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Dev Santos findet eine bewusstlose Frau vor seiner Haustür. Als sie aufwacht, stellt er fest, dass sie eine Mediale ist. Katya hat ihr Gedächtnis verloren. Das Einzige, woran sie sich erinnert, ist der Auftrag, den sie von einem Unbekannten erhalten hat: Sie soll Dev Santos töten. Dieser Auftrag ist ihr so tief ins Bewusstsein eingeprägt, dass es ihre ganze Kraft kostet, sich dagegen zu wehren. Doch was geschieht, wenn sie diesen Kampf irgendwann verliert? Dev entwickelt unerwartet tiefe Gefühle für die hübsche Mediale. Kann er Katya helfen und mit ihr gemeinsam denjenigen finden, der es auf sein Leben abgesehen hat?
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Seitenzahl: 475
Titel
Widmung
Tod
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Impressum
Nalini Singh
Roman
Ins Deutsche übertragen von Nora Lachmann
Für Anu fua, weil sie Bücher so mag … und ihr meine Bücher gefallen!
Tod
Der Tod war die Geißel der Vergessenen. Ein erbarmungsloser Geselle, der kein Mitleid kannte.
Voller Zuversicht hatten sie sich vom Medialnet gelöst, auf der Suche nach einem Leben, das anders war als die kalte, gefühllose Welt ihrer Brüder und Schwestern im Netz. Doch die dort verbliebenen Medialen, gefangen in eisigem Silentium, wollten sie nicht in Frieden ziehen lassen – die Hoffnungen und Träume der Vergessenen versperrten ihnen den Weg zur absoluten Macht.
Denn unter den Abtrünnigen befanden sich viele Telepathen und Mediziner, Männer und Frauen, die über psychometrische Fähigkeiten verfügten, in die Zukunft sehen konnten und vieles mehr. Solche Rebellen stellten die einzig ernst zu nehmende Gefahr für den beinahe allmächtigen Rat der Medialen dar.
Deshalb ließ er sie auslöschen.
Jeden Einzelnen.
Ganze Familien.
Vater, Mutter und Kind.
Ohne Ende.
Die Vergessenen mussten fliehen und sich verbergen.
Nach und nach ging die Erinnerung an sie verloren, die Wahrheit wurde unter einer dicken Staubschicht begraben, und die Vergessenen verschwanden beinahe vollständig.
Aber Geheimnisse können nicht für immer im Verborgenen bleiben. In den letzten Monaten des Jahres 2080 wird der Staub hochgewirbelt, lange Verschwiegenes kommt ans Licht, und die Vergessenen stehen vor einer schweren Entscheidung: Sich dem Kampf zu stellen, erneut dem Tod ins Gesicht zu sehen und damit vielleicht endgültig vernichtet zu werden oder abermals zu fliehen … aber wäre das nicht dasselbe wie Vernichtung?
1
Sie schlug die Augen auf, und einen Moment war ihr, als wäre die Welt eine andere. Nie zuvor hatte sie Augen von einem solchen Braun gesehen. Gold schimmerte in ihnen. Bernstein. Und Bronze. Unglaublich viele Farben.
„Sie ist wach.“
Die Stimme kam ihr bekannt vor, sie hatte sie schon einmal gehört.
Ganz ruhig. Ich halte Sie.
Sie schluckte, versuchte zu sprechen.
Ein kaum wahrnehmbares Fauchen. Beinahe unhörbar. Körperlos.
Der Mann mit den braunen Augen schob die Hand unter ihren Kopf, hob ihn ein wenig an und hielt ihr etwas an die Lippen.
Kalt.
Eis.
Gierig öffnete sie den Mund, um die Eisstückchen darin schmelzen zu lassen. Ihre Kehle wurde feucht, aber es war nicht genug. Sie brauchte Wasser. Wieder versuchte sie zu sprechen. Hörte sich selbst nicht, aber er hatte sie verstanden.
„Setzen Sie sich auf.“
Es war, als versuchte sie gegen eine gefährliche Flut anzukämpfen – ihre Knochen waren wie Gummi, ihre Muskeln ohne jede Kraft.
„Warten Sie.“ Fast musste er sie hochheben. Ihr Herz schlug so schnell, war das wilde Flattern eines Vogels in der Falle.
Klopf-klopf.
Klopf-klopf.
Klopf-klopf.
Warme Hände umfingen ihren Kopf und bewegten ihn. Ein Gesicht tauchte vor ihren Augen auf und verschwand wieder.
„Ich glaube, sie steht immer noch unter Medikamenteneinfluss.“ Seine Stimme war tief, drang tief in ihr flatterndes Herz. „Hast du – vielen Dank.“ Er hielt ihr etwas hin.
Eine Tasse.
Wasser.
Sie griff nach seinem Handgelenk, beinahe wären ihre Finger an der lebensvollen warmen Haut abgerutscht.
Er hielt die Tasse immer noch außer Reichweite. „Langsam. Haben Sie mich verstanden?“ Mehr ein Befehl als eine Frage – von einer Stimme, die es gewohnt war, dass man ihr gehorchte.
Sie nickte und spürte etwas an den Lippen. Einen Strohhalm.
Ihre Finger griffen fester zu, sie kam fast um vor Durst.
„Langsam“, wiederholte er.
Sie nippte vorsichtig. Köstlich. Süß. Nach Orangen. Trotz des scharfen Tons ihres Retters hätte sie vielleicht gierig gesogen, wenn ihr Mund es vermocht hätte. Doch sie war kaum in der Lage, ein wenig zu saugen. Es reichte gerade, um ihre raue Kehle zu beruhigen, die schmerzende Leere in ihrem Magen zu füllen.
Sie hatte so lange gehungert.
Ein Gedanke berührte sie flüchtig, aber sie bekam ihn nicht zu fassen. Sah gebannt in die eigenartigen Augen. Aber das war nicht alles. Er hatte scharfe, beinahe harte Gesichtszüge und goldbraune Haut. Exotische Augen. Exotische Haut.
Sein Mund bewegte sich.
Sie konnte den Blick nicht von seinen Lippen lösen. Die Unterlippe war ein wenig voller, als man es bei einem Mann erwartet hätte. Aber nicht weich. Ganz und gar nicht. Hart und befehlsgewohnt.
Warme Finger auf ihrer Wange. Sie blinzelte und konzentrierte sich erneut auf seine Lippen. Versuchte zu verstehen.
„… heißen Sie?“
Sie schob den Saft fort und schluckte, ließ die Hände auf das Laken fallen. Er wollte wissen, wie sie hieß. Eine verständliche Frage. Sie wollte ja auch seinen Namen wissen. Man stellte sich einander vor, wenn man sich zum ersten Mal begegnete. Das war ganz normal.
Ihre Finger krallten sich in das weiche Baumwolllaken.
Klopf-klopf.
Klopf-klopf.
Klopf-klopf.
Schon wieder der eingesperrte Vogel in der Brust. Wie grausam.
Das war nicht normal.
„Wie heißen Sie?“ Er sah sie so durchdringend an, dass sie nicht wegschauen konnte.
Und antworten musste: „Ich weiß es nicht.“
Verwirrung und Angst schlugen Dev aus grüngoldenen Haselaugen entgegen. „Was hältst du davon, Glen?“
Mit zusammengezogenen Augenbrauen stand Dr. Glen Herriford auf der anderen Seite des Bettes. „Könnte ein Nebeneffekt der Betäubungsmittel sein. Sie hatte ziemlich viel genommen. Du solltest noch ein paar Stunden abwarten.“
Dev nickte, stellte die Tasse ab und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Frau auf dem Bett zu. Die Augen fielen ihr schon wieder zu. Er sagte nichts, half ihr nur, sich hinzulegen. Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Dev ging auf den Flur, und Glen folgte ihm. „Was hast du gefunden?“
„Das ist ja das Eigenartige.“ Glen tippte auf das elektronische Krankenblatt in seiner Hand. „Letztlich nichts anderes als die guten alten Schlaftabletten.“
„Sah für mich aber ganz anders aus.“ Sie wirkte zu desorientiert, und ihre Pupillen waren viel zu groß.
„Es sei denn …“ Glen hob eine Augenbraue.
Devs Mund war auf einmal ganz trocken. „Könnte sie es selbst getan haben?“
„Schon möglich – aber irgendwer muss sie vor deiner Wohnung abgesetzt haben.“
„Bin abends gegen zehn gekommen und fünfzehn Minuten später wieder rausgegangen.“ Er hatte sein Handy im Wagen gelassen und sich geärgert, die Arbeit unterbrechen zu müssen, um es zu holen. „Da lag sie bewusstlos vor der Tür.“
Glen schüttelte den Kopf. „Dann kann sie auf keinen Fall ihre Sinne noch so beieinander gehabt haben, dass sie durch die Sicherheitskontrollen hätte schlüpfen können – die feinmotorischen Fähigkeiten sind mit Sicherheit schon vorher ausgefallen.“
Wie hilflos musste sie sich gefühlt haben, was hätte ihr nicht alles zustoßen können – Dev unterdrückte den aufsteigenden Ärger und sah durch die offene Tür zum Bett. Die helle Lampe am Kopfende schien auf das strähnige blonde Haar und hob die Kratzer im Gesicht hervor, die Knochen, die fast durch die Haut stachen. „Sie sieht halb verhungert aus.“
Der stets lächelnde Glen schaute grimmig. „Wir konnten sie noch nicht vollständig untersuchen, aber Arme und Beine sind mit blauen Flecken übersät.“
„Willst du damit sagen, man hat sie geschlagen?“ Heiß schoss die Entrüstung in Dev hoch.
„Gefoltert wäre die richtige Bezeichnung, die Verletzungen sind sowohl älteren als auch neueren Datums.“
Dev fluchte leise. „Wann wird sie wieder richtig bei sich sein?“
„Wahrscheinlich wird die Wirkung der Betäubung erst nach achtundvierzig Stunden vollständig nachgelassen haben. Meiner Meinung nach war es eine einmalige Gabe. Wäre sie dem Mittel über längere Zeit ausgesetzt gewesen, wäre sie noch mehr durcheinander.“
„Halte mich auf dem Laufenden.“
„Wirst du die Polizei informieren?“
„Nein.“ Dev würde die Frau keinesfalls aus den Augen lassen. „Es muss einen Grund geben, warum sie vor meiner Tür gelandet ist. Sie bleibt hier, bis wir herausgefunden haben, was zum Teufel los ist.“
„Dev …“ Glen seufzte tief. „Sie muss eine Mediale sein, wenn sie so stark auf dieses Mittel reagiert.“
„Das weiß ich.“ Sein Geist hatte ein „Echo“ gespürt. Unterdrückt, aber dennoch vorhanden. „In diesem Zustand stellt sie keine Gefahr dar. Wir reden weiter, wenn sie wieder auf den Beinen ist.“
Im Zimmer piepte etwas, Glen sah auf sein Gerät. „Alles in Ordnung. Hast du nicht heute Morgen eine Verabredung mit Talin?“
Dev verstand den Wink und fuhr zum Duschen und Umziehen nach Hause. Kurz nach halb sieben betrat er erneut das Hauptquartier der Shine-Stiftung. In den vier oberen Stockwerken befanden sich Gästewohnungen, die mittleren zehn beherbergten Büroräume, unter der Erde waren der Krankenhaustrakt und die Forschungslabors untergebracht. Und seit heute – eine Mediale. Eine Frau, die sich als der neuste Versuch des Rats erweisen konnte, die Vergessenen zu vernichten.
Aber im Augenblick schlief sie, und auf ihn wartete eine Menge Arbeit. „Stimmerkennung aktivieren – Devraj Santos.“ Der durchsichtige Bildschirm seines Computers glitt nach oben und zeigte die ungelesenen Nachrichten. Seine Sekretärin Maggie wusste genau, welche Antworten „warten konnten“ und welche „dringend“ waren, diese zehn fielen ausnahmslos in die letzte Kategorie – obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte. Dev lehnte sich zurück und sah auf die Uhr.
Noch zu früh für einen Rückruf – selbst in New York saß kaum jemand um Viertel vor sieben am Schreibtisch. Aber das waren ja auch nicht Direktoren von Shine oder Oberhäupter einer vieltausendköpfigen „Familie“, die im ganzen Land, sogar in der ganzen Welt, verstreut war.
Unvermeidlich musste er dabei an Marty denken.
„Diese Arbeit“, hatte sein Vorgänger gesagt, nachdem Dev den Direktorenposten angenommen hatte, „wird dein Leben verschlingen, dir das Mark aus den Knochen saugen und dich danach wie eine leere Hülse ausspucken.“
„Du bist doch auch dabeigeblieben.“ Marty war über vierzig Jahre lang Direktor gewesen.
„Ich hatte Glück“, hatte der Ältere ohne Umschweife geantwortet. „Als ich anfing, war ich bereits verheiratet, und ich werde meiner Frau auf ewig dankbar sein, dass sie den ganzen Mist mit mir durchgestanden hat. Du fängst alleine an und wirst bis zum Ende allein bleiben.“
Dev wusste noch genau, wie er gelacht hatte. „So wenig hältst du also von meinem Charme.“
„Und wenn du noch so charmant bist“, schnaubte Marty, „Frauen wollen, dass man Zeit mit ihnen verbringt. Als Direktor von Shine hat man aber keine Zeit. Man trägt die Last der Träume, Hoffnungen und Ängste Tausender auf seinen Schultern.“ Ein düsterer Blick. „Es wird dich verändern, Dev, wenn du nicht aufpasst, wirst du grausam werden.“
„Unser Volk ist stabil“, hatte Dev entgegnet. „Das Vergangene ist vergangen.“
„Das wird es nie sein, mein Lieber. Wir befinden uns im Krieg, und ab jetzt bist du der General.“
Drei Jahre hatte Dev gebraucht, um Martys Warnung wirklich zu begreifen. Als seine Vorfahren sich vom Medialnet lösten, hatten sie auf ein Leben außerhalb der kalten Regeln von Silentium gehofft. Sie hatten das Chaos der Kontrolle vorgezogen. Die Gefahren, die Gefühle mit sich brachten, waren ihnen lieber gewesen als die Sicherheit eines Lebens ohne Hoffnung, Liebe und Glück. Doch ihre Wahl hatte Konsequenzen gehabt.
Der Rat hatte nie aufgehört, die Vergessenen zu verfolgen.
Im Kampf um die Sicherheit seiner Leute hatte Dev selbst brutale Entscheidungen fällen müssen.
Seine Finger hielten den Stift in seiner Hand so fest, dass er fast zerbrach. „Schluss jetzt“, murmelte er und sah wieder auf die Uhr. Noch immer zu früh für die Anrufe.
Er schob den Stuhl zurück und stand auf, um sich einen Kaffee zu holen. Zu seiner eigenen Überraschung fuhr er stattdessen mit dem Fahrstuhl ins Untergeschoss. Auf den Fluren war es still, aber in den Laboren würde es sicher geschäftig summen – das Arbeitspensum ließ lange Ruhezeiten nicht zu.
Denn obwohl die Vergessenen früher nicht anders als ihre Brüder und Schwestern im Medialnet gewesen waren, die zum Rat aufblickten, hatten die Zeit und die Vermengung mit anderen Gattungen ihre Genstruktur verändert. Eigenartige neue Fähigkeiten waren zum Vorschein gekommen … aber auch unbekannte Krankheiten.
Doch die Bedrohung, vor der er jetzt stand, kam aus einer anderen Ecke.
Wenn ihre Vermutungen stimmten, war die unbekannte Frau im Krankenbett mit dem Medialnet verbunden. Damit war sie mehr als gefährlich – ein trojanisches Pferd, das Daten abschöpfen oder gar den Tod bringen konnte.
Der letzte Agent, der dumm genug gewesen war, Shine unterwandern zu wollen, hatte die tödliche Wahrheit zu spät erkannt – Devraj Santos hatte den Soldaten in sich nie abgelegt. Er sah auf das mit blauen Flecken und Kratzern übersäte Gesicht der Frau und überlegte, ob er ihr gegebenenfalls kaltblütig das Genick würde brechen können.
Er fürchtete, die Antwort würde nur ein eiskaltes pragmatisches Ja sein.
Fröstelnd wollte er den Raum verlassen, als sich die Augen der Frau unter den geschlossenen Lidern schnell bewegten. „Mediale träumen doch nicht“, murmelte Dev.
„Sag es mir.“
Sie schluckte das Blut in ihrem Mund herunter. „Ich habe Ihnen alles gesagt. Sie haben alles bekommen.“
Nachtschwarze Augen mit wenigen weißen Punkten starrten sie an, während er in ihrem Geist herumwühlte, zupfte, zerrte und zerstörte. Sie unterdrückte einen Schrei, biss sich immer wieder auf die Zunge.
„Stimmt“, sagte der Folterer. „Es scheint, als hätte ich dich all deiner Geheimnisse beraubt.“
Sie antwortete nicht und war auch nicht erleichtert. Das hatte er schon einmal gesagt. Schon oft. Bald würden die Fragen noch einmal beginnen. Sie wusste nicht, was er von ihr wollte, wonach er suchte. Aber sie war gebrochen. In ihr war nur noch Leere. Sie war völlig zerstört.
„Und nun“, sagte er in dem immer gleichen, geduldigen Tonfall, „erzähle mir alles über die Versuche.“
Sie öffnete den Mund und wiederholte, was sie bereits mehrmals zugegeben hatte. „Wir haben die Resultate verändert.“ Das hatte er bereits gewusst; das allein war noch kein Verrat. „Die wahren Daten haben wir nie an Sie weitergegeben.“
„Keine Lügen mehr. Was habt ihr herausgefunden?“
Ohne Gnade gruben sich die Finger in ihren Kopf, rote Blitze drohten ihr Bewusstsein zu vernichten. Sie konnte nichts mehr zurückhalten, konnte niemanden mehr schützen, nicht einmal sich selbst – denn er saß wie eine große schwarze Spinne in ihrem Geist, wachsam, wartend, wissend. Schließlich entriss er ihr alle Geheimnisse, löschte jeden Funken Ehre und Loyalität aus. Als er damit fertig war, blieb ihr als einzige Erinnerung nur noch der durchdringende Geruch von Blut.
Mit einem unterdrückten Schrei erwachte sie. „Er weiß alles.“
Erneut sahen die braunen Augen auf sie herab. „Wer?“
Der Name lag ihr auf der Zunge und ging dann wieder in ihrem zerstörten Hirn unter. „Er weiß alles“, sagte sie noch einmal in dem verzweifelten Versuch, verständlich zu machen, was sie getan hatte. „Er weiß alles.“ Sie griff nach der Hand des Mannes.
„Was weiß er?“ Unter seiner Haut schien ein Feuer zu brennen.
„Alles über die Kinder“, flüsterte sie, ihr Kopf wurde schwer, ihr Blick verschwamm erneut. „Über den Jungen.“
Gold wurde zu Bronze, sie wollte weiter schauen, aber es war zu spät.
Archiv Familie Petrokov
Brief vom 17. Januar 1969
Mein lieber Matthew,
auf dem heutigen Treffen der Regierungsvertreter hat der Rat einen völlig neuen Ansatz für die Lösung unserer Probleme vorgeschlagen. Ich wusste, dass so etwas geplant war, kann mir aber immer noch nicht ganz vorstellen, wie es funktionieren soll.
Das Programm soll der nächsten Generation von Medialen sämtliche negativen Gefühle abtrainieren. Es wäre ein Segen, wenn wir ein Mittel gegen die Wut fänden – wie viel Gewalt könnte verhindert und wie viele Leben könnten dadurch gerettet werden. Aber der theoretische Ansatz geht noch weiter. Hätte man erst einmal die Wut im Griff, könnte man wahrscheinlich auch andere zerstörerische Gefühle kontrollieren – könnte die Brüche verhindern, die Geisteskrankheiten auslösen, meinen die Gelehrten.
Ich wage kaum zu hoffen, dass dies wirklich geschehen könnte. Gott weiß, dass die Gaben unserer Familie schon viel zu oft einen hohen Preis abverlangt haben.
In Liebe
Mamotschka
2
Er weiß alles … Über die Kinder. Über den Jungen.
Ungeduldig hatte Dev bis neun mit dem Anruf gewartet, dann tippte er angespannt Talins Nummer ein. Die blonde Patientin hatte erneut das Bewusstsein verloren, aber Dev hatten ihre Worte als Anhaltspunkte genügt – instinktiv wusste er, wo er die Antwort finden würde.
„Dev?“ Talins verschlafenes Gesicht erschien auf dem transparenten Bildschirm; Dev war nicht überrascht, dass sie gähnte, schließlich war es bei ihr erst sechs. „Ich dachte, wir treffen uns um halb elf Ihrer Zeit.“
„Kleine Änderung.“ Er überlegte sich genau, was er sagen wollte. Talin war zwar pragmatisch veranlagt, hing aber auch sehr an ihren Schützlingen. „Ich muss Jon sprechen.“
Sie verzog den Mund. „Er wird seine Meinung in Bezug auf eine Schule der Stiftung nicht ändern. Aber ich werde dafür sorgen, dass er alles liest, was Glen ihm schickt, und die Medialen im Rudel helfen ihm bei seinen Fähigkeiten.“
„Die DarkRiver-Leoparden sind sein Zuhause.“ Zu diesem Schluss war Dev nach einem Besuch bei dem Rudel in San Francisco gekommen. „Einen besseren Ort gibt es nicht für ihn.“
„Worum geht es dann?“
„Wer weiß von Jons Entführung und seinem Aufenthalt im Labor der Medialen?“ Genetisch gesehen war der Junge fast zur Hälfte ein Medialer und besaß eine einzigartige Gabe im sprachlichen Bereich. Er konnte buchstäblich jeden zu allem überreden, was er wollte. So mancher würde Morde begehen, um an solche Fähigkeiten zu kommen.
Talin kniff die Augen zusammen. „Natürlich weiß Ashaya Bescheid. Sie war schließlich die leitende Wissenschaftlerin des Labors.“
Mittlerweile war Ashaya Aleine Gefährtin eines DarkRiver-Leoparden und würde sicher nichts tun, was Jon oder andere Kinder der Vergessenen in Gefahr brachte. „Wer noch?“
„Alle anderen sind tot.“ Talins Stimme zitterte vor Wut. „Clay hat sich um Larsen gekümmert, den Mistkerl, der die Kinder als Versuchskaninchen benutzt hat. Und wie Sie wissen, hat der Rat nach Ashayas Weggang das Labor in die Luft gesprengt und dabei alle Mitarbeiter getötet.“
In seiner Brust breitete sich Todeskälte aus. „Wie sicher ist das?“
„Die Leoparden haben Verbindungen zum Medialnet, die Wölfe ebenfalls“, fügte sie hinzu – die SnowDancer-Wölfe waren die engsten Verbündeten des Leopardenrudels. „Es gab nicht den kleinsten Hinweis auf Überlebende.“
Aber Dev wusste, dass die Medialen geübt darin waren, Geheimnisse für sich zu behalten. Insbesondere Leute wie Ratsherr Ming LeBon, der gerüchteweise die Zerstörung des Labors angeordnet hatte. „Wenn ich Ihnen ein Foto schicke, könnten Sie dann Jon fragen, ob er die Person darauf aus dem Labor kennt?“
„Nein.“ Endgültig, genauso wild entschlossen wie die Leoparden ihres Rudels. „Allmählich fängt er an, sich wie ein ganz normaler Jugendlicher zu verhalten – ich will ihn nicht daran erinnern, was er an diesem Ort erleiden musste.“
Dev kannte Talin lange genug, um zu wissen, dass sie nicht nachgeben würde. „Dann brauche ich Ashayas Nummer.“
„Es hat sie hart getroffen, ihre Mitarbeiter zu verlieren.“ Talin zögerte. „Gehen Sie es behutsam an.“
Dev begriff die Andeutung. „Meinen Sie etwa, ich würde sie mit Gewalt zu einer Antwort zwingen?“
„Sie haben sich verändert, Dev“, antwortete Talin leise. „Sie sind härter geworden.“
Dieser Vorwurf war ihm in den letzten Monaten schon oft gemacht worden.
Du hast kein Herz! Deinetwegen liegt er im Krankenhaus! Wie kannst du dich überhaupt noch im Spiegel ansehen?
Er schob die schmerzhafte Erinnerung beiseite und zuckte die Achseln. „Das gehört zum Job.“ Was stimmte, aber selbst wenn er gleich morgen den Direktorenposten abgeben würde, würde seine Fähigkeit dafür sorgen, dass sich die Kälte weiter in ihm ausbreitete. Paradoxerweise machte ihn gerade diese eisige Kälte zum besten Mann auf dem Posten – er wusste genau, wie Mediale dachten.
„Hier ist die Nummer.“
Er schrieb sie vom Bildschirm ab. „Könnten wir unser Treffen verschieben?“
Sie nickte. „Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas herausgefunden haben.“
Dev unterbrach die Verbindung und wählte Ashayas Nummer. Ein Kind mit grauen Augen und glattem schwarzem Haar meldete sich. „Hallo. Was kann ich für Sie tun?“
Dev hätte nie vermutet, dass ihm an diesem Tag noch irgendetwas ein Lächeln abringen konnte, aber bei dieser ernsten Begrüßung spürte er ein Zucken in den Mundwinkeln. „Ist deine Mami da?“
„Ja.“ Die Augen des Jungen funkelten, wirkten mit einem Mal mehr blau als grau. „Sie backt Kekse für den Kindergarten.“
Dev fiel es schwer, sich die mediale Wissenschaftlerin Ashaya Aleine als Mutter vorzustellen, die um Viertel nach sechs morgens Kekse backte. „Müsstest du nicht noch im Bett liegen?“
Ehe der Junge antworten konnte, schob sich das fragende Gesicht einer Frau vor den Bildschirm. „Mit wem redest du –“ Sie sah ihn an. „Ja, bitte?“
„Ich heiße Devraj Santos.“
Ashaya hob ihren Sohn hoch und setzte ihn sich auf die Hüfte. Sofort kuschelte sich der Junge an ihre Schulter und legte die kleine Hand auf ihr hellblaues Hemd. Mit unverhohlenem Interesse sah Ashaya Dev an.
„Die Shine-Stiftung“, sagte sie und zupfte mit den geübten Bewegungen einer Mutter den Kragen des Kinderschlafanzugs zurecht.
„Genau.“
„Talin hat mir von Ihnen erzählt.“ Sie steckte eine lose Strähne der schwarzen Haare wieder in den Zopf. „Was wollen Sie?“
Dev warf einen kurzen Blick auf das Kind. Ashaya gab ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange und lächelte ihn an. „Keenan, möchtest du ein paar Kekse ausstechen, während ich mich mit Mr. Santos unterhalte?“
Der Kleine nickte begeistert. Mutter und Kind verschwanden kurz aus seiner Sicht, und Dev überraschte sich bei der Frage, ob er jemals ein eigenes Kind in seinen Armen halten würde. Es war äußerst unwahrscheinlich – selbst wenn er seinem genetischen Erbe nicht so misstrauisch gegenübergestanden hätte, hatte er doch schon viel zu viel gesehen und getan. Alles Weiche war aus ihm verschwunden.
Ashayas Gesicht erschien wieder, in ihren Augen sah er noch die Spur eines Lächelns. „Wir müssen uns beeilen – Keenan ist zwar brav, aber eben auch erst vier und allein mit dem Keksteig.“
Er würde das Lächeln aus ihrem Gesicht vertreiben, das wusste er, deshalb gab er sich gar nicht erst die Mühe, den Schlag abzumildern. „Sie müssen jemanden für mich identifizieren.“ Er erzählte ihr von der Frau, die er vor seiner Wohnungstür gefunden hatte.
Trotz ihrer dunklen Haut erbleichte Ashaya. „Meinen Sie –“
„Es braucht ja nicht unbedingt eine Falle zu sein“, unterbrach er sie. „Aber ich muss die Möglichkeit in Betracht ziehen.“
„Natürlich.“ Er sah, wie sie schluckte. „Wenn der Rat von den einzigartigen Fähigkeiten bei den Kindern der Vergessenen weiß, wird er wahrscheinlich versuchen, seine Experimente mit ihnen fortzuführen.“ Sie zögerte. „Und falls sie sich für seine Zwecke als nutzlos erweisen, wird Ming nicht zögern, sie zu töten.“
Dev biss die Zähne zusammen. Genau das bereitete ihm Sorgen – der Rat würde sich nie damit anfreunden, dass es ein weiteres Volk mit geistigen Fähigkeiten gab – erst recht nicht, wenn die Vergessenen immer stärkere Kräfte entwickelten. „Ist die Leitung abhörsicher?“
„Ja.“
Er schickte ihr das Foto. „Sie kann sich verändert haben.“
Ashaya nickte, holte einmal tief Luft und öffnete den Anhang. Er wusste sofort, dass sie die Frau erkannt hatte. Erleichterung, Zorn und Schmerz zeigten sich in rascher Folge auf ihrem Gesicht. „Um Gottes willen.“ Ihre Hand fuhr zum Mund. „Das ist Ekaterina.“
3
Der Rat der Medialen traf am üblichen Ort zusammen – einer tief verborgenen Kammer im Medialnet, dem geistigen Netzwerk, das alle Medialen auf der Welt miteinander verband – mit Ausnahme der Abtrünnigen. Eine unendlich weite, schwarze Fläche übersät mit Sternen, den Repräsentanten der Medialen, und beeindruckend in ihrer Schönheit. Obwohl natürlich niemand mehr im Medialnet die Bedeutung des Wortes ‚Schönheit‘ begriff.
Logik, Pragmatik und wirtschaftliche Interessen waren die einzigen Vorstellungen, die der Rat und alle seine Untertanen verstanden.
Hinter den undurchdringlichen Mauern der Kammer wandte sich Nikita an Ming. „Du wolltest über etwas sprechen?“
„Ja.“ Mings Geist war glatt und eiskalt wie eine Schwertklinge. „Es ist mir gelungen, einige der Daten wiederherzustellen, die Ashaya Aleine vor ihrer Flucht vernichtet hat.“
„Hervorragend.“ Shoshanna Scotts geistige Stimme strahlte dieselbe kühle Eleganz aus wie ihre ganze Person. Deshalb war sie eines der beiden öffentlichen Gesichter des Rats. Ihr „Ehemann“ Henry war das andere, ihre vorgebliche Beziehung diente nur zur Beruhigung der Medien auf Seiten der Menschen und Gestaltwandler. Aber in den letzten Monaten hatten sie nicht mehr wie eine Einheit gewirkt, dachte Nikita.
„Irgendetwas Nützliches dabei?“ Das war wieder Shoshanna.
„Eventuell.“ Ming schwieg kurz. „Ich lade die Daten gerade.“
Datenströme zeigten sich auf den schwarzen Wänden, ein silberner Wasserfall, dessen Inhalt nur sehr mächtige Mediale folgen konnten. Nikita nahm die Informationen auf und sah sich die wichtigsten Fakten genauer an. „Es geht um die Vergessenen.“
„Es scheint, als zeigten die jüngsten Abkömmlinge Fähigkeiten, die im Medialnet unbekannt sind“, meinte Ming.
„Das ist nicht weiter überraschend“, bemerkte Kaleb mit seiner sanften Stimme.
Für Nikita war er das gefährlichste Ratsmitglied, der tödlichste Mediale überhaupt. Im Augenblick waren sie partiell Verbündete, aber zweifellos würde er nicht zögern, sie zu töten, wann immer es ihm notwendig erschien.
„Ratsherr Krychek hat völlig Recht“, meldete sich Tatiana zum ersten Mal zu Wort. „Denn für gewöhnlich haben wir alle Mutationen aus dem Genpool getilgt, die nicht notwendig waren, um die Funktionsfähigkeit des Netzes zu erhalten.“
Nikita wusste, dass der Seitenhieb auf sie gezielt war, auf die inakzeptablen Gene ihrer Tochter. „Die E-Kategorie ist keine Mutation“, sagte sie unbewegt, so wie sie es von Kindesbeinen an gewohnt war. „Empathen sind ein wichtiger Bestandteil des Medialnet. Oder hast du vergessen, was du in den Geschichtsstunden gelernt hast?“ Der letzte Versuch des Rats, diese Fähigkeit zu unterdrücken, indem alle positiv getesteten E-Embryonen getötet worden waren, hatte beinahe zum Kollaps des Medialnet geführt.
„Ich habe nichts vergessen.“ Tatiana waren keine Emotionen anzumerken. „Nun zurück zu unserem Thema – die Ausmerzung der Mutationen hat unsere Kernfähigkeiten gestärkt, allerdings mit dem unvermeidlichen Nebeneffekt, dass sich keine neuen Gaben entwickeln konnten.“
„Stellt das wirklich ein Problem dar?“, schaltete sich Anthony Kyriakus sachlich wie stets ein. „Wenn die Vergessenen tatsächlich gefährliche neue Fähigkeiten entwickelt hätten, hätten sie diese bestimmt schon längst gegen uns gewandt.“
„Diesen Schluss habe ich auch gezogen“, meinte Ming. „Dennoch würde ich gerne einen kleinen Teil der Mittel des Rats dafür verwenden, im Volk der Vergessenen nach gravierenden Mutationen zu suchen – natürlich nur, falls niemand von euch Widerspruch erhebt – wir müssen dafür sorgen, dass sie nie wieder eine Gefahr werden können.“
Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden.
Nachdem Mings Informationen von den Wänden verschwunden waren, ergriff Tatiana erneut das Wort: „Wie ist der Zulauf zur freiwilligen Rehabilitation in deinem Gebiet, Nikita?“
„Auf einem stabilen Niveau.“ Statt eine Rehabilitation anzuordnen, hatte man der Bevölkerung erlaubt, ihre Konditionierung zu überprüfen und wenn nötig auffrischen zu lassen – und der Erfolg war größer, als Nikita erwartet hätte. „Mein Vorschlag wäre, weiterhin bei dem Verfahren zu bleiben – es ist schon viel ruhiger im Netz.“
„Stimmt“, warf Henry ein. „Keine Gewaltausbrüche mehr.“
Nikita war es nicht gelungen, herauszufinden, wer die vor Kurzem aufgetretene Welle von mörderischer Gewalt in Gang gesetzt hatte, aber sehr wahrscheinlich befand sich der Urheber unter den Anwesenden. Falls es die Leute zurück in den eisernen Griff von Silentium hatte treiben sollen, war das gelungen. Aber die blutigen Vorkommnisse hatten ein Echo im Medialnet hinterlassen – nichts, was in dieses geschlossene System hineingelangte, wurde je wieder daraus getilgt.
Das schienen die anderen Ratsmitglieder vergessen zu haben, sie aber nicht. Nikita war bereits gerüstet für den Augenblick, in dem sie den Preis für diese grausame Strategie würden zahlen müssen.
4
Sechs Stunden nach seinem frühen Anruf bei ihr führte Dev Ashaya Aleine hinunter in den Krankenhaustrakt. Ashayas Gefährte Dorian begleitete sie, sein Mund war ein einziger harter Strich. „Wenn jemand Ekaterina aus dem Labor geholt hat, bevor es zerstört wurde, befand sie sich wahrscheinlich über fünf Monate in den Händen des Rats.“
Ashaya gab einen erstickten Laut von sich, und Dorian fluchte leise. Er zog sie an sich und drückte einen Kuss auf die schwarzen Locken. „Entschuldige Shaya.“
„Schon gut.“ Sie holte tief Luft. „Du hast ja Recht.“
„Und falls es so war“, sagte Dev, „wissen sie alles, was sie jemals getan hat.“
Ashaya nickte. „Ming LeBon wäre sicher in ihren Geist eingedrungen. Er steckt hinter der Zerstörung des Labors – nur er kann sie gefangen genommen haben.“
Die Gewalt, mit der man sich ihres Geistes bemächtigt hätte, wäre allumfassend, dachte Dev zornig. Dem Opfer bliebe kein Ausweg, kein Ort, um wenigstens noch den Anschein aufrechtzuerhalten, alles sei in Ordnung.
„Warum hat man sie vor Ihrer Türschwelle abgeladen?“, fragte Ashaya mit zitternder Stimme. „Als Drohung?“
„Eher als Hohn.“ Dev kannte seine Feinde genau. „Psychologische Kriegsführung.“
Dorian nickte. „Vielleicht möchte Ming Sie dazu bringen, etwas Unüberlegtes zu tun.“
„Sämtliche Shine-Kinder sind in Sicherheit“, sagte Dev, das hatte er in den vergangenen Stunden nachgeprüft. „Leider existiert immer noch eine Grauzone, von uns bereits erfasste Kinder, die unsere Hilfe aber noch nicht angenommen haben.“ Der letzte Maulwurf des Rats hatte das ausgenutzt und Kinder für die Experimente abgefangen, die bereits Kontakt zu den Shine-Beratungsstellen gehabt hatten, aber noch nicht im sicheren Hort der Organisation angelangt waren.
Jedes dieser toten Kinder bescherte Dev unruhige Nächte. Denn Shine sollte Sicherheit bringen, die Verlorenen der Vergessenen aufspüren, die von ihnen getrennt worden waren, als der Rat der Medialen ihre Vorfahren verfolgte. Doch statt eines sicheren Hafens hatten die Kinder den Tod gefunden … während die Aufsichtsratsmitglieder von Shine tatenlos dasaßen und die Köpfe in den Sand steckten.
Dev hätte sie für ihre Blindheit umbringen können, für ihre Weigerung, einzusehen, dass das Ausmerzen erneut begonnen hatte – manche meinten sogar, es wäre ihm beinahe gelungen. Ein Mitglied des Aufsichtsrats hatte einen Herzinfarkt erlitten, nachdem Dev ihnen Fotos der ermordeten Kinder vorgelegt hatte. Mehrere hatten am Rande eines Nervenzusammenbruchs gestanden.
Es hatte sich ihm später aber auch niemand widersetzt, als er gehandelt und den Maulwurf gestellt hatte. „Hier entlang“, sagte er und bog auf einen Flur ein, auf dem kein Laut zu hören war.
„Tally meinte, Sie hätten beim letzten Mal die Rekrutierung gestoppt.“ Dorian sah ihn an, die klaren blauen Augen funkelten unter dem weißblonden Haar. „Werden Sie es diesmal wieder so halten?“
„Nur ein Maulwurf der Medialen könnte die Kinder ausfindig machen“, sagte Dev mit ausdrucksloser Stimme. „Und dieser Mann ist tot.“
Ashaya blinzelte und sah Dorian an, sagte aber nichts. Ihr Gefährte nickte. „Gut so.“
Dev legte seine Hand auf den Sicherheitsscanner der Tür. „Ohne deutliche Hinweise für Schwierigkeiten kann ich das Programm nicht schon wieder einfrieren – wir haben unsere Gründe, so viel Zeit und Geld darauf zu verwenden, Nachkommen der Rebellen zu finden. Einige der Kinder werden wahnsinnig, weil sie sich für Menschen halten.“
Nach hundert Jahren Silentium, in denen die Medialen im Netz sich abschotteten, wurde keine Mühe mehr darauf verwendet, geistige Fähigkeiten zu testen. Niemand kam auf die Idee, dass die verrückten Kinder wirklich Stimmen hörten. Einige waren latent telepathisch veranlagt, und die Fähigkeit zeigte sich, sobald sie in die Pubertät kamen. Einige hatten schwache empathische Gaben und wurden von den Gefühlen anderer überwältigt. Und wieder andere … wenige bargen geheime Schätze, Gaben, die sich durch genetische Veränderung entwickelt hatten.
Glen kam gerade aus einem Zimmer heraus, und Dev machte den Arzt auf sich aufmerksam. Eilig kam dieser auf sie zu, dunkle Ringe unter den Augen.
Dev bemerkte die zerknitterten Kleider seines Freundes, das ungekämmte, nach allen Seiten abstehende fuchsrote Haar. „Ich dachte, deine Schicht wäre vorbei.“
Glen fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das dadurch nur noch wilder abstand. „Ich wollte zur Stelle sein, falls unser Gast aufwacht. Hatte mich im Aufenthaltsraum hingelegt.“
Sie stellten sich rasch gegenseitig vor und gingen dann in Ekaterinas Zimmer. Dev war überrascht, dass die Mediale wach im Bett saß und an einer Tasse nippte. Er sah Glen fragend an.
„Seit noch nicht einmal zehn Minuten“, murmelte der Arzt.
Ekaterina schaute nur Dev an, ihr Blick hatte Ashaya nur flüchtig gestreift, als würde ihre frühere Kollegin gar nicht existieren. „Der Nebel lichtet sich langsam.“ Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie lange nicht gesprochen … oder als wäre sie in brutaler Weise gebrochen worden.
Dev ging zu ihr, nahm ihr die Tasse aus der Hand und schaute gebannt in die umwölkten grüngoldenen Augen. „Woran können Sie sich erinnern?“
Sie schluckte, sah ihm aber weiter in die Augen. „Ich weiß nicht, wer ich bin.“ Ihre Stimme zitterte nicht, in ihren Augen standen keine Tränen. Dennoch hörte Dev den innerlichen Aufschrei – herzzerreißend dünn traf er ihn mitten in die Brust.
Ein kleiner, kaum noch wahrnehmbarer Teil von ihm wollte Trost spenden, aber diese Frau war allein durch ihre bloße Existenz eine Gefahr für die ihm Anvertrauten. Sie war eine Mediale. Man konnte niemandem trauen, der mit dem Medialnet verbunden war. Selbst wenn sie sich menschlicher verhielt als ihre Brüder und Schwestern, musste er sie wie eine gefährliche Waffe behandeln, die die Saat zur Vernichtung von Shine mit sich führte. Und sollte es sich erweisen, dass es tatsächlich so war, würde er eine tödliche Entscheidung fällen müssen … auch wenn er damit das letzte bisschen Menschlichkeit in sich auslöschte.
„Ekaterina“, sagte Ashaya leise.
Die Frau auf dem Bett blinzelte und schüttelte den Kopf. „Nein.“
„So heißen Sie“, sagte Dev und sorgte dafür, dass sie seinem Blick nicht ausweichen konnte.
Die zwischen Grün und Gold changierenden Haselaugen flackerten kurz auf und erloschen wieder, wie eine Kerzenflamme im Wind. „Ekaterina ist tot“, sagte sie ganz ruhig. „Alles ist tot. Nichts ist geblie–“ Ihre Zähne schlugen aufeinander und ihr Körper wand sich in Zuckungen.
„Glen!“ Dev hielt sie fest, damit sie sich nicht selbst wehtat oder gar vom Bett fiel, ihr Körper fühlte sich überraschend zerbrechlich an.
„Sag es.“
Sie presste die Lippen aufeinander.
„Sag es.“
Nein. Nein. Nein.
„Sag es.“
Er wurde nicht müde, gab nicht auf, drang aber auch nicht in ihren Geist ein. Die Angst davor, vor dem Schmerz, vor der Gewalt war schlimmer als der Akt selbst.
„Sag es.“
In den ersten Tagen, den ersten Wochen hatte sie standgehalten.
Aber er ließ nicht locker.
Ihre Zunge war ein dicker Klumpen, ihr Mund furchtbar trocken. Ihr Magen schmerzte. Aber sie hielt durch.
„Sag es.“
Drei Monate dauerte es, dann war sie so weit. Sagte es.
Sagte: „Ekaterina ist tot.“
„Sie hat das Bewusstsein verloren.“ Glen leuchtete mit der Taschenlampe in die Augen der leblosen Ekaterina. „Könnte noch eine Auswirkung der Betäubung sein, aber ich glaube, der Auslöser war ihr Name – eine Art psychische Mine.“
„Höchstwahrscheinlich eine Kombination von beidem“, sagte Ashaya und rasselte die Bestandteile des Schlafmittels herunter, das auf dem Krankenblatt stand. „Manches davon kann bei Medialen Erinnerungslücken auslösen.“
Die Augen des Arztes leuchteten auf, vor ihm stand eine Kollegin. „Genau. Möglicherweise hat man die Mittel im Zusammenhang mit anderen Methoden benutzt, um ihren Widerstand zu brechen.“
Dev schaute auf das von blauen Flecken und Kratzern gezeichnete Gesicht Ekaterina Haas’ und fragte sich, was sie wohl aufgegeben hatte, um die Folter zu überleben … wozu sie sich zur Verfügung gestellt hatte. Er ballte die Fäuste in den Hosentaschen – ganz egal, welchen Handel sie abgeschlossen hatte, es hatte sie nicht gerettet. „Um auf die Frage zurückzukommen, die Sie bei Ihrer Ankunft gestellt haben“, sagte er leise zu Dorian, solange Glen und Ashaya mit etwas anderem beschäftigt waren. „Das wird nicht möglich sein.“
„Shaya will sie in ihrer Nähe haben.“ Dorian verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu seiner Gefährtin hinüber. „Es hat sie fast umgebracht, glauben zu müssen, Ekaterina sei tot.“
„Was immer mit ihr geschehen ist“, sagte Dev und konnte die Augen nicht von dem schmalen Körper auf dem Bett abwenden, „was immer man ihr angetan hat, sie ist nicht mehr die Frau, die Ihre Gefährtin gekannt hat. Hier können wir sie besser beobachten.“
„Und falls sich herausstellt, dass sie eine Gefahr ist?“
Dev sah ihn an. „Sie kennen die Antwort.“ Dorian war Wächter der DarkRiver-Leoparden. Das Rudel war nicht durch Schwäche zu einem dominanten Gestaltwandlerrudel in diesem Teil des Landes aufgestiegen … auch nicht dadurch, dass es schnell vergaß und vergab.
Dorian holte tief Luft und warf Ashaya einen besorgten Blick zu. „Falls Sie diese Entscheidung fällen, möchte ich hinzugezogen werden. Damit ich sie darauf vorbereiten kann.“ Es klang wie ein Befehl.
Gewöhnlich erteilte Dev Befehle und nahm keine entgegen, aber Ashaya hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um zwei Kinder der Vergessenen zu retten. Sie verdiente, dass er ihr Respekt entgegenbrachte. „Geht in Ordnung.“ Doch als er nun die bedrohlich flache Atmung Ekaterinas beobachtete, fragte er sich, ob er sein Vorhaben überhaupt in die Tat würde umsetzen können, wenn es je dazu kommen sollte. Konnte er einen Körper zerstören, der schon so furchtbar gelitten hatte?
Die Antwort gab ein Teil von ihm, den Blut und Schmerz geschaffen hatten: Ja.
Denn wenn man gegen Bestien kämpfte, musste man gelegentlich selbst zu einer werden.
Archiv Familie Petrokov
Brief vom 24. Mai 1969
Mein lieber Matthew,
dein Vater meint, dass du eines Tages über diese Briefe lachen wirst, die ich einem Sohn schreibe, der gerade versucht, an beiden Daumen zugleich zu lutschen. „Zarina“, sagte er zu mir heute Nachmittag, „welche Mutter schreibt schon politische Abhandlungen an ihren sieben Monate alten Säugling?“
Weißt du, was ich ihm geantwortet habe?
„Eine Mutter, die überzeugt davon ist, dass ihr Sohn ein Genie werden wird.“
Wie glücklich du mich machst. Noch während ich schreibe, frage ich mich, ob ich dir jemals diese Briefe zeigen werde. Sie sind wohl so etwas wie ein Tagebuch für mich, aber da ich es nicht über mich bringe, „Liebes Tagebuch“ zu schreiben, richte ich sie an den Mann, der du einst sein wirst.
Ich hoffe, du wirst weniger turbulente Zeiten erleben. Trotz aller psychologischen Theorien scheint sich zu erweisen, dass es nahezu unmöglich ist, den Kindern ihren Zorn abzutrainieren.
Aber das ist es nicht, was mir Sorgen bereitet – es gibt Gerüchte, der Rat würde sich mehr und mehr an Mercury orientieren, der geheimen Gruppierung um Catherine und Arif Adelaja. Wenn das stimmt, steht es schlimmer um uns, als ich befürchtet habe.
Ich habe nichts gegen Catherine und Arif. Früher habe ich sie sogar zu meinen Freunden gezählt und sie bewundert für den Mut, mit dem sie das Schlimmste überstanden haben, was Eltern widerfahren kann. Es ist bestimmt nicht übertrieben, sie zu den außergewöhnlichsten Denkern unserer Generation zu zählen. Und da ich genügend Zeit mit ihnen verbracht habe, kann ich eines mit Sicherheit sagen: Beide wollen nur das Beste für die unseren.
Aber manchmal kann das tiefe Bedürfnis zu retten und zu schützen so blind machen, dass man gerade das zerstört, was man retten will.
Ich kann nur hoffen, dass auch der Rat zu dieser Erkenntnis gelangen wird.
In Liebe
Mamotschka
5
Zwei Tage nach ihrem Zusammenbruch betrachtete die Frau, die alle Ekaterina nannten, die Fremde im Spiegel und bemühte sich zu sehen, was die anderen sahen. „Das bin ich nicht.“
„Noch immer keine Erinnerung?“
Sie fuhr herum; der Mann, der sich ihr mit dem Namen Devraj Santos vorgestellt hatte, stand in der Badezimmertür. Dunkles Haar, dunkle Augen … und eine Art sich zu bewegen, die sie an ein Raubtier erinnerte: geschmeidig, stets auf der Hut und unvorstellbar gefährlich.
Doch dieses Raubtier steckte in einem perfekt sitzenden schwarzen Anzug.
Tarnung, dachte sie, sie durfte sich nicht in Sicherheit wiegen. „Nein. Es ist der Name … So heiße ich nicht.“ Sie konnte nicht recht erklären, was sie damit meinte, konnte die Mauer in ihrem Kopf nicht mit Worten durchbrechen. „Nicht mehr.“
Sie hätte erwartet, dass er ihre Erklärung einfach abtun würde, aber er lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen, steckte die Hände in die Hosentaschen und fragte: „Gefällt Ihnen ein anderer besser?“
Niemand hatte ihr je die Wahl gelassen … schon lange nicht mehr. Das wusste sie. Doch sobald sie nach Einzelheiten darüber greifen wollte, glitten sie ihr durch die Finger, so flüchtig wie der Nebel, den sie als Kind auf dem Gesicht gespürt hatte.
Sie hielt den Erinnerungsfetzen fest, suchte verzweifelt nach dem kleinsten Hinweis, wer sie gewesen sein konnte, wer sie war, fuhr innerlich die Krallen aus, um den Schleier wegzureißen.
Nichts. Nur Leere.
„Nein“, sagte sie. „Nur bitte nicht diesen.“ Der Schattenmann hatte ihn benutzt. Seine Stimme suchte sie heim. Sagte ein ums andere Mal diesen Namen. Und dann folgte der Schmerz. Großer, nicht enden wollender Schmerz. Bis sie aus dem Traum hochfuhr, überzeugt davon, er habe sie gefunden und wieder in dieses Loch gesteckt, dieses Nichts.
„Wie klingt Trina?“ Devs Stimme holte sie in die Gegenwart zurück, ihr wurde bewusst, dass ein Mann bei ihr war, den sie nicht kannte, der ebenfalls ein solcher Schatten sein konnte. „Das wäre ähnlich genug, um Erinnerungen wachzurufen.“
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. „Viel zu ähnlich.“
„Kate?“
Sie überlegte. Zögerte.
„Katya?“
Noch nie hatte jemand sie so genannt, das wusste sie. Es fühlte sich neu an. Frisch. Lebendig. Ekaterina war tot. Katya lebte. „Ja.“
Dev kam näher, und ihr fiel zum ersten Mal auf, wie groß er war. Er bewegte sich mit einer solchen Eleganz, man übersah leicht, dass er über einen Meter neunzig maß und breite Schultern hatte, die mühelos das Jackett ausfüllten. Er war nicht nur groß, sondern auch sehr muskulös – dieser Mann wäre in der Lage, ihr jeden Knochen im Leib zu brechen, ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen.
Sie hätte Furcht empfinden sollen, aber Devraj Santos strahlte eine solche Energie aus, war so bodenständig, so von dieser Welt, dass sie seine Nähe wünschte. Er war kein Schatten. Wenn überhaupt, dann würde er sie aus rein sachlichen Gründen töten. Würde sie weder foltern noch quälen. Deshalb ließ sie es zu, dass er näher kam, die Hand hob und mit den Fingern in ihr Haar fasste; der frische Geruch seines Aftershaves drang durch ihre Poren, hüllte sie vollkommen ein.
Unwillkürlich neigte sie sich vor, als er sagte: „Das müssen Sie ausbürsten.“
„Gewaschen habe ich es schon.“ Sie nahm eine Bürste, kämpfte gegen das Bedürfnis an, die gerade gefundene Selbstbeherrschung aufzugeben. „Aber es ist so verfilzt, dass ich nicht durchkomme. Vielleicht sollte ich es einfach abschneiden.“
„Geben Sie her.“ Er nahm ihr die Bürste aus der Hand und drängte sie zum Bett hinüber.
Die Berührung durchfuhr sie wie ein Blitzschlag, widerstandslos gehorchte sie, setzte sich jedoch auf einen Stuhl. „Hier gibt es keinen Sonnenschein.“ Sonnenschein. Sunshine. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider. Sunshine. Ein Stich im Herzen zeigte ihr, dass sie etwas Wichtiges vergessen hatte. „Keinen Sonnenschein“, flüsterte sie erneut, doch das Echo in ihrem Kopf wurde leiser, verlor sich im Nebel.
„Draußen schneit es“, sagte Dev. „Aber die Sonne zeigt sich von Zeit zu Zeit – wir sind hier nur zu tief unter der Erde.“ Als sie sich gesetzt hatte, stellte er sich hinter sie und begann ihr Haar zu bürsten. Die Geduld, mit der er die Knoten entwirrte, überraschte Katya.
Einem Teil von ihr war die ganze Zeit bewusst, dass die sanften Finger sie genauso gut töten konnten. Dennoch hielt sie still, lieferte sich ihm aus; es kitzelte sie im Nacken, wenn seine Finger ihn streiften. Weiter, hätte sie gerne gesagt, nur nicht aufhören. Stattdessen umklammerte sie mit ihren Fingern den Stuhl, um nicht darum zu betteln, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie die Berührung brauchte. Der stählerne Rahmen wurde warm unter ihren Händen. Doch die Wärme war nicht echt, nicht menschlich.
„Mir ist etwas eingefallen“, brach es aus ihr heraus.
Seine Hände hörten nicht auf, ihr Haar zu bürsten. „Und was?“
Sie lehnte sich nach hinten, hungerte so nach Berührung, als ob sich ihre Haut dünn und ausgetrocknet wie Pergament anfühlte. „Ich weiß, wie die Welt aussieht. Ich weiß, dass ich eine Mediale bin. Und ich weiß, dass ich eigentlich keine Gefühle haben sollte.“ Doch sie hatte trotzdem Gefühle. Hunger, Furcht und Verwirrung zerrten an ihr, forderten ihre Aufmerksamkeit, wollten wahrgenommen werden.
Und darunter lag der Schrecken. Unermesslich. Unbeschreiblich. Ununterbrochen.
Devs Finger legten sich um ihren Nacken, warm und lebendig, eine sanfte Aufforderung. „Was wissen Sie von der Welt? Politische Zusammenhänge?“
„Jedenfalls genug. Wenn auch nur Bruchstücke.“ Sie holte tief Luft, sein Geruch, schwerer als das frische Aftershave, war nun in ihr. Ihr Herz schlug schnell, ihre Handflächen wurden feucht. „Ich verstehe, was die Nachrichtensprecher im Fernsehen sagen. Und ich weiß noch mehr … weiß, wer – was – Sie sind. Was Shine ist. Nur über mich selbst weiß ich nichts. Absolut nichts.“
„Das stimmt nicht.“ Feste Bürstenstriche, die an ihrer Kopfhaut zogen. „Immerhin träumen Sie.“
Furcht stieg in ihr hoch, ihr wurde übel. „Das will ich aber nicht.“
„Es ist eine Möglichkeit der Verarbeitung.“
Die Arme taten ihr weh, sie hielt sich so fest, dass ihre Muskeln vor Anstrengung zitterten. Zwang sich, den Griff zu lockern, konzentrierte sich auf die Bürstenstriche, die Borsten auf der Kopfhaut, die Hitze, die der Mann hinter ihr ausstrahlte. „Ich bin eine Gefahr.“
„Stimmt.“
Dass er sie nicht angelogen hatte, machte es ein wenig leichter. „Was werden Sie mit mir tun?“
„Sie zunächst einmal in meiner Nähe behalten.“
„Das sollten Sie lieber nicht tun.“ Es war ihr einfach herausgerutscht. „Mit mir stimmt etwas nicht.“ Die Umrisse von etwas Fremden saßen ganz hinten in ihrem Schädel, unhörbar flüsternde Schatten.
„Ich weiß.“ Er hörte sich nicht besorgt an, aber wahrscheinlich kannte er so etwas wie Furcht nicht. Sie dagegen kannte dieses Gefühl viel zu gut. Wie schleichendes Gift saß es in jeder Zelle. Doch noch war sie bei Verstand, obwohl sie sich innerlich gebrochen fühlte.
„Was wollen Sie von mir?“ Denn warum sonst sollte er sie am Leben lassen, sie bei sich behalten?
„Können Sie sich an die Forschungen erinnern, die Sie zusammen mit Ashaya betrieben haben?“
Blasse blaugraue Augen, dunkle, wilde Locken, kaffeebraune Haut: Ashaya. „War sie hier?“ Sie spürte, wie ihre Haut sich spannte, als sie die Stirn in Falten zog. „Sie war hier.“
„Ja.“ Sanfte Bürstenstriche durch längst glatt gekämmtes Haar. „Sie möchte, dass Sie bei ihr wohnen.“
Katya schüttelte bereits den Kopf, als er den Satz noch nicht ganz ausgesprochen hatte. „Nein.“ Angst schnürte ihr die Kehle zu, so sehr, dass sie kaum noch atmen konnte. Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen, sie spürte höllische Schmerzen in der Brust.
Die Bürstenstriche hörten auf, und plötzlich kniete Dev vor ihr, ergriff sie bei den Händen. „Weiteratmen.“ Ein Befehl, der keine Weigerung zuließ.
Sie sah in die nicht nur braunen Augen, versuchte ihr Gleichgewicht, ihr eigenes Bewusstsein wiederzufinden. „Weiteratmen“, wiederholte sie mit dünner Stimme, einem kaum vernehmbaren Flüstern. „Weiteratmen.“ Zischend drang Luft in ihre Lungen, sie schmeckte nach dem faszinierenden Mann, der in ihr nie etwas anderes als einen Feind sehen würde.
Doch im Augenblick war ihr das gleichgültig.
Sie wollte in diesen Duft eintauchen, bis die Angst in ihr nur noch eine ferne Erinnerung sein würde, ein vergangener Traum. Erneut tat sie einen tiefen Atemzug, genoss mit allen Sinnen Devraj Santos. Er roch nach Macht und unerwartet auch nach etwas Wildem, nach Zimt und nach Gerüchen, die der Wind aus dem Orient mit sich brachte – woher sie dieses Wissen, diese Worte nahm, wusste sie nicht. Ohne es bewusst zu wollen, hob sie die Hand und legte sie auf seinen dichten, dunklen Schopf. Sein Haar war ganz weich, viel weicher, als es zu einem solchen Mann gepasst hätte. „Versprechen Sie mir etwas?“
Seit vielen Jahren zum ersten Mal stand Dev vor einer Gegnerin, die er nicht einschätzen konnte. Er war zu ihr gegangen, um zu entscheiden, ob sie vielleicht nur eine besonders gute Schauspielerin war. Stattdessen war er seiner Achillesferse in Gestalt einer Frau begegnet – einer Frau ohne Schranken, ohne Schutzschilde.
Sie hatte ihn berührt, und er hatte sie nicht fortgestoßen, obwohl ihm Körperkontakt noch nie leichtgefallen war, selbst die üblichen flüchtigen Berührungen, die viele für selbstverständlich hielten. Dev blieb lieber auf Distanz. Doch ihre Hand lag immer noch auf seinem Haar, immer noch spürte er ihre zarte Haut unter seinen rauen Fingern.
Er musste gegen das instinktive Bedürfnis ankämpfen, sie zu beschützen und zu retten. Das eiskalte Herz, das ihm manche nachsagten, schien doch noch etwas Wärme in sich zu bergen. Nur reichte sie nicht aus, um ihn für die zynische Wahrheit blind zu machen – Katya konnte der beste Streich des Rats sein, eine Waffe, die primitive Instinkte in ihm wecken sollte, über die er keine Kontrolle hatte. „Was soll ich Ihnen versprechen?“, fragte er und wappnete sein Herz gegen eine Bitte um Gnade.
Doch sie strich mit der Hand über sein Haar, als sei sie von dessen Struktur fasziniert, und fragte: „Würden Sie mich töten?“
Er erstarrte.
„Wenn ich zu sehr zerstört bin“, fuhr sie fort, „unheilbar, würden Sie mich dann töten?“
In diesem Augenblick wirkte sie nicht mehr verloren. Ein Feuer brannte in ihr, ein zu allem entschlossener Wille. „Katya –“
„Er hat irgendetwas tief in mir bewirkt“, flüsterte sie mit Nachdruck, einer Kraft, die sich nicht mehr zurückhalten ließ. „Er hat mich beeinflusst. Ich möchte lieber sterben, als das zu sein. Seine … Kreatur.“
Der gepeinigte Ausdruck auf ihrem Gesicht, das Fürchterliche ihrer Worte erschütterte die stählernen Schilde, die seine Seele umgaben, drohte, ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen. „Sie werden niemals den Kampf dagegen aufgeben, sonst hätten Sie es längst getan“, sagte er und konnte sich nicht von den grüngoldenen Augen lösen.
Mutlos ließ sie ihre Hand fallen, hielt jedoch seinem Blick stand, unerschütterlich in ihrer Ehrlichkeit. „Woher wollen Sie wissen, dass ich es nicht getan habe?“
Nachrichtenprotokoll Erde 2:Station Sunshine
21. Februar 2080: Die neue Mannschaft ist um 0900 eingetroffen. Keinerlei Anzeichen von körperlicher oder geistiger Instabilität. Arbeitsanfang ist morgen, sobald sich die Mitglieder des Teams akklimatisiert haben.
Ratsherr Ming LeBon hat einen Bericht über längerfristige Überlebensmöglichkeiten angefordert, der ihm mit dem nächsten Mannschaftswechsel zugehen wird. Nach den jetzigen Berechnungen bietet dieser Ort zukünftig wertvolle Ressourcen, alle Daten werden jedoch vor Abschluss des Berichts einer sorgfältigen Prüfung unterzogen.
6
Vor einer Stunde erst hatte Katya ihn gebeten, sie zu töten. Jetzt saß ihr Dev an einem Tisch im Pausenraum gegenüber und schob ihr einen Teller zu. „Essen Sie.“
Sie rührte die Speisen nicht an, sah ihm fest in die Augen, die im Moment mehr golden als grün schimmerten und aus deren Pupillen braune Blitze schossen. „Werden Sie Ihr Versprechen halten?“
Er wusste, wann man ihm etwas vorspielte. Allerdings baten die meisten um weit weniger endgültige Dinge. „Falls es notwendig werden sollte, werde ich Sie töten.“
Sie schien über seine Worte nachzudenken, dann griff sie nach der Gabel. „Danke.“ Sie aß wie ein Vögelchen nur winzige Bissen, und er überlegte sich derweil, was er mit ihr anfangen sollte. Dev war sich im Klaren darüber, was aus ihm geworden war, aber er war – zumindest im Augenblick – noch keine Bestie und würde sie nicht noch einmal den Bestien zum Fraß vorwerfen. Doch ebenso wenig konnte er zulassen, dass sie mit der Organisation von Shine vertraut wurde.
Katya sah zwar zerbrechlich aus und sprach Instinkte in ihm an, die seine verletzte Seele in der Kindheit entwickelt hatte, aber Katya war auch eine Mediale – und Mediale kümmerten sich nur so weit um ihren Körper und ihr Aussehen, wie es für ihre Arbeit notwendig war. Er musste vor allem auf ihren Verstand achten – sie durfte keinesfalls in die Nähe von Computern gelangen, durfte sich keine Daten verschaffen, vor allem keine, die ihnen schaden konnten.
Die Frau, der seine Gedanken galten, schob den fast vollen Teller weg. „Mein Magen kann nichts mehr aufnehmen.“
„In einer Stunde gibt es die nächste Mahlzeit.“
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber sie presste die Fingerspitzen auf die Tischplatte. „Sie sind es wohl gewohnt, Befehle zu erteilen?“
„Denen man gewöhnlich gehorcht.“ Er verbarg seinen starken Willen nicht. Denn dieser hatte ihn schließlich so weit gebracht und schützte die Vergessenen vor den Versuchen des Rats, sie für immer vom Erdboden zu tilgen. „Können Sie ein paar Fragen aushalten?“
„Würden Sie keine stellen, wenn ich es nicht könnte?“
„Doch.“ Er musste ihr drohen – äußerlich war sie zerbrechlich wie Glas, aber auch die meisten Gifte sahen ganz harmlos aus.
Viele hätten vor seiner grimmigen Miene die Augen niedergeschlagen, doch sie sah ihn unverwandt an. „Zumindest sind Sie ehrlich.“
„Verglichen mit wem?“
Sie schüttelte den Kopf, darauf würde sie nicht antworten. „Stellen Sie Ihre Fragen.“
„Sind Sie im Medialnet?“
Sie blinzelte. „Natürlich.“ Doch sie klang unsicher, auf ihrer Stirn erschienen tiefe Furchen.
Dev wartete, Katya senkte die Augenlider, ihre Augäpfel bewegten sich. Dann klappten die Lider wieder auf. „Ich bin gefangen.“ Ihre Finger krümmten sich, die Nägel kratzten über das Furnier. „Er hat mich in meinem Kopf begraben.“
„Nein, denn dann wären Sie tot.“
Die harten Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Katyas Kopf fuhr hoch, und sie sah in kalte, abweisende Augen. Von diesem Mann hatte sie keine Sanftmut zu erwarten. Das war nicht der Dev, der ihr Haar gebürstet und ihr gestattet hatte, ihn zu berühren. Er würde zwar nicht zögern, wenn es darum ging, das ihr gegebene Versprechen zu halten. Aber diesen Mann hätte sie nicht darum gebeten.
Paradoxerweise gab ihr gerade die Rücksichtslosigkeit ihres Gegenübers wieder Kraft. Ihre geschlagene Seele richtete sich auf. Für Dev wäre sie weich geworden, aber dem Direktor der Shine-Stiftung würde sie niemals die Befriedigung verschaffen, sie schwach zu sehen. „Stimmt“, sagte sie und unterdrückte die aufsteigende Panik. „Das Biofeedback muss ja irgendwie durchkommen.“ Gegen diese logische Folgerung konnte man nicht argumentieren – ohne das Feedback des Medialnet, mit dem sie alle von Geburt an verbunden waren, hätte sie kaum ein paar Minuten überlebt. „Aber ich glaube, ich kann nicht mehr von mir aus hinein.“
„Was nicht heißt, dass es keinen Weg von dort in Ihren Kopf gibt.“
Ihr drehte sich der Magen um. Nur mit großer Mühe behielt sie ihr Essen bei sich. „Sie denken, das ist schon geschehen“, flüsterte sie und sah in die mitleidlosen Augen. „Sie glauben, ich wäre nur seine Marionette.“
Dev verließ die erschöpfte Katya – ja, der Name passte viel besser zu ihr als Ekaterina – und ging nach oben in sein Büro. Er überlegte, wer wohl das Geheimnis von Katya Haas lüften könnte. Sein Netzwerk von Informanten war ebenso weit verzweigt wie das Medialnet. Doch bislang war es ihm nicht gelungen, sich Zugang zum Netzwerk der Medialen zu verschaffen. Im DarkRiver-Leopardenrudel gab es mehr als eine Mediale – und sehr wahrscheinlich dadurch auch eine direkte Verbindung dorthin.
Von seinem Fenster sah Dev auf das brodelnde New York und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Falls man Katya als Warnung auf seine Türschwelle gelegt hatte, wussten die Mächtigen im Medialnet, dass sie lebte und kontrollierten sie – das hatte sie selbst gesagt. Aber er musste auch eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen: Jemand konnte Katya gerettet und zu ihm gebracht haben, weil er wusste, dass die Vergessenen niemals mit dem Rat zusammenarbeiten würden. In diesem Fall konnte jedes Herumstochern in ihrem Leben sie gefährden.
„Dev?“
Er wandte sich der Stimme zu. Maggie stand im Türrahmen. „Was gibt’s?“
„Jack ist auf dem Weg hierher.“ Ihre Augen blickten mitfühlend.
Devs Magen zog sich zusammen, in seinem Kopf tauchten Bilder von Jacks Sohn William auf. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war Will ein lustiger kleiner Bursche voller Energie gewesen. Aber jetzt … „Bring ihn rein, sobald er hier ist.“
Schneegraupel schlugen ans Fenster, ein Schauer war heftiger und lauter als der andere. Dev wandte der plötzlichen Dunkelheit den Rücken zu und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Zu seiner Verantwortung. Wenn es um Informationen über Katya ging, konnte es nur eine Entscheidung geben: Tausende von Vergessenen, deren Schutz er sich verschworen hatte, waren wichtiger als eine Mediale. Eine rücksichtslose Einstellung, aber er musste dabei bleiben.
Mehrere Stockwerke tiefer schlief Katya und war erneut im Spinnennetz gefangen.
„Was ist deine zweite Aufgabe?“
„Informationen über die Vergessenen zu sammeln und ihre Geheimnisse aufzuspüren.“
„Und was wirst du tun, wenn es dir nicht gelingt, im festgesetzten Zeitrahmen die entsprechenden Informationen zu erhalten?“
Angst stieg in ihr auf, aber nur dumpf, wie der zu oft gespürte Schmerz einer alten, nicht verheilten Verletzung. „Dann konzentriere ich mich auf mein Primärziel.“
„Was ist das für ein Ziel?“
„Die Ermordung Devraj Santos’, des Direktors der Shine-Stiftung.“
„Wie soll das geschehen?“
„Es soll deutlich sein, dass ein Anschlag auf ihn verübt wurde, und es darf kein Zweifel darüber bestehen, wer es getan hat.“
„Warum?“
Das brachte sie aus dem Konzept. „Sie haben mir nicht gesagt, warum.“
„Gut.“ Eiskalt. „Du sollst nicht verstehen, nur ausführen. Wiederhole, was du tun sollst.“
„Devraj Santos ermorden.“
„Und danach?“
„Mich selbst töten.“
Stille, Stoff raschelte, als er die Beine übereinanderschlug, sein Gesicht war völlig ausdruckslos, so wie in jenen Momenten, wenn er sie wieder einmal der Dunkelheit überließ, obwohl sie ihn auf Knien darum bat, es nicht zu tun.
„Bitte“, hatte sie gesagt und sich an seinen Beinen festgehalten. „Bitte nicht. Bitte!“
Er hatte sie fortgestoßen und die Tür verschlossen. Nun saß er vor ihr – ein Gott auf einem Thron, vor dem sie im Staub kniete – und sprach mit der kalten Stimme, die sich nie veränderte, auch wenn sie noch so laut schrie.
„Nur dieser Aufgabe wegen habe ich dich am Leben gelassen.“
„Warum ausgerechnet ich?“
„Du bist schon tot. Leicht zu entbehren.“
„Und falls ich versage?“ Sie war so schwach, dass ihre Knochen sich aufzulösen schienen. Wie sollte sie einen Mann töten, noch dazu einen, dem ein solch tödlicher Ruf vorausging?
Die Antwort kam nicht sofort, die Spinne, das einzige Lebewesen in ihrer nur aus Schmerzen bestehenden Welt, bewegte sich nicht. Er war wirklich ein Medialer. Seine Gesten und Bewegungen verfolgten immer ein Ziel. Einst war sie genauso gewesen. Bevor er in ihren Geist eingedrungen war und ihre Konditionierung gekappt, alles ausgelöscht hatte, was sie als ein eigenes Wesen ausmachte.
Bevor er sie ermordet hatte.
„Wenn du versagst“, sagte er schließlich, „wird Devraj Santos dich töten. So oder so wird das Ende für dich gleich aussehen.“