. Und da ich in der Redaktion als Spezialistin für alles galt, was auch nur entfernt mit dem Bereich Okkultismus zu tun hatte, blieb die Sache an mir hängen.

Die Polizei war bereits dort. Ein Teil der Beamten war damit beschäftigt, einige empörte Bürger zu beruhigen, während sich andere darum kümmerten, Spuren zu sichern.

Dicker Nebel war im Verlauf des Tages von der Themse herausgezogen und hatte sich wie ein vielarmiges, tentakelbewehrtes Geisterwesen Straße um Straße vorgearbeitet. In dicken Schwaden kroch er über den Boden. Ein paar große, etwas windschiefe Bäume überragten den Friedhof an der Oxton Street. Sie waren auf merkwürdige Weise verwachsen. Der Mittlere von ihnen war offenbar einmal vom Blitz getroffen worden. Die nahe Kapelle war nur als vager Schatten zu sehen.

Schon auf den ersten Blick war zu sehen, was hier geschehen war.

Die grauen Steine auf den Gräbern waren mit eigenartigen Zeichen bemalt worden. Zwei Steine hatten die Unbekannten Täter umgestoßen und aufeinandergeschichtet. Schwarzes, übelriechendes Pech war auf die hellen Steinplatten aufgetragen worden, mit denen die Wege gepflastert waren.

Fackeln steckten im Boden.

Ihre Schäfte waren mit Totenköpfen verziert. Die Position dieser Fackeln war keineswegs zufällig. Sie bildeten Pentagramme. Ich machte Aufnahmen von den beschmierten Grabsteinen. Manche dieser Zeichen glaubte ich bereits aus Hermann von Schlichtens ABSONDERLICHEN KULTEN zu kennen.

Einer der Officers, den ich ansprach meinte, dass es sich bei den Tätern sicherlich um Jugendliche handelte.

"Die machen sich einen besonderen Spaß aus solchen spiritistischen Ritualen", meinte er. "Also zu unserer Zeit war das Leben aufregend genug, so dass wir auf derartigen Nervenkitzel gut verzichten konnten!"

Ich befragte ihn etwas genauer, stellte aber fest, dass er bislang so gut wie nichts herausgefunden hatte.

"Wann ist das hier passiert?", fragte ich.

"Tja, da beginnt schon der Expertenstreit. Der Friedhofswächter meint, letzte Nacht, aber inzwischen weiß ich, dass der gar nichts darüber sagen kann. Der lag nämlich betrunken zu Hause und hat auch heute Morgen seinen Dienst nicht angetreten. Deswegen ist die Sache auch so vergleichsweise spät gemeldet worden."

Ein Wagen fuhr jetzt vor.

Ich sah, wie ein Mann im offenen Trenchcoat ausstieg.

Seine Gestalt war massig und wirkte irgendwie einschüchternd.

Die Haare waren kurz und standen wie die Halme eines frisch geschnittenen Rasens steil nach oben.

Ich kannte diesen Mann nur zu gut.

Es war niemand anders, als Scotland Yard Inspector Gregory Barnes. In der Vergangenheit waren wir des öfteren ziemlich heftig aneinandergeraten. Natürlich entdeckte er mich sofort.

Seine Mundwinkel fielen hinab, als er mich sah. Mit dynamisch wirkenden Schritten bewegte er sich auf mich zu.

Was hat eigentlich Scotland Yard mit einer so - vergleichsweise - harmlosen Sache zu tun?, fragte ich mich.

Die Uniformierten schienen sich dieselbe Frage zu stellen, sie machten etwas ratlose Gesichter.

"Hallo, Miss Vanhelsing", murmelte Barnes, als er vor mir stehenblieb, sich breitbeinig aufbaute und die Arme vor der Brust verschränkte. "Ich kann mir denken, dass das eine Geschichte nach Ihrem Geschmack ist. Was werden Sie daraus machen?" Er grinste breit. "Vielleicht eine Überschrift wie TOTENGEISTER WERDEN JETZT LONDON HEIMSUCHEN..."

"Bleiben wir doch sachlich, Mr. Barnes."

"Aus Ihrem Mund klingt das irgendwie komisch", meinte Barnes und kicherte dann. Schließlich fuhr er fort: "Ich nehme an, Sie meinten das als Beitrag in der Sparte Humor. Leider haben Sie sich, was das betrifft, schon sehr dem Niveau ihrer Zeitung angepasst." Er zuckte die breiten Schultern. "Tut mir wirklich leid, Ihnen das sagen zu müssen!"

Es tat ihm natürlich überhaupt nicht leid.

Seine blitzenden Augen und das nicht zu unterdrückende Grinsen, das um seine Lippen herum spielte, straften ihn eindeutig Lügen.

"Wieso ist dies hier ein Fall für Scotland Yard?", fragte ich etwas verständnislos.

Barnes entblößte die Zähne.

"Glücklicherweise brauche ich Ihnen auf diese Frage nicht zu antworten, Miss Vanhelsing."

"Es gibt also einen Zusammenhang zwischen den Vorfällen in der Cumberland Street und dem, was her geschehen ist." Es war eine trockene Feststellung, keine Frage, was da über meine Lippen kam.

Sein Gesicht wurde dunkelrot, die Augenbrauen zogen sich zusammen.

"Sie dürfen denken, was Sie wollen, Miss Vanhelsing. Aber unterstehen Sie sich, es auch zu schreiben!"

"Wenn ich unrecht hätte, wären Sie nicht hier, Inspector Barnes!"

Ich hatte ins Schwarze getroffen. Barnes öffnete halb den Mund, und ich erlebte einen der raren Momente, in denen dieser Mann sprachlos war. Ich versuchte charmant zu lächeln.

"Na, kommen Sie", sagte ich. "Es ist doch eindeutig, dass hier ein okkultes Ritual stattgefunden hat..."

"Ihr Spezialgebiet."

"Eben! Vielleicht kann ich Ihnen in diesem Fall sogar weiterhelfen..."

"Ach ,ja?"

"...wenn Sie etwa offener sind."

Ein arrogantes, maskenhaftes Grinsen erschien in Barnes feistem Gesicht.

"Sie haben mir nichts zu bieten, Miss Vanhelsing. Nichts, was für mich von Interesse wäre. Und jetzt lassen Sie mich bitte meinen Job machen..."

"Sie wollen nicht wissen, was die Zeichen auf diesen Gräbern bedeuten?"

"Wissen Sie es?"

"Ich könnte es herausfinden."

Barnes lachte trocken.

"Da haben wir ja etwas gemeinsam, Lady", meinte er süffisant und ließ mich einfach stehen.

Ich zuckte die Achseln und sah ihm nach.

Es muss einen Zusammenhang mit dem Toten in der Cumberland Street geben, schoss es mir durch den Kopf. Barnes' Auftauchen an diesem Ort war ein unwiderlegbarer Beweis dafür...

Vielleicht halfen die Zeichen auf den Gräbern, auf die Spur dieses Geheimnisses zu kommen...

10

Inspector Barnes blickte auf die geschändeten Gräber, während ihm einer der Police Officers Bericht erstattete.

Es handelte sich um einen hochgewachsenen Sergeant, der Barnes um einen halben Kopf überragte. Die Stimme des Sergeants war monoton. Immer wieder schaute er in seinen Notizen nach.

Barnes wirkte abwesend.

Er wandte den Kopf und sah Patricia Vanhelsing nach, die gerade in ihrem kirschroten Mercedes 190 einstieg und davonfuhr.

Für den Bruchteil eines Augenblicks flackerte etwas in seinen Augen.

Sie veränderten sich.

Etwas Metallisches schien in ihnen aufzublitzen.

Ein eigenartiger Schimmer, der dem Inspector einen nichtmenschlichen Zug gab.

Der Sergeant bemerkte das.

Er stockte mitten im Satz.

"Sir..."

"Was ist?", fragte Barnes mit einem diabolischen Lächeln auf den Lippen.

"Nichts...", murmelte der Sergeant.

Das eigenartige Etwas in Barnes' Augen war verschwunden.

Barnes deutete auf die Gräber.

"In dieser Sache geschieht nichts, was nicht über meinen Schreibtisch geht. Ist das klar?"

"Natürlich..."

"Und geben Sie nichts an die Presse..."

"Fahndungstaktische Gründe, was?"

"Auf Wiedersehen, Sergeant..."

11

Ich machte mich auf den schnellsten Weg zurück zur Lupus Street. Nachdem ich den 190er auf dem Parkplatz abgestellt hatte, war die Dunstglocke über London so dicht geworden, dass das Verlagsgebäude wie ein dunkler Schemen aus dem Nebel hervorstach. Es war kalt geworden.

Eine unangenehme, alles durchdringende Kälte, die einem langsam durch die Kleider kroch.

Ich hetzte durch die endlosen Flure des Verlagsgebäudes, bis ich schließlich die Fotolabors erreichte.

Ich hoffte hier Jim Field zu finden, den Starfotograf der LONDON EXPRESS NEWS. Jim war ein ziemlich unkonventionell wirkender Blondschopf, dessen gelocktes Haar immer ein bisschen zu lang wirkte. Der Drei-Tage Bart, das verbeulte Jackett und die antiken Jeans mit den liebevoll aufgesetzten Flicken waren seine hervorstechenden Kennzeichen. Früher waren wir oft ein Team gewesen und hatten ein Menge zusammen erlebt. Privat jedoch waren wir immer unsere eigenen Wege gegangen auch wenn Jim es sicher ganz gerne gehabt hätte, wenn das anders gewesen wäre. Aber das war Schnee von gestern.

Die Tür stand halb offen.

Jim war also da - und nicht auf irgendeiner Reportage-Reise.

Aber statt seiner Stimme hörte ich die unseres Chefredakteurs.

"Was denken Sie sich eigentlich, Mr. Field? Halten Sie dies für einen Stammtisch von Fußballfans, wo der jeder kommen und gehen kann, wann er will? Sie sind lange genug hier, Sie sollten wissen, dass ich auf Disziplin Wert lege - und vor allem auf das Einhalten von Terminen! Wenn ich ein Foto um 10.00 Uhr brauche, dann brauche es dann auch! Denken Sie, Sie sind allein auf der Welt? Was meinen Sie wohl, was Sie alles durcheinanderbringen, wenn Sie einfach machen was Sie wollen!"

"Ich muss mir so etwas nicht anhören, Mr. Swann!"

"Doch, dass müssen Sie! Jedenfalls, solange Sie in diesem Haus ein- und ausgehen..."

"Wer weiß, wie lange das noch der Fall ist! Glauben Sie vielleicht, mir macht es Spaß, meine Fotos in grobkörniger Qualität auf das holzhaltige, minderwertige Papier der NEWS gedruckt zu sehen, bei dem man sich richtig vorstellen kann, aus welchen Lumpenresten es zusammengepanscht wurde?"

"Von mir aus können Sie gerne versuchen, sie als großformatige Kunstdrucke zu verkaufen - aber in der NEWS werden sie von Millionen gesehen. Alles was Sie sind, sind Sie durch diese Zeitung! Sie schulden ihr einiges, Field! Und mir scheint, dass man Sie ab und zu daran erinnern muss!"

Zwei schnelle Schritte und Swann hatte die Tür erreicht.

Er riss sie auf und starrte mich an. Sein Gesicht bekam etwas sanftere Züge.

"Hallo Patricia", sagte er bemüht freundlich. Er atmete tief durch. Die Rotfärbung seines Gesichts blieb jedoch. Dann ging er an mir vorbei. Ich trat ein.

"Ich dachte, der letzte Stand der Dinge sei, dass ihr beiden euch wieder versöhnt hättet...", meinte ich.

Jim verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Du hast das gerade doch nicht etwa für einen Streit gehalten?"

"Also, um ehrlich zu sein...."

"Das war Swanns Normalform, Patti. Sag bloß, das ist dir noch nicht aufgefallen!"

Wir lachten beide.

Schließlich sagte ich: "Jim, ich bin hier..."

"...weil du mich um einen Gefallen bitten willst", vollendete Jim. Er zwinkerte mir zu. "Stimmt's?"

"Offen gestanden: ja!"

"Scheint so, als könnte ich Gedanken lesen. Das ist doch dein Spezialgebiet. Ich wette deine Tante Lizzy kennt jemanden, bei dem ich meine parapsychischen Kräfte mal testen lassen könnte."

"Jim, mir ist im Moment nicht nach Witzen zumute. Ich habe hier einen Film, den ich möglichst schnell entwickelt haben müsste."

"Kein Problem. Muss Mr. Swann halt etwas warten. Du hast ja gerade mitgekriegt, dass ihm kleine Verzögerungen nichts ausmachen...", grinste Jim.

Ich reichte ihm den Film.

"Es geht vor allem um die Zeichen, die auf den Gräbern zu sehen sind. Vielleicht könntest du die Abzüge so vergrößern, dass diese Zeichen gut zu sehen sind."

"Kein Problem, Patti. Jeder weitere Extrawunsch kostet allerdings 1 Pfund sechzig..."

12

Der Nebel hatte im Lauf der letzten Stunden immer mehr zugenommen. Eine grauweiße Wand umgab den Friedhof an der Oxton Street und ließ ihn wie einen unwirklichen Ort, jenseits von Raum und Zeit erscheinen.

Die meisten Polizisten waren inzwischen nicht mehr hier.

Die Spurensicherer hatten ihre Arbeit beendet. Nur noch der Sergeant und ein weiterer Officer waren damit beschäftigt, einen Teil des Friedhofs mit abzusperren.

Keiner von ihnen bemerkte den umgestürzten Grabstein, der sich plötzlich bewegte...

Eine totenbleiche Hand kam darunter hervor...

Eine Hand, die von einem kalten Panzer aus grauem Eis umgeben war, das aber seltsamerweise doch eine gewisse Beweglichkeit aufwies. Ein ächzender Laut ertönte.

Die beiden Polizisten blickten kurz auf.

Misstrauisch ließen sie den Blick kreisen und starrten dann in die grauen Nebelmassen hinein.

"Lass uns sehen, dass wir hier fertig werden", meinte der Sergeant.

"Nichts dagegen, Sir!"

"Ich weiß nicht - irgendwie mag ich diesen Ort nicht."

"Wer mag schon Friedhöfe!"

"Nein, das ist es nicht."

"Was dann?"

"Ich... Ich kann es nicht erklären. Ein Gefühl... Ich glaube, ich rede Unsinn!"

In diesem Moment schob die eisgefrorene Totenhand den umgestürzten und mit zahlreichen Symbolen bemalten Grabstein zur Seite. Die Kraft dieser Hand war immens. Eine ruckartige Bewegung und sie schleuderte den Stein ein paar Meter in die Höhe. Mit einem dumpfen Laut kam er auf dem Boden auf.

Die beiden Polizisten erstarrten.

Entgeistert blickten sie auf das, was sich schemenhaft im Nebel abzeichnete.

Etwas grub sich mit heftigen, aber eigenartig starr wirkenden Bewegungen aus dem Erdreich heraus. Mit ungeschickten, marionettenhaften Bewegungen kam eine schaurige Gestalt an die Oberfläche.

Sie wankte auf die beiden Polizisten zu.

"So etwas gibt es nicht", murmelte der Sergeant nur.

Die Gestalt kam näher, schälte sich immer deutlicher aus dem Nebel heraus. Das schmutzige Leichenhemd wurde sichtbar.

Das halbverweste Gesicht mit den leeren Augenhöhlen. Wie ein Eishauch dampfte der Atem aus dem halb geöffneten Mund.

Mit ausgestreckten Armen kam der Eis-Zombie näher.

Unsichtbare Fäden schienen ihn aus dem Nebel heraus zu führen.

Ächzende Laute kamen über die bleichen, aufgesprungenen Lippen.

Unwillkürlich wichen die beiden Polizisten etwas zurück.

Beide waren starr vor Schrecken.

Und dann schrie einer von ihnen plötzlich laut auf.

Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.

Etwas hatte sich um seinen Knöchel gelegt und hielt sein Bein fest.

Eine Totenhand...

Der Eisüberzug ließ sie eigentümlich glänzen. Mit eisernem Griff hatte sich diese Hand um den Knöchel des Polizisten gelegt, der verzweifelt versuchte, sich freizustrampeln.

Sein Kollege, der Sergeant, wollte ihm helfen, berührte ihn bei der Schulter und zuckte dann zusammen, als er merkte, dass ein kalter Schauer ihn durchzog.

Der Sergeant taumelte zurück, stürzte zu Boden und war unfähig, sich zu bewegen.

Mit angstgeweiteten Augen starrte er auf seinen Kollegen.

Innerhalb eines Augenblicks hatte sich ein Panzer aus schmutzigem, grauweißem Eis um ihn gebildet. Starr und regungslos stand er da, den Mund wie zu einem Schrei aufgerissen. Eine grauenhafte Statue des Schreckens. Das Gesicht des Polizisten wirkte eingefallen und bleich.

Der Sergeant zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sein Kollege nicht mehr lebte.

Da war immer noch die Hand, die das Fußgelenk wie in einem Schraubstock festhielt.

Etwas wühlte sich aus der Erde heraus, ächzte, keuchte, stieß eigenartige unartikulierte Laute aus und schüttelte schließlich den dunkelbraunen, feuchten Mutterboden von sich.

Ein zweiter Eis-Zombie war an die Oberfläche gestiegen.

Der Sergeant lag bewegungsunfähig im feuchten Gras.

Er wollte schreien, stellte aber fest, da er nicht einmal das konnte.

Wie ein lebendiger Geist in einem toten Körper!

Der Gedanke erschreckte ihn.

Er fühlte eine unbeschreibliche Kälte in sich.

In diesem Moment verfluchte er die Tatsache, dass englische Polizisten normalerweise keine Waffen tragen.

Allerdings war er sich nicht sicher, ob ihm eine Schusswaffe hätte helfen können.

Das Blut in meine Adern... es gefriert!

Die Erkenntnis war ein Schock für den Sergeant.

Er glaubte zu spüren, wie sich jeder Milliliter seines Lebenssaftes in Eiskristalle verwandelte.

Nein! Das muss ein Alptraum sein... Ich werde erwachen und es wird nichts bleiben, als eine vage Erinnerung...

Es war eine verzweifelte Hoffnung.

Und mit jedem Augenblick, der verstrich, schwand sie um ein weiteres Stück.

Unerbittlich.

Der Sergeant registrierte nur am Rande, dass auch an anderen Stellen auf dem Oxton Street- Friedhof sich die Erde teilte und weitere Eis-Zombies der Tiefe entstiegen, um dann wie an Fäden gezogen über diesen entweihten Ort der ewigen Ruhe zu wanken.

Mit grenzenlosem Grauen sah der Sergeant dann einen düsteren Schatten über sich auftauchen.

Es war eine jener lebenden Leichen, die aus der Tiefe emporgekommen waren.

Das augenlose Gesicht senkte sich etwas.

Vielleicht war es die Karikatur eines Lächelns, was um die aufgesprungenen, bleichen Lippen herum spielte. Die Kreatur des Todes beugte sich mit ungeschickt wirkenden, ruckartigen Bewegungen nieder.

Die eisüberzogene Hand legte sich um die Kehle des Sergeants, während mit einem zischenden Laut eine Fontäne aus eisigem Nebel aus dem Mund des Zombies herausschoss.

Der letzte Rest an Lebensenergie, der noch in dem am Boden Liegenden vorhanden gewesen war, verflüchtigte sich.

"Ah!", kam es aus dem Mund der Kreatur heraus, deren Lippen sich nun auf groteske Weise verzogen.

13

Die Fotos, die ich auf dem Friedhof an der Oxton Street gemacht hatte, erwiesen sich als brauchbar. Und Jim erstellte mir die Abzüge in Rekordzeit. Ich hoffte, dass Tante Lizzy damit etwas anfangen konnte.

An diesem Tag gelang es mir, mich recht früh loszueisen.

Ich hatte noch jede Menge Überstunden abzufeiern und daher hatte Mr. Swann auch nichts dagegen, dass ich mich vergleichsweise früh auf den Weg nach Hause machte. Unterwegs versuchte ich per Handy Tante Lizzy anzurufen, aber in der Villa meldete sich niemand.

Ich machte einen Umweg über die Ladbroke Grove Road, wo Tom Hamilton seine Altbauwohnung in einem mehrstöckigen, gut restaurierten Haus hatte.

Im Radio hörte ich beiläufig, dass es auf Grund des Nebels schon fast ein Dutzend Unfälle im Gebiet von Greater London gegeben hatte.

Ich geriet in einen kleinen Stau und in der Ladbroke Grove Road brauchte ich eine geschlagene Viertelstunde, um einen Parkplatz zu finden, bei dem nicht die Gefahr bestand, dass mein 190er kurzerhand von städtischen Bediensteten abgeschleppt wurde.

Schließlich stand ich endlich vor Toms Wohnungstür.

Er öffnete mir. Und das charmante Lächeln um seine Lippen ließ mich beinahe sofort dahinschmelzen.

Der Blick seiner meergrünen Augen wirkte nach wie vor elektrisierend auf mich. Wir nahmen uns wortlos in die Arme und küssten uns.

"Wie ich sehe bist du ja inzwischen wieder ziemlich munter!", meinte ich schließlich atemlos, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten.

Er schloss die Wohnungstür hinter mir.

Dann zog er mich wieder an sich. "Hast du etwas anders erwartet?", lächelte er.

"Nun, um ehrlich zu sein..."

"Der Anblick einer so bezaubernden Frau hat meine Lebensgeister augenblicklich geweckt."

"Ein Mann, der so viele Komplimente macht, hat doch etwas zu verbergen!"

"Ach, ja?"

"Was ist es, Tom?"

Er lächelte schelmisch.

"Finde es heraus!", meinte er dann und strich mir durchs Haar. "Ich habe mir übrigens gerade eine Pizza gemacht, und ich nehme an, dass die für uns beide reicht..."

14

Während Tom und ich die Pizza aßen und dazu Rotwein tranken, tauschten wir uns über gegenseitig über das aus, was wir erfahren hatten.

Ich erzählte ihm auch von meiner Vision.

Schließlich gehörte Tom zu den ganz wenigen Menschen, die überhaupt von meiner Gabe wussten.

Tom sah mich nachdenklich an.

"Mir ist die ganze Zeit über der Tatort in der Cumberland Street nicht aus dem Sinn gegangen. Warst du schon dort?"

"Nein."

"So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Eine ungeheure Kraft hat den Asphalt gesprengt. Und dann diese gefrorene Leiche..."

"Ich hoffe, dass sich in Tante Lizzys Archiv irgendwelche Hinweise finden lassen", meinte ich.

"Und du bist überzeugt davon, dass ein Zusammenhang zwischen der Friedhofsschändung an der Oxston Street und dem Toten in der Cumberland Street besteht?"

"Barnes Auftauchen war ein überzeugender Beweis. Ich bin gespannt, was das für Zeichen sind, die auf die Grabsteine geschmiert waren... Einige von ihnen glaube ich zu kennen. Ich habe sie in Hermann von Schlichtens ABSONDERLICHEN KULTEN auf einigen Abbildungen gesehen."

"Manchmal denke ich, dass man alle Exemplare dieses Werkes aufspüren und vernichten sollte", meinte Tom.

"Es ist eine schier unerschöpfliche Quelle okkulten Wissens", gab ich zu bedenken.

Tom zuckte die Achseln.

"Leider gerät dieses Wissen immer wieder in die Hände von Unverbesserlichen, die damit nur ihre Allmachtsphantasien zu befriedigen versuchen."

"Da hast du leider recht."

"Hast du inzwischen eigentlich noch etwas von Dietrich von Schlichten gehört?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, der scheint seit den Vorfällen in der Bretagne verschollen zu sein... Wie vom Erdboden verschluckt!"

Professor Dietrich von Schlichten war ein Nachfahre des berühmten Okkultisten Hermann von Schlichten. Er war ein Archäologe, der sich der Erforschung des Ungewöhnlichen gewidmet hatte. Zusammen mit ihm waren wir in die Tiefen des in den Anden gelegenen Titicaca-Sees getaucht, um die Ruinen einer von krakenhaften Monstren geschaffenen Unterwasserstadt zu erforschen. Ich hatte nicht geahnt, dass Dietrich von Schlichten ein Mitglied des ORDENS DER MASKE

war, der mich nur deshalb auf die Reise mitgenommen hatte, um meine übersinnlichen Kräfte dafür auszunutzen, die in einer fremden Dimension gefangenen Krakenmonster wieder zurück auf die Erde zu rufen. Diese Zusammenhänge erkannte ich erst, als Tom und ich in der Bretagne die Machenschaften des ORDENS aufdeckten und dabei erneut auf Dietrich von Schlichten trafen.

"Vielleicht ist er doch bei dem Erdbeben in der Bretagne ums Leben gekommen", meinte Tom.

"Der ORDEN DER MASKE wird uns jedenfalls noch eine Weile verfolgen", erwiderte ich. "Ich hatte eine Unterredung mit Mr. Swann. Es versucht jemand, juristische Schritte gegen unsere Berichterstattung einzuleiten und Anzeigenkunden zu beeinflussen. Aber Swann sagte, dass er hinter mir steht!"

"Ich hoffe nur, dass er sich daran noch erinnert, wenn es wirklich ernst werden sollte."

"Das wird er schon", meinte ich.

Tom zuckte die Achseln. "Vielleicht hat du recht. Soweit ich Swann kenne, kann man ihm jedenfalls nicht vorwerfen, ein Feigling zu sein."

Tom und ich sahen uns an. Unsere Blicke verschmolzen einen Augenblick lang miteinander.

"Denkst du, dass der ORDEN etwas mit den Geschehnissen in der Cumberland Street zu tun haben könnte?", fragte ich.

"Dafür gibt es noch keinen Hinweis. Aber auf der anderen Seite ist das, was auf dem Friedhof an der Oxton Street geschehen ist, ja wohl kaum eine 'normale' Grabschändung, wie sie vielleicht von Jugendliche hin und wieder verübt wird, die auf eine gewisse Portion an schaurigem Nervenkitzel aus sind. Scotland Yard würde sich damit nicht befassen."

"Es sei denn, Barnes wurde inzwischen wegen Unfähigkeit degradiert - und wir haben das nur nicht mitgekriegt!"

Tom schmunzelte.

Dann sagte er sehr ernst: "Patti, wenn die Zeichen, die du gesehen hat, wirklich aus den ABSONDERLICHEN KULTEN stammen, engt das den Kreis der möglichen Täter sehr ein. Es gibt nicht allzuviele, die über dieses Wissen verfügen... Aber Dietrich von Schlichten und der ORDEN DER MASKE gehören zweifellos dazu."

"Vorausgesetzt, von Schlichten lebt noch."

"Sicher."

Ich atmete tief durch. "Vielleicht hat zwischen den Gräbern an der Oxton Street ein Ritual stattgefunden... Ein Ritual, das irgend etwas in unsere Welt geholt hat, das nun mordend durch die Straßen Londons schleicht..."

"Das wäre natürlich möglich. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass Barnes Auftauchen an der Oxton Street bislang der einzige Hinweis auf einen Zusammenhang ist... Es bleibt alles Spekulation, Patti."

Ich schluckte.

Tom hatte recht.

Sanft legte er seine Hand auf die meine.

"Lass uns in die Oxton Street fahren", murmelte ich dann, den Blick ins Nichts gerichtet. Ein leichtes Schwindelgefühl hatte mich erfasst. Der Zustand, in dem ich mich befand, war beinahe tranceähnlich.

"Patti?", hörte ich wie aus weiter Ferne Toms Stimme.

Für Bruchteile von Sekunden sah ich etwas vor meinem inneren Auge auftauchen.

Dunkle Schemen, die sich durch grauweißen Nebel hindurch abhoben.

Die Bäume auf dem Friedhof an der Oxton Street...

Unruhe erfasste mich. Unruhe, für die es keine logisch nachvollziehbaren Grund gab. Ich erhob mich. "Komm", sagte ich an Tom gewandt. "Wir müssen uns beeilen."

Er sah mich mit gerunzelter Stirn an, erhob sich ebenfalls und umrundete den Tisch.

"Was hast du gesehen?", fragte er, während er mich sanft bei den Schultern fasste.

Ich fasste mir an die Schläfe.

Da ist etwas... Etwas Grauenvolles!

15

Wir saßen wenig später beide in Toms Volvo und waren auf dem Weg zur Oxton Street.

"Du musst mich manchmal für verrückt halten", sagte ich unterwegs, während wir uns durch die nebelverhangenen Straßen Londons quälten. Wie dunkle Schatten waren auf den Bürgersteigen die Passenten zu sehen. Die ganze Szenerie wirkte beinahe so, als wären wir unversehens in eine unwirtliche Alptraumwelt eingetaucht, ohne es zu merken.