Römisches Fieber: Historischer Roman - Richard Voß - E-Book

Römisches Fieber: Historischer Roman E-Book

Richard Voß

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Beschreibung

In 'Römisches Fieber: Historischer Roman' entführt uns Richard Voß in die antike Welt Roms, voller Intrigen, Machtspiele und unerfüllter Sehnsüchte. Mit einem ausdrucksstarken Schreibstil und detaillierter Beschreibung der historischen Kulissen taucht der Leser in die Geschichte ein, die von Liebe und Verrat geprägt ist. Voß schafft es, die römische Gesellschaft authentisch darzustellen und transportiert geschickt die politischen Spannungen dieser Epoche. Der Roman zeichnet sich durch seine gelungene Mischung aus historischer Genauigkeit und fesselnder Handlung aus, die sowohl Historiker als auch Liebhaber von historischen Romanen begeistern wird. Richard Voß, bekannt für seine historischen Romane, ist ein Meister seines Fachs und verfügt über umfassende Kenntnisse der antiken Geschichte. Seine Liebe zum Detail und sein Gespür für spannende Erzählungen manifestieren sich in 'Römisches Fieber', wo er die Leser in eine vergangene Welt entführt, die noch heute fasziniert. Voß' Fähigkeit, komplexe Charaktere lebendig werden zu lassen und historische Ereignisse mit fiktiven Elementen zu verbinden, macht dieses Buch zu einem eindrucksvollen Leseerlebnis. Für Liebhaber von historischen Romanen und Geschichtsinteressierte ist 'Römisches Fieber: Historischer Roman' von Richard Voß ein Muss. Tauchen Sie ein in die Welt des antiken Rom, erleben Sie die Machtkämpfe, Romanzen und Intrigen hautnah und lassen Sie sich von Voß' mitreißendem Schreibstil mitreißen. Ein Buch, das sowohl unterhält als auch informiert, und das Sie nicht so schnell aus der Hand legen werden.

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Richard Voß

Römisches Fieber: Historischer Roman

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- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung [email protected]   2017 OK Publishing

Inhaltsverzeichnis

1. Ein Münchner Regentag
2. Der gute Joseph Auzinger
3. Prisca faßt einen Entschluß
4. Im Idyllenhδuschen
5. Prisca verlδίt die Solitude
6. Die Fahrt ins gelobte Land
7. Erste Eindrόcke
8. Unter Lorbeer und Rosen
9. Prisca wird orientiert
10. Alte Rφmer
11. Der schφnste und der hδίlichste der Mδnner
12. Das groίe Bild
13. Aus Priscas Tagebuch
14. Maria von Rocca di Papa
15. Die »Tochter der Semiramis«
16. Unter Zypressen
17. Die Fόrstin Romanowska
18. Aus Priscas Tagebuch
19. In der Galerie Romanowski
20. Don Benedetto
21. Aus Priscas Tagebuch
22. Das Gartenfest
23. Karl Steffens stellt aus
24. Eine Familientragφdie
25. Aus Priscas Tagebuch
26. Peter Paul kommt zurόck
27. Sommertage
28. Der Gott der Sistina
29. Katastrophen
30. Aus Priscas Tagebuch
31. Priscas letzte Aufzeichnungen und das Ende

1. Ein Münchner Regentag

Inhaltsverzeichnis

Das Wetter war schauderhaft! Schnee und Regen durcheinander. Dabei scharfer Nordwind, und auf Straßen und Plätzen ein Schmutz, daß der kühne Fußwanderer Pfützen durchwaten und wahre Moräste durchschreiten mußte inmitten der lieben Hauptstadt des schönen Bayerlandes. Und zwar geschah solches nicht etwa im grauen, barbarischen Mittelalter, sondern in der aufgeklärten Zeit einer universellen Skepsis und des Glühlichts.

München bei Novemberregen!

In der fashionabeln Briennerstraße einige tiefgesenkte, hin und her schwankende Schirme; auf dem friedlichen Odeonsplatz kein einziger Fiaker; die ganze lange, klassische Ludwigsstraße bis hinauf zum feierlichen Siegestor kaum eine lebendige Seele.

Der Regen rauschte und rauschte, der Tag wurde trüber und trüber; aus dem durchweichten Boden, aus sämtlichen kleinen und großen Wasserlachen stiegen Dünste auf; vom Himmel sanken dichter und dichter die Nebel herab, die der Wind wie Rauchwolken vor sich her trieb.

Die winzigen, blauweiß angestrichenen Wagen der hauptstädtischen Pferdebahn, mit dem einen einzigen, lebensmüden Rößlein davor, glitten wie Nürnberger Riesenspielzeug durch den Dunst hin und her. Bei dem stattlichen Eckhaus, in dessen Erdgeschoß Thierry und Breuil die neuesten, allerliebsten Quincailleriekapricen Altenglands feilhält und die alte, biedere Brienner Bäckerei ihre Gäste mit gut bürgerlichem Kaffee und massiven Backwaren erquickt – an dieser bedeutsamen Stelle des großstädtischen Verkehrs ertönte von Zeit zu Zeit, das Rauschen des Regens und das Brausen des Windes durchgehend, der schrille Pfiff des bedauernswerten Rosselenkers. Er und der Kondukteur hatten ihr leuchtendes Himmelblau unter dunkeln Hüllen verborgen, als müßten sie mithelfen, das Bild eines echten deutschen Regentages grau in grau zu malen.

Ein farbiger Punkt!

An dem Pferdebahnwagen, der, aus der Briennerstraße kommend, soeben scharf um die Ecke bog, eine hellgrüne Scheibe. Der Wagen kam vom Bahnhof her. Er hielt. Zum Einsteigen war keine Seele da. Aber jemand stieg aus.

Ein Mädchen: jung, hoch aufgeschossen, eckig, ganz und gar anmutslos. Sie steckte vom Kopf bis zu den Füßen in einem jener häßlichen, mißfarbigen Säcke, Regenmäntel genannt, darin jedes echte, weibliche Münchner Kind von Himmels wegen zur Welt kommen sollte.

Die junge Dame hatte das bescheidene Gewand hoch aufgeschürzt und sich mit derben Gummischuhen ausgerüstet. So wohlverwahrt patschte sie auf nicht allzu zierlichen Füßen mutig nach dem Hofgarten und dem gegenüberliegenden Ufer zu.

Während dieses Unternehmens dachte sie:

›Eigentlich ist es eine wahre Schande, so trocken und faul mit der Tram gefahren zu sein! Was mir wohl schlechtes Wetter tut? Wäre ich zu Fuß gegangen, so hätte ich jetzt zehn Pfennig mehr in der Tasche. Sogar fünfzehn! Denn der Kondukteur mußte bei dem Schandwetter doch seine kleine Extrafreude haben. Zur Strafe für solche Verschwendung werden Prinzessin Prisca die Gnade haben, sich während dieser ganzen Woche, in der es natürlich Tag für Tag regnen wird, auf höchsteignen Füßen von Schwabing nach München und von München nach Schwabing zu bewegen. Ihrer Hoheit gestrenge Hofdame, das majestätische Glöcklein, wird zwar ob solchen etikettewidrigen Benehmens in ein indigniertes Bimmeln verfallen und sogleich von gemeinbürgerlich nassen Füßen, von der niederträchtigen Influenza, von Tod und Begräbnis läuten, aber‹ – und sie lachte laut auf – ›ich und krank sein, ich sterben, ich begraben werden!‹

Ihr Lachen tönte so kräftig und sonnenwarm, daß der Regen eigentlich hätte aufhören und der Himmel blau werden müssen.

Sie stand jetzt drüben, verhältnismäßig im Trockenen, und hob den Kopf mit einem gewissen trotzigen Ruck, als wollte sie dem mit Erkältung und Influenza drohenden Himmel so recht offen ihr lustiges Gesicht zeigen, dem kein Regenwetter etwas anhaben konnte.

Das war nun gerade kein schönes, nicht einmal ein hübsches Gesicht. Solche Gesichter liefen zu Dutzenden in der Welt herum, und diese kehrte sich nicht daran. Wie viel weniger Zeit dazu hätte der so stark in Anspruch genommene Himmel gehabt!

Es war nämlich ein Gesicht, dem es selten geschehen mochte, daß irgendein recht harmloser junger Mensch – etwa ein solider Student der Philologie, der glücklich am Ende seines letzten Semesters stand, flüchtig hineinspähte, wenn er ihm auf der Straße etwa begegnete. Aber an einem sehr schönen Tage, im Wonnemonat Mai zum Beispiel, hätte auch dieser Solide für das unscheinbare Mädchengesicht sicher kein Auge gehabt. Dazu mußte schon solch nichtswürdiges Herbstwetter sein! Denn dann schaute das unschöne Gesicht unter der grauen Kapuze, die die Stirn umkrauste, so hell, lebenswarm und hoffnungsfroh in die trübe Welt hinaus, daß bei seinem Anblick der Solide vielleicht zu der praktischen Eingebung inspiriert wurde:

›Höre, meine Junge! Das gäbe eine tüchtige Frau für einen Mann von deiner erprobten Solidität. Die würde sich Wind und Wetter gehörig um die Ohren schlagen lassen, sämtliche Lebensstürme inbegriffen, ohne sich sonderlich darum zu kümmern. Die hat der liebe Gott eigens für dich geschaffen, mein Sohn, um deine abgerissenen Hemdknöpfe anzunähen, deine defekten Socken zu stopfen, deine Leibspeisen zu kochen, deine Kinder aufzupäppeln und dich allmählich zu einem guten, alten, brummigen Ehemann in Pantoffeln und Schlafrock heranzuhätscheln. Und das alles wird sie tun unentwegt mit dieser heiteren Stirn, diesen frischen Wangen, diesem unscheinbaren, ehrlichen, guten Gesicht.‹

Und doch wäre der Solide in seiner löblichen Absicht zugunsten seines lieben Ichs stark erschüttert worden, hätte er die junge Dame heute unter dem Torbogen der Arkaden stehen sehen und zufällig den Blick erhascht, mit dem sie eben jetzt geradeaus in die Luft schaute, mit einem Ausdruck, der, nach der Meinung des Soliden, zu dem praktischen Regenmantel und den verständigen Gummischuhen gar nicht recht passen wollte; mit einem Ausdruck, der etwas von geheimer, heißer Sehnsucht ausplauderte, von einem bedenklichen Hang zum Träumen und Phantasieren, von einer ganz gefährlichen Anlage zu Schwärmerei, Begeisterung, Ekstase. Denn wie um in dem häßlichen Stimmungsbild wenigstens einen Zug von Schönheit zu erhaschen, stand sie und blickte regungslos nach der Feldherrnhalle hinüber.

Sie dachte nicht daran, daß mit der bloßen sklavischen Nachbildung nichts getan sei, daß jedes Kunstwerk seine eigne göttliche Seele habe, die sich nicht wie eine beliebige Sache von einem Ort zum andern verschleppen läßt, ebensowenig wie der Grund und Boden selbst, auf dem das Werk gewachsen ist, wie die Kultur, die es geboren hat. Sie dachte nicht, daß nur ein nationales Publikum, das notwendig dazu gehört, imstande ist, solches Werk als ein aus ihm heraus geschaffenes zu genießen, sei es auch nur in glückseliger Dumpfheit, lediglich mit dem Instinkt für das Schöne; denn ihre Phantasie schmückte die Münchner Feldherrnhalle mit all dem unentbehrlichen, seelischen Zubehör, das der königliche Bauherr der Kopie nicht hatte geben können. Sie spannte einen tiefblauen Himmel über die grauen Wölbungen, ließ sie von der Sonne des Südens durchleuchten, füllte sie mit blassen Marmorgestalten, um die her ein braunes, wohlgestaltetes Sonnenvölklein sein tosendes Wesen trieb. Das vollbracht, stellte sie den ganzen ehrsamen deutschen Bau mit einem einzigen kühnen Schwung mitten in das Herz von Florenz hinein, gerade gegenüber dem herrlichen Palast der Signorina, gegenüber der engen Gasse, aus deren Tiefe Giottus lichte, schlanke Himmelssäule aufstrebt.

Natürlich ließ sie sich, als an der Loggia der Lanz drum und dran hängend, die Uffizien nicht entgehen, mit ihrem gesamten Vorrat an Marmor und bunter Leinwand nebst der ehrwürdigen braunen Brücke über den blonden Arno und der endlosen, wunderlichen Galerie zum Palast Pitti hinüber. Hier angelangt, packte die kecke Münchner Maid den ganzen Prachtkoloß mir nichts dir nichts für ihren Hausbedarf in ihr weites Herz ein, ohne auch nur einen einzigen Tizian oder Raffael zurückzulassen. Hierauf usurpierte sie auch noch die Boboligärten und ruhte dann von der ungewohnten Anstrengung wonnevoll in einem düsteren Lorbeergang aus, grüßte nach dem leuchtenden San Miniato hinüber und nickte zum Schluß Michelangelos David zu:

»Guten Morgen; da bist du ja, Kleiner!«

Sie hätte sicher noch eine kurze Vergnügungsreise nach Fiesole unternommen, das mit seinen Kirchen und Villen über silberhellen Olivenwaldungen und paradiesischen Landsitzen gar zu verlockend ins Tal hernieder glänzte. Aber da trieb ihr ein tückischer Wind den kräftigsten Regenschauer als abkühlendes Sturzbad ins Gesicht.

Nicht ohne einen tiefen Seufzer fand sie sich plötzlich von ihrem Phantasieritt ins gelobte Land unter dem Torbogen des Hofgartens wieder. Doch ihre tapfere Seele nahm auch jetzt die Wirklichkeit nicht grauer, als sie war. Sie besann sich einen Augenblick, weshalb sie eigentlich stehen geblieben war und welchen Weg sie jetzt einschlagen sollte. Sie wählte den, der sie durch die Arkaden führte. Aber sie wählte ihn nicht, weil er trockener war als der unter den triefenden Bäumen des Gartens und durch den Schlamm des aufgewühlten Bodens, sondern weil unter den Arkaden »die Rottmann« waren – die »lieben« Rottmann, wie das junge Mädchen mit einem leisen, das unhübsche Gesicht geradezu verschönernden Lächeln die berühmten Fresken nannte. Niemals sagte sie die herrlichen, die himmlischen oder gar die reizenden, sondern stets nur die »lieben« Rottmann.

Es hatte aber auch mit den lieben Rottmann für das junge Mädchen eine eigne Bewandtnis.

2. Der gute Joseph Auzinger

Inhaltsverzeichnis

Prisca war noch ein kleines, dummes Ding, als sie schon von den »Rottmann unter den Arkaden des Hofgartens« reden hörte. Diese Leute, die Rottmann nämlich, nahmen in ihrer lebhaften Einbildung mit der Zeit etwas ganz Gewaltiges an, als stammten sie von einem Geschlecht von Riesen. Das phantastische Kind hätte sich vor ihnen gefürchtet, wenn ihr Vater, der hellhaarige Hüne, davon nicht stets mit einem sonnigen Glanz in seinen genzianenblauen, melancholischen Augen gesprochen.

Was in Priscas Blick in leidenschaftlicher Sehnsucht nach Schönheit und Sonne aufgeleuchtet hatte, als sie vorhin die öde Feldherrnhalle betrachtet, war Seele von ihres Vaters Seele gewesen.

Dieser heißgeliebte, frühverstorbene Vater hatte es in seinem kurzen Leben, das von Anfang bis Ende einem regnerischen deutschen Herbsttag geglichen, trotz aller ehrlichen Mühe niemals weit gebracht. Dabei sah der Mann wie ein junger Siegfried aus, voller Saft und Kraft. Aber in diesem gesunden Körper wohnte eine kranke Seele mit fiebernder Phantasie, die mit dem wirklichen Leben nichts anzufangen wußte, die sich eine eigne, wirre Welt gestaltete und sich darin in exotischen Fieberträumen verlor.

Wäre der gute Joseph Auzinger gewesen, was vor ihm so viele Auzinger waren: tüchtige Leute mit nüchternem Handwerk, so wäre es ihm schwerlich so schlecht ergangen. Aber dieser eine Auzinger sollte durchaus etwas Besonderes, etwas Besseres und Höheres werden.

Alte Freunde des elterlichen Hauses, wohlmeinende, ehrliche und getreue Menschen, hatten in dem nachdenklichen und absonderlichen Buben einen genialen Künstler entdecken wollen. So wurde denn der junge Künstler – Maler! Und nebenher wurde er ein verträumter, unglücklicher Mensch, der Großes vollbringen wollte und der nicht einmal Kleines vollbrachte. In der Tat gar nichts.

Niemals machte er ein Bild fertig. Er brachte keinen Entwurf über eine allererste mysteriöse Skizze hinaus, die nur dem Künstler selbst verständlich war. Übrigens bekam sie nie ein fremdes Auge zu sehen. Er versteckte sein bekritzeltes Papier und seine verschmierte Leinwand wie der ärgste Geizhals seine heimlichen Schätze.

Dabei lebte in seiner Seele ein Gewimmel von herrlichen Gestalten, lauter nacktes, lustiges Heidengesindel und olympisches Göttervolk. Alle diese schönen, unirdischen Geschöpfe bewegten sich in einer idealen Landschaft voll bacchischer Üppigkeit, unter einem strahlenden Himmel, in goldigen Lüften mit der unbändigen Lebenslust der alten Niederländer und zugleich in Tizianischer Farbenglut.

Aber sie wollten aus der Seele des Künstlers nicht heraus! Es war, als scheuten sie das nüchterne Tageslicht und eine unbarmherzige graue Wirklichkeit, die für solch glückselige Existenzen keinen Raum hatte.

So behielt er denn – in seiner Art auch ein Prometheus – seine selbstgeschaffene Welt im tiefsten Busen verschlossen. Leider war aber auch die andre Welt da, jene wirkliche, auf welcher der Mensch die Erfüllung allerlei Bedürfnisse nötig hat, um auf ihr weiterexistieren zu können, was freilich bisweilen ein etwas teuer erkauftes und zweifelhaftes Vergnügen sein mag. Der arme närrische Auzinger fristete sich dieses kostbare Dasein mühselig genug durch eifriges Zeichnen von Karikaturen für Witzblätter zweiten und dritten Ranges.

Sie waren herzlich schlecht, ohne jeden künstlerischen Wert; aber sie träuften von Gift und Galle. Darum wurden sie viel begehrt und – erbärmlich bezahlt. All sein beißender Spott und ätzender Hohn trugen ihm gerade nur so viel zum Beißen ein, als er notwendig brauchte, um die schöne Beschäftigung des Atemholens fortsetzen zu können.

Niemand entgeht seinem Schicksal; also entging auch der gute Auzinger dem seinen nicht. Und dieses Schicksal war es, das ihn schließlich noch in sehr jungen Jahren in sein Verderben führte.

Dieser Märtyrer seiner Phantasie in Gestalt eines alten Germanenhelden verliebte sich wahnsinnig. Die Betreffende war noch dazu ein italienisches Modell, ein halbwildes, blutjunges, prachtvolles Geschöpf aus einem Felsennest im Albanergebirge.

In einer grimmig kalten Winternacht begab sich Joseph Auzinger aus einer kleinen italienischen Bottega, wo er sich dann und wann ein festliches Glas gönnte, nach seiner entlegenen Vorstadtwohnung zurück. Nach gut Münchner Biedermannssitte war die junge Großstadt vom Glockenschlag neun an wie ausgestorben. Joseph Auzinger hätte die an seinem Wege kauernde Gestalt – sie drängte sich, wie Wärme und Schutz suchend, dicht an eine Hausmauer – wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn er nicht neben sich ein leises Wimmern vernommen hätte.

Er blieb stehen, sah das weinende Wesen, von dem er nicht gleich wußte, ob es ein Kind oder ein Weib sei, redete es an, erhielt jedoch keine Antwort. Aber das winselnde Klagen hörte sofort auf.

Jetzt beugte sich der Künstler herab und erkannte, daß der Kopf des verlassenen Geschöpfes tief auf die Brust gesunken war und die Arme schlaff herabhingen. Wenn er nicht soeben das leise Wimmern gehört, so hätte er glauben können, daß die Gestalt tot wäre – erfroren.

Er faßte das stille Frauenwesen bei der Schulter und schüttelte es. Da hob es den Kopf. Joseph Auzinger erkannte undeutlich ein kindlich junges, totbleiches, wunderschönes Antlitz, aus dem große, finstere Augen ihn anstarrten, als wäre er eine Erscheinung.

»Was tust du hier?«

Es erfolgte keine Antwort.

Jetzt sah er auch, daß das Mädchen, es war wirklich ein halbes Kind, eine Italienerin sein mußte. Sie trug das typische Kostüm, darin die Modelle nach München zu kommen pflegen.

Eine Italienerin! So jung! Ganz verlassen! Und erfrierend auf der Straße. Dabei so schön! So ganz seltsam fremdartig, geheimnisvoll schön!

Mit vieler Mühe gelang es ihm, durch seine wenigen Worte Italienisch, das er als Knabe kurze Zeit getrieben, um dadurch dem Lande seiner Sehnsucht näher zu kommen, das arme Kind zum Reden zu bringen und es einigermaßen zu verstehen.

»Du bist Modell?«

»Ja.«

»Aus Rom?«

»Aus Rocca di Papa.«

»Bist du schon lange in München?«

»Gestern angekommen.«

»Ganz allein?«

»O Madonna!«

»Deine Eltern ließen dich ganz allein fort?«

»O Madonna!«

»So sprich doch. Leben deine Eltern nicht mehr?«

»Tot ... beide.«

»Mit wem kamst du nach Deutschland?«

»Mit wem soll ich gekommen sein?«

»Das eben frage ich dich.«

»Mit meinem Vater.«

»Ich denke, dein Vater ist auch tot?«

»Seit drei Tagen. O Madonna!«

»Wo starb dein Vater?«

»Irgendwo.«

»Nicht in dieser Stadt?«

»Irgendwo.«

»Ja, und du?«

»Ich lief fort.«

»Von deinem toten Vater? Du bekümmertest dich gar nicht, wie er begraben wurde?«

»Wenn ich doch kein Geld hatte!«

»Dann hast du wohl großen Hunger?«

»Ja, ja! Hunger!«

»Armes Kind! Armes, verlassenes Kind ... Wie heißest du denn?«

»Maria.«

»Arme, kleine Marietta! Du hast Hunger! In der kalten Nacht mutterseelenallein ... Wie alt bist du?«

»Sechzehn Jahr.«

»Arme, kleine Maria ... Und was willst du hier anfangen, so mutterseelenallein?«

»Weiß nicht.«

Er hatte sie aufgerichtet und war mit ihr weitergegangen. Aber sie war zu Tode erschöpft und konnte nicht mehr. Sie fiel einfach hin.

Da nicht daran zu denken war, zu dieser Stunde in München einen Wagen zu finden, nahm er sie wie ein kleines Kind auf die Arme und trug sie fort. Sie lag ganz still und war nach wenigen Augenblicken bereits fest eingeschlafen.

Joseph Auzinger war zumute, als hielte er die Erfüllung seines Lebens an seinem pochenden Herzen.

*

In der nämlichen Stunde brachte er seinen römischen Fund bei seiner Wirtin unter, einer Münchnerin von altem Schlag, der alles Absonderliche und Fremdartige gegen die Natur war, die dabei aber Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Ihr gescheiter Kopf hieß ihrem Herzen, sich wider den welschen Findling nachdrücklich aufzulehnen; ihr gutes Herz herrschte ihrem Kopf zu, sich zu schämen – einstweilen wenigstens. Fürs erste mußte der Bewußtlosen schleunigst ein Lebenselixier eingeflößt werden. Dieses bestand für Frau Babette Huber in einem braunen, schäumenden Saft, welchen sie jeden Abend in einer dickbauchigen Kanne »frisch angezapft« holen ließ und der Augustinerbräu genannt wurde. Das Augustinerbräu besaß für Frau Babette die wunderbare Wirkung, sich gegen jedes Erdenleid heilsam zu erweisen.

Auch bei dem Findling zeigte der Trank seine Zauberkraft; denn gleich nach dem ersten, mühsam eingeflößten Schluck folgte eine leidenschaftliche Lebensregung der jungen Fremden, die sich vorerst freilich nur darin äußerte, daß sie sich heftig sträubte, die bittere »Medicina« noch weiter einzunehmen. Übrigens verfiel sie sofort wieder in Schlaf.

Am andern Tag erklärte die weise Frau Babette Huber ihrem Mieter mit düsterem Pathos, daß er sich sein Unglück auf den Hals geladen hätte. Welsch wäre welsch! Und dieses Stück Welschland überdies viel zu bildsauber, als daß solch ein Halbnarr, wie der Herr Joseph Auzinger nun einmal einer sei, sich nicht mir nichts dir nichts in das gelbe Gesicht und die kohlschwarzen Augen vergaffen sollte. Das vortreffliche Herz entschied jedoch in einem Atem mit dem Haupt: sie, Babette Huber, würde nie und nimmer dulden, daß der braune Fratz von irgendeinem Mannsbild der Welt auch nur angerührt werde.

Für das letztere hätte übrigens Marietta schon selbst Sorge getragen. Sie war scheu wie eine wilde Katze und dabei von so herber und trotziger Art, daß es sogar einem erfahrenen Frauenjäger schwer gefallen wäre, an dieses seltene Wild nur heranzukommen, geschweige denn es zu erbeuten. Vollends für Joseph Auzinger, der mit seinen gelben Haaren und blauen Augen zum Don Juan ebenso kläglich wenig Talent besaß wie zum Bankdirektor, war die sechzehnjährige Römerin ein Sanktuarium, nach dem nur ein Frevler und Heiligenschänder eine ruchlose Hand ausstrecken konnte. Da er jedoch mit jedem Tage mehr vor brennender Verliebtheit aus einem Halbnarren zu einem ganzen Narren wurde, blieb ihm nichts andres übrig, als die sechzehnjährige Marietta von Rocca di Papa zu Frau Joseph Auzinger zu machen und zwar so rasch als möglich. Das heißt, so bald als alle nötigen Papiere herbeigeschafft waren, die Staat und Kirche bösartigerweise von jungen verliebten Leuten verlangen.

Was der gute Joseph Auzinger an Onkeln und Tanten, Vettern und Basen nur irgend besah, erhob ein lautes Zetergeschrei gegen die Zumutung, das braune welsche Gewächs als jungen grünen Ast ihrem soliden deutschen Stammbaum aufzupfropfen; sie nannten die Heirat eine himmelschreiende Undankbarkeit gegen sämtliche Auzinger, die jemals gelebt hatten, und bedrohten den Übeltäter mit Ausstoßung und Fluch, wenn er das römische Subjekt nicht sogleich wieder laufen ließe.

Joseph Auzinger besaß die Stirn, sich an niemand von seiner ganzen lieben Sippe auch nur im mindesten zu kehren. Die Verstoßung in aller Form erfolgte, zugleich aber auch die Heirat, gleichfalls in aller Form, in der staatlich gebotenen sowohl wie in der kirchlich üblichen.

Während alle diese interessanten Dinge vor sich gingen, befand sich das würdige Haupt der Frau Babette Huber in beständigem heftigem Streit mit ihrem nicht minder respektabeln Herzen. Je mehr das Haupt der verständigen Sippe der Auzinger recht gab, um so kläglicher und sentimentaler gebürdete sich das Herz. Schließlich gelangten die beiden großen Mächte zu folgendem Kompromiß: das gefühlvolle Herz sorgte für einen christlichen Hochzeitskranz, zugleich aber auch für einen saftigen Hochzeitsbraten – es war gerade die Zeit der ersten zarten jungen Hühner – und das praktische Haupt kündigte dem jungen Paare drei Tage nach gemeinsamer Verspeisung der Backhähndeln die Wohnung; denn das Elend, welches aus der Geschichte noch einmal entstehen würde, wollte Babette Huber nicht mitansehen; und von der Herde kleiner brauner Mariettas und Seppels, die gewiß in welscher Sprache schreiend auf die Welt kamen, wollte sie auch nichts wissen.

So nahm denn der gute Joseph Auzinger sein schönes Schicksal bei der Hand, verließ traurig das vortreffliche Herz der Frau Babette und zog in eine andre Vorstadtwohnung, die noch entlegener, dafür aber noch billiger war.

Frau Babette Hubers gutes Herz weinte dem allerliebsten Pärlein eine Träne nach, deren Wehmut durch ein triumphierendes Schütteln des weisen Hauptes bedeutend gemildert wurde. Dann wanderte das dickbäuchige Krüglein zum Augustinerbräu, und dieses Allheilmittel half das weiche Herz völlig beschwichtigen.

In ihrem ganzen langen, christlichen Leben hat sich Frau Babette Huber nie wieder um die beiden gekümmert.

*

In den Kreisen, in denen Joseph Auzinger oberflächlich bekannt war, wunderte man sich nicht sonderlich über diese bizarre Tat des Karikaturenzeichners. Einige lachten ihn einfach aus, andre beneideten ihn heimlich – nicht um die angetraute Frau, sondern um das schöne Weib, und wiederum andre sagten ihm ins Gesicht hinein: er wolle sich fortan selbst zu einer Karikatur machen.

Joseph Auzinger ließ sich auslachen und verspotten, zog sich nunmehr gänzlich von jedem Verkehr zurück und lebte ausschließlich für seine junge Albanerin, die ihm alle die Pracht und Schönheit verkörperte, nach der er sich Zeit seines Lebens verzehrend gesehnt und mit deren leuchtenden Bildern er die Seele angefüllt hatte. Jetzt besaß er leibhaftig ein solches Urbild und zwar für Zeit seines Lebens.

In der kahlen Dachkammer eines entlegenen Hinterhauses, weit draußen in jener entlegenen Vorstadt, gab es eine wunderliche Häuslichkeit. Die junge Frau sprach keine deutsche Silbe, der junge Gatte ein paar Dutzend italienische Worte. Sie verständigten sich am leichtesten durch Gebärden, Zeichen, Blicke. In der Wirtschaft konnte die Fremde nur wenig tun. Auch hatte sie dazu nicht die mindeste Lust. Sie hatte zu ganz anderm Lust. Zum Beispiel: möglichst lange im Bett liegen zu bleiben, möglichst lange halb angekleidet herumzulungern, sich dann möglichst bunt herauszuputzen, am liebsten als »Signora«. Da sie das nicht konnte, trug sie ihr heimisches Kostüm wenigstens mit allerlei fremden Zutaten von bunter Seide, grellfarbigem Bandwerk und anderm schimmernden Tand. Später am Tage wollte sie ihre »Minestra« verspeisen, und nach diesem Genuß verlangte sie von ihrem »Giusé« spazieren geführt zu werden.

Der gute Auzinger führte sie also spazieren. Er wollte die einsamsten Wege weit draußen hinter der Vorstadt gehen, sie die belebtesten Straßen im Innern der Stadt.

Er ging also mit ihr in die Kaufingerstraße und weiter, bis in die vornehme Maximilianstraße.

Wie die beiden angegafft wurden!

Bei seiner Menschenscheu wagte er gar nicht aufzublicken, während sie ihre finsteren, mächtigen Augen leuchten und lodern ließ.

Einmal wurde sie von einem Fremden angesprochen, im reinsten Italienisch.

Sie antwortete sogleich in ihrem Albanerdialekt, wollte ganz vergnüglich einen kleinen Diskurs beginnen; aber ihr Mann riß sie hinweg.

Nun sollte sie nicht mehr spazierengehen, sollte sie überhaupt nicht mehr aus dem Hause! Was für die Wirtschaft notwendig war, hatte bis dahin fast alles der Mann besorgt. Fortan besorgte er es ausschließlich.

Um sich nicht zu Tode zu langweilen, wollte sie wieder Modell stehen. Aber da kam sie bei ihrem Giusé schön an.

Es gab Zank, Streit und immer wieder Zank und Streit, mit leidenschaftlichen Gebärden, wütenden Blicken, kreischenden Worten ihrerseits geführt; von seiner Seite gewöhnlich nur unterstützt mit einem Zucken seiner mächtigen und doch so kraftlosen Hände.

Also gut! Sie sollte wieder Modell stehen! Aber nur ihrem Manne!

Er stellte auch wirklich eine längst verstaubte Staffelei in Bereitschaft, spannte eine mächtige Leinwand auf, die erst vom Schmutze gereinigt werden mußte, kramte aus Winkeln und Ecken Farben und Palette hervor.

Nun putzte er sein Modell heraus; jetzt so, dann wiederum so. Bald löste er ihr wundervolles blauschwarzes Haar, hüllte sie ganz darin ein; bald mußte es wieder eingeflochten werden, und er knotete es eigenhändig in dem herrlichen Nacken zusammen.

Er gab ihr diese und jene Pose. Aber sie war in einer jeden so schön, daß er nicht wußte, welche er wählen sollte.

Endlich kam er so weit, daß die Arbeit angefangen werden konnte.

Jeden Morgen begann er mit dem Herausputzen seines wunderbaren Modells, stellte es, wollte malen, die Leinwand füllen; aber – es ging nicht!

Er quälte sich bis zur Verzweiflung, bis zur völligen Ermattung, bis zum halben Wahnsinn.

Aber – es ging nicht!

Dabei füllte sich seine Seele mit einem ganzen Maria-Zyklus: Bild auf Bild drängte herbei! Und jedes Bild, jede Gestalt war ein Kunstwerk, ein Meisterwerk – in der Phantasie.

Aber auf die Leinwand brachte er nichts, gar nichts!

Sank er erschöpft in sich zusammen, so sprang sie auf, ergriff das Tamburin, warf die Arme über das Haupt und tanzte wild und toll den Saltarello.

Oder sie stürzte wie ein Raubtier auf ihn zu und biß ihn in die weichen roten Lippen.

So lebten die beiden ...

Um jedoch überhaupt leben zu können, mußte schließlich etwas getan, etwas gearbeitet werden, wenn die Albanerin auch mit ihrer ewigen Minestra, ihrem bescheidenen Salat und dem trockenen Brot vollständig zufrieden war und er, der junge Riese, sich beinahe ausschließlich mit letzterem begnügte.

Also mußte er zeichnen und zeichnen, Karikatur auf Karikatur, eine ganze Galerie von Zerrbildern, die seine wunderschöne Frau viel zu häßlich fand, um darüber lachen zu können.

Denn sie wußte genau, was schön war, erkannte klar die Unfähigkeit ihres Mannes.

Sie fing an, ihn zu verachten ...

Jetzt ward es still in den öden Kammern. Die junge Frau ging fast keinen Schritt mehr aus dem Hause, lauerte den ganzen Tag in einem Winkel, gebärdete sich nicht mehr wie eine Rasende; aber sie putzte sich auch nicht mehr, wollte nicht mehr Modell stehen, spielte nicht mehr das Tamburin, tanzte nicht mehr den Saltarello, küßte ihren schönen Giusé nicht mehr.

Dieser verzehrte sich in Liebe, Leidenschaft, Eifersucht. Er bewachte sie Tag und Nacht; er wurde hohläugig, fiebernd, krank.

Dann wurde ein Kind geboren, ein Mädchen. Der junge Vater war selig, und die Mutter – die Mutter war eines schönen Tages, kaum vierzehn Tage nach der Geburt ihres Kindes, spurlos verschwunden.

Joseph Auzinger lief von dem Kinde fort. Er suchte die Mutter. Einen ganzen Tag, eine ganze Nacht suchte er sie. Er lief zu Bekannten, die ihn längst nicht mehr kannten; er lief in die Ateliers von Wildfremden, die ihm die Tür wiesen; er lief zu allen italienischen Modellen Münchens, denen er sich oft nicht einmal verständlich machen konnte.

Er fand nichts, gar nichts!

Er kam nach Hause .... Da erst fiel ihm das Kind ein – ihr Kind! Es war, während der Vater nach der unnatürlichen Mutter suchte, sicher gestorben. Es mußte umgekommen sein. Er hatte es getötet!

Er stürzte die steilen Treppen hinauf .... Da hörte er kräftiges Kindergeschrei, das ihm wie Engelsgesang erklang.

Ihr Kind lebte!

Eine wildfremde Frau hatte inzwischen an seinem verwaisten Kinde aus Barmherzigkeit Mutterstelle vertreten.

Nun suchte er nicht mehr nach der Verlorenen; keinen Schritt tat er mehr um ihretwillen aus dem Hause. Er mußte bei dem Kinde bleiben, mußte für das Verlassene sorgen.

Wunderbar, wie schnell und gut er das lernte. Es war die einzige Kunst, die der junge Mann mit dem hellen Haar und der düsteren Seele jemals ausüben konnte. Hier vollbrachte er das große Werk, welches ihm sonst nur glanzvoll vorschwebte, hier erwies sich der Dilettant als Meister.

Wenn er die kleine Prisca nicht wartete, kauerte er vor dem Bette, darin das Püppchen eingebündelt lag, starrte dem winzigen Ding ins Gesichtchen und spähte angstvoll nach einer Ähnlichkeit mit der unnatürlichen Mutter.

Aber er fand keine Ähnlichkeit! Außer in den Augen nicht die geringste.

Fortan grübelte der Vater stundenlang darüber, ob es für seine Tochter nicht besser gewesen wäre, überhaupt nicht geboren zu werden.

Wie gerade die vollsaftigsten und massivsten Naturen oft durch eine Kinderkrankheit zugrunde gerichtet werden, so erging es schließlich auch Joseph Auzinger. Er erholte sich nicht mehr von dem Schlage, der sein Gemüt getroffen hatte.

Sein Leben wurde zu einem völligen Siechtum.

Er fuhr fort, sich die Seele mit leuchtenden Gestalten zu füllen und dabei seine Karikaturen zu zeichnen, sein Kind mit der Sorgfalt einer treuen Wärterin aufzupäppeln und dabei in die Augen der Kleinen zu schauen. Aber ein verlorener Mensch war und blieb er.

Allmählich nahm er die Gewohnheit an, häufig vor sich hinzusprechen: mit einer leisen, melancholischen Stimme, auf die das Kind lauschte wie auf Wiegengesang. Er redete zu sich selbst von den göttlichen Gestalten, die er in sich trug, von seiner leidenschaftlichen Sehnsucht nach einem fernen Lande voller Schönheit und Glanz, das er wie eine Vision erblickte und doch niemals in Wirklichkeit betreten hatte.

Diese Selbstgespräche des Gemütskranken waren die Märchen, die Priscas Phantasie erfüllten und von der Erde hinwegführten. Sie kam selten ins Freie, kannte keine Kinderspiele, kein Kinderglück; aber sie verkümmerte darum doch nicht. Es war, als hätte sie von ihres Vaters Voreltern die groben Fäuste und die unverwüstliche germanische Natur ererbt. Ihr helles Gesicht und helles Haar erglänzten wie Sonnenschein in der dunkeln Wohnung; ihre frische, fröhliche Stimme füllte die öden Räume mit Leben und Klang.

Von ihren Fenstern aus ließ sich nur ein kleines Stück Himmel erspähen. Diesen einmal »ganz« zu sehen, war Priscas sehnsüchtigster Wunsch.

Einmal hatte Joseph Auzinger einen guten Tag. Obgleich es weder Sonntag noch Feiertag war, durfte Prisca ihr bestes Kleidchen anziehen und ihren Vater hinausbegleiten. Sie gingen durch die Arkaden des Hofgartens, und dem Kinde wurden zum erstenmal die »Rottmann« gezeigt. Höchlich verwundert schaute die Kleine auf; die Rottmann waren gar keine schrecklichen Riesenmenschen, wie sie sich stets vorgestellt hatte, sondern hübsche, bunte Bilder auf leuchtenden Wänden. Am besten gefiel ihr das tiefdunkle Blau, womit Himmel und Erde von dem genialen Künstler reichlich bedacht worden waren.

Auzingers Seele verweilte indessen in den Ruinen des griechischen Theaters von Taormina, an den Zaubergestaden des Golfes von Neapel, auf dem Gipfel des Berges Cavo bei Rom. Von dort aus konnte man die schöne Heimat des jungen Weibes sehen, welches ihm das Herz gebrochen hatte.

»Dahin, dahin, laß uns, o Tochter, ziehn!«

»Dahin« zog der gute Auzinger nun freilich nicht. Zu solcher Fahrt reichte der Ertrag der Karikaturen nicht aus; obgleich sie ihm jetzt besser bezahlt wurden, weil sie, je mehr sein Gemüt sich verdüsterte, um so galliger und giftiger wurden. Aber sie trugen wenigstens genug ein, um Prisca eine gute Erziehung geben zu lassen.

Unter ihren Mitschülerinnen blieb sie ziemlich unbemerkt. Auch die Lehrer kümmerten sich wenig um das unscheinbare, hagere und eckige Geschöpf. Sie erwies sich als aufmerksam und fleißig, als frühzeitig selbständig und praktisch. Sie versprach recht »tüchtig« zu werden, vielleicht einmal eine gute Lehrerin.

So wurde sie vierzehn Jahre, als für sie und noch mehr für ihren Vater ein bedeutsames Ereignis eintrat.

Der große tannene Tisch stand dicht an das Fenster gerückt, damit das Tageslicht möglichst hell darauf fiel. Vater und Tochter saßen sich daran gegenüber. Joseph Auzinger kritzelte seine ewigen, trostlosen Fratzen; aber auch Prisca hatte heute, statt ihre Schulaufgaben zu machen, ein Blatt vor sich, darauf sie mit heißem Gesicht und heiligem Eifer allerlei zeichnete.

Als Auzinger auf die ungewöhnliche Beschäftigung seiner Kleinen aufmerksam wurde, durchfuhr ihn heißer Schreck: ›Herrgott, sie zeichnet gewiß Karikaturen! Was sollte sie als deine Tochter andres zeichnen?‹ Er mußte sich zuvor ein Herz fassen, ehe er sich getraute, genau hinzuschauen, aus Furcht, es könnten ihm seine eignen Grimassen entgegengrinsen.

Wie aber wurde ihm zumute, als er auf dem Blatt in naivster Weise, aber doch mit starkem Talent gezeichnet, die Umrisse einer Landschaft gewahrte, die entschieden Ähnlichkeit mit seinen idealen Phantasiegebilden besaß. Er riß seine Tochter an sich, küßte sie leidenschaftlich und empfand die erste reine Freude seines Lebens.

Nun raffte er sich auf, um selbst Prisca zu unterrichten. Zuerst sollte es nur im Zeichnen sein, später im Malen – im Komponieren!

Wenn dereinst seine, des armen Joseph Auzingers, Tochter in Linien und Gestalten, in glühenden Farben dasjenige würde aussprechen können, was seine ganze Seele erfüllte – wenn die Welt einstmals in dem Talent der Tochter den Genius des Vaters erkennen würde ...

Die schwere, verantwortungsvolle Arbeit begann. Joseph Auzinger lehrte und lehrte; und Prisca wollte für ihr Leben gern lernen und lernen. Aber – es ging nicht. Er konnte zu wenig, mißtraute auch dem Wenigen zu sehr. Sie entwickelte zwar ein erstaunliches Talent zu erraten, abzulauschen, zu ergänzen, ihren Weg mühselig durch die väterlichen Irrpfade hindurch zu suchen, aber – es ging eben doch nicht!

Schließlich wußte sie nicht mehr aus noch ein.

Auzinger mußte den Unterricht aufgeben.

Er sammelte seine letzten Kräfte und überwand scheinbar seine grenzenlose Enttäuschung, Scham und Selbstverachtung – scheinbar! Prisca tröstete, stützte, richtete auf. Sie, das Kind, verband die starke Liebe einer Mutter mit der zarten Sorge eines Weibes, ohne den gebrochenen Geist gewahr werden zu lassen, daß sie trösten, stützen und aufrichten mußte. Sie verstand es sogar, ihm die Einbildung zu geben, er wäre der Starke und Stützende. Je trüber Joseph Auzingers Seele sich umflorte, um so heller leuchtete ihr unhübsches Gesicht, um so frischer tönte ihre kindliche Stimme.

Jetzt suchte Prisca selbst nach einem Lehrer für sich. Sie gab nicht nach, bis sie einen solchen gefunden hatte, und machte dabei ihren Vater glauben, er selbst hätte seine Tochter so vortrefflich versorgt.

Es begannen für das Mädchen schwere Lernjahre, in denen sie ihr Talent und zugleich ihren Charakter erproben konnte. Sie arbeitete rastlos, mit eisernem Fleiß und niemals versagender innerlicher Kraft. Bereits konnte sie die Zeit voraussehen, wo sie durch ihre Kunst würde verdienen können. Es würde freilich noch Jahre dauern. Aber das machte nichts. Wenn nur ihr Vater so lange aushielt. Auch dafür hatte sie zu sorgen: Tag für Tag, jahrelang. Und auch das vollbrachte sie.

Jeden Feiertag führte sie ihren Vater spazieren: zu den Rottmann unter den Arkaden des Hofgartens! So wurden diese leuchtenden Bilder aus einer andern schönen Welt ihre treuen Gefährten, ihre guten Freunde.

Was alles der gute Joseph Auzinger seiner Tochter angesichts der Rottmann vorschwärmte, was die kleine Prisca dabei dachte und empfand ...

Dann kam ein glückseliger Tag: das erste kleine Bild wurde verkauft.

Als Prisca diese Nachricht erhielt, dachte sie nur an ihren Vater. Sie stürzte vor ihm nieder, umfing ihn, weinte und lachte; sie stammelte: »Vater, lieber Vater! Jetzt brauchst du nicht mehr Karikaturen zu zeichnen.«

Nein, keine Karikaturen mehr! Damit war es für Joseph Auzinger aus und vorbei. In Ewigkeit keine Karikaturen mehr! Denn die Karikatur dieses Künstlerlebens verlöschte die barmherzige Hand des Todes, leise und lind wie mit mütterlichem Erbarmen. Als Prisca in das stille Antlitz blickte, war es ein solch feierliches und herrliches Menschenbildnis, daß die Tochter erkannte: hier war ein wahrer Künstler dahingegangen, ein – großer Künstler!

Von der Gruft zurückkehrend, besuchte sie ihre lieben Rottmann. Und oft kam sie wieder.

Denn der Weg von diesen bis zu einem beachteten Platz in der Kunstausstellung unter den nämlichen Säulenhallen war auch für das rastlos arbeitende und in allen Lebensnöten ausdauernde Talent von Joseph Auzingers Tochter ein gar weiter und mühseliger. Prisca ging ihn Schritt für Schritt, ohne Pausen und Ruhepunkte, oft in tiefer Ermüdung, die jedoch niemals völlige Ermattung ward, und vorderhand noch ohne jede begründete Hoffnung auf das Erreichen eines heiß ersehnten fernen Zieles, oder auf den Ausblick nach einem lockenden, leuchtenden Horizont. Manche Wegstelle auf ihrer weiten, einsamen Straße war eine Station, deren heimliche Leiden nur derjenige kennt, der selber solchen Weg geschritten ist: dahin auf mühevollen Künstlerbahnen, durch eine Welt, so grau und dunkel, daß alles Licht auf Erden erloschen scheint; durch ein Leben, so rauh und häßlich, daß darin die Schönheit, die Güte und das Glück zu einer frommen Sage geworden. Denn nicht mit Rosen wird die Stirn des Künstlers bekränzt, sondern mit Dornen, die der Seele blutige Wunden reißen.

Das schönste Erbteil, welches Joseph Auzinger seinem verwaisten Kind hinterließ, sollte Prisca erst viele Jahre nach dem Tod des armen Künstlers mit dem verfehlten Leben verstehen und würdigen lernen. Es war dies eine fanatische Liebe, eine glühende Verehrung für ihre – tote Mutter.

Prisca wußte es nicht anders, als daß ihre Mutter in einem Alter von siebzehn Jahren gestorben sei, kurze Zeit, nachdem sie ihrer Tochter das Leben gegeben; und zwar gestorben an unüberwindlicher Sehnsucht nach ihrer fernen, schönen Heimat, gestorben an Heimweh nach dem blauen Himmel Italiens.

Welcher Schmerz mußte dazu gehören, um ein Herz vor Sehnsucht brechen zu machen, wie mußte ein solches Herz sein Heimatland lieben!

Als wäre sie eine Gestalt aus einer Sage, so hatte Joseph Auzinger dem Kind von seiner Mutter erzählt: von seiner jungen, wunderschönen Mutter, die wie eine exotische, farbenprächtige Blume kurze Zeit unter dem deutschen Himmel geblüht hatte und dann aus Mangel an Sonne verwelkt war.

Aus Rom war dieses fremdartige Menschenkind zu Joseph Auzinger gekommen, Maria ihr Name gewesen ... Alles dieses hatte Prisca über ihre Mutter aus dem Mund ihres Vaters erfahren. Nichts andres, kein einziges andres Wort.

Daß sie aus keinem fremden, keinem mitleidlosen Munde etwas über ihre Mutter erfahren könnte, war bis zu seinem letzten Atemzug Joseph Auzingers heimliche Sorge gewesen. Schon als Prisca noch ein ganz kleines Kind war, hatte er jene wenigen Personen aufgesucht, die von der schönen Maria von Rocca di Papa etwas wußten; das heißt, die wußten, daß sie den närrischen Joseph Auzinger geheiratet und ihn bereits nach einem kurzen Jahr verlassen hatte. Einem jeden hatte er einzeln mitgeteilt, daß für sein Kind die Mutter gestorben sein müsse; einen jeden hatte er inständig gebeten, ihm bei dieser frommen Lüge zu helfen, wenn das jemals notwendig sein sollte. Seine traurige Stimme hatte dabei einen Ton, seine melancholischen Augen hatten einen Blick gehabt, daß jeder es ihm gelobte, denn sie alle dauerte der arme Karikaturenzeichner.

So war es denn Joseph Auzinger gelungen, seiner Tochter die Gestalt ihrer Mutter rein von jedem Flecken zu erhalten, so daß Marias schönes Bildnis durch Priscas ganzes Leben als das einer Verklärten erglänzte.

Marias schönes Bildnis ...

Alles, was Joseph Auzinger nach diesem wunderbaren Antlitz in flüchtigen Umrissen gezeichnet oder gemalt hatte, war von ihm selbst nach der Flucht seines Weibes vernichtet worden.

Auch das hatte er für seine Tochter getan, und auch das sollte von dieser erst nach langen Jahren als höchste Liebestat erkannt werden.

3. Prisca faßt einen Entschluß

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Langsam und gedankenvoll schritt Prisca heute durch die Arkaden und nickte ihren alten Freunden an den Wänden zu; heute mit ganz besonders zärtlicher Liebe, mit einem ungewöhnlich starken Gefühl geistigen Eigentumsrechtes.

Denn seitdem sie am Zentralbahnhof Kasse fünf, Richtung Rosenheim-Kufstein, aus des Beamten eignem Munde erfahren hatte, daß ein Billett von München nach Rom nur sechsundfünfzig Mark kostete – dritter Klasse natürlich! –, fühlte sie sich bei sämtlichen Rottmann, von dem idyllischen Trento angefangen, bis tief hinunter zu den zerstörten Tempeln von Selinunt, bereits vollkommen zu Hause, gewissermaßen an diesen sämtlichen klassischen Stätten bereits wohnlich eingerichtet. Sie konnte gar nicht begreifen, daß München so bevölkert war, daß ganze Scharen von Künstlern hier lebten, wenn doch ein Billett von München nach Rom nur sechsundfünfzig Mark kostete!

Und daß sie selbst immer noch da war!

Weshalb hatte sie seit drei vollen Jahren durch halbe Nächte Geburtstags- und Neujahrswünsche gemalt, Tisch- und Tanzkarten entworfen und für Haarwasser und Zahnbürsten bunte Riesenplakate verfertigt? Denn wer sich erst das Brot verdienen muß, damit seine Kunst überhaupt erst nach Brot gehen kann, der darf sich nicht stolz in die Brust werfen: » Anch' io son' pittore!« Oder vielmehr: er darf es tun, wenn er nebenher das ehrliche Kunsthandwerk nicht verschmäht.

Prisca übte es, wie gesagt, halbe Nächte hindurch, um dafür am Tage mit ruhigem Gewissen vor ihrer Staffelei sitzen zu können. Hätten Leinwand und Farben nur nicht die unangenehme Eigenschaft gehabt, Geld zu kosten, von den Rahmen gar nicht zu reden! Noch dazu von den modernen Rahmen, die möglichst originell sein sollten, damit wenigstens sie die Blicke auf sich zogen. Und wenn Prisca auch die unmodernsten für ihre Bilder auswählte, so waren diese glitzernden Goldleisten immerhin noch teuer genug. Und dann die Pension bei dem guten Glöcklein! Sie war eigentlich winzig; und jedesmal, wenn Prisca mit ihrer kleinen Wirtin sich zu Tisch setzte, schämte sie sich der zwerghaften Summe und ihres Riesenappetits. Sie wollte mit Gewalt mehr zahlen, um mit einer würdigeren Empfindung mehr essen zu können. Aber das Glöcklein hub jedesmal, so oft die Sache zur Sprache kam, ein wahres Höllengebimmel an, so daß die Pensionärin schließlich Nein beigeben mußte.

Jeden Tag nahm die gute Prisca sich vor, nicht gar so »gräßlich« viel zu essen. Ihr gesunder Hunger ließ sie jedoch täglich von neuem die Entdeckung machen, daß sie zur Aszetin und Säulenheiligen nicht das mindeste Talent besaß. Also aß sie, und es schmeckte ihr prächtig. Und wenn sie einmal über ihren vorzüglichen, zweiundzwanzigjährigen Appetit allzu heftige Gewissensbisse empfand und sich kasteien wollte, so begann das Glöcklein umgehend mit seinem silberhellen Stimmchen so jammervoll zu lamentieren, als sollte Prisca demnächst eines gewaltsamen Hungertodes verbleichen. Also aß sie!

Trotz der Ausgaben für Leinwand, Farben, Rahmen, Kleidung, Lebensunterhalt und andre Notwendigkeiten, einige bescheidene Freuden mit eingerechnet, war es Priscas unermüdlichem Fleiß gelungen, ein bescheidenes Sümmchen zusammenzusparen, davon ein Billett nach Rom, allerdings nur in der dritten Klasse, sich bestreiten ließ, und das auch noch ein kleines Weilchen weiter reichen würde. Aber die nüchterne und praktische der beiden Seelen in ihrer Brust gebot ihr streng: ›Höre, liebe Prisca, du wirst nicht eher nach Rom gehen, als bis du sichere Aufträge und feste Bestellungen erhalten hast. Früher nicht einen Schritt hinein in dein gelobtes Land, meine junge Dame! Mag deine zweite, phantastische, einfach unzurechnungsfähige Seele auch noch so verführerisch locken und winken; ich behalte die Oberhand!‹

Fräulein Priscas zweites liebes ich ließ nach solchen strengen Worten den Kopf hängen, seufzte, schmollte, wagte wohl gar heftige Widerreden, zog jedoch stets den kürzeren.

Sogar mit Hungernmüssen hatte die wirklich unangenehm nüchterne und verständige Seele gedroht. Es war wahrhaftig eine unerträglich hausbackene Seele! Prisca schämte sich beinahe, ein solch philiströses andres Selbst in ihrem Busen zu tragen. Gott sei Dank, daß Seele Nummer zwei noch da war, deren Zeit schließlich auch einmal kommen würde. Prisca vermochte sich vieles vorzustellen; aber daß der Mensch in Rom Not leiden und Not fühlen könnte, das ging für sie über alle Vorstellung. Für sie war Rom gleichbedeutend mit Glanz und Glück ohne Ende, mit Blühen und Sonnenschein ohne Aufhören. In Rom graue Tage, in Rom traurige, trostlose Wochen! In Rom von des Lebens Jammer gepackt werden! Am Tiber genau ebenso leiden, darben, krank sein, sterben, wie man an der Isar litt, darbte, krank wurde und schließlich starb – sie konnte sich das eben nicht vorstellen...

»Nein, dieser alte, närrische Kauz!«

Prisca hörte eine junge, frische Männerstimme, ein herzliches Lachen, blickte auf, um sich den »alten, närrischen Kauz« auch anzusehen, sah aber nur zwei junge, lustige Herren, die vor ihr herschlenderten und die Fresken betrachteten. Von einem alten, närrischen Kauz war weder unter den grauen Arkaden noch im nassen Hofgarten etwas zu erblicken; und es dauerte ein Weilchen, bis Prisca begriffen hatte, daß jene komische Persönlichkeit kein andrer sein sollte als ihr geliebter Rottmann.

Ihn lachten die beiden Lustigen aus.

Es waren Fremde, und es schienen Künstler zu sein, wenn sie auch in ihren übermäßig modischen Überröcken und kleinen, steifen englischen Hüten wenig danach ausschauten. Der alte, närrische Kauz machte ihnen entschieden ungeheuer viel Spaß. Sie amüsierten sich höchlich über die alte Manier, die veraltete Technik, über jeden Pinselstrich, lauter Dinge, die sich längst überlebt, die als die Mumie einer vorsintflutlichen Kunst lediglich die Berechtigung einer Museumsexistenz hatten.

Und nicht etwa, daß sie sich über den alten Rottmann ärgerten, die liebenswürdigen jungen Herren, daß sie über ihn debattierten, etwa dieses und jenes gelten ließen – nichts dergleichen! Sie machten sich einfach über ihn lustig wie über einen Spaßmacher, der abgetan ist, sobald man mit dem Lachen über ihn fertig ward.

Die gute Prisen, bald ihre lieben verspotteten Gemälde, bald die vergnügten kritisierenden Jünglinge anblickend, hörte mit einer Empfindung zu, als würde vor ihren Augen ein Heiligtum in den Schmutz geworfen. Aber dann hätte sie ja hinstürzen und das geschändete Sanktuarium aufheben können! Was sollte sie hier tun? Denn etwas mußte sie doch tun! Wer läßt in seiner Gegenwart einen lieben Freund verhöhnen?

Sollte sie mit flammendem Zorn an die Spötter herantreten und ihnen begreiflich machen, wie herrlich diese Gemälde waren? Es wäre die Stimme eines Predigers in der Wüste gewesen.

Priscas gesunder Sinn für Humor erwachte. Sie, im Regenmantel mit Gummischuhen, unter den Arkaden als Prediger in der Wüste! Aber stumm bleiben konnte sie doch auch nicht. Und obgleich es – was hätte ihre Hofdame, das Glöcklein, dazu gesagt! – durchaus unschicklich für eine junge Dame war, ging sie mir nichts dir nichts auf die beiden Lustigen zu, machte selbst ein lustiges Gesicht und redete die Fremden folgendermaßen an:

»Wie ich höre, amüsieren Sie sich über die Rottmann. Es ist recht schade, daß der alte Herr nicht mit dabei sein kann. Er hätte Sie vielleicht gefragt: ›Meine jungen Herren Künstler, Sie werden die Sache gewiß viel besser machen?‹ Nun, dem alten Rottmann kann es recht sein.«

Prisca schlug die Augen so groß auf, wie sie nur konnte, lächelte, ging weiter.

Die beiden Lustigen hielten es für einen famosen Witz, auf offener Straße von einem jungen Mädchen wegen des alten, närrischen Kauzes angerempelt zu werden.

»Wäre sie nur etwas hübscher gewesen!«

»Etwas hübscher? Aber Mensch! Mit solchen Augen ...«

*

Aufgeregt durch das kleine Abenteuer, kam Prisca in die Säle der permanenten Kunstausstellung, die sich unter den Arkaden des Hofgartens befindet, und in der es an diesem grauen Novembernachmittag fast so öde war, wie in der breiten, langen und langweiligen Ludwigsstraße. Einsam wanderte die junge Künstlerin unter den Bildern umher.

Da hingen sie nun: die Jungen, die Jüngsten, die Allerjüngsten. Sie alle, welche die ganze große Vergangenheit der Kunst mit einer leichten Handbewegung beiseite schoben, die mit dem titanischen Selbstbewußtsein der Modernen in der flammenden Lohe des Zeitgeistes die Kunst neu schmiedeten und denen die Zukunft gehörte – so glaubten sie wenigstens.

Prisca war diesem Chaos von Erscheinungen und Ideen gegenüber aus einer gewissen Beklommenheit nie herausgekommen. Jeder war von dem andern gänzlich verschieden, ein jeder eine Persönlichkeit für sich. Fühlte sie sich von diesem starken Talent und Temperament lebhaft angezogen, so stieß jenes andre sie um so heftiger ab; und doch schienen beide, trotz aller Verschiedenheit, genau dasselbe zu wollen.

›Herrgott,‹ so dachte sie oft, ›wie viele Arten von Augen hast du eigentlich deinen Malergeschöpfen gegeben? Der eine sieht alles blau, wo der andre alles nur violett erblickt! Da ist einer, der schaut die ganze Welt rosenrot an, wo der andre überhaupt keine Farben sieht.‹

Prisca fühlte für all dies Verschiedenartige und Entgegengesetzte ein fast fieberndes Interesse, hütete sich ängstlich vor jedem Absprechen und Verurteilen. So klar sie über sich selbst Bescheid wußte, so sicher sie ihren eignen Weg ging, verwirrten sie doch die Wege und Ziele der andern. Die Verwegenheit der künstlerischen Glaubensbekenntnisse, die Kühnheit der Probleme, die waghalsigen technischen Experimente erschreckten sie. Ihr eignes künstlerisches Glaubensbekenntnis zeigte eine wohlgeordnete Harmonie, von ihr streng unter Kontrolle gehalten; und in der Kunst der andern leuchtete ihr das wildeste Chaos in allen Farben entgegen. Es war eine Revolution, die Anarchie zu bringen schien. Von dem oft brillanten Können geblendet, durch die Rücksichtslosigkeit und Aufdringlichkeit der individuellen Anschauung geängstigt, gehörte ihre ganze kräftige Natur dazu, um diesem gewaltsamen Anprall von fremden Eindrücken, dieser Sturmflut von neuen Begriffen zu widerstehen. Denn sie wollte in sich nur aufnehmen, was ihr naturgemäß war; und es gab Stunden, wo sie sich unter all diesen Modernen alt, uralt vorkam, eine überlebte Manier, ein unglückseliger Epigone unter einer Generation, mit der sie, als wahre Tochter ihres Vaters, nichts gemein hatte.

Dort hing ihr Bild; dort im Winkel, ganz oben, halb im Dunkeln. Wer sah und beachtete es dort? Und wenn es jemand beachtet hätte, würde es gefallen? Und wenn es gefiele, würde man es kaufen?

Ganz sicher nicht.

Und doch war es ein gutes Bild.

Es stellte eine Landschaft vor, die vollkommen einer Idealwelt angehörte: geheimnisvolle, schattige Haine, strahlende Blütenmassen, glanzvolle Menschengestalten unter einem leuchtenden Himmel, auf einer frühlingsgrünen Erde. Es war eine Welt, die Prisca nur in ihren Träumen geschaut und die sie nur dort drüben – jenseits der Alpen – in Wirklichkeit schauen konnte. Dort allein würde ihr Traum Wahrheit werden.

Und warum dieses fortwährende leidenschaftliche Sehnen? War es nicht wie ein Notruf ihres ganzen Ichs? Ihre Natur schrie nach dem ihr Gemäßen, das sie unter diesem grauen Himmel, in diesem farblosen Leben niemals finden würde. Mußte aber der Mensch seiner Natur nicht folgen? Und mußte der nicht zugrunde gehen, der seiner eigensten Natur Gewalt antat, der Untreue übte gegen sich selbst?

Auch Priscas frisches Wesen unterlag bisweilen einer jener »Stimmungen«, die sich wie Gewaltherrscher manchen Gemütes bemächtigen. Eine jähe Angst überfiel sie dann: würde ihr kleines Künstlerleben sich erfüllen? Der trübe Tag mit seinem tief herabdrückenden Himmel; die glanzvolle Vision, die sie unter den Hofarkaden gehabt; das kleine Abenteuer mit den beiden lustigen Herren; die menschenleere Ausstellung mit der Fülle neuer und verwirrender Eindrücke und schließlich ihr eignes, fremdartiges Selbst dort oben – alles kam heute zusammen, um sie schwer zu bedrücken, zugleich aber auch, um den Trieb der Selbsterhaltung in ihr zu erwecken.

Worauf wartete sie eigentlich?

Auf den Verkauf ihrer Ideallandschaften? Auf Bestellungen? Auf die Sicherung einer behäbigen Existenz? War nicht gerade das Leben eines Künstlers beständiger Drang, nie endender Kampf? Würde ihr langes Hoffen und Harren, ihr geduldiges Warten ihr den Kampf erleichtern oder gar ersparen? Wünschte sie überhaupt solche Schonung ihrer Kraft?

Sie war jung und stark. Hatte sie nicht ihr Talent, an das sie glauben wollte bis zu ihrem letzten Atemzuge? Und zu ihrer Jugend, ihrer Begabung kam ihr rastloser Fleiß, ihre eiserne Willenskraft. Das alles, zusammen mit ihrem ehrlichen Glauben an sich selbst, war ein Talisman, dem nichts widerstehen konnte. So meinte sie wenigstens.

›Ich gehe fort! Ich gehe nach Rom! Bald gehe ich fort! Ja, ja, bald!‹

Es war der Entschluß eines Augenblicks. Wie so häufig, entschied auch hier ein Augenblick ein ganzes Leben.

Prisca schwindelte es. Vor ihren Augen zitterten Farben und Strahlen. Ihre Seele wurde von einem Taumel erfaßt und durch leuchtende Unendlichkeiten gerissen. Ihr war's, als blickte sie in die Zukunft, und diese war eitel Sonne und Glanz: die heilige Sonne Roms, der berauschende Glanz des Südens.

Und diese überirdische, vertrauensselige Stimmung hielt stand; sie verflog nicht sogleich. Dergleichen lag nicht in Priscas Natur. Was sie einmal ergriff, das hielt sie fest.

Sie wurde plötzlich ganz übermütig. Sie ging durch die Ausstellung, von einem Modernen und Modernsten zum andern; und sie sagte diesen Herren ihre Meinung – übrigens mit allem schuldigen Respekt. Diesen und jenen fragte sie so nebenher: ob er wohl schon von einer gewissen Sixtinischen Kapelle und den vatikanischen Stanzen gehört hätte? Die Gefragten lachten ihr natürlich einfach ins Gesicht, worauf Prisca wieder lachte, so recht von Herzen vergnügt. »Oh,« meinte sie, »lachen Sie nur, meine lustigen Herren! Was sollten Sie wohl mit Raffael anfangen? Der hat sich ebensogut längst überlebt, wie ein gewisser alter, närrischer Kauz ... Übrigens gehe ich hin. Jawohl, meine Herren, ich gehe nach Rom!«

Das gellende Hohnlachen, das dieser vertraulichen Mitteilung folgte, vernahm die gute Prisca nicht. Die beiden kleinen Worte: »nach Rom!« rauschten und brausten durch ihre Seele, als wollten sie darin zur unendlichen Melodie werden, so recht zur Zukunftsmusik.

Zuletzt machte sie sich noch ein kleines Extravergnügen. Sie begab sich ganz ehrbar ins Bureau der Ausstellung, machte ein möglichst würdevolles Gesicht und sagte ernsthaft:

»Sollte jemand meine ›Ideallandschaft mit Staffage‹ – Prisca Auzinger, Saal II, Nummer 173, rechte Querwand, oben im Winkel – zu kaufen wünschen: der Preis ist 2300 Mark. Ich empfehle mich Ihnen.«

Das glücklich ausgeführt, ging sie durch Wind und Regen von dannen, ohne von dem Unwetter das mindeste zu empfinden. Sie ging die ganze lange öde Ludwigsstraße hinauf und weiter dem idyllischen Schwabing zu. Unterwegs dachte sie:

›Was wird das Glöcklein dazu sagen daß ihre Prinzeß nach Rom geht? Ohne Hofdame, mutterseelenallein, mit dem Personenzug dritter Klasse ... Mein gutes, komisches Glöcklein! Ich werde sie ordentlich vorbereiten müssen, damit ihr der Schreck nicht in ihr armes Seelchen fährt. Aber schön ist es doch, daß es auf der Welt jemand gibt, der erschrickt, wenn ich plötzlich auf und davon will. Überhaupt: nur nicht einsam sein, nur liebgehabt werden ... Wie das erst sein muß, wenn man geliebt wird?! So ganz ohne Maß, ohne Besinnung, ohne Ende! Ob das wohl vorkommt? ... Ich kann es mir nicht vorstellen. Und doch ...‹

4. Im Idyllenhδuschen

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Im lieben, alten Schwabing steht noch immer jenes greise Dorfkirchlein, das andre, ganz andre Zeiten gesehen hat; Zeiten, in denen ein Mensch, der die Eisenbahn und den Telegraphen, das Glühlicht und Telephon als etwas ganz Natürliches angesehen hätte, unfehlbar der schwarzen Kunst angeklagt worden wäre. Wer nun bei dem kleinen, altersgrauen Gotteshaus, welches in das neue, großstädtische München sowenig paßt wie ein Stück Urväterhausrat in einen Salon mit der modernen Ausstattung von heute, nordwärts geht, gelangt in Gassen und Gäßchen, in denen ihn eine Empfindung überkommt, als lebte er im Anfang dieses Jahrhunderts, statt an dessen Ende.

In einem dieser stillen Erdenwinkelchen befindet sich noch heute ein Hauch das einstmals für eine kleine Fee oder sonst ein puppenhaftes Wesen gebaut worden zu sein scheint; so winzig ist das Haus und alles, was dazu gehört, als da sind Türen und Fenster, ein Klingelzug und ein Brünnlein.

Das wunderbarste an dem kleinen Hause ist ein alter, prächtiger Birnbaum, der dicht an seiner Mauer aufgewachsen ist und nun wie ein ungeschlachter Riese daneben steht und das Idyllenhäuschen zu bewachen scheint.

Zum großen Leidwesen der Schwabinger Jugend trägt dieser stolze Baum Jahr für Jahr kleine, harte, entsetzlich herbschmeckende Früchte: Holzbirnen! Aber zur großen Freude eines einzigen Menschenherzens blüht der nämliche Baum, der eine solche Enttäuschung für die Kinder ist, Jahr für Jahr ebenso herrlich, als wüchsen auf ihm die köstlichsten Früchte.

Dieses dankbare Menschenherz schlug in der Brust des älteren, ehrsamen Fräuleins Gismonda Glocke, gemeiniglich von ihren Freunden das Glöcklein genannt.

Es wäre auch wirklich nicht möglich gewesen, die gute, kleine Dame schlechthin Glocke zu nennen. Für jeden, der das Vergnügen hatte – denn es war entschieden ein Vergnügen –, sie zu kennen, hätte dieser Name zu roh, geradezu barbarisch geklungen. Um schlechtweg Glocke zu heißen, war sie viel zu zart und zu zierlich. Wer sie kannte, konnte also gar nicht anders, als aus der groben Glocke ein Glöcklein zu machen.

Man stelle sich vor: ein winziges Körperchen mit elfenhaften Händen und Füßen; ein Kinderköpfchen mit einem Puppengesichtchen. Kurzum: an Seele und Leib eine Filigranarbeit des lieben Herrgotts, eben ein Glöcklein und keine Glocke.

Vollends ihr Stimmchen konnte nur einem Glöcklein angehören, so hell und fein war sein Ton. Zwar für gewöhnlich etwas wehmütig, sentimental nannten es gefühlsrohe Menschen, wie ein ländliches Abendglöcklein, das mit zarten Lauten – mit Gewimmer, wie wiederum die brutalen Empfindungslosen behaupteten – den lieben, schönen Gottestag zu Grabe läutet. Dafür bekam die Welt von diesem guten Glöcklein auch niemals einen Mißton oder gar etwas Schrilles, Gellendes zu hören.

Das gute Glöcklein war das einzige Kind der ersten Kammerfrau – Verzeihung! – der ersten Kammerdame einer regierenden Herzogin (von dem Vater, einem kleinen Hofbediensteten, zu reden, verlohnt wirklich nicht der Mühe). Sie besaß demnach ein angeborenes Talent für wirklich exzellente Manieren. Es waren Manieren, die das Gismondchen geradezu prädestinierten, hoffähig zu werden. Hätte die biedere Seele des Glöckleins es jemals dazu gebracht, auf etwas stolz zu sein, so wäre sie das auf ihre Manieren gewesen; und wollte jemand ihr schmeicheln, so brauchte er nur auf den Ehrentitel einer Hofdame hinzuweisen, durch welchen Titel Glöckleins Vertraute ihr die gebührende Hochachtung erwiesen. Um keinen Preis der Welt hätte sie ohne Handschuhe ihr Zimmer abgestäubt, Fische mit dem Messer gegessen oder wäre sie an der rechten Seite einer Dame höheren Alters und Standes gegangen, oder hätte sich mit einem Herrn in Konversation eingelassen, der ihr nicht vorgestellt worden war. Niemals würde sie andre Handschuhe als tadellose Glacés, andres Schuhwerk als ausgezeichnetes getragen haben.

Daß sie manch liebes Mal im geheimen hungerte, um vor der Welt perfekt gantiert und chaussiert erscheinen zu können, solche Kleinigkeit tat nichts zur Sache. Ein Idealist fühlt keinen Hunger, erleidet er ihn doch eines großen Zweckes willen.

Überhaupt das Große! Alles Große war des Glöckleins ganze Wonne und Seligkeit. Große Allüren, große Welt, große Menschen! Mit großen Allüren war sie selbst begabt, in der großen Welt lebte sie aus der Entfernung in ihrer Phantasie; und was die großen Menschen anbetraf, so behaupteten jene schon erwähnten Gefühllosen: das Glöcklein wäre lediglich darum in allen Ehren ein älteres Fräulein geworden, weil sie keinen Mann gefunden, der ihrem idealen Maßstab von Größe entsprochen hätte. Das war natürlich Verleumdung.

Von ihren tadellosen Handschuhen und Stiefeletten wurde berichtet. Leider befand sich alles übrige, das den zarten Leib des Glöckleins einhüllte, in einem höchst bedenklichen Zustand; und zwar lag der Grund hierfür weniger in der Mittellosigkeit des Glöckleins, als in ihrer – Ehrfurcht.

Die selige erste Kammerfrau der höchstselig Regierenden hatte nämlich von der abgelegten Garderobe Ihrer Hoheit alles erhalten, was der Mensch überhaupt an seinem Leibe tragen kann; sowohl das allerintimste Stück Leibwäsche wie die offizielle goldgestickte Schleppe: ein jegliches Ding hatte allgemach seinen Weg von dem hoheitsvollen Körper der Regierenden bis herab zur gewöhnlichen irdischen Hülle der ersten Kammerfrau genommen. Die meisten dieser Sachen, obgleich sanktioniert durch die leibliche Berührung mit einer der Großen dieser Erde, wurden verkauft, oft zu wahren Spottpreisen, denn für jene persönliche Weihe durch Ihre Hoheit gab der Jude nichts. Aus dem Erlös entstand allmählich ein Vermögen, genau so winzig wie das Persönchen, das nach dem Tode ihrer Mutter davon leben sollte. Soviel herzoglicher Trödelkram nun aber auch fortgeschafft worden, behielt das Glöcklein von den einstmaligen Herrlichkeiten immer noch Kisten und Kasten voll zurück; und sie hätte sich nie, nie davon getrennt! Jedes Stück besaß seine eigne Nummer, stand in einem zierlichen Heftlein gebucht und war womöglich mit einer ehrfurchtsvollen Anmerkung versehen: zu welcher Gelegenheit Ihre Hoheit das betreffende Stück getragen, wessen Meisterhände das Kunstwerk verfertigt, und wann es in den Besitz von Höchstdero ersten Kammerfrau übergegangen war.

Seit ihren Kindertagen war das Glöcklein aus diesen Reliquien gekleidet worden, was nicht wenig dazu beigetragen hatte, ihrer kleinen Erscheinung die große Würde und ihren hübschen Manieren die außerordentliche Noblesse zu geben. Denn wie hätte sie sich in einem solchen Gewande, solchem Mantel, solchem Hute anders als gleichsam hoffähig benehmen können? Trug sie doch das alles mit dem erhabenen Gefühl: du trägst an deinem unwürdigen Leibe, was einstmals die erlauchte Person Ihrer Hoheit geschmückt hat! Mache deinen durchlauchtigsten Kleidern also Ehre, kleines Glöcklein.

Wie sie's in der Kindheit gewöhnt gewesen, so war's auch geblieben; aus dem Kind war ein Jüngferchen, aus diesem allmählich eine alte Jungfer geworden. Da nun aus einer einzigen weiland Regierenden jedesmal ganz bequem drei lebendige Glöcklein zurecht geschneidert werden konnten, so ergab das Resultat einen etwas komischen Anblick, der sich mit den großen und feierlichen Allüren des kleinen Fräuleins nicht recht in Einklang bringen ließ. Dazu kam, daß die herzogliche Hinterlassenschaft beinahe ausschließlich aus Samt, Brokat, Atlas, Tüll und Spitzen bestand, meistens leuchtende Farben hatte und so das arme Glöcklein mit ihrem vergilbten Gesichtchen, ihrem spärlichen, mißfarbigen Haarwuchs wie eine grellkolorierte Reklame für eine Bude auf der Oktoberwiese in der Hauptstadt umherzog.

Aber Handschuhe und Chaussure waren in der Tat tadellos!

Weil das Gismondchen nun schlechterdings nicht am Hofe leben konnte, zog die kleine Dame vor, fern vom Hofe in dem idyllischen und zugleich wohlfeilen Schwabing zu leben. Durch die erstaunlichste Sparsamkeit, deren Geheimnisse nur ihr bekannt waren, gelang es ihr, sich zur alleinigen Mieterin des Häusleins unter dem Holzbirnbaum emporzuschwingen, das sie nach berühmten Mustern »Solitude« taufte.

Glöckleins Lustschloß war eine Sehenswürdigkeit Schwabings, nein, Münchens! In den Zimmern, welche die Herrin persönlich bewohnte, repräsentierte jeder Winkel ein Raritätenkabinett, ein Sanktuarium, dem Gedächtnis der Höchstseligen gewidmet.