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Selbst in einem Land, in dem jeder zweite Einwohner entweder Schriftsteller oder Musiker ist, läuft man nur selten einer echten Berühmtheit über den Weg. Wer hätte also gedacht, dass der gut aussehende Typ, der sich vor dem Schaufenster von Rosy's Prettiest Flowers Shop die Schuhe zubindet, solch eine Berühmtheit ist? Rosy sicherlich am allerwenigsten. Doch die leidenschaftliche Blumenhändlerin denkt sowieso nicht immer in die richtige Richtung – und steht sich selbst und der Liebe irgendwie immer im Weg. Da wollen wir mal hoffen, dass es dieses Mal anders ist ... Roseport Lovers: Teil 4 der "Roseport Lovers" Reihe von Maja Keaton. Alle Bücher der Reihe sind in sich abgeschlossene Romane und können unabhängig voneinander gelesen werden!
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Seitenzahl: 320
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Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Roseport Lovers - Die Reihe
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Über OBO e-Books
Der Applaus brachte den Boden unter seinen Füßen zum Beben. Callum Reilly kannte das Gefühl und er liebte es. Es gab ihm die Gewissheit, etwas in seinem Leben richtig gemacht zu haben.
Mehr als tausend Gesichter blickten ihm und seinen Freunden entgegen, während die Handpaare im Publikum unablässig gegeneinander klatschten. Bernie, der Leadsänger und Frauenschwarm der Band, reckte die begehrte Trophäe in die Höhe und der Applaus schwoll noch einmal an. Beim Anblick von Bernies unverschämtem Grinsen leuchteten selbst die verkniffenen Gesichter der Politiker-Gattinnen auf. Bis auf den letzten Platz war das altehrwürdige Olympia Theatre ausgebucht. Da war es auch schon egal, dass die wenigsten Gäste überhaupt etwas mit dem Irish Rock, für den die Band stand, anfangen konnten. Der Altersdurchschnitt des Publikums lag Lichtjahre über dem in den Konzerten. Was allerdings keinen großen Geist wundern musste, da zu der Preisverleihung überwiegend die Vertreter der irischen Fernseh- und Musikbranche sowie Politiker mit dicken Bäuchen und Haarausfall eingeladen waren.
Auf den roten Samtsesseln lümmelte sich sozusagen alles, was man aus der Klatschpresse kannte. Sofern man diese las, was Callum sich sofort abgewöhnt hatte, nachdem die Murders at Dark Night in Groß-Britannien und Skandinavien einen regelrechten Senkrechtstart hingelegt hatten. Lügen wollte er sich nicht durchlesen. Und die Fake-Fotos, die seine Freunde und ihn mit irgendwelchen halbnackten Weibern beim Randalieren in Hotelzimmern oder bei Zungenküssen zeigten, tat er sich ganz bestimmt nicht an. Das erledigte schon seine Familie, die heute ausnahmsweise ebenfalls im Publikum saß, und zwar in einer der Logen links von der Bühne.
Die Fans, die nach Callums Ansicht live miterleben sollten, dass ihrer Lieblingsband heute The Black Thing verliehen wurde, durften sich das Ereignis zu Hause vor der Glotze angucken. Oder auf den riesigen Plasma-Bildschirmen, die eine Event-Agentur draußen vor dem Theater aufgebaut hatte. Das Aufgebot an Sicherheitspersonal war immens, wie er bei seiner Ankunft am Nachmittag bemerkt hatte. Und das war gut so. So sehr Bernie, Paul, Kenny und Callum ihre Fans liebten, so gefährlich konnte es werden, ihnen zu nahe zu kommen. Seiner Freundlichkeit, einem total besoffenen Schüler ein Autogramm auf den Unterarm zu kritzeln, hatte Bernie jedenfalls seine perfekten Schneidezähne zu verdanken.
Bernie grinste mit seinem Hollywoodgebiss ins Publikum und reichte die Trophäe an den orangehaarigen Gitarristen Paul weiter. Der drückte das schwarze Ding, das man noch am ehesten mit einem ausgestochenen Stück Torf vergleichen konnte, erst an seine tätowierte Brust und dann in die Pranken des Schlagzeugers. Kenny, der beinahe mehr Muskeln hatte als Paul Sommersprossen, trieb mal wieder seine Scherze. Er tat, als würde er sich weigern, Callum den Preis zu überlassen. Als das Publikum lachte und Kenny seinen Scherz gehabt hatte, nahm Callum seinem Kumpel den schwarzen Brocken aus den Händen und reckte ihn in die Höhe.
Am Anfang seiner Karriere hätte Callum sich am liebsten unsichtbar gemacht, so sehr hatte ihm bei jedem noch so kleinen Auftritt das Herz gehämmert. Überdimensionierte Notenblätter hatte er auf dem Keyboard aufgestellt, um sich zu verstecken. Inzwischen war er daran gewöhnt, in der Öffentlichkeit zu stehen. Entspannt grinste er in die Kameras, die die Veranstaltung live übertrugen. Er winkte sogar mit dem schwarzen Ding zu seiner Familie in der Loge hoch. Wider Erwarten tauchten weder seine Eltern, noch sein Bruder hinter der Balkonbrüstung ab. Seine Mom sah in ihrem apfelgrünen Kostüm und dem dazu passenden Hütchen aus wie die Queen auf ihrer Geburtstagstour in der Kutsche. Sie rang sich sogar ein Lächeln ab, obwohl sie Callums Musikerkarriere ungefähr so viel abgewinnen konnte wie einer Wurzelbehandlung ohne Betäubung. Sein Dad fletschte allerdings die Zähne. Dafür lächelten sein Bruder und dessen Verlobte geradezu verzückt. Es war sehr wahrscheinlich, dass die beiden diesen Auftritt für Werbezwecke nutzten. Callum sollte es recht sein.
Er und seine Freunde verbeugten sich.
Der Applaus schwoll noch einmal an. In wenigen Sekunden würden die Murders at Dark Night von der Bühne ziehen. Das ausnehmend hübsche Moderatoren-Paar würde übernehmen, um die Preisträger in der Kategorie Volksmusik anzukündigen.
Aber dazu kam es nicht mehr.
Ein roter BH flog auf die Bühne und dann erschütterte ein ohrenbetäubender Knall das bis auf den letzten Platz besetzte Theater. Im selben Augenblick gingen sämtliche Lichter aus. Im Saal und bei Callum Reilly.
Rosys Mund stand sperrangelweit offen. Die Sommermorgenluft zog ungehindert kühl und salzig in ihren Rachen. Doch auch die frische Brise versetzte sie nicht in einen handlungsfähigen Zustand. Rosy war schlicht und ergreifend sprachlos. Den langen Kerl, der vor ihr aufragte wie der Rundturm von Turlough, konnte sie nur noch verdattert anstarren. Dass er so ziemlich der am besten aussehende Mann war, der je durch diesen Ort spaziert war, spielte in dem Moment keine Rolle. Die schönen braunen Augen, das dichte, dunkle Haar, die männlich kantigen Gesichtszüge verschmolzen mit der idyllischen Umgebung zu einem einzigen Brei. Selbst das brüllende Löwenmaul, das den Hals des Mannes zierte und das Rosy bis vor wenigen Sekunden noch so beeindruckt hatte, nahm sie nur noch am Rande wahr. In ihrem Kopf herrschte ein Klima wie auf einer Weide in den frühen Morgenstunden: Nichts als wabernde Nebelschwaden.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte der Mann. Es klang so spöttisch wie Männer seines Schlages halt klingen.
Zum Glück tapste in dem Moment die kleine Mrs. Vannickle mit ihrer limonengelben Zuckerwatte-Frisur hinter dem Mann vorbei. Ihr gehörte das gemütliche Café gleich neben Rosy’s Prettiest Flowers Shop. Obwohl Mrs. Vannickle schon weit über siebzig war, erschien sie noch täglich auf der Arbeit.
„Guten Morgen, Rosy-Schätzchen.“ Die alte Dame riss Rosy aus ihrer Starre. Überflüssigerweise ließ sie es sich nicht nehmen, anzüglich zu zwinkern.
Rosy klappte den Mund zu. Es hatte ihr gerade noch gefehlt, dass Mrs. Vannickle im Café herumposaunte, dass Rosy McAllister mal wieder einen Touristen ansabberte, noch dazu einen mit tätowiertem Hals.
Wobei in diesem Fall von Sabbern nicht die Rede sein konnte. Eher von Feuer speien.
„Guten Morgen, Mrs. Vannickle“, grüßte Rosy so freundlich wie immer zurück, denn die Café-Besitzerin konnte schließlich nichts für den ungehobelten Klotz mit dem Löwenkopf-Tattoo.
Na ja, dachte Rosy aber dann, vielleicht hat der Mann sich auch nur ungeschickt ausgedrückt. Oder ich habe da was falsch verstanden.
Blödsinn, dachte sie schon im nächsten Moment. Wie sollte man es schon verstehen, wenn jemand breit grinsend erklärte: Du sagtest, dass ich gegen Vorlage der Rose Spaß im Bett habe.
Allerdings musste Rosy die Betonung schon auf breit grinsend legen, denn das mit dem Spaß im Bett hatte sie dummerweise zuerst gesagt. Okay. Jetzt mal langsam und immer der Reihe nach. Natürlich hatte Rosy sich dem Kunden nicht als Betthäschen angeboten. Sie hatte sich überhaupt nicht angeboten. Um ihn vom Kauf einer original Roseporter Wildrose zu überzeugen, hatte sie ihren erprobten Spruch gebracht: „Für lausige fünf Pfund wirst du heute Abend im Hotelzimmer bei deiner Frau einen Stein im Brett haben.“
Noch dazu hatte sie dabei zu der ausnehmend hübschen Schwarzhaarigen mit dem imposanten Vorbau gesehen, die unmittelbar vor dem Mann an ihrem Ladenfenster vorbeigerast war.
Immerhin hatte der Spruch wie üblich gewirkt und Mr. Löwenmaul hatte die Rose genommen. Danach war es ein wenig hin- und hergegangen, belanglose Worte, an die Rosy sich schon gar nicht mehr erinnerte. Und dann war er auf ihren Verkaufsspruch zurückgekommen. Während Rosy die Gesichtszüge entglitten waren, hatte der Kerl behauptet, Single zu sein. Soweit der Anfang der Geschichte.
Die Single-Story jedoch fiel Rosy schwer zu glauben, denn die Schwarzhaarige stand am Ende der Einkaufsstraße und guckte zu ihnen.
Rosy blickte dem imposanten Mann fest in die Augen, unterdrückte ein Schnauben und fragte ein wenig streng: „Habe ich etwas falsch verstanden?“
Schulterzucken. Hochschnellende, fragende Augenbraue. Alles gleichzeitig. Dann eine erschrockene Miene, ein schneller Blick über die nicht zu breite, aber dennoch ansehnliche Schulter nach hinten zu der Schwarzhaarigen. „Du hast gedacht ...“
Er verstummte mitten im Satz.
Schnellmerker!
Rosy nickte und erwiderte empört: „Natürlich.“
Ihr Gegenüber atmete hörbar ein und stopfte zum zweiten Mal, seit Rosy mit ihm sprach, seine Zunge so hinter seine rechte Wange, dass eine Beule entstand. Dann blickte er noch zu Himmel. Aber nicht genervt, sondern eher peinlich berührt, geradezu schüchtern. Ein Räuspern erklang. Sein Blick irrte irgendwo zwischen dem Schaufenster und dem Weltall umher.
Rosy wurde zunehmend mulmiger zumute.
Anscheinend hatte sie tatsächlich was falsch verstanden und total überreagiert. Aus der Tatsache, dass dieser gutaussehende Mann und die Schönheit mit der schwarzen Mähne so kurz hintereinander über den Gehweg gerast waren, hatte sie gefolgert, dass sie ein Paar waren. Sie hatte ja sogar bedauert, dass der Mann vergeben war.
War das peinlich!
Aber es hatte wirklich so ausgesehen. Und eigentlich sah es auch noch immer so aus.
„Tut mir wirklich leid“, sagte der Mann, den Blick krampfhaft auf das Schaufenster gerichtet.
„Mir tut es leid“, seufzte Rosy, bevor ihr klar wurde, was sie da schon wieder gesagt hatte. Jetzt musste er denken, es täte ihr leid, dass sie ihm eine Abfuhr erteilt hatte. Damit begann nämlich der zweite Teil der Geschichte.
Als dieser viel zu gut aussehende Mann gesagt hatte, dass er Single sei, hatte er das nämlich ziemlich nett formuliert. Er hatte gesagt: „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ohne wie das allerletzte Arschloch rüberzukommen, aber die Sache ist nun einmal so: Ich habe keine Frau. Ich bin nämlich Single.“
Eigentlich war Rosy nicht so ein Tollpatsch. Aber heute war anscheinend der Wurm drin. Ihr Unterbewusstsein war schuld. Es hatte zwei Sätze aus dem Zusammenhang gepflückt und sehr ungünstig kombiniert. Und daraus noch ungünstigere Schlüsse gezogen.
Merkwürdigerweise schien es nicht nur ihr so zu gehen.
„Ich wollte dich wirklich nicht so plump angraben“, kam es von oben. Dieses Mal sah ihr der Mann geradewegs in die Augen – und lief dann knallrot an.
Rosy konnte nicht anders. Sie musste lachen. „Nicht so plump?“
„Oh Mann.“ Das Augenrollen hatte der Mann drauf. Wenn er das tat, sah er so süß aus wie ein Lausejunge.
Ein unwillkürlicher Seufzer kam über Rosys Lippen. Wenn Mr. Löwenmaul in der Nähe wohnen würde – sie wäre verloren. Aber so ...
Keine Geschichten mehr mit Touris!, mahnte sie sich selbst.
„Könnten wir mein Gelaber über Nächte und meinen Beziehungsstatus eventuell vergessen?“
Auch wenn Mr. Löwenmauls Stimme noch so schön seidig rau klang, Rosy würde nicht nur das Gelaber über Nächte und Beziehungsstati vergessen, sondern gleich den ganzen Mann.
„Das wollte ich auch gerade vorschlagen“, sagte sie ganz professionell. „Ich wünsche dir einen schönen Aufenthalt in Roseport und eine angenehme Weiterreise. Ciao.“
Mr. Löwenmaul schien einen kurzen Moment zu zögern, doch dann hob er die Hand mit der 5-Euro-Touri-Rose, lächelte, sagte ebenfalls „Ciao“ und ging mit ausladenden Schritten zu der Schwarzhaarigen.
Sie haben sich nicht angefasst.
Er hat keinen Arm um sie gelegt.
Kein Kuss.
Er hält die Rose noch immer in der Hand.
Bin ich eigentlich bescheuert?!
Rosy umklammerte den Eimer mit den übrig gebliebenen Wildrosen und ging zurück in ihren Laden. Selbst nach fünf Jahren, den sie das Blumengeschäft nun betrieb, freute sie sich jeden Tag aufs neue über das hübsche Geschäft, das früher ihrer Oma gehörte. Obwohl Granny leider schon gestorben war, war der Laden Rosys größtes Glück. Sie blinzelte die Tränen weg, die selbst nach all der Zeit noch jedes Mal in ihre Augen stiegen, wenn sie an Granny dachte. Ihre Großmutter hatte ihr alles über Blumen und Pflanzen beigebracht. Nebenbei hatte sie ihr zudem durch so manche schwere Zeit geholfen.
Aus dem Radio tönte der Wetterbericht, durchsetzt von Miss Daisys leisem Maunzen. Miss Daisy war zwar eine Katze, legte jedoch bisweilen das Verhalten eines Hundes an den Tag. Wenn Rosy auch nur eine Minute aus ihrem Blickfeld verschwand und dann zurückkehrte, freute sich das weiße Tier mit den schwarzen Ohren und dem schwarzen Mäulchen wie Bolle über das Wiedersehen.
„Nun lass mich doch erst mal den Eimer abstellen“, schimpfte Rosy in liebevollem Ton. „Ich bin ja sofort bei dir.“
Mit mühsam aufgerichtetem Schwanz umstrich Miss Daisy Rosys Beine, bevor sie sich prompt dort niederließ, wo Rosy den Eimer abstellen wollte. Das gute Katzentier war bereits reichlich in die Jahre gekommen. Überaus vorsichtig pflanzte sie ihr breites Hinterteil auf den Boden.
„Ich fass’ es nicht“, seufzte Rosy. Kurzentschlossen stellte sie den Eimer auf den verschrammten Holztisch, auf dem die Kasse stand und der zudem genügend Platz bot, um Blumen zu stecken oder in Papier einzuschlagen. In dem Moment flog die Ladentür scheppernd auf und das Glockenspiel verbreitete nicht wie üblich sein helles Geklimper, sondern flog gleich vom Haken und quer durch den Laden.
„Weißt du, wer in the House ist?“
„Willst du mich umbringen!“ Rosy schoss herum. Ihre kleine Schwester war vor wenigen Wochen sechzehn geworden. Dessen ungeachtet benahm sie sich so laut und stürmisch wie eine ungezogene Vierjährige.
„Du weißt es nicht. Hab’ ich’s mir doch gedacht. Du kriegst nichts mehr mit. Du bist schon genau wie Mom. Abgesehen vom Style“, gestand Grace mit schmerzverzerrtem Gesicht ein, bevor sie mit ihrer erdbeerrosa Mähne, die wie ein Windsack hinter ihr her flatterte, zum Tisch raste und am Radio herumschraubte.
Es krächzte und krachte. Schließlich wurde Grace fündig. Musik erklang, beziehungsweise das, was einige Leute für Musik hielten.
Jetzt war es an Rosy, das Gesicht vor Schmerz zu verzerren. Selbst Miss Daisy mit ihrer Altersarthrose floh hinkend aus dem Verkaufsraum, in das daran anschließende Lager.
„Mach den Krach weg! Das ist geschäftsschädigend!“, stöhnte Rosy auf, die Hände auf die Ohren gepresst.
„Verstecken sich deine zahlreichen Kunden etwa zwischen den Blumen? Oder warum kann ich niemanden sehen?“, brüllte Grace mit der Musik um die Wette. Auf ihrem Gesicht erschien ein teuflisches Grinsen. Zum Glück für alle, vermutlich sogar für die Blumen, drehte die Sechzehnjährige die Lautstärke wieder runter. „Ich gebe es zu: Das ist nicht ihr bester Song.“
„Das soll ein Song sein?“ Rosy nahm die Hände von den Ohren.
„Deep Cry von Murders at Dark Night.“ Grace grinste noch immer wie ein gemeiner Troll, der irgendetwas ganz Fieses ausheckte. „Die Band hält sich momentan in Roseport auf.“
„Um Himmels Willen! Ich hoffe doch, dass sie bald wieder verschwindet. Stehst du auf die?“
„Ich hatte eine Phase ... Aber wenn ich drüber nachdenke, finde ich sie immer noch richtig gut.“
Rosy verdrehte die Augen. Sie ging in dieselbe Richtung, in die Miss Daisy davongehumpelt war. Arbeit wartete auf sie. Mr. Löwenmaul hatte sie schon mehr als genug Zeit und Nerven gekostet. Und über die Anwesenheit oder Durchreise von Bands wunderte sich hier kein Mensch. In Irland war jeder zweite in einer Band. Wenn nicht das, dann machte er in einer der zahlreichen Theatergruppen mit oder schrieb zumindest ein Buch. „Ist die Schrei-Phase wieder aufgeflammt und willst du mich um zwei Pfund für Konzertkarten anschnorren?“
„Wenn die ein Konzert geben würden, wären die Karten seit einem Jahr ausverkauft und es wäre absolut unmöglich, jetzt noch welche zu bekommen. Never ever. Und mit zwei Pfund kämst du schon gar nicht aus, Schwesterherz. In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?“
„Dann ist es ja gut. Aber was willst du eigentlich bei mir? Ist irgendwas mit Dads Geburtstag?“ Rosys und Graces Vater feierte am kommenden Mittwoch seinen Sechzigsten.
„Nö. Dafür ist doch alles geklärt.“
„Warum bist dann hier? Doch bestimmt nicht, um mir zu sagen, dass diese Mörder des guten Geschmacks in Roseport weilen, um kein Konzert zu geben.“
„Mörder des guten Geschmacks ...“ Grace folgte ihr auf den Fuß. „So redet Mom auch über deine Tattoos.“
Rosy kümmerte sich nicht um Graces Bemerkung. Sie gab auch nicht zurück, dass ihre Mutter genau so auch über Graces ständig wechselnde Haarfarben sprach. Vor einer Woche war Graces Haar noch grün statt rosa. Rosy zog das größte Tablett aus dem Regal, das sie besaß. Das Hotel ein paar Türen weiter hatte zwanzig Mini-Vasen mit Blümchen bei ihr bestellt, für den kleinen Frühstücksraum und als Zimmerschmuck. Vermutlich nächtigten diese Mörder des Gehörs dort und fraßen dann die armen Blumen. Sie würde also ein paar giftige Exemplare auswählen. „Also, kleine Schwester ... Was kann ich für dich tun?“
„Du musst zugeben, dass Callum Reilly ein Sahneschnittchen ist ...“
Inzwischen hatte Rosy die Väschen in vier Fünferreihen auf dem Tablett arrangiert und füllte sie mit Wasser. „Callum Reilly? Ist der einer von den Schreihälsen?“
„Es ist der, dem du gerade eine original Roseporter Wildrose angedreht hast.“
Rosys Kopf zuckte hoch. „Der ist Sänger?“
„Kein Sänger. Er schreibt die Texte und steht am Keyboard. Die Band ist ziemlich bekannt. Anfang des Jahres haben sie den Preis für die erfolgreichste Rockband Irlands gekriegt. Boah, Schwester! Das war die Preisverleihung mit dem Attentat.“
„Du verarschst mich doch!“
„Nein“, sagte Grace gedehnt. Sie klimperte mit den Wimpern und hob zwei Finger zum Schwur. „Ich sage die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“
„Das ist ja nicht zu glauben. Und einer von den Typen hat bei mir eine Rose gekauft. Das find ich dann jetzt doch ... ziemlich cool. Zur Abwechslung mal eine echte Berühmtheit und kein Möchtegern-Star.“
Rosy hatte in den Nachrichten von dem Attentat gehört. Den Anfang der Preisverleihung hatte sie sogar im Fernsehen mitverfolgt. Allerdings war sie weitergezappt, als eine Opernsängerin ihr Bestes gab. Später hatte dann irgendein Irrer einen in einem BH versteckten Molotow-Cocktail auf die Bühne geworfen. Zum Glück war es nur eine vergleichsweise kleine Dröhnung gewesen. Nichtsdestotrotz hatte es einige Verletzte gegeben. Darunter war auch ein Familienangehöriger der in Irland ziemlich bekannten Besitzer einer Luxus-Hotelkette gewesen. „Dann ist der Sänger der Sohn von DEN Reillys ... Du wirst es nicht glauben, Gracy, aber als ich seine Stimme hörte, dachte ich, dass er Sänger sein könnte.“ Rosy konnte nicht verhindern, dass ihr das Blut in den Kopf stieg. Schnell ging sie in den Verkaufsraum, um den Eimer mit den Wildrosen zu holen.
„Hab’ ich’s mir doch gedacht, dass du auf ihn stehst ... Wie du ihn angesabbert hast“, rief Grace ihr hinterher.
Nach ihrer Rückkehr stellte Rosy ein bisschen überengagiert den Roseneimer auf den Tisch. Dabei warf sie ihrer Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu. „Keine ...“
„... One-Night-Stands mit Durchreisenden. Ist schon klar“, beendete Grace den Satz. Sie nahm sich ein Messer und half Rosy geschickt beim Kürzen der Rosen.
„Was machen diese Typen eigentlich in Roseport, wenn sie kein Konzert geben? Für mich sahen die aus wie ganz normale Touris. Es waren ja nicht nur die Jungs von dieser Band auf der Straße, sondern ein paar Leute mehr, auch Frauen.“ Rosy stockte. „Ja, klar. Die anderen gehörten zum Team. Der Agent, Rowdies ... und natürlich ein paar willige Boxenluder.“
„Schwester ...“, kicherte Grace. „Aber du hast recht. Es hatte schon was von Sightseeing, wie die durch unseren Ort gelatscht sind.“ Grace zuckte mit den Schultern, bevor sie zum eigentlichen Anliegen ihres Besuchs kam. „Ro-ho-sy ...?“
Rosy sah auf. Warum wunderte es sie nicht, dass da noch was kam? „Was willst du, Gra-ha-cy?“
„Ein Alibi für heute Abend.“
* * *
Rosy balancierte das Tablett zur Ladentür hinaus. Sie hätte Grace bitten können, die Blumen ins Hotel zu bringen. Aber ihre Schwester sollte lieber die Stellung halten und das Glockenspiel, das sie bei ihrem Kommen aus der Verankerung gerissen hatte, wieder aufhängen. Rosy musste mal an die Luft. Sie arbeitete nicht nur in dem schmalen Haus mit dem rosa Laden, sondern wohnte auch auf den beiden weiß getünchten Etagen darüber, weshalb sie heute noch nicht wirklich draußen war. Außerdem hatte sie nicht gefrühstückt. Entsprechend knurrte ihr Magen.
Gleich nachdem sie das Hotel Miller mit Blumen versorgt hätte, würde sie sich in der Bäckerei mit Sesamhörnchen eindecken. Sesamhörnchen mit Butter – ihr absolutes Lieblingsfrühstück. Dazu eine große Tasse Datteltee mit einem Schuss Milch und die Welt war in Ordnung.
Es war einer dieser ganz normalen Samstagvormittage, an denen manchmal sogar drei Leute gleichzeitig in der Hauptstraße unterwegs waren. Ab und zu raste auch ein Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit durch den Ort, wie gerade eben der Jeep von Jack O’Brien. Aber darüber regte rüber sich hier niemand auf. Wen hätte der Ex-Schauspieler und Besitzer der Jack-O’Brien-Stiftung schon überfahren sollen? War ja niemand da.
Und dann fiel hin und wieder eine Touristengruppe über die 3000-Seelen-Gemeinde her, um beim Anblick der schmalen, pastellfarbigen Häuser, Paddy’s Pub und den schnuckeligen Geschäften, die aus einem vergangenen Jahrtausend zu stammen schienen, in Entzücken auszubrechen. Also genau wie heute, wo sie gleich nach der Ladeneröffnung dem Liebespaar des Jahres ein Grabgesteck für die verstorbene Mrs. Doogan verkauft hatte. Mit dem Unterschied, dass die Touri-Gruppe eine Musiker-Gruppe gewesen war. Rosy zwang sich, nicht an diesen Callum Reilly zu denken. Dafür dachte sie an die ersten Kunden des Tages: Logan und Caty.
Eigentlich hatte Rosy ihren Groll gegenüber Logan ja schon vor geraumer Zeit zu Grabe getragen. Außerdem mochte sie Caty, über die man sich im Ort ziemlich interessante Dinge erzählte und die morgen auf einen Orangenblütentee bei ihr vorbeischauen würde. Trotzdem hatte es in ihrem Herzen schlimmer gestochen als damals bei ihrem ersten Tattoo, als sie Logan und Caty Hand in Hand aus ihrem Laden marschieren sah.
Vielleicht hätte sie sich damals mehr auf Logan einstellen müssen, als sie versucht hatten, ein Paar zu werden. Vielleicht hätte es ja doch klappen können mit ihnen. Andere passten schließlich auch nicht zusammen und bekamen es bis zur Silbernen Hochzeit hin. Ihre Eltern waren das beste Beispiel für ein Ehepaar, das sich pausenlos in den Haaren lag.
Während Rosy das Tablett mit den leise gegeneinander klimpernden Vasen mit den Wildrosen über die Hauptstraße zum Hotel Miller trug, zerbrach sie sich also über Dinge den Kopf, die man nicht ändern konnte. Und die sie inzwischen auch nicht mehr ändern wollte.
Logan und Caty passten zusammen wie die Faust aufs Auge. Das war eine Tatsache. Jeder konnte es sehen, jeder wusste es, auch sie selbst. Und sie war glücklich damit. Wirklich. So glücklich wie mit der Tatsache, dass ihre Schwester mit dem nettesten Jungen aus ganz Roseport zusammen war. Luke war wirklich ein ganz Lieber. Den beiden gab sie gern ein Alibi. Rosys und Graces Mutter übertrieb es nun wirklich mit der Strenge. Eine Sechzehnjährige am Samstagabend zu Hause einzusperren, war schon reichlich weltfremd. Rosy wusste, wovon sie sprach. Mom sollte lieber froh sein, dass Grace einen Jungen gefunden hatte, den sie liebte und der Grace ebenso zurückliebte. Wenn sich die nun schon zwei Jahre bestehende Beziehung der beiden so weiter entwickelte, würden sie irgendwann heiraten, ein Haus bauen und zwei süße Kinder bekommen. Vermutlich lange bevor Rosy einen Mann gefunden hatte.
Bevor Rosy noch vollends im Selbstmitleid versank und sich mal wieder vorzustellen begann, dass sie in Roseport vertrocknen würde wie ein Feldröslein am Rande eines Weizenfeldes, holte sie tief Luft. Sie dachte an all die schönen Dinge, die ihr im Leben widerfahren waren. Zum Beispiel Granny und der Blumenladen. Tja, und Gracy.
Wenn ihre kleine Schwester dann eines Tages verheiratet war, wäre Rosy noch jung genug, um in der Hauptstadt ihr Glück zu versuchen. Dort würde auch sie dann die große Liebe treffen. Ja, so würde es laufen. Bis dahin machte sie das Beste aus ihrem Leben hier. So schlimm war es schließlich auch wieder nicht. Eigentlich ganz im Gegenteil. Sie lebte am schönsten Fleck der Erde, hatte ihren Laden, ihre Schwester und ein paar nette Freundinnen. Mit Caty kam gerade eine weitere Freundin dazu. Nur ein Mann fehlte ihr zum Glück. Auch das würde schon noch werden.
Als Rosy am sogenannten Supermarkt vorbeikam, grüßte sie Paddy, der auf der anderen Straßenseite auf dem Weg in seinen Pub war.
„Willst du mir mit deiner Armwedelei irgendetwas mitteilen?“, rief sie ihm fröhlich zu.
„Guck nach vorn“, brummte Paddy großäugig aus seinem bärtigen Gesicht.
„Vorsicht!“, rief eine weitere Stimme.
Zu spät.
Auf dem Gehweg war wie aus dem Nichts eine Mauer aufgetaucht. Nur dass die Mauer keine echte Mauer aus Stein war, sondern eine aus Fleisch und Blut. Und damit der Slapstick auch komplett war, lief Rosy, das Tablett mit den klimpernden Väslein voran, geradewegs in diese Mauer hinein.
Rosy atmete erleichtert auf. Das war ja gerade nochmal gut gegangen. Geistesgegenwärtig hatte sie sich bei der ersten Berührung mit der menschlichen Mauer weggedreht. So hatte sie die Lieferung für das Hotel gerettet.
Leider hatte sie dabei mit dem Ellenbogen einen undefinierbaren Gegenstand von nicht unbeträchtlichem Ausmaß angestoßen. Jetzt stand sie halb mit dem Rücken zu der menschlichen Mauer. Am liebsten hätte Rosy sich in Luft aufgelöst, was sich natürlich nicht umsetzen ließ. Es half alles nichts. Irgendwann musste sie sich wieder zurück umdrehen und sich dem Schlamassel stellen. Am besten sofort.
Oh, Shit ...
Rosy wusste augenblicklich, mit wem sie aneinander gerasselt war, obwohl das wegen der dicken, weißen Schicht auf dem Gesicht ihres Gegenübers alles andere als leicht zu erkennen war. Sogar das Löwen-Tattoo verschwand vollständig hinter dem Sahnematschhaufen, der von Mrs. Vannickles göttlicher Käse-Sahne-Torte übrig war.
„Ich weiß, dass ich meine Augen offen halten sollte, wenn ich über die Straße gehe“, sagte eine angenehm raue Männerstimme mit einem ausgeprägt spöttischen Unterton.
Ein Sahnehäufchen, etwa eine Handbreit unterhalb der Out-of-Bed-Style-Frisur bewegte sich leicht auf und ab. Callum Reilly hatte geblinzelt. Oder hatte er gezwinkert? Nebenbei stellte Rosy jetzt wegen des Kontrastes zwischen Haarfarbe und der weißen Sahne fest, dass Mr. Löwenmauls Haar nicht schwarz war, sondern dunkelbraun.
„Es tut mir so leid.“ Rosy stand mal wieder mit aufgeklapptem Mundwerk da. Wenigstens war sie nicht wieder total sprachlos. Aber peinlich war das hier allemal. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag befand sie sich in einer unmöglichen Situation. Und immer war Mr. Löwenmaul beteiligt. Konnte es sein, dass das Schicksal war? Vielleicht war der Mann ja wirklich Single.
„Mach dir keinen Stress. Du kannst nichts dafür“, kam es seelenruhig zurück. Ein Sahnehaufen fiel vom Kinn ab und klatschte auf Callum Reillys steingrauen Leinenschuh.
„Ich hätte nach vorn gucken sollen. Paddy hat mich ja sogar noch gewarnt“, seufzte Rosy. Sie fühlte sich verantwortlich für diesen Zusammenprall. Wie Hans-guck-in-die-Luft war sie mit ihrem Tablett herumgelaufen, beziehungsweise wie Rosy-gaff-zu-Paddy.
„Wenn man dich so ansieht, hätte dein Bekannter besser mich warnen sollen“, parierte das Sahnegesicht. Die braunen Augen mit dem wunderschönen, vollen Wimpernkranz blitzten aus der weißen Umgebung hervor. Auf den Wangen war sogar etwas von dem Puderzucker, den Mrs. Vannickles Konditor immer oben auf die Torte stäubte.
Wenn man dich so ansieht ... Was sollte denn das heißen? Aber danach wollte Rosy lieber nicht fragen. Ihre Gesichtshaut war inzwischen so rot wie die Geranien, die sie nach ihrer Rückkehr aus dem Hotel und von der Bäckerei umtopfen wollte. „Ich ersetze dir die Torte selbstverständlich. Es tut mir wirklich leid.“
„Das war die letzte Käse-Sahne“, sagte das Sahnegesicht bedauernd.
„Du machst Witze.“
„Stimmt. Es gab auch noch Schoko und ein zweistöckiges Ungetüm in Rosa. Zum Glück habe ich die weiße Torte genommen.“
Rosy kniff die Augen zusammen. „Du machst wirklich Witze ...“
„Was sonst?“, kam es prompt zurück. „Ich bin schließlich keiner von den Zwiebelhirschen, die wegen jedem Scheiß ein Fass aufmachen.“
Nein, ein Zwiebelhirsch war Mr. Löwenmaul-Sahnegesicht wirklich nicht. Eher ein Platzhirsch. Nicht mal die Torte in seinem Gesicht änderte etwas daran.
„Und jetzt mach mal ein fröhliches Gesicht“, forderte der Mann sie doch tatsächlich auf, während sich ein Sahnehäufchen von seiner Nasenspitze abseilte.
Jetzt konnte Rosy nicht mehr länger ernst bleiben.
„Gott, ist mir das peinlich“, prustete sie.
„Kein Problem. Allerdings würde ich das Zeug auf meinem Gesicht jetzt gern loswerden. Und damit meine ich nicht, dass ich es essen will. Ich heiße übrigens Callum“, grinste er.
„Rosy“, sagte Rosy. Anscheinend glaubte Callum Reilly, dass sie keine Ahnung hätte, wen sie vor sich hatte, was ihr bei näherer Überlegung sehr gut gefiel. So nahm der preisgekrönte Sänger, beziehungsweise Musiker wenigstens nicht an, dass sie ihn absichtlich angerempelt hätte, um sich ihm an den Hals zu werfen.
„Wo wir das geklärt haben“, ergriff Callum Reilly erneut das Wort, „mach’ mal einen Vorschlag, wie ich die Torte aus dem Gesicht bekomme.“
„Ja. Klar. Das Hotel ist nur ein paar Schritte von hier entfernt. Ich schlage vor, dass wir jetzt zusammen dorthin gehen. Ich liefere diese Blumen ab. Unterdessen gehst du hoch auf dein Zimmer und steigst unter die Dusche. Ich laufe schnell zum Bäcker und kaufe eine neue Torte, die ich dann zum Hotel bringe. Deine Klamotten kannst du beim Zimmerservice abgeben. Die Kosten für die Reinigung rechnet das Hotel dann direkt mit mir ab. Wäre das so in Ordung für dich?“
Callum Reillys Augen guckten komisch aus der Sahneumgebung heraus und Rosy zog scharf die Luft zwischen die Zähne.
„Die Torte gebe ich natürlich unten an der Rezeption ab“, sagte sie peinlich berührt, als ihr klar wurde, dass man ihren Vorschlag auch etwas anders verstehen könnte. Als Callum sie immer noch so komisch ansah, fügte sie leise hinzu: „Ich wollte damit nicht sagen, dass ich zu dir aufs Zimmer komme. Ehrlich nicht. Ich ... Ach, was! Vor einer Stunde wusste ich nicht einmal, wer du bist. Ich finde die Musik, die du machst, grauenhaft. Ehrlich gesagt halte ich den Lärm nicht mal für Musik. Meine Schwester musste mir erst erklären, wer du bist. Ich schwöre! Ich bin kein durchgeknallter Fan. Niemals würde ich mich einem Star an den Hals werfen, nur weil er ein Star ist.“
Jetzt sog Callum Reilly die Luft zischend durch seine Zähne.
„Okay“, sagte er dann gedehnt. „Das habe ich bereits kapiert, als du mir diese lächerliche Rose aufgeschwatzt hast.“
„Dann ist es ja gut“, sagte Rosy.
„Hm“, kam es aus dem Sahnegesicht.
„Was hm? Sollen wir dann mal zum Hotel? Dusche, Reinigung, neue Torte?“
„Ich begleite dich gern zum Hotel. Gern auch mit diesem Gesicht. Aber aus der Dusche wird nichts. Auch auf die Gefahr hin, dass du das jetzt wieder schwer glauben kannst ... Die Sache ist nämlich so: Ich habe dort kein Zimmer.“
* * *
„Aaaaah ... Ist das etwa ...?“, kreischte Grace, als Rosy mit dem versahnten Callum Reilly im Schlepptau in den Laden marschierte.
„Häng du schön das Glockenspiel weiter auf und vor allem: SAG NICHTS“, zischte Rosy ihrer Schwester zu.
„Man wird doch wohl noch ...“ Graces Augen leuchteten.
„Schnauze!“
„Ist ja schon gut.“ Eingeschnappt ließ Grace ihre Schwester links liegen. Stattdessen grinste sie den berühmten Musiker ausgesprochen grenzdebil an und flötete mit quiekiger Jungmädchenstimme: „Hallo, Cal. Ich bin Rosys Schwester Grace.“
„Hi, Grace. Ich bin nicht hier“, erwiderte Callum, dessen Kosename anscheinend Cal lautete. Er blickte Grace mehr eindringlich als tief in die Augen.
„Dachte ich mir schon ... Die Tarnung.“ Grace deutete auf Callums Gesicht und kicherte albern.
„Grace!“, fauchte Rosy.
Die Sechzehnjährige schluckte. „Schon klar. Hab kapiert. Meine Lippen sind versiegelt wie ...“
„Ein verschweißter, in ein Salzbergwerk versenkter Tresor. Ich wusste, dass du ein tolles Mädchen bist“, beendete Callum den Satz.
Grace legte einen hollywoodreifen Augenaufschlag hin. „Genau so. Kann ich trotzdem nachher ...“
„Ein Autogramm, ein Foto für die Ahnengalerie, eine A-Capella-Kostprobe von unserem neuesten Song ... Natürlich.“ Eins von Callums Sahneaugen zwinkerte.
Grace biss sich auf die Unterlippe und himmelte Callums Rückseite an, während er Rosy die schmale Treppe ins obere Stockwerk hinauf folgte.
Die schmalen, ausgetretenen Holzstufen knarrten unter Callums Füßen, während Rosy den Aufstieg vollkommen lautlos absolvierte.
„Angst, dass die Treppe einstürzt?“, fragte Rosy mit einem bemüht verschmitzten Lächeln. Sie wollte auf keinen Fall wie ein unsicheres Mäuschen rüberkommen, auch wenn diese Bezeichnung gerade absolut auf sie passte. Also hieß es: Maske auf. „Ich denke, wenn ein Haus zweihundert Jahre hält, dann hält es auch weitere hundert. So wie die alten Schlösser“, fügte sie schmunzelnd hinzu.
Das mit den alten Schlössern war eine Anspielung auf die Luxus-Hotelkette der Reillys. Die meisten befanden sich in alten Schlössern.
Callum ging nicht auf Rosys Bemerkung ein. Am oberen Treppenabsatz angekommen, zog er den Kopf ein, obwohl zwischen seinem Scheitel und dem Deckenbalken noch mindestens fünf Zentimeter Luft waren. Mit ihren 160 Zentimetern machte Rosy die niedrige Deckenhöhe im ersten Stock nichts aus. Callum dagegen wirkte in dieser Umgebung wie ein Riese, der sich in eine Puppenstube verirrt hatte.
„Das Bad ist hinter der hellblauen Tür. Aber Vorsicht beim Einstieg in die Wanne. Der hintere Fuß ist ein bisschen wackelig.“
Callum nickte, während er sich prüfend in der winzigen Diele umsah. Auf einem Raum von drei Quadratmetern gingen drei Türen ab, die allesamt sperrangelweit offen standen, weil Rosy es so weniger beengt vorkam.
„Das mit der Wackelwanne kommt von dem schiefen Boden“, klärte Callum die Besitzerin des winzigen Häuschens auf. „Dadurch müssen die Beine, die auf dem Boden stehen, die Last des in der Luft hängenden Beines auffangen. Auf Dauer führt das zu Materialermüdung. Du solltest entweder den Boden begradigen lassen, was natürlich sehr aufwändig ist. Dielenboden raus, Balken raus. Dann kommen vermutlich die durchgenudelten Aufleger zum Vorschein. Sehr viel Arbeit und Schmutz. Und teuer. Ich denke zu teuer, oder?“
Rosy starrte den Sahne-Riesen verblüfft an.
Der fuhr ungerührt fort: „Alternativ könntest du einen Keil unter das wackelnde Bein klemmen. Das ist die Billiglösung. Ich würde vorschlagen, dass du von einem Schreiner ein neues Wannenbein anfertigen lässt. Das ist meines Erachtens in diesem Fall die beste Möglichkeit. Beziehungsweise die schnellste, unauffälligste und immer noch geradezu spottbillige Lösung. Wenn du alle Beine in derselben Farbe anstreichst, fällt das niemandem auf und die Wanne steht bombenfest. Du könntest auch gleich vier neue Beine schreinern lassen. Oder schweißen. Das sieht dann garantiert sogar ziemlich cool aus.“
Während Callums Ausführungen hatte sich Rosys Kinnlade verselbständigt, weswegen sie sie zuklappte, als sie annahm, dass der Architektur-Vortrag beendet war.
„Ich denke“, sagte sie, als die Verblüffung wich, mit nur mühsam unterdrücktem Kichern, „ich entscheide mich für die Schweiß-Beine. Wann kommst du dazu?“
Callums weißes Gesicht lachte. „Ich denke darüber nach, während ich dein Waschbecken benutze. Gibt es dabei irgendetwas zu beachten?“
„Stütz’ dich nicht auf. Dann sollte es gut gehen. Und, wenn du heißes Wasser brauchst, musst du den linken Hahn aufdrehen und das Wasser eine Weile laufen lassen. Irgendwann wird es klar und heiß.“
„Das sollte ich hinbekommen“, erwiderte Callum trocken.
„Na, dann ...“ Rosy sah amüsiert zu dem großen Mann, der wie bestellt und nicht abgeholt vor der hellblauen Badezimmertür stand. „Handtücher, Seife, Abschminkpads findest du in dem Regal neben dem Waschbecken.“
„Super. Könntest du eventuell die ... äh ... Torte nehmen? Dann muss ich sie nicht auf dem Klo abstellen ...“
„Ich Idiotin ...“ Rosy nahm Callum ab, was von der Torte übrig war. Callum verschwand im Bad. Die Tür schloss er hinter sich.
Ein kräftiger Schwall Atemluft entwich Rosys Lungen.
Was für eine Situation! Ein Superstar mit Sahnetorte im Gesicht in ihrer Wutzelhütte. Das war das mit Abstand krasseste Erlebnis ihres Lebens. Es übertraf fast Logans und ihre Idee, es mangels vorhandener Sexualpartner miteinander zu versuchen.
Okay, Rosy, jetzt mal ganz ruhig.
Logan war das richtige Stichwort. Sie besaß noch ein T-Shirt von ihrem Ex. Weil es so schön lang und weich war und blau-weiß gestreift, war es ihr Lieblingsschlafshirt. Doch der Mann in ihrem Bad würde gleich ein sauberes Oberteil brauchen. Es sei denn, er wusch sein T-Shirt in ihrem Waschbecken, mit ihrer Lavendelseife, und trocknete es nachher mit dem Fön. Aber das konnte Rosy sich nicht vorstellen. Fürs Wäschewaschen hatte ein preisgekrönter Star sicher Personal.
Das Logan-Gedächtnis-Shirt war frisch gewaschen. Nachdem Rosy es aus dem Schrank gezogen hatte und sich damit umdrehte, stand Callum Reilly mit eingezogenem Kopf in ihrem Schlafzimmertürrahmen.
Mit nacktem Oberkörper.
Schluck.
Nicht, dass Rosy in ihrem Leben nicht genügend nackte Männeroberkörper gesehen hätte. Oder Sixpacks. Oder die feine Haarspur, die sich bei vielen Männern vom Bauchnabel bis zum Hosenbund runterzog. Und darüber hinaus natürlich. Also darunter.
Aber darauf war sie einfach nicht gefasst. Nicht jetzt, nicht hier. Zumal der Mann ohne Torte im Gesicht einfach zum Niederknien aussah. Also bitte. Das war doch ein ganz normaler Samstag in Roseport. Arbeit am Vormittag, ein bisschen Bude saubermachen und chillen am Nachmittag, gekrönt von einem gemütlichen Abend mit Saoirse und Paddy. Ein halbnackter Star unter ihrem schiefen Türrahmen gehörte definitiv nicht dazu.
Rosy wusste gar nicht, was sie sagen sollte.
Dafür war Callum nicht auf den Mund gefallen.
„Hast du eventuell ein T-Shirt für mich? Vielleicht hast du ja eins von deinem Freund da. Die meisten Frauen haben ein Hemd von ihrem Freund im Schrank.“
Konnte es sein, dass Callum Reilly gerade herauszufinden versuchte, ob sie frei war?
Rosy lief ein Schauer über den Rücken. Wenn das so wäre ... Wow!
„Woher weißt du das?“ Rosy konnte ihren Blick kaum von dem frisch gewaschenen Traum von einem Mann lösen, dessen rechter Arm von oben bis unten mit einem wunderschönen, bunten Tattoo bedeckt war. Auf der rechten Hüfte saß ein kleines Tattoo. Von weitem sah es aus wie ein Violinschlüssel.
„Woher weiß ich was?“
Rosy heftete ihren Blick an den gelblichen Lichtschalter an der Wand, der sich auf Höhe von Callum Reillys kleinen, dunklen Brustwarzen befand. „Dass die meisten Frauen ein T-Shirt von ihrem Freund im Schrank haben? Erlebst du so etwas wie heute öfter?“
Es dauerte eine Weile, bis Callum bedauernd meinte: „Nein. Leider nicht.“
Jetzt wusste Rosy schon wieder nicht mehr, was sie sagen sollte.
Was hatte das Leider nicht schon wieder zu bedeuten?
Egal. Das war alles zu viel für eine kleine Blumenverkäuferin. Rosy warf Callum das quergestreifte T-Shirt zu. Er fing es mit einer Hand und zog es sich leider sofort über.
Es war kaum zu glauben, aber selbst ein Schlafshirt konnte diesen Mann nicht entstellen.
„Steht dir“, hörte Rosy sich murmeln, während sie sich lautlos selbst zur Ordnung rief. Es wurde Zeit, dass sie sich an ihr Motto erinnerte: Keine Geschichten mit Durchreisenden.
„Danke. Was macht dein Freund beruflich?“
„Bitte ...?“
„Ist er Seemann?“ Callum füllte noch immer den Türrahmen aus.
Rosys lachte artig über die als Witz getarnte Frage, während ihr Herz einen Hüpfer machte, der ihr gar nicht gefiel. Kein Zweifel: Der Mann wollte wissen, ob sie frei war.