Rückkehr nach Nizza - Maren Monder - E-Book

Rückkehr nach Nizza E-Book

Maren Monder

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Beschreibung

NIZZA. Stadt ihrer Erinnerungen. Maren ist zurückgekommen, mit Fred, der seit kurzem ihr Leben begleitet. Sie liebt Tagträume, imaginäre Gespräche mit Micha, ihrem Bruder, ihrem zweiten Ich: Maren, was treibt dich an, nach Nizza zu fahren? - Ein Impuls, das drängende Gefühl, Klarheit zu gewinnen. Über mich - Und das in der Erinnerung? - Warum nicht? Ich stelle es mir vor wie bei einem Mosaik, man legt ein paar Steine, und auf einmal erscheint ein Gesicht - Das wird aber ein Gruppenbild bei den vielen Männern - Micha! - Pardon. Im Ernst: Kann die Vergangenheit die Zukunft erhellen? - Das lasse ich auf mich zukommen - Aber du weißt, dass die Sicherheit, Echtes von Falschem zu unterscheiden, bei der eigenen Person versagt, umso mehr, wenn diese dazu neigt zu schauspielern? - Micha, jetzt gehst du zu weit - Hast du mit Fred darüber gesprochen? - Nein. Er wird fragen. Und ich werde erzählen. Maren schlüpft in die Rolle der Scheherazade, spricht über ihr Leben, ihre gescheiterten Beziehungen, verbunden mit Micha in seinem besonderen Verhältnis zu ihr und ihrem Ex-Mann. Und da ist dann noch Fabian, ihr Sohn, der im Drama der obsessiven Leidenschaft des Kunstmalers Bernd zu Maren verhängnisvoll eingreift.

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... Und wenn mich auch niemand liest, kann ich die Zeit als verloren ansehen, die ich zu so nützlichem und zugleich angenehmem Nachdenken verwendet habe, in all den Stunden, wenn ich nichts anderes zu tun hatte? Um mich genau abzuformen und den Extrakt des Wesentlichen zu gewinnen, mußte ich immer etwas von mir ausscheiden und zurechtrücken; dadurch hat … sich mein inneres Bild gewandelt; es zeigt klarere Farben, als es erst aufwies. Mein Buch hat mich ebensosehr gestaltet, wie ich mein Buch gestaltet habe ... es ist ein Glied meines Lebens; seine Bemühungen zielen nicht auf etwas Drittes oder Fremdes wie die aller anderen Bücher. Ist es Zeitverschwendung, wenn ich mit solcher Ausdauer, mit solcher Eindringlichkeit über mich Rechenschaft ablege? … Ich horche auf das, was in mir vorgeht, weil ich es festzuhalten habe …

Studiert habe ich nicht etwa, um ein Buch zu schreiben, aber ich habe immerhin studiert, weil ich eins geschrieben hatte; wenn man das als studieren bezeichnen will, wie ich vorgehe: ein Stückchen von einem und dann von einem anderen Autor lesen; ihre Gedanken sozusagen einmal am Kopfe und einmal an den Füßen zu packen, und keineswegs, um eigentlich daraus zu lernen; nein, um die Gedanken, die ich schon habe, zu stützen, um bei ihrer Formulierung als Schmuck und Hilfe zu dienen …

Michel de Montaigne, Die Essais. Zweites Buch. Achtzehntes Kapitel.

»FASTEN SEAT BELTS ...« Sie fliegt nach Marseille, auf dem Weg nach Digne-les-Bains, zum Internationalen Kongress Public Health Education. Der Sitz neben ihr ist frei geblieben, sie wird nicht gestört in ihren Gedanken und Erinnerungen. Check-out, Leihwagen mieten, gute zwei Stunden Fahrt, Fred treffen, danach ein Arbeitsessen. Tags darauf die Tagung, vormittags die Diskussionsleitung übernehmen, abends zum offiziellen Dîner, übermorgen wieder zum Kongress. Aber nur bis Mittag. Mit Fred hat sie vereinbart, gemeinsam eine Woche in Nizza zu verbringen, nachdem sie ihre Pflichten bei der Konferenz erfüllt hätten.

Sie hat ein komfortables Hotel gewählt, nein, nicht das Negresco, das kennt sie aus der Zeit vor fast vierzig Jahren, als man es aufwendig renoviert und gerade wiedereröffnet hatte, der Aufenthalt noch erschwinglich gewesen war. Seinerzeit zusammen mit Herbert. Arzt. Zwanzig Jahre älter als sie mit ihren achtzehn. Er liebte sie, hatte sie aber nicht gedrängt, verstand, dass sie eines Tages geflüchtet war, aus Angst, ihr Leben auf Dauer in der kleingeistigen Atmosphäre der Kleinstadt verbringen zu müssen. Sie war geflohen und fand sich nicht lang darauf in den Armen von Heinz. Heinz Kammer. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Jetzt ist das Hotel zwei Nummern kleiner, jedoch mit einer weitläufigen Suite. Fred und ich finden miteinander mühelos zurecht, allein wir schätzen Freiraum, möchten uns nicht eingeschränkt fühlen. Wir wohnen auch nicht zusammen, jeder besitzt einen Schlüssel, wir kommen und gehen.

Bei dem Gedanken an Fred muss sie lächeln. Vor dreißig Jahren hatte er noch Pillen in der Apotheke gedreht, Laborbedarf in ihre Hausarztpraxis geliefert. Dann hatten sich ihre Wege getrennt, die sie Jahre später zufällig wieder zusammenführten. Und jetzt sind sie beide auf internationaler Bühne geladen, beauftragt vom Gesundheitsministerium, wo sie mittlerweile unterschiedliche Referate leiten.

Harte Wechsel, scharfe Einschnitte im Beruf, auch im persönlichen Leben. Sie war nie allein geblieben, hatte sich aber früher oder später von ihrem jeweiligen Partner getrennt, gleichgültig, wie tief und wahrhaftig sie für diesen empfand. Nein, nicht von allen – für Leo hatte das Schicksal anderes vorgesehen. Und Bernd? Sie verdrängt die Erinnerung, möchte jetzt nicht an ihn denken.

Nunmehr Fred. Und da sind noch Fabian, ihr Sohn, sowie Micha, ihr Bruder, ihr zweites Ich.

Als Kind hatte ich Micha an der Hand genommen, ihm meine Welt gezeigt; er hatte brav alles mitgemacht. Schwach und schmächtig, war er eine leichte Beute für die Rabauken in der Schule gewesen. Gut, dass seine Schwester aufgepasst und ihn handfest verteidigt hatte. Später entwickelte er einen muskulösen, geschmeidigen Körper. Er zeigte ihn mir, ohne Scheu, im Gegenteil, Micha war raffiniert, wusste, dass ich ihn gern betrachtete. Und er mich auch, das sah ich, wenn wir wieder einmal gemeinsam in die Wanne stiegen. Was wir uns nur erlaubten, wenn die Eltern nicht im Haus waren. Soviel Freiheit hätten sie nicht verkraftet. Sie brauchten nicht zu wissen, dass wir unsere körperliche Entwicklung gegenseitig beobachtet hatten, zunächst verhalten und scheu, dann zunehmend offen und leicht amüsiert. Und es bald nicht mehr beschämend fanden, wie wenig der Körper die Gefühle verheimlichen kann oder will.

Gibt es etwas, das uns nicht miteinander verbindet? Sie denkt zurück an die Zeit, als sich Michas Fähigkeiten im Klavierspiel so weit entwickelt hatten, dass sie vierhändig musizierten. Das gemeinsame Spiel spiegelte ihre gegenseitigen Gefühle, denen sie in der Leidenschaft der Musik frei und offen nachgingen.

Und sie lasen gern, verschlangen wahllos die Bücher, die sie im Elternhaus fanden, bis sie eigene Vorlieben entwickelten, sich bei Tennessee Williams' Die Katze auf dem heißen Blechdach und Arthur Millers Hexenjagd trafen. Und unabhängig voneinander Aufzeichnungen machten, sich später die Texte vorlasen, zunächst zögernd und schüchtern, dann frei und offen. Und überrascht waren, wie nah Bruder und Schwester sich standen, ähnlich gefühlsbetont und begeisterungsfähig, eigenständig – und verletzlich.

Und die gelernt haben, dass vor dem anderen zu fliehen nicht gelingt.

Maren, was treibt dich an, nach Nizza zu fahren? – Ein Impuls, das drängende Gefühl, Klarheit zu gewinnen. Über mich – Und das in der Erinnerung? – Warum nicht? Ich stelle es mir vor wie bei einem Mosaik, man legt ein paar Steine, und auf einmal erscheint ein Gesicht – Das wird aber ein Gruppenbild bei den vielen Männern – Micha, sei nicht albern – Pardon. Im Ernst: Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, und du meinst, sie könnte die Zukunft erhellen? – Das lasse ich auf mich zukommen – Aber du weißt, dass die Sicherheit, Echtes von Falschem zu unterscheiden, bei der eigenen Person versagt, umso mehr, wenn diese dazu neigt zu schauspielern – Micha, jetzt gehst du zu weit! – Hast du mit Fred gesprochen? – Nein. Er wird fragen. Und dann werde ich erzählen.

Auf Tagträume habe ich mich immer schon gern eingelassen, in den Zustand des Halbbewusstseins zu versinken, das Unbewusste mit der Wirklichkeit zu verflechten. Und mich mit Micha auszutauschen. Leidenschaftlich. Unabdingbar. Unauflösbar.

Jetzt hätte ich ihn gern neben mir, möchte ihn spüren, mich an seine Schulter lehnen.

»Fasten seat belts ...« In wenigen Minuten wird Flug LH 1880 in Marignane landen.

Dichter Verkehr auf der Ausfallstraße, dann läuft es ruhig auf der A 51. Maren fährt nicht mehr so leidenschaftlich gern Auto wie früher, genießt es aber immer noch, die hellen Lederhandschuhe überzustreifen und sich ans Steuer zu setzen. Schade, dass Fred nicht bei ihr ist. Sie lächelt bei dem Gedanken an ihn, sieht ihn vor sich, wie er zum ersten Mal ihre Praxis betreten, sie ihn aus Studienzeiten wiedererkannt hatte, den schmalen, schlaksigen Mann mit den überraschend bubenhaften Gesichtszügen, die ihn zusammen mit seinen klaren blauen Augen aussehen ließen, als seien seither nicht schon fast zehn Jahre vergangen.

Fred hatte sie danach zu einem Essen bei sich zu Hause eingeladen. Sie lernte seine Frau Britta kennen, eine muntere Person, figürlich ihr ähnlich, zierlich und schlank, mit einem schmalen, offenen Gesicht und diskret geschminkten vollen Lippen. Das schwarze Haar trug sie jungenhaft kurz. Mit Jeans und Bluse war Britta leger gekleidet, wie ich einem Trend folgend braless.

Im Verlauf des Abends überraschte sie mich mit dem Vorschlag zu einer kleinen Modenschau mit Teilen aus ihrem Kleiderschrank. Anfangs fühlte ich die gleiche unbefangene Freude wie in der Kindheit, als ich mich mit Micha verkleidet hatte, aber dann empfand ich Brittas Verhalten als aufdringlich. Musste sie mir mit nacktem Oberkörper beim Knöpfen der Bluse helfen und dabei wie beiläufig meine Brüste streifen? Und die Berührung gern wiederholen. Dabei waren es weniger die Handlungen als Brittas veränderter Blick gewesen, der mir zeigte, dass es Zeit war einzuschreiten. Ich knöpfte meine Bluse voll auf, zog sie auseinander, streckte meine kleinen, festen Brüste vor und sagte zu Britta: »Bitte.« Und das in einem derart verächtlich abweisenden Ton, dass sie innehielt, sich unverkennbar enttäuscht abwandte und mich danach, gequält lächelnd, aber Haltung bewahrend, ins Wohnzimmer zurückbegleitete.

War ich zu weit gegangen? Ich hatte mich plötzlich bedroht gefühlt, ein spontanes Empfinden, ohne lang nach einer Erklärung zu suchen.

Zum weiblichen Körper hatte sie sich nicht einmal während der Jugendzeit hingezogen gefühlt. Micha hatte damals ihre Sinne in Beschlag genommen – nicht anders als heute. Wie kommt sie auf Britta? Fred hatte sich schon damals von seiner Frau entfremdet. Deren Bisexualität beschäftigte ihn lange Zeit, bis er es schließlich aufgab zu verstehen: »Gleichgültig, ob du mit einem Mann oder einer Frau betrogen wirst, du begreifst es so oder so nicht.« Jahre später waren sie geschieden.

Mit Fred war ich seinerzeit nur noch einmal kurz zusammengetroffen, erst seit vergangenem Jahr begleitet er mein Leben – ohne Zerwürfnis, ohne Eifersucht, ohne Zermürbung, nicht in verzehrender Leidenschaft, und doch auch verlangend, ohne Zärtlichkeit vermissen zu lassen.

Für mich ist das keine neue Erfahrung, denn als junge Frau hatte ich Ähnliches schon erlebt. Mit Leo. Ihn lernte ich anlässlich einer Fortbildungsveranstaltung kennen. Ein Jahr zuvor hatte ich mich von meinem Mann getrennt, lebte allein mit meinem kleinen Sohn. Harald hatte während meiner Schwangerschaft mehrere Liebschaften unterhalten, woraus er kein Hehl machte: »Wir leben doch nicht mehr im letzten Jahrhundert. Es geht um individuelle Freiheit und nicht um kleinbürgerliche Besitzansprüche.« Ein Schock, den ich in seiner Brutalität nie verwunden habe.

Und dann Haralds Bindung an Micha. Sie war ihm wichtiger als die Beziehung zu seiner Frau. Ich hatte das mit der freien Liebe von Anfang an für eine Ausrede gehalten, die Sprüche passten gut zum Zeitgeist, aber in Wahrheit ging es Harald nur um Micha. Ob ich mir das nur einredete oder nicht, war mir gleichgültig gewesen, ich brauchte diese Don Juan Theorie, um mich selbst zu schützen, um nicht an Haralds schamlosem Verhalten zu verzweifeln, das mich zutiefst entwürdigt und erniedrigt hat.

Harald und Micha pflegen ihre Männerfreundschaft noch heute. Mein Empfinden hat mich nicht getäuscht. Oft genug hatte Micha zu mir von der stillen, feinen Wärme gesprochen, die ihn im Zusammensein mit Harald erfasse, Sehnsucht und Genuss sich im Geistigen, Seelischen, nicht im Körperlichen erfüllten, und das ohne die Gefahr der Übersättigung, wie sie in der Liebe nicht ausbliebe. Und hatte das dann – typisch Mann – mit einer Reihe von klassischen Bespielen belegt. Als ob das etwas änderte! Angefangen von Platons Symposion mit Achill und Patroklos, über das alter idem des Laelius und Cicero hin zum Alten und Neuen Testament bis zu den berühmten Freundschaften im Zeitalter der passionierten und dann der romantischen Liebe. Als wenn mich das interessiert hätte!

Wichtig ist allein, dass Micha mir nicht verloren gegangen ist. Seine Tangenten mit Harald und mir – sie berühren sich nicht.

Maren, achte besser auf die Straße, anstatt in der Vergangenheit zu schwelgen – Aber Micha, wir alle leben von Vergangenem … – … und gehen am Vergangenen zugrunde, wenn du noch einmal so leichtfertig nah auffährst – Tut mir leid – Und Fred? – Er kennt nur wenig aus meinem Leben, aber die Geschichte mit Harald ist ihm vertraut. Auch die von Harald und dir. Und meine Beziehung zu Leo. Du kennst sie nicht, warst seinerzeit zu sehr mit Harald beschäftigt gewesen. Ich fasse dir das Wichtigste zusammen. Es ist noch eine Weile zu fahren.

In Leo hatte ich mich schon bei seinen ersten Worten verliebt, die er an mich richtete, genau gesagt in den Klang seiner Stimme. Ich empfand sie als sanft und doch präzise, fast lyrisch, melodiös, verbindlich, dennoch im Ton unverkennbar die Absicht offenlegend. Leo hatte nicht lang gezaudert, lud mich zum Besuch einer Ausstellung ein; die bildende Kunst begeisterte ihn. Seine Worte sind mir noch gegenwärtig: »Das Sehen von Kunstwerken ist stets erwarten, überbieten, enttäuscht sein; sehen ist immer zu glauben.« Oder Baudelaire zitierend: »Der Beschauer, der um die Figur herumgeht, kann hundert verschiedene Blickpunkte wählen, außer dem richtigen.« Leo hatte gelacht, dann aber ernst angefügt, die richtige Antwort sei nicht zu finden, sobald es viele Ansichten gäbe. Dabei ginge es nicht um das Verstehen, sondern darum, über das Dargestellte hinaus einen Begriff dafür zu bekommen, was jenseits der Welt konkreter Erscheinungen vorstellbar wäre. Der Satz war anlässlich einer Hans Arp Retrospektive gefallen, die wir gemeinsam besucht hatten und danach meinten, uns nah am Verstehen des Unsichtbaren zu fühlen. Leo war damals nachdenklich geworden: »Der Rest wartet noch auf uns.«

Ich verstand ihn, denn er war auf dem Weg in eine andere Welt, der er sich mit seinem Trinken bewusst näherte. Leo war das Beispiel eines klassischen Trinkers, er hätte sich nicht aufhalten lassen, auch nicht von mir. Ich wusste es, griff nicht ein, und er schätzte meine Haltung: »Du nimmst mich so, wie ich bin. Und das empfinde ich als sehr angenehm. Aber du solltest nicht mitleidig schauen.«

Mitleid. Darüber erwuchs eine lange Diskussion, die mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist, ausgehend von La Rochefoucauld, den Leo herangezogen hatte: Empfinden des eigenen Leidens in den Leiden anderer, das Mitleid auf das Eigeninteresse zurückführen. Damit wird es egoistisch in all seinen Äußerungen. Das empfand ich als zu pointiert: Enthalten nicht alle starken Gefühle eine Note von Eigeninteresse, wie die Liebe, der Ehrgeiz und was sonst noch alles? Wir waren nicht vorangeschritten, vereinbarten, Schrifttum zu sammeln, Rousseau, Lessing, Tocqueville, Schopenhauer, und danach zu diskutieren.

Der Anblick fremder Leiden lindert die eigenen. Über letzteren waren wir nicht hinausgekommen, denn Leo verließ mich schneller als erwartet. Und er glaubte fest an das Überleben seiner Seele. Lucrez hatte ihn nicht beeindruckt: Die Seele muss körperlicher Natur sein, da sie leidet, wenn sie körperlich getroffen wird. Die Frage, ob der Körper eine Seele oder die Seele einen Körper hat, stellte sich Leo nicht, sie war ihm gleichgültig. Unsere Seelen werden sich treffen, davon war er überzeugt, auch wenn er bei meiner die hübschen Beine vermissen werde, hatte er gescherzt.

Ich begleitete Leo bis zum Schluss. Und wusste, dass ich ihm mehr geben konnte als seine Angehörigen, die ohnmächtig waren, die Mauer des Schweigens und des hilflosen Mitleids zu überwinden.

Mit Leo hätte ich leben mögen.

Vor ihr die Ausfahrt in den weiten Talkessel zwischen den Bergen: Digne-les-Bains. Sie folgt den Angaben des Navis zum Hotel, findet ausreichend Platz zum Parken. Als Mitglied des Organisationskomitees ist Fred schon seit zwei Tagen hier mit Vorbereitungen beschäftigt. Er kommt Maren im Foyer entgegen, sagt nicht »Du hättest anrufen können«, weil er weiß, dass sie es hasst zu telefonieren. Sie nehmen sich in die Arme, küssen sich flüchtig, halten sich kurz fest: »Alles gut gegangen?«, fragt er leichthin, »bist du mit dem Wagen zurechtgekommen?« Sie nickt. »Ich bin in 212 untergebracht«, informiert er sie. »Danke. Dann weiß ich Bescheid.«

Sie macht sich frisch und geht zu Fred. Er wartet schon auf sie mit einem Apéro, kennt ihre Vorliebe für Suze. Wenn sie sich in Frankreich aufhält, laufen bei ihr gewisse Mechanismen ab: Suze als Apéro, Madeleines als Gebäck, abgesehen von regionalen Spezialitäten. Da ändert sich alles, der Buttergeschmack eines Kouign amann kann dann ganz oben stehen. Beispielsweise.

»Steht dir gut, der Hosenanzug. Solltest du häufiger tragen.«

»Du weißt, dass ich Röcke bevorzuge«, belehrt sie Fred lächelnd. »Santé!«

Er schließt sich an: »Santé! Wenn ich ehrlich bin, sehe ich dich auch lieber in einem Rock.«

Sie lächelt, erwidert seinen Kuss, streicht Fred zärtlich über den Arm. Und er erzählt von seiner Arbeit im Komitee. Zu viel Verwaltung, ineffektiv, es ziehe sich lang hin, bis man zu einem Beschluss komme, the same procedure as every year. Er hört nicht auf zu plappern, sie hört ihm nachsichtig zu, weiß, wie wichtig ihm die Arbeit ist. Erst ihr Hinweis, sie könnte sich ja heute Abend selbst ein Bild machen, lässt Fred innehalten. Aber er bleibt unruhig, zieht sich zurück, entschuldigt sich, er habe noch eine Menge zu erledigen. Irgendjemand stelle immer eine blöde Frage, und er möchte nicht unvorbereitet sein.

Später sind es nur wenige Schritte bis zum Restaurant. Kleines Dîner für die Mitglieder des Komitees und Gäste, die mit einer Diskussionsleitung betraut sind. Man kennt sich, bisous über bisous, Fred lächelt amüsiert, er weiß, dass Maren dieses »Abschlecken« nicht schätzt. Bei der einen oder anderen befreundeten Person, ja, aber so quer Beet, nein! Dennoch hält Maren tapfer mit.

Der Vorsitzende eröffnet den offiziellen Teil beim Digestiv. Sauternes. Sehr ordentlich. Und dann eine Statistik nach der anderen! Hört jemand ernsthaft zu? Der Präsident ist nachsichtig, verlegt die Diskussion in die Bar. Der »harte Kern« folgt ihm. Maren und Fred gehören nicht dazu, sie ziehen sich in ihr Hotel zurück.

»Ich komme zu dir.«

Sie drückt Fred lächelnd die Hand: »Aber bitte beeile dich, ich bin schon halb am Schlafen.«

TAGS DARAUF DIE TAGUNG. Sie beginnt mit den Reden der Organisatoren, die an der Seite der Bühne aufgereiht sitzen wie die Möwen auf der Kaimauer. Unter ihnen Fred. Faire de la mousse – es wird viel Schaum geschlagen, findet Maren, hört nur mit halbem Ohr hin, überfliegt die Kurzfassungen der Vorträge, die sie zu betreuen hat. Endlich hat auch der letzte Offizielle seinen Sermon von sich gegeben, ihre Arbeit beginnt. Das erste Referat ist eine Übersicht, gefolgt von drei Kurzvorträgen. Maren ist erfahren, sie weiß, wie man einen Meinungsaustausch ins Rollen bringt, hat das Auditorium bei den Diskussionen gut im Griff. Kaffeepause, das Ganze noch einmal, und dann Déjeuner. Nach dem Essen hört sie sich den Hauptvortrag, danach noch zwei Kurzvorträge an. Wie häufig bei Symposien wird viel Bekanntes zusammengefasst, wenig Neues geboten. Sie verlässt in der anschließenden Pause die Tagung. Fred muss bis zum Ende ausharren.

Abends dann das offizielle Dîner. Sie kennen mittlerweile den Weg. Ihre Erfahrung sagt ihnen, wie es ablaufen wird: Aus der zunächst in eine Richtung strömenden Menge knäueln sich Grüppchen, fluktuierend, sich auflösend und wieder neue bildend. Das Wogen endet erst, als man zu Tisch bittet. Ein launiger Toast des Präsidenten, und danach genießen die Teilnehmer die vier Gänge, eine Variante vom Vorabend. Nach dem Digestif und dem offiziellen Ende dann wieder die oszillierenden Gruppen, untereinander Bekannte oder solche, die miteinander bekannt werden wollen. Nach und nach lösen sich die Knäuel auf. Rückzug in die Bar oder ins Hotel.

Maren ist müde, nimmt Fred am Arm, und sie begeben sich auf den Rückweg.

DIE MORGENSONNE DRÄNGT mit schmalen Streifen durch die Jalousien, weckt die Schlafenden. Maren hat vorgesehen, für die Fahrt nach Nizza die Route Napoléon zu nehmen und über Mittag in Grasse kurz haltzumachen. Sie lassen sich Zeit mit dem Aufstehen, Maren genießt es, Fred zu fühlen und zu streicheln. Um ihn dann sanft, aber bestimmt in sein Zimmer zu schicken. Nach der Dusche wählt sie ein weites blaues Sommerkleid, kurz, mit rundem Ausschnitt. Sie weiß, dass es Fred gefällt, und beim Autofahren ist es bequemer als Jeans.

Unterwegs lassen sie sich mehr und mehr von der spektakulären Landschaft gefangen nehmen, die vor ihnen liegt. Es geht steil bergab mit einigen Spitzkehren auf der gut ausgebauten, kurvigen Strecke. Maren fährt zügig, aber besonnen und vorsichtig.

Zwei Stunden später erreichen sie Grasse. Nach der beeindruckenden Höhe fühlen sie sich schon wie im Flachland, schlendern durch die Altstadt. Sie vermittelt Maren noch immer den spröden Charakter, der ihr schon vor Jahren bei ihrem ersten Besuch aufgefallen war. Eng und gedrängt schmiegen sich die Häuser in unterschiedlichen Höhen an die Landschaft. Und die Parfumindustrie zieht wie eh und je die Touristen an.

Nach einem schnellen Croque-monsieur geht es weiter nach Süden, zunächst auf der Nationale, dann nördlich von Cannes auf die A8, die sie in weniger als einer Stunde nach Nizza führt. Dort empfängt sie das belebende Licht, »das schon Nike zum Triumph geführt hatte«, wie Fred schwärmt, »diese übermütigen Lichtschauder, die die Siegesgöttin von den glückseligen Inseln Griechenlands mitgebracht und mit der Gründung der Stadt verewigt hat.«

Maren freut sich: »Das fängt gut an, wenn du schon auf dem Flughafen so begeistert bist.«

»Den sehe ich gar nicht, habe ich mir weggedacht. Ganz einfach. Dieses Licht fördert das Genie«, er nimmt Maren in den Arm, »und noch mehr.« Und erntet einen spöttischen Blick.

Sie geben den Wagen ab, fahren mit dem Taxi zum Hotel. Es erweist sich als nicht gerade originell, ist aber ansprechend. Die Suite im Mezzanine-Stil. »Du unten, ich oben?«, fragt Fred. »Umgekehrt«, entscheidet sie entschlossen, »du unten, ich oben«, und lässt lachend, ohne eine Antwort abzuwarten, ihren Rock schwingen, die wenigen Stufen hinauf zum höher gelegenen Teil der Suite.

Sie treffen sich eine halbe Stunde später, miteinander eng vertraut brauchen sie keine Absprache, erscheinen im Bademantel, aus dem sie sich gegenseitig unter Küssen langsam herausschälen. Fred drängt sie nicht, hält sie ein wenig von sich, um sie zu betrachten: »Du bist wunderschön.« Sie lächelt, zieht ihn leicht an sich: »Komm, wir müssen nicht dauernd stehen«, führt ihn zu seinem Teil der Suite, hin zu dem breiten Bett. Und fühlt sich mit einem Mal losgelöst von allem. Wie es jetzt ist, genügt ihr, mehr verlangt sie nicht. Er scheint zu spüren, wie sich ihr Verhalten von einem Augenblick zum anderen ändert, nichts mehr Verlangendes enthält, ohne es an Zärtlichkeit fehlen zu lassen. Sie blickt ihn dankbar an, als er auf sie eingeht, sie sanft streichelt, ihre Körper in handbreitem Abstand zueinander. Sie gibt sich ganz dem Gefühl hin, begehrt und doch geborgen zu sein.

»Ich bin so glücklich, weißt du das?« Sie schaut Fred liebevoll an, umfasst mit beiden Händen zart sein Gesicht. Er lächelt.

»Ja, ich sehe und fühle es und freue mich für dich.«

Als ob er ihr einen Schlüssel gegeben hätte, den sie lange vermisst hatte, wünscht sie sich nach diesen Worten »komm«, und hält Fred fest.

Sie haben jedes Zeitgefühl verloren, finden sich aber noch rechtzeitig im Hotelrestaurant ein. Im Nachhinein wissen sie nicht mehr, was sie gegessen und getrunken haben, nur noch, dass der Abend in ihrer Liebe zueinander wie im Flug vergangen ist.

DAS FRÜHE MORGENLICHT WECKT Maren. Fred ist bei ihr, schläft noch ruhig und fest, sie stört ihn nicht, denkt an ihren Sohn, hat »Fabian« auf den Lippen, bevor ihr bewusst wird, dass es Freds Körper ist, den sie an ihrem Rücken spürt. Wie lang ist es her, dass der Knirps zu mir ins Bett gekrabbelt kam und sich an mich kuschelte? Ein halbes Leben ist mittlerweile vergangen. In allem erinnert mich Fabian an Micha, mit seiner Neugier, seinem praktischen Geschick im Umgang mit den Dingen, seinem Bedürfnis nach Zärtlichkeit … Über diesen Gedanken schläft sie wieder ein, wird danach gemeinsam mit Fred wach. Sie sind unternehmungslustig, überlegen, wie sie den Tag beginnen könnten. »Ich brauche dringend neue Schuhe.« Fred sieht amüsiert aus, als habe er auf diesen Satz gewartet, er kennt Marens Leidenschaft, immer wieder Schuhe zu kaufen – und gleich danach Kleider.

Sie beschließen, in dem stilvollen Salon de Thé von gegenüber zu frühstücken, fühlen sich dort wohl und machen sich dann auf den Weg zur Rue Masséna. Eine Viertelstunde später sehen sie Chaussures, und ab sofort muss Fred sich gedulden: »Wenn wir schon da sind … mit dieser großen Auswahl ...« Maren nimmt sich Zeit, wählt schließlich rote Plateausandaletten, klassische schwarze Pumps mit mittelhohem Absatz und schlichte, flache dunkelbraune Laufschuhe.

»Ich hätte einen Rock anziehen sollen«, findet sie, »mit der Hose ist ein Urteil nicht so sicher.«

Fred nickt verständig: »Sieht aber alles gut aus.«

Sie lächelt, versteht, dass er keinen erneuten Anlauf nehmen will, drückt ihm die Einkaufstasche in die Hand.

Die Galeries Lafayette liegen gleichsam um die Ecke, aber Fred schlägt vor, zunächst eine Kleinigkeit zu essen. Nach ein paar Minuten stoßen sie auf eine Trattoria. Er muss arg hungrig sein, denkt sie, Frankreich und ein italienisches Restaurant, »... das birgt ein gewisses Risiko«, »... doch nicht in Nizza mit seiner Historie und der Nähe Italiens«, wirft Fred ein. Aber er irrt sich. Es ist schon sehr lang her, dass Nizza italienisch gewesen ist. Maren begeht den Fehler, Risotto zu bestellen. Es stellt sich als eine Art eingedickter Variante von Reissuppe heraus. Sie schüttelt den Kopf über sich – ihr Vater hätte gesagt, er habe das schon vorher gewusst, aber er war keine Kassandra, machte derartige, wenig hilfreiche Sprüche immer erst im Nachhinein. Maren tröstet sich mit dem Wein. Der Sangiovese schmeckt ihr.

Nun denn auf zu den Galeries Lafayette. »Wir verschaffen uns erst einmal einen Überblick«, schlägt Maren vor, als sie die Kosmetikabteilung betreten und sich dann nach oben wenden. Fred ist so naiv zu fragen: »Was brauchst du?«

»Aber Fred, das ist keine Frage für eine Frau. Eine Frau kann immer etwas brauchen. Wir schauen uns erst einmal um.«

Mit Kleidern ist es wie mit den Männern: Ein Mann ist ein Mann und immer etwas Schönes – Micha, spar dir deine Sprüche! Das passt jetzt nicht hierher.

Sie ist geduldig, schaut sich bei den einzelnen Anbietern ausführlich um, wirft gelegentlich auch einen zweiten Blick und geht dann zielsicher vor.

Hierzu ist nur eine Frau in der Lage. Ich wette, dein Fred hat sich nicht einmal eine einzige Boutique gemerkt – Aber Micha, das hast du doch von mir gelernt.

»Wappne dich mit Geduld«, warnt sie ihren Begleiter, »aber allzu viel benötige ich nicht, zwei, drei Kleider, vielleicht noch eine hübsche Bluse, mehr nicht«, tröstet sie ihn. Und sie weiß, wie sie Fred bei Laune hält: Ihr bei der Anprobe zuzuschauen, gefällt ihm immer wieder aufs Neue, und so nutzt sie jede Gelegenheit, sich zu drehen und zu wenden, dabei stets darauf zu achten, dass ihm nichts entgeht. Ihn aber auch immer wieder um seine Meinung zu fragen. Er soll sich ernst genommen fühlen.

Fred findet, sie könne sich in dem roten knielangen Vivienne Westwood Kleidchen bestens sehen lassen, und ist dann hingerissen von einem kurzen Glamour Kleid mit den vielen Pailletten, das von einer »Extravaganz besonderer Art« sei.

Maren genießt die Szene, als stünde sie auf der Bühne eines Theaters, und der Beifall setzte ein. Sie blickt Fred liebevoll an, ganz bewusst möchte sie ihm mitteilen, wie dankbar sie ist, von ihm bewundert zu werden. Sie wählt noch ein langes, hautenges schwarzes Sonia Ryjkiel Kleid, das die zarten Rundungen ihrer schmalen Figur elegant betont. Und dann ist sie erschöpft. Sie kennt sich, macht immer alles exzessiv, um dann mit einem Mal in sich zusammenzufallen. Sie setzt sich in einen der Sessel, während Fred die Einkäufe bezahlt. Dick bepackt kommt er zurück und schlägt vor, in »ihrem« Salon de Thé einen Café gourmet zu sich zu nehmen und danach ein wenig vor dem Abendessen auszuruhen. Maren stimmt gern zu, und als sie dann die Pâtisserie genießen, stellen sie überrascht fest, wie schnell die Zeit vergangen ist.

In ihrer Suite freut sich Maren mit ihren Päckchen wie ein kleines Kind am Geburtstag.

»Jetzt zeigst du mir aber alles noch einmal«, wünscht sich Fred.

»Alles nicht. Was möchtest du denn besonders gern sehen?«, frage ich ihn.

»Das elegante, lange hautenge Kleid«, begeistert er sich, »bitte«, dreht einen der Sessel in meine Richtung und setzt sich.

Lächelnd greife ich das gewünschte Teil aus dem Päckchen. Fred nickt zufrieden, schaut zu, wie ich den Pulli ausziehe und auf das Bett lege, betrachtet meinen kleinen Busen. Ich folge immer noch dem braless Trend früherer Jahre. Dann schlüpfe ich aus den Schuhen, öffne die Hose, lasse sie fallen, bücke mich zu dem Kleid, als Fred zu mir kommt, mich aufhält, mit leiser Stimme »später« sagt und mich zart an sich zieht. Ich drücke sanft beide Arme gegen seine Brust, um ihn abzuwehren. »Später«, wiederhole ich lächelnd, »ich fühle mich nicht frisch, ich komme gleich wieder«, küsse ihn flüchtig, lasse die Kleider liegen, gehe in mein Zimmer, drehe mich kurz um und schicke ihm einen Luftkuss.

Als ich zurückkomme, ist Champagner kalt gestellt. Fred öffnet die Flasche, füllt die Gläser. Und fragt unvermittelt: »Wie lang kennen wir uns?«

»Wie kommst du jetzt darauf?«, wundert sie sich und antwortet, »zum ersten Mal getroffen haben wir uns im Studium, mehr oder weniger beiläufig. Du hattest Michas Bude übernommen, mit der er nicht mehr glücklich gewesen war. Begonnen mit dem Kennenlernen hat es erst Jahre später mit meinem Besuch bei euch zu Hause. Als Britta versuchte, mich zu verführen.«

»Wie könnte ich das vergessen?«, nimmt er ihren Gedankengang auf, »und kurz darauf hatte ich dich zu einer Staeck Ausstellung im Kunstverein eingeladen, wir beide unabhängig voneinander speziell ›gestylt‹. Ich sehe dich noch vor mir mit deinem luftigen, weit geschnittenen Bohème Kleid mit jeder Menge Armreifen. Und einer mächtigen Halskette aus farbigen Klunkern.«

Freds Augen strahlen, als sei Maren in dieser Aufmachung soeben vor ihm erschienen.

»Und du im grellfarbigen Partyhemd, mit breitem Gürtel an der Jeans Schlaghose. Und dann diese ausgetretenen Sandalen, ich musste zweimal hinschauen. Dabei ist Staeck nichts anderes als trockene Politsatire. Damit konnte und kann ich nicht viel anfangen. Satire liegt mir nicht, ist mir immer fremd geblieben, damals wie heute. Erinnerst du dich an das Plakat Deutsche Arbeiter: Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen?«

»Selbstverständlich. Es ist mittlerweile weltbekannt geworden. Aber wie siehst du das heute? Kunst oder nicht Kunst?«, fragt Fred.

Sie denkt kurz nach, um dann ihr damaliges Ausweichen auf Beuys' Votum zu wiederholen, wonach jeder Mensch ein Künstler sei: »Es geht um die Entfaltung des freien schöpferischen Individuums.«

»Also Kunst?«

»Also Kunst.«

Sie prosten sich zu. »Jetzt sollten wir uns aber um das Essen kümmern«, sagen sie fast gleichzeitig.

Fred hat einen Tisch im Haus reserviert, und eine Stunde später kennen sie die Speisekarte schon vom Vortag. Sie sind müde, halten sich nicht lang auf. Zurück in ihrer Suite verspreche ich Fred, in ein paar Minuten zu ihm zu kommen.

Als sie später zu ihm unter die Decke schlüpft, spürt sie den gleichmäßigen Atem des entspannt Schlafenden. Sie entzieht ihm einen Teil der Decke, Fred rührt sich nicht. Eine Decke für zwei Personen hat sie immer schon als unpraktisch empfunden, da kann das Bett noch so groß sein. Und zieht sie noch ein Stück näher zu sich.

AM NÄCHSTEN TAG stoßen sie auf dem Weg zur Altstadt auf eine Galerie, in deren Schaufenster ein Plakat über eine Sonderausstellung Marens Aufmerksamkeit weckt: Gregor Hacks – Sculptures en bois.

»Nicht zu glauben, Gregor Hacks, komm, das schauen wir uns an«, sage ich begeistert und ziehe Fred mit mir.

»Das klingt, als kenntest du den Künstler«, wundert er sich.

»In der Tat«, antworte ich und betrete die Galerie, »aber das erzähle ich dir nachher. Lass uns erst einmal einen Blick werfen.«

Die Ausstellung ist nicht groß, aber geschickt platziert, finden sie, mit ausreichend Raum, um die Kunstwerke von verschiedenen Seiten betrachten zu können: Kleine Holzfiguren, nicht mehr als fünfzig Zentimeter hoch, überwiegend Paare. Eine Skulptur gefällt Maren besonders gut, ein Tanzpaar, dessen Einzelfiguren weich im Bogen miteinander verschmolzen sind und beim flüchtigen Betrachten den Eindruck einer harmonischen, in sich geschlossenen Bewegung einer Person hervorrufen.

»Ich wusste gar nicht, dass Gregor auch kleine Figuren kreiert. Was ich bei ihm im Atelier zu sehen bekam, waren allesamt große Objekte, für den Außenbereich, Terrasse oder Garten«, erläutere ich Fred.

»Und wo arbeitet dieser Gregor?«, fragt er überrascht.

»Keine fünfzig Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Man kennt ihn vor allem als Kunstschreinerei, Stühle, Tische, das ist seine ›Brot- und Butterlinie‹, vom Verkauf der Skulpturen kann er nicht leben.«

»Du scheinst mit den Arbeiten vertraut zu sein. Erzähle!«

»Aber erst muss ich rundum gehen«, unterbricht sie ihn, »dieses Tanzpaar spricht mich an. Ich möchte es mir noch einmal aus unterschiedlichen Blickwinkeln anschauen.«

Je länger sie die Figur betrachtet, umso besser gefällt sie ihr. Zweitausendfünfhundert Euro. Ein Batzen Geld, aber sie findet den Betrag angemessen für die ausgefallene Darstellung, die ihr in dieser Art noch nicht begegnet ist.

Fred hat Maren die ganze Zeit über aufmerksam beobachtet, er lächelt, freut sich über ihre Begeisterung.

»Mir gefällt die Skulptur auch. Ich übernehme die Hälfte der Kosten«, schlägt er vor, »und wir stellen die Figur bei dir in den Erker. Auf den Louis XVI Beistelltisch – ein aufregender Kontrast zu diesem modernen Paar«, lockt er seine Begleiterin.

»Warum nicht? Aber ich kann es mir noch nicht vorstellen«, spielt sie die Zögerliche, »und du weißt, ich räume gern um, liebe es, immer wieder eine andere Sicht auf die Dinge zu haben.« Geht dann entschlossen auf Fred zu, küsst ihn: »Danke. Das ist sehr lieb von dir.«

Als die Galeristin die Rechnung schreibt, erzähle ich ihr von meiner Bekanntschaft mit Gregor Hacks. Die Frau lächelt versonnen, als sie hört, dass dies mein erstes Werk von ihm sei, gekauft über tausend Kilometer von zu Hause entfernt. Es brauchte oft ein besonderes Umfeld, meint sie, eine ungewöhnliche Atmosphäre, um zu sehen – und zu erkennen. Im Übrigen verändere ein Kunstwerk auch sein Aussehen mit dem Blick des Betrachters. Dieses Phänomens wegen sei sie Galeristin geworden. Und spricht über ihre Arbeit in der Association, die international tätig sei und über die sie Gregor kennengelernt habe.

Maren und Fred setzen danach ihren Weg nach Süden fort, Richtung Meer. Auf der Promenade des Anglais beschließen sie, am Strand Liegestühle zu mieten.

»Und du erzählst mir von diesem Gregor.« Fred ist neugierig.

»Welche Version möchtest du gern hören – kurz oder lang?«, Maren lächelt süffisant, »die lange beginnt mit einem Rainer.«

Fred blickt überrascht auf. »Der Name sagt mir etwas, war das nicht der junge Bursche ...«,

»Geduld«, unterbricht sie ihn, »du besorgst uns etwas zu trinken, dann erfährst du Neues über mich. Oder vielleicht auch nicht. Du wirst es mir sagen.«

Fred macht sich auf den Weg, kommt mit zwei Grenadine Cocktails zurück. Sie nippen daran und finden die Mischung gelungen.

»Dann kann ich ja loslegen. Bist du soweit?«

Fred lacht. »Ich liege bequem, wenn du das meinst. Du kannst beginnen.«

»Nun«, erläutert Maren, »es war in der Zeit, die auf den Eklat mit Helmut folgte, an dem du unfreiwillig beteiligt warst.«

Fred nickt zustimmend mit dem Kopf: »Ich erinnere mich sehr genau daran.«

»Auf Helmut können wir immer noch zurückkommen, zunächst zu Hacks«, fährt sie fort, »was ihn anbetrifft, muss ich einen Umweg machen. Um etwas Triviales, nämlich den Bauerntisch in meiner Wohnküche, den du ja gut kennst. Es ist eine Arbeit der Kunstschreinerei Schnuck. Den alten Tisch war ich eines Tages leid geworden, wollte ihn ersetzen und machte mich auf zur nahe gelegenen Tischlerei, die seit dem Tod des Seniors von dessen Sohn geführt wurde. Dieser Rainer hatte sich rasch einen Namen gemacht, solide und geschmackvolle Möbel zu gestalten. Ich hatte ihn lang nicht mehr gesehen, kannte ihn von Kindesbeinen an, da der Vater über Jahre bei mir Patient gewesen war.

Als ich die Werkstatt betrat, erkannte ich Rainer sofort. Er war immer noch der schlaksige junge Mann mit dem wuscheligen braunen Lockenkopf, aber der Blick aus seinen dunklen Augen hatte sich verändert, er schaute nicht mehr wie der Junge von früher, er war jetzt ein Mann, der Verantwortung übernommen hatte. Rainer freute sich, mich zu sehen, hörte sich mein Anliegen an und begleitete mich umgehend die paar Meter nach Hause, um sich ein Bild von der Größe des Raumes und damit auch des Tisches zu machen.

Vor Ort skizzierte er unmittelbar drei Vorschläge, schlug auch noch vor, den Kunststoff an der Spüle gegen eine Holzplatte austauschen. Ich gab Rainer freie Hand, fand seine Vorschläge sämtlich gelungen, ließ ihn selbst entscheiden. Das tat er nicht ohne Stolz. Und machte sich an die Arbeit. Ein paar Tage später bedankte er sich für den Auftrag mit einem Präsent, dem bearbeiteten Baumstumpf aus Kirschholz, den du im Wohnzimmer schon bewundert hast – sozusagen ein Naturalrabatt.«

»Großzügig, geschickt, und mit Format, dieser Rainer«, wirft Fred anerkennend ein.

Maren trinkt einen Schluck und fährt fort: »Ja, fand ich auch. Und als er dann den Tisch vorbeibrachte, war ich begeistert – von dem Tisch, ja natürlich, aber vor allem über Rainers Verhalten, wie er versonnen mehrfach um sein Werk herumging, es ausführlich von allen Seiten betrachtete, an verschiedenen Stellen sanft über die Platte strich. Er war in seinem Werk aufgegangen und trennte