Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieser Band enthält die folgenden Erzählungen: Vom This, der doch etwas wird Was die Großmutter gelehrt hat Moni der Geißbub Rosenresli Der Toni vom Kandergrund
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 226
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rosenresli und andere Erzählungen
Johanna Spyri
Inhalt:
Johanna Spyri – Biografie und Bibliografie
Vom This, der doch etwas wird
1. Kapitel - Alle gegen einen
2. Kapitel - Bei der Schwemmebachsennhütte
3. Kapitel - Ein hilfreicher Engel
4. Kapitel - Was die Sennenmutter haben will
Was die Großmutter gelehrt hat
1. Kapitel - Der Kummer der alten Waschkäthe
2. Kapitel - In den Erdbeeren
3. Kapitel - Dem Trini wird etwas Neues verständlich
4. Kapitel - Noch eine zornige Rede und was daraus folgt
5. Kapitel - Wie es mit dem Vetter geht
Moni der Geißbub
1. Kapitel - Der Moni fühlt sich wohl
2. Kapitel - Monis Leben auf dem Berg
3. Kapitel - Ein Besuch
4. Kapitel - Moni kann nicht mehr singen
5. Kapitel - Moni singt wieder
Rosenresli
1. Kapitel. Zur Zeit der Rosen
2. Kapitel. Eine kleine Helferin und eine große Hilfe
3. Kapitel. Rosenreslis Kummer
4. Kapitel. Keine Sorgenmutter mehr
Der Toni vom Kandergrund
1. Kapitel. Daheim im Steinhüttchen
2. Kapitel. Ein schwerer Spruch
3. Kapitel. Oben in den Bergen
4. Kapitel. In der Heilanstalt
Rosenresli, J. Spyri
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN:9783849625108
www.jazzybee-verlag.de
Jugendschriftstellerin, geb. 12. Juni 1829 als die Tochter des Arztes Heusser und einer poetisch begabten Mutter in dem Dorf Hirzel bei Zürich, verheiratete sich 1852 mit dem Rechtsanwalt S. in Zürich und starb hier 7. Juli 1901. Sie veröffentlichte 1871 ihre früheste Erzählung: »Ein Blatt auf Vronys Grab« (4. Aufl., Brem. 1883), trat aber erst mehrere Jahre später, und nachdem eine Reihe ihrer »Geschichten für Kinder und auch solche, welche Kinder liebhaben« (Gotha 1879–89), Beifall in weitern Kreisen gefunden, mit ihrem Namen vor die Öffentlichkeit. Die Erzählungen Johanna Spyris, durch einen Hauch echter Frömmigkeit erwärmt, zeichnen sich durch Lebensfülle, seine Beobachtung und liebenswürdigen Humor vor der Mehrzahl der Erzählungen dieser Richtung aus. Sie führen die Einzeltitel: »Heimatlos«, »Aus Nah und Fern«, »Heidis Lehr- und Wanderjahre«, »Im Rhonetal«, »Aus unserm Lande«, »Ein Landaufenthalt bei Onkel Titus«, »Kurze Geschichten«, »Geschichten für Jung und Alt«, »Gritli«, »Verschollen, nicht vergessen«, »Artur und Squirrel«, »Aus den Schweizer Bergen«, »Die Stauffermühle« etc. und sind in vielen Auflagen erschienen, auch ins Französische, Englische und Italienische übersetzt.
Wichtige Werke:
· 1871: Ein Blatt auf Vrony's Grab
· 1872: Nach dem Vaterhause!
· 1873: Aus früheren Tagen.
· 1872: Ihrer Keines vergessen.
· 1872: Verirrt und gefunden
· 1878: Heimatlos.
· 1879: Aus Nah und Fern.
· 1879: Verschollen, nicht vergessen.
· 1880: Heidi's Lehr- und Wanderjahre.
· 1880: Im Rhonetal
· 1880: Aus unserem Lande.
· 1881: Am Sonntag
· 1881: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.
· 1881: Ein Landaufenthalt von Onkel Titus.
· 1883: Wo Gritlis Kinder hingekommen sind.
· 1884: Gritlis Kinder kommen weiter.
· 1886: Kurze Geschichten für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben.
· 1887: Was soll denn aus ihr werden? Eine Erzählung für junge Mädchen
· 1888: Arthur und Squirrel.
· 1888: Aus den Schweizer Bergen.
· 1889: Was aus ihr geworden ist.
· 1890: Einer vom Hause Lesa.
· 1892: Schloss Wildenstein.
· 1901: Die Stauffer-Mühle
Wenn man den Seelisberg von der Rückseite her besteigt, kommt man auf eine frische, grüne Wiese. Man bekommt fast Lust, sich dort unter die friedlich weidenden Tiere zu mischen und auch einmal ein wenig von dem schönen, weichen Gras zu kosten. Die sauberen, wohlgenährten Kühe ziehen lieblich läutend immer hin und her. Denn jede trägt am Hals ihre Glocke, damit man immer hört, wo sie ist. So kann sich keine Kuh unbemerkt dorthin verlaufen, wo die von Sträuchern bedeckte Felswand liegt, über die sie hinunterstürzen könnte. Es ist außerdem ein ganzes Rudel Buben dort, die schon acht geben können. Aber die Glocken sind doch notwendig und tönen so freundlich hin und her, daß keiner sie entbehren möchte. Am Bergabhang stehen hie und da vereinzelt die kleinen, hölzernen Häuser, und nicht selten rauscht daneben ein schäumender Bach ins Tal hinab. 'Am Berghang' heißt es hier oben und mit Recht, denn nicht eines der Häuschen steht auf ebenem Boden. Es ist, als wären sie irgendwie an den Berg hingeworfen worden und da hängengeblieben. Man begreift gar nicht, wie sie da oben an den Hang hingebaut werden konnten. Vom Weg unten sehen sie alle gleich nett und freundlich aus mit den offenen Galerien und der kleinen, hölzernen Treppe am Haus. Steigt man aber hinauf und kommt in ihre Nähe, so sieht man, daß ein großer Unterschied zwischen ihnen ist. Gleich die zwei ersten am Hang sehen in der Nähe ganz verschieden aus. Sie stehen nicht weit voneinander, und zwischen ihnen stürzt der größte Bergbach der Gegend, der schäumende Schwemmebach, hinunter.
Am ersten Häuschen blieben auch an den schönsten Sommertagen alle die kleinen Fenster immer fest geschlossen, und die einzige Luft, die hineindrang, kam durch die Löcher der zerbrochenen Scheiben. Das war aber nicht viel, denn die Löcher waren wieder mit Papier verklebt, damit man im Winter drinnen nicht frieren mußte. An dem hölzernen Treppchen waren die Stufen alle halb abgebrochen. Und die Galerie war so zerfallen, daß es ein Wunder war, daß alle die kleinen Kinder, die da herumrutschten und stolperten, nicht Arme und Beine brachen. Sie hatten jedoch alle gesunde Glieder, aber recht unsaubere. Die Kinder waren alle mit Schmutz überdeckt, und ihre Haare hatten noch nie einen Kamm gesehen. Vier dieser kleinen Schlingel krochen den Tag über da herum, und am Abend kamen vier größere Kinder dazu. Drei kräftige Buben und ein Mädchen, die auch nicht besonders sauber und ordentlich aussahen, aber doch ein wenig besser als die Kleinen. Denn sie konnten sich doch schon selbst waschen.
Das Häuschen über dem Bach drüben hatte einen ganz anderen Charakter. Da sah es schon unten vor der kleinen Treppe so sauber und aufgeräumt aus, als sei der Erdboden ein ganz anderer als dort drüben. Die Stufen sahen immer so aus, als wären sie eben gescheuert worden. Und oben auf der Galerie standen drei schöne Nelkenstöcke und dufteten den ganzen Sommer lang ins Fenster hinein. Eines von den kleinen, hellen Fenstern stand offen und ließ die schöne, sonnige Bergluft herein. Dort konnte man meistens eine noch kräftig aussehende Frau sitzen sehen, mit schönem, weißem Haar, das sie sehr ordentlich unter das schwarze Häubchen zurückgestrichen hatte. Sie flickte gewöhnlich an einem Männerhemd aus grobem, festem Stoff, das aber immer sauber gewaschen war. Die Frau selbst sah auch in ihrem einfachen Gewand so adrett und reinlich aus, als wäre noch nie etwas Unsauberes an sie herangekommen. Es war Frau Vizenze, die Mutter des jungen Sennen, des fröhlichen Franz Anton mit den kräftigen Armen. Der machte den Sommer über in der oberen Sennhütte seine Käse, und erst im Spätherbst zog er wieder zur Mutter herunter, um den Winter bei ihr zu verbringen. Denn dann butterte er in der unteren Sennhütte, die ganz nahe lag. Da über den reißenden Schwemmebach kein Steg führte, waren die zwei Häuschen ganz getrennt. Und Frau Vizenze kannte Leute, die viel weiter weg wohnten, besser, als diese Nachbarn über dem Bach, zu denen sie nur etwa einmal am Tag stumm hinüberschaute. Gewöhnlich schüttelte sie dann in bedenklicher Weise den Kopf, wenn sie die schwarzen Gesichter und schmutzigen Fetzen drüben an den Kindern sah. Sie schaute aber nicht oft hinüber, denn der Anblick gefiel ihr nicht. Lieber betrachtete sie, wenn das Feierabendstündchen kam, ihre roten Nelken auf der Galerie oder sie schaute über den grünen, sonnigen Abhang hinunter, der vor ihrem Häuschen zum Tal hinabstieg.
Die verwilderten Kinder über dem Bach gehörten dem Hälmli-Sepp, wie er genannt wurde, der seine Arbeit außer Haus beim Holzfällen oder Heumachen suchte. Außerdem trug er auch Lasten den Berg hinauf. So war er meistens unten im Tal oder auf den Wegen in der Umgebung. Die Frau hatte genug daheim zu tun. Aber sie schien anzunehmen, so viele kleine Kinder könne man nicht in Ordnung halten, und später würde es dann von selbst besser. So ließ sie alles gehn, wie es ging. Und in der schönen, reinen Luft blieben sie auch alle gesund und munter und ließen sich's, auf dem Grasboden herumrutschend und krabbelnd, wohl sein. Zur Sommerzeit waren die vier Größeren den ganzen Tag draußen, um die Kühe zu hüten. Denn da geht es nicht zu wie auf den Hochalmen, wo die ganze Herde zusammen weidet und nur von einem oder zwei Hirten bewacht wird. Die Leute vom Berghang schickten ihre Kühe auf das umliegende Weideland hinaus und mußten sie hüten lassen. Das ist immer eine lustige Zeit für die Buben und Mädchen, die sich dort zu jeder Tageszeit zusammenfinden und allerlei fröhliche Sachen miteinander unternehmen. Manchmal waren die Kinder auch weiter unten im Tal bei der Kartoffelernte, oder sie verrichteten andere leichtere Arbeiten auf den Feldern. So verdienten sie dann den ganzen Sommer über ihren Unterhalt und brachten noch manches Geldstück nach Hause, das die Mutter gut brauchen konnte. Sie hatte ja immer noch die vier Kleinen zu ernähren und für alle acht die Kleider zu beschaffen. Wenn diese auch noch so einfach waren, ein Hemdlein mußte doch jedes haben und die vier Großen noch ein Stück dazu. Eine Kuh hatte der Hälmli-Sepp auch nicht, wie fast alle Bauern um ihn herum eine besaßen, wenn sie auch noch so wenig Land dazu hatten.
Hälmli-Sepp hieß der Mann deshalb, weil die Halme auf seinem Besitztum nicht dick genug waren, um eine Kuh zu erhalten. Er hatte nur eine Geiß und ein Stück Kartoffelland, damit mußte die Frau mit den vier Kleinen den Sommer über auskommen und auch hier und da noch eines der Größeren speisen, wenn es draußen keine Arbeit fand. Der Vater kam im Winter wohl dann und wann heim, aber er brachte wenig mit, denn sein Häuschen und Acker waren so verschuldet, daß er das ganze Jahr über etwas abzuzahlen hatte. Sobald er nur wieder ein wenig Lohn behalten konnte, kam einer, dem er etwas schuldig war und nahm ihm weg, soviel er fand.
So mußte die Frau mit den Kindern oft hungern. Sie selbst konnte keine Ordnung im Haus halten, und die Arbeit ging ihr nie so recht von der Hand. Sie konnte auch manchmal eine ganze Zeitlang auf der verfallenen, kleinen Galerie stehenbleiben. Anstatt zu arbeiten, schaute sie über den Bach zu dem schmucken Häuschen der Sennerin hinüber, dessen Scheiben in der Sonne glänzten. Dann sagte sie ärgerlich vor sich hin: "Ja, die dort kann schon putzen und alles sauberhalten, die hat sonst nichts zu tun, aber unsereiner." Dann ging sie wieder ärgerlich in die dumpfe, trostlose Stube zurück, und an dem, der ihr zuerst in den Weg kam, ließ sie den Ärger aus.
Das traf nun meistens einen Buben von zehn oder elf Jahren, der nicht ihr eigener war, aber schon seit seiner Geburt im Häuschen vom Hälmli-Sepp wohnte. Dieser kleine Bursche, von jedermann nur 'der dumme This' genannt, sah so mager und dürftig aus, daß man ihn kaum für achtjährig gehalten hätte. Er schaute auch so scheu und verschüchtert drein, daß niemand wußte, wie der This eigentlich aussah, denn er blickte immer furchtsam auf den Boden, wenn man zu ihm sprach. This hatte nie eine Mutter gekannt. Sie war gestorben, als er kaum zwei Jahre alt war. Sein Vater war nicht viel später über die Felsen in die Tiefe gestürzt, als er vom Heuholen in den Bergen herunterkam und den Weg abkürzen wollte. Seit dem Sturz war er lahm und konnte nichts mehr tun, als kleine Matten zusammenflechten, die er in dem großen Gasthof oben auf dem Seelisberg verkaufte. Der kleine This hatte seinen Vater nie anders gesehen, als auf einem Schemel sitzend, eine Strohmatte auf den Knien. Alle Leute hatten ihn den lahmen Matthis genannt.
Schon seit sechs Jahren war er tot, und da er im Häuschen vom Hälmli-Sepp eine kleine Kammer als Schlafstätte mit seinem Büblein gemietet hatte, blieb dieser nach des Vaters Tod gleich an demselben Ort. Das wenige Geld, das für den kleinen This von der Gemeinde bezahlt wurde, war der Frau des Hälmli-Sepp sehr erwünscht. Und in die Kammer konnte sie nun noch zwei von ihren Buben stecken, für die schon lange fast kein Platz zum Schlafen mehr da war. Der kleine This war schon von Natur aus ein schüchternes und stilles Büblein gewesen. Seinem Vater, der erst seine Frau verloren, dann das große Unglück gehabt hatte, war aller Lebensmut vergangen. Und hatte er vor seinem Unglück wenig geredet, so sagte er nun fast gar nichts mehr.
So saß der kleine This ganze Tage lang neben seinem Vater, ohne ein Wort zu hören, und so lernte er auch lange keines sagen. Als er dann seinen Vater verloren hatte und nun ganz zu der Familie des Hälmli-Sepp gehörte, da redete er fast gar nicht mehr, denn er wurde von jedem angefahren und hin und her gestoßen, weil er sich nie wehrte. Zu all den Püffen, die er von den Kindern auszustehen hatte, kamen dann noch die bösen Worte der Frau, wenn sie den Ärger über das saubere Häuschen der Sennerin drüben hatte. Der This wehrte sich aber nie, denn er hatte das Gefühl, die ganze Welt sei gegen ihn, und so nutze doch alles nichts. Nach und nach wurde der Bub so scheu und verschüchtert, daß man glaubte, als merke er kaum, was um ihn her vorging. Und meistens gab er auch gar keine Antwort, wenn man ihn anrief. Er sah überhaupt immer so aus, als suche er nach einem Loch, wo er in die Erde hineinkriechen könnte, daß ihn keiner mehr fände.
So war es gekommen, daß die vier Großen vom Hälmli-Sepp, der Jopp, der Hans, der Ulli und Lisi das schon manchmal zu ihm gesagt hatten: "Du bist doch ein dummer This", und daß es die vier Kleinen auch nachsagten, sobald sie nur reden konnten. Da sich der This niemals dagegen wehrte, so hatten nach und nach alle Leute angenommen, es werde wohl so sein, und er wurde weit und breit nur noch 'der dumme This' genannt. Es war auch so, als ob der This nicht arbeiten könnte, wie die andern es taten. Sollte er helfen, die Kühe zu hüten, und war er mit all den anderen Buben zusammen, so suchte er gleich eine Hecke oder einen Busch auf, um sich dahinter zu verstecken. Da saß er meistens zitternd vor Furcht, denn er hörte wohl, wie die anderen Buben ihn mit großem Geschrei suchten, daß er bei den Spielen mitmachte, die sie spielen wollten.
Diese Spiele endeten aber immer mit vielem Prügeln, und das traf regelmäßig den This am stärksten, da er sich nicht wehrte und auch nicht wehren konnte gegen die viel Stärkeren. So verkroch er sich, sobald er konnte, und inzwischen liefen seine Kühe, wohin sie wollten und fraßen auf der Weide der Nachbarn. Das gab dann großen Ärger, und jeder fand, der This sei zu dumm, um nur die Kühe zu hüten, und keiner stellte ihn mehr an. Ebenso ging es bei den Arbeiten auf dem Feld, wenn die Buben zum Jäten auf die Kartoffelfelder gehen sollten. Da warfen sie sich mit Vorliebe die Knollen der Kartoffelblüten an den Kopf, schon damit die Zeit etwas schneller vergehe. Und jeder gab dem anderen reichlich zurück, was er empfangen hatte. Der This gab aber nichts zurück, sondern scheu und furchtsam schaute er nach allen Seiten, von woher er getroffen werde. Das war gerade, was die anderen gern wollten. Und so flogen ihm unter vielem Lachen von allen Seiten die Knollen an den Rücken und an den Kopf.
Während aber die anderen Zeit hatten, dazwischen zu arbeiten, versuchte der This nur immer auszuweichen und sich hinter den Kartoffelstauden zu verstecken. So war es auch mit dieser Arbeit nichts, und jung und alt waren sich einig, der This sei zu aller Arbeit zu dumm und aus dem This könne nie etwas werden. Weil er nun gar nichts verdienen und ja auch nie etwas werden konnte, so wurde er auch von der Frau des Hälmli-Sepp demgemäß behandelt. Wenn schon die eigenen vier kleinen Kinder kaum genug zu essen hatten, so geschah es meistens, daß für den This gar nichts mehr übrigblieb und es dann hieß: "Du wirst wohl etwas finden, du bist groß genug." Wie der This eigentlich ernährt wurde, wußte niemand, auch die Frau des Hälmli-Sepp nicht, aber irgendwie lebte er doch immer.
Dem schmalen, mageren Buben gab schon hier und da eine gute Frau einen Brocken Brot oder eine Kartoffel, wenn er still an ihrer Tür vorbeiging. Betteln ging der This aber nicht. Satt hatte er sich in seinem Leben noch nie gegessen. Aber das war ihm nicht so schrecklich wie die Verfolgungen und das Auslachen der Buben, vor denen er immer scheuer wurde und sich immer mehr versteckte.
An einem lieblichen Sommerabend, als in der blauen, sonnigen Luft alle Mücken tanzten, trafen sich am Bergabhang alle Hüterbuben und—mädchen. Sie mußten heute etwas Besonderes zu verhandeln haben. Der Jopp, von allen der Größte, war der Leiter der Versammlung. Und als alle nun auf einem Haufen beisammen waren, zeigte er an, daß man jetzt zur Schwemmebachsennhütte hinaufgehe, denn heute sei der Käsfischtag. Nun müsse aber vor allem ausgemacht werden, wer dableiben und die Kühe hüten solle, während die anderen sich zu dem Festmahl begeben würden. Das war nun eine schwierige Frage, denn nicht ein einziger hatte Lust, sich für die anderen aufzuopfern und dazubleiben. Da kam der schlaue Uli auf den Gedanken, man könnte einmal den dummen This zwingen, auf die Kühe acht zu geben. Und damit er's nicht vergesse, könnte man ihn im voraus ein wenig durchprügeln. Der Vorschlag fand Anklang, und schon wollten mehrere von den Anführern der Schar den This holen, als das Lisi mit lauter Stimme dazwischenrief: "Das ist gar nichts Gescheites, was der Uli erfunden hat. So bekommen wir nur alle den Lohn dafür, wenn wir wieder zurückkommen und die Kühe sich verlaufen haben. Ihr werdet doch nicht glauben, daß der This, wenn er zu dumm ist, zwei Kühe zu hüten, auf einmal zwanzig hüten kann. Man muß losen, und drei müssen bei den Kühen bleiben, sonst ist's nichts." Lisis Erklärung machte Eindruck, der neue Rat wurde angenommen. Drei aus der Schar wurden durch das Los zum Dableiben verurteilt, ausgerechnet der Uli war unter diesen drei. Murrend und knurrend kehrte er der siegreichen Schar den Rücken und setzte sich auf den Boden neben seine beiden Leidensgenossen. Mit lautem Schreien und Jauchzen stürzte nun die ganze Kinderschar den Berg hinauf, dem unvergleichlichen Genuß entgegen.
Der Käsfischtag wurde immer von Franz Anton den Buben angezeigt, die es nie unterließen, ihn daran zu erinnern, wenn er es etwa vergessen sollte. Denn das war ein Hauptfest für sie. Das war der Tag, an dem der Franz Anton seine frischen Käse rundum beschnitt, nachdem diese als weiche Masse in die runde, hölzerne Form gepreßt worden waren. Was nun zwischen dem pressenden Gewicht und der festen Form sich von der Masse herausdrängte, wurde abgeschnitten und war anzusehen wie eine lange, schneeweiße Wurst. Die wurde dann in viele Stücke gebrochen und von dem freundlichen Sennen unter die Kinder verteilt. Das waren dann die sogenannten Käsfische. Dieses Fest wiederholte sich den Sommer über alle vierzehn Tage und wurde jedesmal mit lautem Freudengeschrei begrüßt.
This hatte sich hinter dem großen Distelbusch am Boden versteckt gehalten, während die Verhandlung vor sich ging. Er gab keinen Ton von sich und blieb unbeweglich in derselben Stellung, bis er hörte, daß die große Schar davonlief. Jetzt guckte er vorsichtig ein wenig hervor. Die drei grollenden Zurückgebliebenen saßen am Boden und kehrten ihm den Rücken zu. Die anderen waren schon ein gutes Stück die Alm hinaufgekommen, ihr Rufen und Jubeln schallte lustig von der Höhe hernieder. Den This erfaßte ein unwiderstehliches Verlangen, auch an der Käsfischfahrt teilzunehmen. Ganz behende schlüpfte er hinter dem Busch hervor, und leise und leicht wie ein Wiesel glitt er hinter den drei Unzufriedenen vorbei und den Berg hinauf. Nach dem letzten steilen Hang kam eine kleine, glänzend grüne Hochebene, da stand die Sennhütte. Und wenige Schritte davon entfernt rauschte der klare Schwemmebach nieder. Dort in der Tür seiner Hütte stand der Franz Anton mit seinem runden, freundlichen Gesicht. Er lachte über die vielen Sprünge, die jetzt die Buben und Mädchen in ihrem Eifer, zu dem ersehnten Genuß zu gelangen, auf allen Seiten machten. Jetzt waren sie alle bei der Hütte und eines drängte das andere vorwärts, um noch näher dabei zu sein, wenn die Teilung beginnen würde.
"Nur zahm, nur zahm", lachte jetzt der Franz Anton. "Wenn ihr alle in die Hütte hineindrängt, so habe ich keinen Platz mehr zum Käseschneiden und ihr habt den Schaden." Jetzt nahm er sein festes Messer zur Hand und trat an den großen, runden Käse heran, den er schon vorher auf dem Tischchen zurecht gelegt hatte. Das Schneiden ging rasch vor sich. Dann kam er mit der langen, dicken, schneeweißen Schnur heran. Nun teilte er sie und reichte hier ein Stück und da ein Stück, oft über die Köpfe der Großen weg den Kleinen, die nicht zu ihm vordringen konnten. Denn der Franz Anton war gerecht in seiner Teilung.
This hatte ganz hinten gestanden, und wenn er ein wenig vordringen wollte, so bekam er da einen Stoß und dort einen und flog so von einer Seite zur anderen. Der Franz Anton sah ihn auch gar nicht, weil immer wieder ein Größerer und Dickerer sich vor ihn drängte. Zuletzt bekam er einen so ungeheuren Stoß von dem breiten, nach allen Seiten schlagenden Jopp, daß er sich fast überschlagen hätte. Die Teilung war auch schon fast zu Ende, und der This sah wohl, daß er zu keinem Stückchen Käsfisch gelangen konnte, so wollte er doch auch keine Schläge mehr. Er ging ein paar Schritte weiter hinunter, wo die jungen Tannen standen und setzte sich auf den Boden zwischen den Bäumchen. Auf der höchsten Krone des einen saß ein lustiger, kleiner Vogel und pfiff so fröhlich in die helle, sonnige Luft hinauf, als gäbe es gar nichts anderes auf der Welt als blauen Himmel und Sonnenschein. Das machte dem This das Herz so froh, daß er fast das Leid vergaß, das ihm eben geschehen war.
Von Zeit zu Zeit mußte er nach der Sennhütte hinüberschauen, denn das Lärmen und Jauchzen, wenn immer einer dem anderen sein Stück Käsfisch wieder abgejagt hatte, nahm kein Ende. Dann sah er immer noch, wie jedes Kind mit einem größeren oder kleineren Brocken der schönen, weißen Masse dastand und mit Wonne hineinbiß. Er seufzte dann ein wenig und sagte leise: "Wenn ich nur auch einmal ein einziges Stücklein bekäme!" Der This hatte niemals von den herrlichen, weißen Käsfischen gekostet, denn noch nie hatte er es gewagt, so weit wie heute in die Schar der Glücklichen einzudringen. Jetzt hatte er gesehen, daß es ihm doch nichts half, wenn er auch allen Mut zusammenraffte. Und so kam er zu dem traurigen Schlußgedanken, daß er sein Leben lang nie einen Käsfisch bekommen werde. Darüber wurde er so traurig, daß er nicht einmal den Vogel mehr hörte und ganz zusammengeduckt unter den Tannenbäumen saß.
Jetzt war das Gastmahl bei der Hütte zu Ende und mit schrecklichem Lärm stürzten die Kinder daher, womöglich immer einer über den anderen hinausspringend, was an dem steilen Hang mehr als einen zu Fall brachte. Den halb versteckten This entdeckte im Vorbeirennen der lärmende Hans, und laut schrie er in das Gebüsch hinein: "Du Maulwurf, komm heraus, du mußt mitmachen!" This verstand, was er mitzumachen hatte. Er mußte sich als Bock hinstellen, damit die anderen über ihn springen konnten, wobei er dann meistens umgeworfen wurde. Er wäre viel lieber in seinem stillen Versteck geblieben, aber er wußte wohl, was er zu erwarten hatte, wenn er dem Befehl nicht folgte. So kam er gehorsam heran. "Wie viele Käsfische hast du bekommen?" schrie ihn jetzt der Hans an.
"Keinen", gab This zurück. "Oho, seht einmal den an", schrie der Hans noch lauter in die Schar hinein, "der läuft schnell zu den Käsfischen, und dann läuft er wieder fort und hat keinen gesehen." "Du dummer This", rief es von allen Seiten, und zugleich sprangen ihm die großen Buben über den Kopf weg, so daß er genug zu tun hatte, nur immer wieder auf die Füße zu kommen, wenn er umgeworfen worden war. Manchmal rollte er auch mit einer ganzen Schar Gestürzter die Abhänge hinunter, bis ein glücklicher Zufall sie wieder alle auf die Füße brachte. Nach dieser stürmischen Niederfahrt unten angekommen, liefen gleich alle auseinander, jeder seinen Kühen nach.
Der This rannte auf eine andere Seite, weit von allen weg. Denn jetzt erwartete er erst noch eine rechte Verfolgung von den Zurückgebliebenen, weit er mitgelaufen war. Er lief jetzt zu dem Sumpfloch hinunter und duckte sich da hinein, so konnte ihn von oben und unten niemand sehen. Das Sumpfloch war eine Vertiefung im Berghang, wo im Frühling und Herbst sich das Wasser oft sammelte und den Boden sumpfig machte. Jetzt aber war das Loch ganz trocken und ein angenehmer Aufenthalt. Denn es reiften da schöne, dunkelrote Erdbeeren in der Sonne, die so schön warm in die Vertiefung schien. Aber dem This war es überall angst und bang, wenn er noch in der Nähe der Häuser und der Hüterbuben war. Denn diese konnten ihn ja jeden Augenblick wieder entdecken und ihm wieder einen Streich spielen. Der This zuckte scheu und ängstlich bei jedem Ton zusammen, weil er immer dachte: Jetzt kommt wieder einer und tut mir etwas. Da dachte er noch einmal an das stille Plätzchen unter den kleinen Tannenbäumchen dort oben und an das pfeifende Vögelein, so daß es ihn mit Gewalt vom Boden zog. Er mußte noch einmal dorthin.
Mit allen Kräften lief er wieder den Berg hinauf und hielt nicht einmal an, bis er oben war und sich nun wieder unter die Tannenbäumchen setzen konnte. Nur nach vorn ins Tal hinab war sein Tannenversteck ein wenig offen. Da saß nun der This in völliger Sicherheit. Ringsum war eine große Stille, kein Ton drang von unten her bis hier auf die einsame Höhe, nur das Vögelein saß noch auf seinem Tannenast und pfiff sein fröhliches Lied. Die Sonne wollte untergehen. Die hohen Schneeberge drüben fingen zu flimmern und zu glühen an, und über die ganze grüne Alm hin lag das golden schimmernde Abendlicht. Der This schaute mit stillem Staunen um sich. Ein nie gekanntes Wohlsein kam über ihn. Hier konnte ja auch alle Angst und Scheu von ihm weichen, er hatte nichts mehr zu fürchten, denn weit und breit war kein Mensch mehr zu sehen und zu hören.