Rühr die Katze nicht an! - Ulrike Günther - E-Book

Rühr die Katze nicht an! E-Book

Ulrike Günther

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Beschreibung

Deutschland in den 50er Jahren. In einer fränkischen Kleinstadt als Nachkömmling in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, erlebt Julia prägende Jahre ihrer Kindheit. Im Elternhaus und seinem Umfeld spielt sich alles im zweideutigen Raum ab, eingebettet zwischen Schweigen und Heimlichkeiten, Spötteleien, Lügen, unterschwelligen Andeutungen und Grenzüberschreitungen. Die erwachsene Julia blickt nach Jahrzehnten auf die doppelbödigen Moralvorstellungen zurück und kommt einem Familiengeheimnis auf die Spur.

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In Liebe für meine Mutter und ihre Mutter

Die Namen der im Buch erscheinenden Personen sind geändert.

Einige Begebenheiten sind frei erfunden, aber nicht unwahr.

Wer hinter die Puppenbühne geht,

sieht die Drähte.

Wilhelm Busch

Sich selbst zu entdecken, ist nicht nur

die schwierigste Sache der Welt,

sondern auch die unbequemste.

George B. Shaw

Inhalt

Vorwort

Prolog: Vor der Empfängnis

Kuckuckskind oder Glückskind

Prinzessin Julia

Rückblick

Umzug in die Kleinstadt und ins neue Heim

Die 30er und 40er Jahre – und zurück in die 50er (1)

Ein Rundgang im Haus

Die 30er und 40er Jahre – und zurück in die 50er (2)

Noch ein Rundgang im Haus in den 50er Jahren

Julia begegnet Nora

Kindergarten

Nora erkrankt

Die Beerdigung

Tante Katrins Geschenk

Veränderungen

July lernt dazu und neue Freunde kennen

Veronika heiratet

Abschiede

Die Gallenkolik

Elsa, der Onkel und Tante Hilde

Mutter im Krankenhaus

Männerwelten

Der Schlendrian fasst Fuß

Mutter ist wieder da

Der verlorene Sohn

Das Hostienspiel

Klavierstunden

Eine neue Nachbarin und neuer Wind

Emmas andere Predigt

Mahlzeiten und Mehlspeisen

Badetag

Ein Schäferhund im Hof

Einschulung

Diäten und Tischgebete

Weitere Szenen und Schauspieler

Die Katze ist weg

Neuerungen

Zeit und Musik

Mode und Moseltröpfchen

Gehen und Kommen

Julys Ende der Geschichte

Epilog

Jahrzehnte später

Ende und eine Fortsetzung

Vorwort

Sind wir nicht alle auf der Suche?

Seit ich denken kann, suchte ich.

Eine unbekannte Sehnsucht oder Sinnsuche, eine Suche nach der Wahrheit, nach Liebe, nach innerer Freiheit, nach Perfektion, nach Gott trieb mich an. Ich wollte Ungeklärtes, das mein Leben belastete, aufdecken. Antwort auf meine Fragen bekommen. Glücklicher und zufriedener wollte ich werden.

So begann ich dieses Buch zu schreiben, anfangs mit viel innerem Groll.

Ich hinterfragte die scheinbare Geborgenheit und Sicherheit in meiner und anderen Familien, die im Widerspruch stand zu der Scheinheiligkeit, falschen Moral und draus entstehenden Heimlichkeiten, wie ich es erlebte und heute noch erlebe. Verschwiegenes und Lügen wirken auch unterschwellig.

Unsere Kommunikation hat sich verändert, aber zum besserem und ehrlicherem Verständnis miteinander?

Irgendwann beim Schreiben dieses Buches erkannte ich, dass es darum ging, das zu akzeptieren, was ich in meiner Kindheit erlebte oder zu erlebt haben glaubte und auch die Folgen daraus in meinem späteren Leben. Ich beschloss, nicht mehr zu kämpfen, sondern dem, was mich geprägt hatte, mit Gelassenheit zu begegnen und es anzunehmen.

Denn die Summe unserer Erlebnisse macht unsere Persönlichkeit aus und ist unser Potenzial.

Prolog: Vor der Empfängnis

Meine Mutter hatte meine Zeugung eher schlecht verkraftet und schon gar nicht herbeigesehnt. Seit zwei Jahren hatte sie den lieben Gott immer wieder angefleht, er möge die nächtlichen Annäherungen ihres Mannes im gemeinsamen Ehebett verhindern.

Doch weder die Gebete zu ihrem Herrgott noch die langen Nachthemden aus dickem Baumwollstoff hatten letztendlich geholfen.

Nach einem längeren Wirtshausbesuch ihres Mannes kam es zum sexuellen Vollzug. Sie hatte freudlos und schweigend hingehalten.

Nicht zuletzt, um für die nächste Zeit ihre Ruhe zu haben.

Sie sei einfach zu alt, um noch ein fünftes Kind zu bekommen, und würde lieber eine Josephsehe führen, vertraute sie Pfarrer Erlwein bei einer Beichte an. Nun habe sie aber ihre Pflicht als Ehefrau tun müssen. Um Jesus das Leid zu erleichtern und auch für das Lamm Gottes und Hinwegnahme aller ihrer Sünden, habe sie es mit Geduld und im stillen Gebet ertragen.

Der Pfarrer fragte weiter, und meine Mutter geriet ins Schwitzen.

Spaß? Du meine Güte! Nein!

Den hätte sie niemals gehabt in der Ehe.

Nur eine Plage sei es gewesen, entgegnete sie hastig auf die sehr eindringlichen Nachfragen des betagten Geistlichen, ob sie denn sorgfältig Gewissenserforschung betrieben habe. Dann versagte ihre Stimme beinahe und sie räusperte sich einige Male.

Sie wäre lieber Nonne geworden als Ehefrau, aber Gott hätte es anders bestimmt, fügte sie seufzend hinzu.

Plagen habe Jesus auch gehabt. Und Plagen könne man wegbeten, sagte Pfarrer Erlwein. Er schaute Frau Gruber eindringlich durch die Gitterstäbe des Beichtstuhls an und erlegte ihr dann den Schmerzhaften Rosenkranz als tägliche Buße für den Rest der Woche auf. Sein Gesicht wandte sich dann von der Trennwand ab und er vollzog das weitere Ritual: „So spreche ich dich los von deinen Sünden: Im Namen das Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.”

Nach der Absolution fügte er mahnend hinzu, dass ehelicher Verkehr nur zu einer Kindeszeugung gottgefällig sei. Eines der Hauptlaster sei das Laster der Wollust und somit die Wurzel weiterer Sünden. Enthaltsamkeit und Reue sei der Weg zum Paradies. Sie möge daran denken, wie standhaft Jesus blieb, als ihn der Teufel in der Wüste verführen wollte. Sie solle Buße tun, dann sei ihr der Segen Gottes gewiss, gab er ihr noch auf dem Weg aus dem Beichtstuhl mit.

In einer der nächsten Nächte wiederholte sich der eheliche Vollzug, als ihr Mann angetrunken nach dem Stammtischbesuch ins Schlafzimmer kam.

Meine zukünftige Mutter hatte nicht damit gerechnet und weinte still in ihr Kissen, nachdem ihr Mann sich endlich, nach einem letzten heftigen Aufstöhnen, auf die Seite gedreht hatte.

War ihre Reue nicht groß genug und die Buße nicht gewissenhaft genug gewesen?

Von wirren Gedanken und quälenden Schuldgefühlen übermannt, fiel meine zukünftige Mutter schließlich in einen unruhigen Schlaf, betäubt von der dumpfen Luft aus einer Mischung von Sperma und Bier sowie den pfeifenden Schnarchtönen meines zukünftigen Vaters.

Drei Tage danach war ihr immer noch übel und neue Ängste plagten sie. Krämpfe zwickten in der Blase und ein ungewohntes Brennen war im Unterleib zu fühlen.

Hatte ihr Jesus eine Warnung geschickt?

Oder meldeten sich schon diese Wechseljahre, worüber die älteren Nachbarinnen immer heimlich sprachen?

Sie war ratlos und voller Sorge.

Nach fünf Wochen kam die Übelkeit erneut.

Dann blieb nach der zweiten die dritte, vierte, fünfte Monatsblutung aus.

Schließlich ging sie in die Sprechstunde des ortsansässigen praktischen Arztes.

Dr. Vogel bestätigte ihren Verdacht nach einer eingehenden Untersuchung.

Nein, für die Wechseljahre sei es noch zu früh.

Die Übelkeit komme nicht vom Käsekuchen oder vom selbst gemachten Vanilleeis. Sie sei guter Hoffnung. Alles sei bestens! Keine Sorge brauche sie sich zu machen. Aber sie solle demnächst zu einer Kontrolle wiederkommen.

Auf dem Weg nach Hause schwirrten meiner Mutter die Gedanken wie wilde Hummeln durch den Kopf. „Oh Gott! Schwanger!“, dachte sie. „Was für eine Schande, in meinem Alter noch ein fünftes Kind! Schwanger! Was werden die Leute sagen – und erst der Herr Pfarrer!“

Die Monate vergingen. Die anderen Umstände konnten immer weniger verborgen werden.

Sie habe ihrem Mann nochmals dienen und ihre Pflicht als Ehefrau erfüllen müssen. Und so sei neues Leben entsprungen, sagte sie mit Tränen in den Augen zu Pfarrer Erlwein, als sie wieder zur Absolution im Beichtstuhl saß, und es endlich – im siebten Monat – wagte, dem Priester ihre Schwangerschaft zu gestehen.

Leider würde es kein Christkind werden, seufzte sie. Drei, vier oder vielleicht auch fünf Wochen nach Weihnachten müsse sie mit der Geburt rechnen, habe ihr der Arzt mitgeteilt.

Ego te absolvo a peccatis tuis

Pfarrer Erlwein murmelte eilig sein Abschlussgebet.

Es warteten weitere Sünder auf die Beichte, und dann müsse er noch die Heilige Messe halten, fügte er hinzu und entließ sie mit den Worten: „Gehe hin in Frieden, liebe Schwester! Ora et labora!“

Als die Messe vorüber und die Kirche schon leer war, kniete meine Mutter noch immer stumm und in sich versunken auf dem harten Brett in der Kirchenbank, während der Rest des süßlichen Duftes vom Weihrauch, noch narkotisierend im Raum der Kirchenhalle wogte und sich dann allmählich verlor.

Auf der Empore, weit oben und weit weg von meiner Mutter, die sich gerade in anderen und, mag sein, auch überirdischen Sphären befand und das Orgelspiel kaum noch wahrnahm, übte der Organist eifrig einige der Adventslieder, und zum Abschluss seines Spiels brausten die Klänge der Orgel die Melodie:

Es ist ein Ros entsprungen.

Kuckuckskind oder Glückskind

Predigten waren so ziemlich das, was Julia am meisten hasste.

Nicht nur die endlos langen sonntäglichen Predigten des Pfarrers in der Kirche, sondern auch die ewigen Predigten ihrer Mutter über Folgsamkeit und Gehorsam, die im Grunde nur Verbote waren.

Ebenso hasste Julia die in der Familie oft gebrauchte Redewendung Zucht und Ordnung. Bereits mit vier Jahren wusste sie genau zu unterscheiden, wann die elterlichen und familiären Anordnungen der Bequemlichkeit der Erwachsenen dienten und damit gegen ihre persönlichen Interessen gerichtet waren. Nur half ihr diese Erkenntnis nicht. Ihrer Familie war die natürliche Wissbegierde und der sprühende Einfallsreichtum ihrer Jüngsten zumeist lästig.

„Man weiß nie, was ihr als Nächstes einfällt,“ sagte Vater Gruber ein wenig stolz, wohl wissend, dass Julia eine Ausnahmeerscheinung in der Familie war.

„Die July ist eine echte Nervensäge mit ihren komischen Ideen“, behaupteten ihre 18–jährigen hochaufgeschossenen Zwillingsbrüder Theo und Thomas, die den Vater an Körpergröße schon überragten und sich seine ironische Art zu eigen gemacht hatten, wenn ihnen auch die Zutat des väterlichen Charmes fehlte.

Mutter Gruber erklärte resolut: „Ein Nesthäkchen in der Familie wird schnell zu sehr verwöhnt. Unsere Julia muss auch lernen, dass es Grenzen gibt. Sie braucht eine konsequente Erziehung.“

Die älteste Tochter Veronika, mit ihren 21 Jahren gerade volljährig geworden, war eine enge Vertraute der Mutter, von der sie auch die frauliche Figur, die braunen Augen und das hellbraune lockige Haar geerbt hatte. Sie nickte bestätigend bei diesen Worten: „Ja Mama, das meine ich auch. Der Papa lässt diesem Wirbelwind einfach zu viel durchgehen.“

Der Onkel, ein entfernter Vetter des Vaters, lebte als weiteres Mitglied im Haushalt der Familie Gruber. Sein rechtes Bein war kürzer als das linke, so dass er beim Gehen humpelte. Ursache war wohl eine Verletzung aus dem ersten Weltkrieg. Niemand fragte genauer nach.

Nachdem er eine Prise Schnupftabak genommen hatte, zog er ein großes kariertes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche, nieste einige Male kräftig hinein, faltete es zusammen und sagte achselzuckend: „Ja! In manchen Familien tauchen, weiß Gott, eigenartige Kuckuckseier auf!“

Das brachte ihm allerdings einen mahnenden Blick von Julys Mutter ein und den Kommentar, dass er solche bösen Bemerkungen lassen solle und es bitter nötig habe, wieder einmal zur Beichte zu gehen und sein Gewissen zu erforschen.

July war ein Nachkömmling gewesen, mit dem in der Familie niemand mehr gerechnet hatte. Ihre Mutter war nicht nur wegen der Predigten des Stadtpfarrers über unkeusches Tun und Schamlosigkeit jeglichen sexuellen Berührungen ihres Mannes ausgewichen.

Es gab noch einen anderen Grund. Ihr viertes Kind war – kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges – im Alter von acht Monaten im Schlaf erstickt.

Sie hatte bittere Tränen geweint und monatelang kaum gesprochen. In den schlaflosen Nächten hatte sie immer wieder den Rosenkranz als Trost zu Hilfe genommen, an den großen Perlen nach dem Vaterunser inbrünstig ein Stoßgebet zu Jesus und der Muttergottes geschickt, und schließlich – als ihre tiefe Betrübnis doch blieb – eine fast unüberwindliche Mauer von Traurigkeit um sich gebaut. Ihr Mann dagegen – hatte den Trost in regelmäßigen Stammtischbesuchen und beim Schafkopfspiel gefunden.

Niemand aus der Familie Gruber wagte offen über diesen Unglücksfall zu sprechen.

Die Zeit würde die Wunden schon heilen, hofften alle.

Doch das Schweigen lag wie eine schwere Last auf der Familie und durchzog wie ein unsichtbarerer dunkler Nebelschleier das ganze Haus.

Auch über die neuerliche Schwangerschaft wurde nicht gesprochen.

Monatelang hatte Julys Mutter versucht, vor den Augen der Nachbarn und der eigenen Familie hinter weiten und gemusterten Kittelschürzen zu verbergen, dass ihre Leibesfülle und damit die Schande, in ihrem Alter noch ein Kind zu bekommen, mehr und mehr anwuchs, bis sie das Schweigen endlich brach.

Im 8. Monat ihrer Schwangerschaft, hatte sie sich zu diesen anderen Umständen bekannt, im ahnungsvollen Wissen, dass auch die Nachbarn und Kunden schon längst mit dieser Tatsache vertraut waren.

Und so kam July, geboren in der dritten Woche des neuen Jahres, getauft auf den Namen Julia Maria Clara zur Welt.

„So was Kleines habt ihr noch in eurer Familie!“

„Da hat wohl der Klapperstorch kräftig mitgeholfen.“

„Damit haben Sie bestimmt nicht mehr gerechnet!“

Bei Kommentaren dieser Art schwieg Julys Mutter, aber es überkam sie ein unbehagliches Gefühl, das sie nicht recht zu deuten wusste und sie errötete.

„Zwar ist Julia aus Versehen gekommen, aber jetzt, wo sie da ist, mögen wir sie alle und die Hauptsache ist, Julia ist gesund!“, sagte sie dann, als wolle sie sich gleichsam entschuldigen, dass sie das Kind nicht wie die Jungfrau Maria ohne körperliche Berührung empfangen hatte.

Julys Vater hingegen hatte nach ihrer Geburt offen gezeigt, wie beglückt er über den späten Nachwuchs war. Er sang den ganzen Weg zum Wirtshaus so laut, dass sämtliche Fenster der Nachbarhäuser aufgerissen wurden.

Man sah ihm erst kopfschüttelnd nach, dann freuten sich die Nachbarn mit. Die Stammtischbrüder hielt er mit etlichen Runden Himbeergeist nebst Lagerbieren frei, was am nächsten Morgen für einige schwere Köpfe sorgte.

Julia , meist July genannt, kam wie ein munteres Kanarienvögelchen in die dumpfe Atmosphäre des Familiensitzes. Schon als Baby flogen ihr die Herzen zu. Sie lächelte und strahlte die Menschen an.

Die Stimmung im Haus Gruber veränderte sich merklich.

„Eure Julia ist so eine Hübsche. So eine Süße! Das Lächeln und die wunderschönen blauen Augen! Von wem hat sie die denn? Bestimmt vom Vater oder Großvater!“, sagten die Nachbarn und Verwandten.

„Vom Erzengel Michael natürlich!“, scherzte der Vater. „Und ich war selbst dabei!“

Die Mutter, die ihre rundlichen weiblichen Formen weiterhin sorgsam unter großen dunkelblauen Kittelschürzen verbarg, hörte solche Reden nicht gerne und runzelte die Stirne: „Das tut nicht gut, wenn das Kind zu eitel wird.“

Sehr bedacht auf Julys Seelenheil nahm sie ihre Jüngste regelmäßig mit zur Kirche.

July war tief beeindruckt vom Orgelspiel und sang in der Kirche bei Gesängen zur Messe und Andacht lauthals und begeistert mit, ohne sich von den mahnenden Blicken der anderen Gläubigen stören zu lassen. Von den Marienliedern merkte sie sich schnell die erste Zeile. So kam es, dass July zum Stolze der Mutter bereits als Vierjährige den Kunden auf ihr Grüß Gott mit Ave Maria, gratia plena antwortete.

„Segne mich Maria, segne mich dein Kind“, sang sie nach der Andacht auf dem Kirchplatz und dann auf dem Nachhauseweg, als könne sie nicht genug davon kriegen. Auf dem Platz vor dem Hauseingang drehte sie sich ausgelassen im Kreis, wobei sich die blonden Zöpfe im wilden Tanze lösten und mit herumwirbelten, gleichsam als sprühten Lichtfunken um sie herum, die mit ihr spielen wollten.

Manchmal musste ihr die Mutter Einhalt gebieten. „Julia, es ist gut! Und hör jetzt auf!“

„Was ist das nur für ein ungewöhnliches Kind!“, sagte mancher Kunde und Nachbar und fügte in Anwesenheit von Julys Vaters hinzu: „Ein Temperament hat sie, wie ein Feuerwerk. Hat sie das von Ihnen?“

„In der Nacht gibt sie Ruhe, da schläft sie!“, sagte dann Julys Vater grinsend.

Meistens brachte Veronika ihre kleine Schwester zu Bett, bevor die Mutter dann zu July ins Elternschlafzimmer kam, um mit ihr das Nachtgebet zu beten. In den letzten Wochen hatte Veronika allerdings wenig Zeit. „Wir machen heute Katzenwäsche“, sagte sie kurz und als July erstaunt fragte, was das sei, bekam sie zur Antwort: „Na! Halt das Nötigste!“

July gefiel es, nur das Nötigste zu machen. Das Zähneputzen hatte ihr nie gefallen. Die weiße Zahnpasta mit den langen roten Streifen, die aus der großen Tube auf die Zahnbürste gedrückt wurde, sah lustig aus, schmeckte aber komisch.

Während Veronika der kleinen Schwester half, das Nachthemd überzuziehen, warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel der Frisierkommode, die im Elternschlafzimmer stand und richtete dabei ihre Haare. Sobald July im Bett lag, lief sie eilig die Treppe hinunter.

Ungeduldig wartete July auf die Mutter und das Nachtgebet. Es hatte vier Strophen, doch sie beteten meistens nur die ersten zwei und einen Teil der dritten.

Die erste Strophe betete July allein.

Müde bin ich geh zur Ruh,

schließ ich meine Äuglein zu.

Vater lass die Augen dein,

über meinem Bette sein.

Dann beteten Mutter und Tochter gemeinsam weiter.

Hab ich Unrecht heut getan,

sieh es lieber Gott, nicht an.

Deine Gnad und Jesu Blut,

machen allen Schaden gut.

Alle Menschen groß und klein,

sollen dir befohlen sein.

Nach dem Abendgebet strich Mutter Gruber dem Kind über die Wangen und sagte: „Die Gottesmutter ist überall und immer bei dir, auch in der Nacht!“

Manchmal kam es July sehr lange vor, bis sie die Schritte der Mutter auf der Treppe näher kommen hörte.

Wenn dann die Tür aufging, und sie in Mutters abgespanntes Gesicht sah, lächelte sie ihr zu und streckte ihr die kleinen Arme entgegen. Bald hatten sich die Spuren des Kummers im Gesicht der Mutter geglättet.

Prinzessin Julia

An ihrem 5. Geburtstag bekam July ein großes Märchenbuch mit vielen bunten Bildern geschenkt.

Da waren Hexen, Zwerge, Elfen, Prinzen und Prinzessinnen, böse Stiefmütter und dann noch Kobolde darin. Beim Vorlesen lernte sie jetzt Dornröschen, Aschenputtel und Schneewittchen kennen.

Kirchliche Marienlieder sang sie nur noch selten.

Eines Nachts träumte July von einem großen Schloss.

Sie lag in einem goldenen Himmelbett mit langen weißen Vorhängen, dann lief sie in den großen Schlosspark. Überall blühten rosa, weiße und blaue Blumen. Kleine pummelige Zwerge mit roten Mützen hopsten zwischen den Blumen umher, winzige niedliche Elfen tanzten und ein großer Mann in einer weißen Jacke mit goldenen Knöpfen brachte ihr, Julia, eine große Portion Vanilleeis auf einem silbernen Tablett.

„Ich muss eine Prinzessin sein“, dachte July nach dem Aufwachen glücklich und räkelte sich in ihrem Bett.

Klappernde Geräusche drangen vom Erdgeschoss aus der Küche zu ihr herauf. Sie sprang flink aus dem Bett und lief barfuß und im Nachthemd die Treppe hinunter.

In der großen Wohnküche mit dem grünen Kachelofen, einem riesigen Herd und einem langen, ausziehbaren Eichentisch in der Mitte fanden sich zu den Mahlzeiten meist alle Mitglieder der Familie Gruber ein.

Wie jeden Morgen saßen die Brüder, der Onkel und der Vater schon am Tisch. Mutter und Veronika hatten das Frühstück vorbereitet, waren aber noch nicht von der Frühmesse zurück. Das heiße Wasser stand auf dem Herd und die Männer hatten sich schon einen Caro–Kaffee in den Tassen mit dem Pulver überbrüht. Manchmal gab es auch Nescafé. July bekam ihre heiße Milch erst, wenn die Frauen zurück waren.

„Na, das Nesthäkchen ist aber heute bald aus seinem Nest gekommen!“, wunderte sich der Onkel und verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen.

July hob stolz ihren Kopf hoch, spitzte ihren Mund und sagte:

„Ich bin eigentlich eine Prinzessin und wohne in einem großen Schloss.“

Die beiden Brüder starrten sie entgeistert an und und verschluckten sich fast beim Kauen. Gegenseitig stießen sie sich in die Seite, während der Vater sie schmunzelnd fragte, woher sie denn das wisse.

„Ich weiß es eben. Schon von Geburt an. Das ist doch klar wie Kloßbrühe.“

Tosendes Gelächter war als Antwort zu hören.

„Die kommt aus einer Kloßbrühe“, rief Theo. „Oder von den Zwergen hinter den Bergen“, lachte Thomas. „Und der Prinz ist der Jesus von Jerusalem“, fügte der Onkel hinzu und schnupfte heftig seinen Tabak die Nase hoch.

„Ich stecke euch alle ins Gefängnis. Das darf eine Prinzessin!“, rief July wütend und stampfte heftig mit dem Fuß auf.

Ihre Brüder und der Onkel hielten sich den Bauch vor Lachen und sogar der Vater, der sie oft vor den Späßen des Onkels und denen seiner Söhne in Schutz nahm, stimmte mit ein. July machte einen Schmollmund und schwieg.

Die Tür ging auf, Mutter und Veronika kamen mit verwunderten Gesichtern in die Küche.

„Wir haben eine Durchlaucht bei uns am Tisch. Eine richtige Prinzessin! Unsere Schnutenkönigin Julia“, feixten Julys Brüder. Der Onkel stand von seinem Stuhl auf und verbeugte sich mit einem Kratzfuß, so gut sein kürzeres Bein das mitmachte.

So kam es, dass July jetzt jeden Abend zusätzlich zum Nachtgebet sagen musste: „Ich bin klein, mein Herz ist rein.“

Am Status einer Prinzessin hielt sie in ihrer Fantasie weiterhin fest.

Nach dem Frühstück, als alle schon beschäftigt waren, schlich sie sich heimlich ins Elternschlafzimmer und öffnete die Tür des Kleiderschrankes, wo die Nachtwäsche der Mutter fein säuberlich aufgeschichtet war. Sie schob den Hocker, der vor der Frisierkommode stand, vor den Schrank und stieg darauf, um die Nachthemden der Mutter zu begutachten. Ein langes rosafarbenes Nachthemd mit weißen gestickten Röschen um den Halsausschnitt lag sorgsam gefaltet ganz oben auf dem Stapel. Sie nahm es vorsichtig heraus und hüpfte vom Hocker herunter. Dann zog sie es vor dem Spiegel an. Die Schleppe, die es durch seine Länge bildete, raffte sie seitwärts und trug sie über dem Arm. Auf dem Haar befestigte sie Mutters Haarnetz mit den Metallzwickern, die diese zum Wellenlegen benutzte und steckte sich einige der Strohblumen aus der Vase, die vor der Statue der Gottesmutter Maria auf einem kleinen Tischchen stand, ins Haarnetz. Dann stellte sie sich vor den großen Spiegel und begrüßte ihre Untertanen, so wie sie es aus dem Märchenbuch, aus dem ihr Mutter und Veronika manchmal vorlasen, kannte.

Am nächsten Morgen wurde Julys Mutter auf die Unordnung in ihrem Kleiderschrank und vertrockneten Blütenblättern am Boden aufmerksam und sprach ihre Tochter Veronika darauf an.

Als July nach dem Frühstück wieder ins Schlafzimmer der Eltern verschwand, folgten ihr die Mutter und Veronika und entdeckten Julys Prinzessinnenspiel.

„Das war ein Geschenk für mich von deiner Tante Kathrin“, rief Mutter empört. „Was fällt dir bloß ein!“

„Und an den Schrank gehst du nicht mehr, hörst du, July! Sonst bekommst du eine saftige Ohrfeige!“, zeterte Veronika.

Mutter und Veronika saßen in der Küche bei einer Tasse Nescafé.

„Sie braucht mehr Ordnung. In unserem Geschäftshaushalt fehlt ihr halt die nötige Aufsicht. Da kommt sie nur auf komische Ideen“, meinte Julys Mutter sorgenvoll. „Was mache ich nur mit dem Kind!“

„Wie wäre es, wenn wir sie wieder in den Kindergarten schickten, wenigstens vormittags?“, schlug Veronika nicht ganz ohne Hintergedanken vor, denn sie hatte ihre eigenen Pläne, bei denen die kleine neugierige July nur im Weg war.

„Sie kennt ihn doch schon, auch wenn sie ihn nur zwei Wochen besucht hat, bevor dann dieser Wasserrohrbruch war.“

Die Mutter runzelte die Stirn: „Na, so gerne ist sie in die Kinderbewahranstalt nicht gegangen. Ist die nicht seit einem halben Jahr geschlossen?“

„Nein Mama, sie ist wieder geöffnet und ist renoviert. Und sie heißt nicht mehr Anstalt, sondern Kindergarten und ist nach einer Heiligen benannt. Das weiß ich von Frau Kraus“, antwortete Veronika.

„Na, was die sagt!“ Die Mutter runzelte die Stirne: „Die sehe ich nie in der Kirche.“

„Aber die weiß doch immer das Neueste“, entgegnete Veronika aufgeregt.