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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Nachwort und Danksagung
Info
Astrid Plötner
Ruhrpott-Connection
Hellweg-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum
sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Unna und den anderen Ruhrgebietsstädten wie auch in der Schweiz und Ägypten, die in diesem Roman vorkommen.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: Titelbild: © Astrid Plötner
Dunkelmänner: © Adobe-Stock, Дмитрий Ткачук
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-253-9
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-243-0
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Astrid Plötner wuchs am Rande des Ruhrpotts im westfälischen Unna auf, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet seit einigen
Jahren als freie Autorin, hat zahlreiche Kurzkrimis in Anthologien und einige
Romane veröffentlicht. Zwei Mal, in den Jahren 2013 und 2014, wurde sie für den Agatha-Christie-Preis nominiert.
Ruhrpott-Connection ist der fünfte Kriminalroman der Autorin mit dem Kommissaren-Team Maike Graf und Max
Teubner, die im westfälischen Unna ermitteln. Astrid Plötner ist Mitglied der Autorenvereinigung Syndikat e.V.
Weitere Informationen unter: www.astrid-ploetner.de
Amon! Vom Himmelsgewölbe
schaust du zur Erde herab.
Wende dein strahlendes Antlitz zur starren, leblosen Hülle
deines Sohnes, des viel geliebten!
Mache ihn kräftig und siegesbewusst
in den Unteren Welten!
Ägyptisches Totenbuch
Kapitel 162
Prolog
Es wimmelte von Menschen im Flughafengebäude von Antalya. Reisezeit. Hauptsaison. Der Geräuschpegel verschaffte Jana Kopfschmerzen. Vereinzelt kreischten Kinder,
Touristen verschiedener Nationalitäten hetzten an ihr vorbei. Eine Durchsage schallte zunächst in Türkisch, dann in Englisch aus den Lautsprechern. Jana starrte auf die
Anzeigentafel und versuchte ihren Flug nach Düsseldorf zu finden. Sie hatte keine Ahnung, an welcher Schlange sie sich mit
ihrem Koffer anstellen sollte. Vor einem Monat, im Mai 2001, war sie gerade 18
geworden, bis dahin nie geflogen und kam sich nun allein und verlassen vor.
Adil hatte einen Anruf erhalten und ihr gesagt, sie solle schon einchecken, er
würde gleich nachkommen. Jana wusste nicht, was ihr Freund so kurz vor dem Abflug
zu erledigen hatte. Sie kannte ihn noch nicht lange.
Erst ein paar Tage vor Antritt dieser Reise hatte sie ihn auf dem Königsborner Markt in Unna getroffen, während ihrer Mittagspause auf einer der Bänke. Bei Nieselregen setzte er sich zu ihr und fragte, warum sie bei dem schäbigen Wetter draußen sitze. Jana grinste verlegen. Eine Erklärung wollte sie nicht abgeben, da hätte sie ihr ganzes Leben vor ihm ausbreiten müssen. Nach Feierabend wartete Adil auf sie. Er gefiel ihr. Seine schlanke Figur,
die schwarzen Haare, der getrimmte Bart, die dunklen Augen. Inzwischen wusste
sie, dass er nur zwei Jahre älter war. Sie spazierten durch den Kurpark bis zur Innenstadt, wo er sie zu
einem Eis einlud.
Drei Tage später hatte er ihr angeboten, ihn in die Türkei zu begleiten. Jana seufzte, als sie daran dachte, wie ihr bei seinem
Vorschlag das Herz geflattert hatte. Niemals würden ihre Tante und ihr Onkel dafür Verständnis aufbringen und erst recht nicht die Erlaubnis dazu geben. Dennoch nahm sie
am Abend all ihren Mut zusammen und rechnete mit einem Donnerwetter. Aber Onkel
Matthias willigte sofort ein, bot ihr sogar an, sie zum Flughafen zu bringen.
So eine Möglichkeit biete sich schließlich nicht oft. Keine Warnung davor, sich von einem fremden Libanesen zu diesem
Trip einladen zu lassen. Kein Gemecker, kein Gezeter von Tante Silvia. Alles
ganz easy! Fast so, als seien sie froh, die lästige Nichte endlich loszuwerden.
Jana war total happy, mitfliegen zu dürfen, sah den Urlaub als Schritt in eine glücklichere Zukunft, obwohl sie Adil kaum kannte. Sie wusste nicht, wo er wohnte,
nicht einmal seinen Nachnamen – der sei viel zu kompliziert – und hatte auch keinerlei Ahnung, was er beruflich machte. Er sei Geschäftsmann, mehr brauche sie nicht wissen, hatte er lächelnd erklärt.
Als Onkel Matthias sie Tage später am Flughafen abgesetzt hatte, kam Adil schon auf sie zugelaufen. Er nahm sie
in die Arme und wirbelte sie herum. Er habe sein Gepäck bereits aufgegeben, müsse dringend noch etwas klären und drückte ihr das Flugticket in die Hand. Sie würden leider nicht zusammensitzen, bedauerte er, aber er sei froh, überhaupt ein Ticket für denselben Flug bekommen zu haben. Tatsächlich saß er beim Hinflug in einer der vorderen Reihen und sie ziemlich weit hinten. Erst
am Gepäckband hier in Antalya waren sie wieder vereint.
Danach begann eine herrliche Zeit in der Türkei. In einem schönen Hotel in Alanya. Er zeigte ihr Side, Mersin und Gaziantep. Und gestern hatte
er ihr einen Ring an den Finger gesteckt. Sie blickte auf ihre Hand und lächelte verträumt. Das Schmuckstück in Antikgold sah sehr alt und wertvoll aus. Es solle ihre Freundschaft
besiegeln, hatte Adil charmant gesagt. Noch jetzt bekam Jana weiche Knie, wenn
sie daran dachte.
Endlich hatte sie den richtigen Schalter gefunden, war bald darauf an der Reihe.
Ihr Koffer wurde gewogen, man prüfte ihre Personalien. Währenddessen hielt sie Ausschau nach Adil. Wo blieb er nur? Als Jana ihre
Unterlagen wieder an sich nahm, rutschte ihr der Personalausweis aus der Hand
und fiel auf den Boden. Sie bückte sich danach, atmete schwer. Nur kein Asthmaanfall jetzt. Sie versuchte sich zu beruhigen, lief durch das Terminal, fand
aber keine Spur von ihrem Freund. Wieder lautes Kindergeschrei, hektische
Stimmen, Lautsprecherdurchsagen.
»Attention please! Passenger Mrs. Jana Helmes. Please report to the information
desk. Achtung! Fluggast Frau Jana Helmes. Bitte melden Sie sich an der
Information.«
Jana stockte. Man hatte soeben ihren Namen in der Durchsage genannt! Was sollte das bedeuten? War Adil etwas passiert? Ging es ihm
schlecht? Panisch schaute sie sich um. Wo befand sich der Informationsschalter?
Sie stürmte durch die Flughafenhalle, rempelte mehrere Passanten an, die sich lauthals
beschwerten. Ihre Augen irrten gehetzt von links nach rechts. Endlich sah sie
jemanden vom Sicherheitspersonal. Ein untersetzter Mann mit dunkler Uniform und
düsterem Blick. Jana nahm all ihren Mut zusammen und fragte ihn auf Englisch nach
dem Weg zur Information. Als sie ihren Namen nannte, nickte er und zückte sein Funkgerät. Er sprach auf Türkisch, Jana verstand nur ihren eigenen Namen.
»Follow me!«, sagte er mit ernstem Gesicht.
»What happened?« Jana war den Tränen nah. Ging es um Adil? Hatte er einen Unfall? Was war passiert? Das Atmen
fiel ihr schwer. Sie bekam kaum noch Luft. Das Asthmaspray befand sich in ihrer
Handtasche. Keine Zeit, danach zu kramen. Der Uniformierte hatte sie am Arm
genommen und zog sie neben sich her. Jana stolperte und keuchte. »Warten Sie!« Sie brauchte das Spray. Sie blieb stehen.
Der Mann sah sie mit hochgezogenen Brauen an. Als sie in ihrer Tasche kramte,
griff er zu seiner Pistole. »Hands up!«, brüllte er. Schon fuchtelte er mit der Waffe auf und ab. »Down! Down! Lay down!«
Jana erstarrte. Sie fiel auf die Knie und legte sich flach auf den Bauch. Die
Arme streckte sie weit von sich. Sie hörte Menschen um sich herum entsetzt rufen und weglaufen. Der Mann ging langsam
neben ihr in die Hocke. Seine Pranke schloss sich schmerzhaft um ihr
Handgelenk. Kurz darauf fixierten Handschellen ihre Arme auf dem Rücken und sie wurde auf die Beine gezogen. »Please«, keuchte sie und deutete mit dem Kopf auf ihre Handtasche in seinen Händen, »I need my medicine. My asthma spray.«
Er wühlte in der Tasche, zog das blaue Spray heraus und hielt es ihr an den Mund.
Kaum hatte sie daran gezogen, warf er es zurück und zerrte sie neben sich her. Seine Waffe hatte er ins Holster gesteckt. Sie
steuerten auf eine grün und rot markierte Zone zu. Dort trat er auf eine Tür mit der Aufschrift »Airport Customs Area« zu. Jana wurde in den Raum gestoßen und man öffnete ihre Handschellen.
»Open the suitcase!«
Jana registrierte, dass Adil nicht anwesend war. Sie erkannte ihren Koffer auf
einem Tisch und trat langsam darauf zu. Ihre Hände zitterten, als sie am Zahlenschloss drehte und die Riegel entsperrte. Sie
wurde zurückgezogen. Ein anderer Uniformierter hob den Deckel und zerrte einige
Kleidungsstücke hervor. Dann nahm er zwei in braunes Packpapier gewickelte Gegenstände heraus, die Jana nie zuvor gesehen hatte. Wie in Zeitlupe entfernte der Mann
das Papier, bis man erkennen konnte, was sie heimlich in ihrem Koffer
transportieren sollte.
Kapitel 1
Freitag, 25. März, kurz vor 19 Uhr
Kriminalhauptkommissarin Maike Graf trat neben Jochen Hübner aus dem Einfamilienhaus in den milden, sonnigen Märzabend hinaus und sah sich noch einmal um. Ihren Mund umspielte ein Lächeln, ihre Augen blickten verträumt. Das war es! Genauso hatte sie sich das Zuhause mit ihrem Freund
vorgestellt. Modern und schlicht. Weiße Fassade, von der sich der Eingangsbereich in einem dunklen Anthrazit abhob,
große Fenster, Garage und hintendran ein hübsch angelegter Garten mit Terrasse. »Was meinst du? Gefällt es dir?« Sie hakte sich bei Jochen ein und überquerte neben ihm die Straße, während der Glockenturm der nahe gelegenen Paul-Gerhard-Kirche siebenmal zur
vollen Stunde schlug. »Nun sag schon!«
Jochen blieb stehen und sah sich das Haus aus der Ferne an. »Ich würde mich ein bisschen umstellen müssen, aber ich könnte mich eventuell daran gewöhnen.« Er grinste. »Weil du in meiner Nähe bist.«
Maike knuffte ihn in die Seite. »Oh, der gnädige Herr scheint verwöhnt zu sein, muss auf seinen Pool im Garten verzichten und das Kaff Königsborn kann mit dem Prominentenviertel von Herdecke natürlich nicht mithalten.« Tatsächlich lag sein Haus in einer Gegend, wo auch Spieler von Borussia Dortmund
lebten. Er konnte sich das leisten, da seine Eltern aufgrund einer Erbschaft
nicht unvermögend waren und auch im Berufsleben gut verdient hatten. Beide hatten inzwischen
das Rentenalter erreicht, sein Vater war Staatsanwalt, die Mutter Notarin
gewesen. Und sie hatten sowohl Jochen als auch seine Schwester Chiara beim Kauf
ihrer Häuser mit einer ordentlichen Finanzspritze unterstützt. Jochen hatte Maike mehrmals gebeten, wieder zu ihm zu ziehen, aber zu
diesem Schritt war sie nicht bereit. Das war vor einigen Jahren schiefgegangen.
Wenn sie einen Neuanfang wagen sollte, dann wollte sie konsequent bei null
beginnen.
Jochen schüttelte den Kopf. »Im Ernst. Ich habe kapiert, dass du dich nicht von mir abhängig machen möchtest, weil du in meinem Haus lebst. Ich kann es vermieten und du deine Wohnung
genauso. Darüber lässt sich unser neues Eigenheim problemlos finanzieren. Mir hat das Häuschen da drüben ebenfalls gut gefallen. Zeigst du mir die Umgebung, mein Schatz? Mit einem
netten Umfeld könnte mir die Entscheidung hierherzuziehen leichter fallen.« Er legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie im Weitergehen an sich.
»So gut kenne ich Königsborn auch nicht«, erklärte Maike. »Aber wir würden hier recht zentral wohnen. Bis zur Dienststelle in Unna ist es nicht weit
und zum Präsidium nach Dortmund kommst du ruckzuck über die Autobahn. Die Auffahrt liegt kaum fünf Minuten entfernt.« Kurze Zeit später erreichten sie den Markt Königsborn. Ein großer Platz mit Apotheke, Friseur, Spielothek, Pizzeria, Bäckerei und einigen anderen Geschäften. Auffällig war das Schaufenster des vorderen Eckhauses, in dem ein Antiquitätenladen auf einen Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe aufmerksam machte. Es war mit gelben Papierbahnen beklebt, auf denen
rote Prozentzahlen die Kunden anlocken sollten. »Schade«, meinte Maike, »heute war letzter Verkaufstag. Sonst hätten wir eventuell ein Schnäppchen für unser neues Haus machen können. Einen kleinen antiken Eyecatcher.« Sie versuchte durch die beklebte Scheibe ins Ladeninnere zu schauen, konnte
jedoch nichts erkennen.
»Ich bin ja eher für moderne Kunst«, erwiderte Jochen und steuerte auf eine große Skulptur auf dem Marktplatz zu, die auf einer Art Sockel saß. Der kantige Körper war aus Kupfer gearbeitet, die nackten Füße aus feinem Sandstein. Ebenfalls der überdimensionale Kopf und die Hände, in denen eine Taube ruhte. »Der Taubenkasper«, las Jochen laut von einer kleinen Tafel. »Gruppe Kontakt Kunst. Interessantes Werk.«
»Das soll ein Bergmann sein. Erkennt man an seinem Helm. Das Kunstwerk steht für den Kohleabbau, der früher in Königsborn betrieben wurde. Viele Bergleute haben sich in ihrer Freizeit für die Zucht von Tauben begeistert, deshalb hält der Mann eine in den Händen.«
»Gibt es weitere interessante Geschichten über den Ort?« Jochen trat auf sie zu und zog sie an sich. »Ich muss ja wissen, was das für eine Gegend ist, die ich demnächst meine Heimat nenne.«
Maike blickte zu ihm auf. »Heißt das, wir nehmen das Haus? Königsborn hat noch viel mehr zu bieten. Die alte Mühle, den Kurpark, das …« Ehe sie ihren Satz zu Ende bringen konnte, zerriss ein lauter Knall die Idylle.
Maike zuckte zusammen und schnellte herum. »Das war ein Schuss!«, rief sie entsetzt und griff automatisch an die Stelle, wo sonst ihre
Dienstwaffe saß. Aber die lag gut verschlossen in der Dienststelle.
»Das kam aus dem Haus mit dem Antiquitätenladen«, stellte Jochen fest. Er war direkt von einem Einsatz zu der Hausbesichtigung
gekommen und zog seine Walther P99 nun aus dem Schulterholster. »Verständige die Kollegen, Maike. Ich glaube, der Schuss kam aus dem Erdgeschoss.« Er lief auf die Ladentür zu, an der ein großes Plakat auf den letzten Tag des Ausverkaufs aufmerksam machte und jeden Blick
nach innen verwehrte. Jochen fasste an den Griff der Tür. Da sie sich nicht öffnen ließ, drehte er sich um. »Ich versuche es hinterm Haus.«
Maike nickte und erreichte im selben Moment die Leitstelle. »Am Markt in Königsborn ist ein Schuss gefallen. Ich bin zufällig mit EKHK Hübner vom PP Dortmund vor Ort. Wir brauchen dringend Verstärkung. Der Knall kam aus dem Antiquitätenladen.« Sie beendete das Gespräch und folgte Jochen, der bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Im
Laufen checkte sie das Gebäude. Erdgeschoss, Obergeschoss, Dachgeschoss. Ladentür vorne, seitlich weder Fenster noch Türen, hinten zwei Eingänge, nur neben dem rechten befanden sich ein Briefkasten und eine Klingelanlage,
daher führte der linke wohl in das Geschäft. Auf den steuerte Maike zu und drückte vorsichtig gegen die Tür, die sich lautlos aufschieben ließ. Sie spähte in einen dunklen Flur mit Specksteinfliesen, die an mehreren Stellen
gebrochen waren. An der Seitenwand waren beschriftete Kartons gestapelt. Von
Jochen keine Spur. Maike schlüpfte ins Haus und lauschte. Vorsichtig tastete sie sich voran.
Aus dem Nachbarraum, bei dem es sich um den Ladenraum handeln musste, schallte
Jochens Stimme herüber. »Lassen Sie die Waffe fallen und nehmen Sie die Hände hoch! So kommen Sie nicht weit!«
Anstelle einer Antwort erfolgte ein Rumpeln. Glas klirrte, als sei eine Scheibe
zerborsten. Maike hatte die Ladentür fast erreicht, als sie ein Stöhnen vernahm. Hatte Jochen den Schützen überwältigt? Was war mit dem Ladenbesitzer? Um einen Kampf schien es sich nicht zu
handeln, denn außer dem Klirren war nichts zu ihr gedrungen. Maike griff an die Klinke. Sie schob
die Tür einen Spalt auf und versuchte die Lage zu checken. Graublauer Teppichboden,
entlang der Wand Kartons, die durchwühlt wirkten. Anscheinend hatte hier jemand etwas gesucht. Maike drückte die Tür vorsichtig weiter auf. Zentimeter für Zentimeter. Auf keinen Fall wollte sie den Eindringling zu einer unüberlegten Tat verleiten. Eine Glasvitrine kam in ihr Sichtfeld. Gefüllt mit sicher wertvollen, filigranen Porzellanfiguren, Vasen und Ziertellern.
Da die Scheiben der Vitrine unversehrt waren, musste etwas anderes zu Bruch
gegangen sein. Maike setzte einen Fuß auf den Teppichboden. Noch ein kleines Stück, dann könnte sie sich durch den Spalt zwängen.
»Jetzt lassen Sie den Quatsch!«, hörte sie Jochen sagen. »Meine Kollegen sind gleich hier. Seien Sie vernünftig!«
Anstelle einer Antwort folgte ein Schuss. Etwas rumpelte, kurz darauf hörte Maike ein Glöckchen bimmeln und eine Tür schlug zu. »Jochen? Bist du okay?«
Niemand antwortete. Nichts rührte sich. Maike vergaß alle Vorsicht. Sie stieß die Tür weit auf, blickte sich kurz um. Von mehreren Kommoden lagen die Schubladen
herausgerissen am Boden. Im vorderen Bereich des Geschäfts war das Glas einer Vitrine zersplittert. Sie zwängte sich an Truhen und antiken Kleinmöbeln vorbei, dann erstarrte sie in der Bewegung. Jochen lag reglos am Boden.
Seine Waffe musste ihm aus der Hand gefallen sein oder der Täter hatte sie mitgenommen. Er lag auf dem Rücken. Der Schuss hatte ihn in den Bauch getroffen. Sie stürzte sich auf ihn, tastete mit den Fingern an seinem Hals nach dem Puls und
presste ihre andere Hand auf die Wunde. Schwach spürte sie das Blut in seiner Aorta pochen. Sie schluchzte. Sein grauer Pullover
war im Bauchbereich bereits rot durchtränkt. Maike zog ihr Handy aus der Jacke, wählte die 112 und schrie in das Telefon: »Lebensgefährliche Schussverletzung bei einem Polizisten im Einsatz. Er ist bewusstlos und
verliert verdammt viel Blut. Antiquitätenladen am Markt Königsborn. Schnell! Kommen Sie schnell!«
Kapitel 2
Freitag, 25. März, 20.45 Uhr
»In was sind die da bloß reingeraten?«, murmelte Kriminalhauptkommissar Max Teubner, während er den zivilen Dienstwagen über die Friedrich-Ebert-Straße lenkte, wo seit geraumer Zeit wegen des hohen Verkehrsaufkommens und zum
Schutz der Anwohner Tempo 30 galt. Jetzt am späten Abend waren jedoch kaum Autos unterwegs.
Die letzten dreieinhalb Stunden hatte Teubner sich mit einer Gruppe
alkoholisierter Jugendlicher in der Dienststelle beschäftigen müssen. Sie hatten sich im Stadtgarten von Unna eine Schlägerei mit Junkies geliefert, die dort oft anzutreffen waren. Durch den
chronischen Personalmangel wegen dieser verdammten Pandemie, die einfach nicht
enden wollte, musste Teubner sich ohne jemanden aus seinem Team mit den Kids
auseinandersetzen, nur ein Kollege von der Schutzpolizei unterstützte ihn. Erst danach hatte er von der Schießerei in Königsborn erfahren, bei der Jochen Hübner eine lebensgefährliche Verletzung erlitten hatte und die Besitzerin des Ladens, eine gewisse
Silvia Brecht, zu Tode gekommen war.
Teubner starrte konzentriert auf die Straße, um die Abfahrt zum Königsborner Markt nicht zu verpassen. Endlich erreichte er sein Ziel. Mehrere
Einsatzwagen der Polizei standen vor dem Antiquitätengeschäft. Er wusste, dass Jochen Hübner mit dem Rettungshubschrauber in die Städtischen Kliniken nach Dortmund geflogen worden war. Seine Freundin und
gleichzeitig Teubners Kollegin Maike Graf hatte ihn begleitet. Daher würde er sie hier nicht antreffen. Wer nun wohl die Leitung der Ermittlungen übernommen hatte?
Er parkte hinter einem der Einsatzfahrzeuge und verließ den Dienstwagen. Für einen Abend im März war es recht mild, überhaupt hatte die Sonne in diesem Monat schon viele Stunden geschienen und würde es laut Vorhersage weiter tun, was momentan nicht zu seiner Laune passte.
Ein Kollege war angeschossen worden. Er betrachtete die beklebten Schaufenster
des Geschäfts. Ob der Täter wegen des Schlussverkaufs eine volle Kasse vermutet hatte und es so zu einem
Raubmord gekommen war? Er klopfte an die Tür. Kurz darauf wurde ihm von einem Mitarbeiter des Dortmunder KK11 geöffnet, der ihn bat, den Hintereingang zu nutzen. Teubner umrundete das Haus und
betrat einen Hinterhof, wo ein schwarzer Mercedes Vito abgestellt war.
Am Haus gab es zwei Hintertüren. Zwischen der linken und dem Türrahmen lag ein Zollstock geklemmt, daher wählte er diesen Eingang. Er gelangte in einen fensterlosen Flur, gleich rechts führte eine Treppe in den Keller, links an der Wand stapelten sich Umzugskartons
mit verschiedenen Beschriftungen. Er zog sich weiter vorn aus einer Kiste der
Kriminaltechniker Schutzanzug und Schuhüberzieher an, dann betrat er die Geschäftsräume.
Warme Heizungsluft strömte ihm entgegen wie der Atem eines bettelnden Hundes. Die gehobene Einrichtung
wirkte zerwühlt. Antike Kommoden mit herausgerissenen Schubladen, offene Schränke und Vitrinen, zerrissene Kartons, durchwühlte Kisten. Die Kollegen der Kriminaltechnik bemühten sich, die vorhandenen Spuren zu sichern, was aussichtslos schien in einem
Geschäft, das im Ausverkauf zahlreiche Kunden betreten haben mussten. Bevor Teubner
sich einen eigenen Eindruck vom Tatort machen konnte, wurde er von einem kräftigen Mann mit rötlichem Bart und stechenden grünen Augen angesprochen.
»Sie müssen KHK Teubner sein. Nett, dass Sie Ihren Arsch endlich herbemühen!«, blaffte er. Sein Gesicht war gerötet, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. »Ich bin jetzt seit über 18 Stunden im Dienst und habe die Schnauze gestrichen voll. Dass ich diese
Mordermittlung nun auch an der Backe habe, hat mir gerade noch gefehlt. Diese
verdammte Omikron-Scheiße. Über die Hälfte der Ermittler sind entweder infiziert oder in Quarantäne oder beides. Sie werden sich hier ohne mich einen Überblick verschaffen müssen, Herr Kriminalhauptkommissar. Ich hau mich jetzt für ein paar Stunden aufs Ohr und morgen sehen wir uns zur Besprechung im Präsidium. Ist das bei Ihnen angekommen?«
Teubner nickte. Was für ein Arschloch, dachte er, mühte sich dennoch, höflich zu bleiben. »Alles klar, Herr …«
»Oh, ich vergaß, mich vorzustellen!« Die Stimme des bulligen Mannes triefte vor Ironie. »EKHK Mark-Oliver Marschewski. Soll ich meinen Ausweis zücken oder glauben Sie mir auch so, dass ich die Ermittlungen in diesem Fall
leite?« Der Erste Kriminalhauptkommissar wartete Teubners Antwort nicht ab, schob sich
an ihm vorbei und verließ den Laden durch die Hintertür.
Teubner seufzte tief. Aber egal mit welchen Armleuchtern er es sonst noch zu tun
bekäme, er würde alles geben, um den Täter zu fassen. Allein schon aus Solidarität mit seiner Kollegin Maike Graf. Ihr Freund Hübner war bei früheren Mordermittlungen in Unna der Leiter und wesentlich zugänglicher als dieser Marschewski gewesen.
Teubner ging an der Stelle, wo man Hübner niedergeschossen hatte, in die Hocke. Er musste verdammt viel Blut verloren
haben. Hoffentlich kam er durch. Die Leiche der Ladenbesitzerin Silvia Brecht
lag weiter vorne im Laden. Die Frau trug einen dunklen Hosenanzug, ein
hochhackiger Pumps musste ihr beim Aufprall auf den Boden vom Fuß gerutscht sein. Die blonden kurzen Haare waren frech frisiert, das Gesicht
stark geschminkt. Vielleicht hatte sie so ihr Alter etwas kaschieren wollen,
denn Teubner schätzte, dass sie das Rentenalter bereits erreicht hatte. Rechtsmediziner Doktor
Werner Severin, der Ähnlichkeit mit dem Bares-für-Rares-Moderator Horst Lichter hatte, stemmte sich gerade aus der Hocke hoch
und packte dann seine Sachen.
Als er Teubner sah, blickte er ihn ernst durch seine Nickelbrille an. »Eine furchtbare Geschichte, die hier passiert ist«, begann er und gab den Bestattern die Anweisung, die Leiche auf die Überführungstrage zu legen. »Ich muss heute noch obduzieren. Marschewski macht Druck und die
Staatsanwaltschaft fordert rasche Ergebnisse.«
»Haben Sie schon etwas Relevantes finden können?«
»Nicht viel«, erwiderte Severin. »Die Kugel hat vermutlich die rechte Herzkammer der Ladenbesitzerin getroffen.
Sie muss sofort tot gewesen sein. Todeszeitpunkt zwischen 19 und 19.30 Uhr. Das
deckt sich mit den Angaben von Maike Graf, die den Schuss gehört hat.«
Teubner nickte. »Ich habe kurz mit ihr telefoniert. Sie ist völlig fertig. Hoffentlich kommt Hübner durch. Die beiden wollten … ach egal.« Ihm saß ein fetter Kloß im Hals, wenn er daran dachte, dass die Kollegin, mit der er sich seit Jahren
ein Büro teilte, ihr gerade gefundenes privates Glück nun eventuell wieder verlieren würde. »Sobald Sie etwas finden, das uns weiterhelfen könnte, geben Sie mir bitte persönlich Bescheid.« Er reichte Severin seine Visitenkarte.
Der Rechtsmediziner nickte. »Ich melde mich, sowie ich was habe.« Teubner sah ihm nach, als er den Antiquitätenladen durch die Vordertür verließ.
Im selben Moment trat Kollege Sören Reinders neben ihn. »Na? Hast du Arschloch Marschewski kennengelernt? Ich durfte die Hausbewohner
befragen, danach das Büro hier durchsuchen. Und schau mal, was ich gefunden habe.« Reinders, der als Kriminaloberkommissar ebenfalls in der Dienststelle Unna an
der Husemannstraße tätig war und äußerlich dem Schlagersänger Florian Silbereisen glich, hielt ihm eine aufgeschlagene Boulevardzeitung
unter die Nase.
Teubner las in einem groß aufgemachten Artikel, der am heutigen Freitag erschienen war, von einer
aufgebrachten Silvia Brecht, die sich über die Kündigung des Mietvertrags nach fast 30 Jahren Antiquitätenhandel in Unna-Königsborn beschwerte. Der Bericht wurde gepusht mit Fotos ihrer Waren und einem
großformatigen Bild von Ehepaar Brecht. Teubner pfiff leise durch die Zähne. Lag hier das mögliche Motiv des Überfalls? Steckte die Vermieterin der Ladenräume dahinter? Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Schließlich war die Eigentümerin des Hauses mit dem Auszug der Brechts am Ziel ihrer Wünsche angekommen.
Ein Blick auf den Verfasser des Artikels veranlasste Teubner dazu, das Gesicht
zu verziehen. Er tippte mit seinem Finger auf den Namen. »Mario Clemens. Ein freier Journalist von üblem Format. Die Befragung können gerne die Dortmunder Kollegen übernehmen.« Teubner drehte sich der Magen um, wenn er an den Mann dachte. Er hatte ihn bei
einigen Pressekonferenzen beobachtet, immer in der vordersten Reihe und stets
bohrte er nach Antworten wie ein Zahnarzt nach Karies.
»Das kannst du vergessen. Marschewski hat gesagt, den Kleinkram müssen wir abarbeiten, weil er zig andere Fälle an der Backe hat und sich nicht mit etwas aufhalten will, das in seinen
Augen für die Aufklärung des Falls nicht relevant ist. Soll ich also einen Termin mit Clemens
machen?« Reinders kramte ein Kaugummi aus seiner Jackentasche, wickelte es umständlich aus der Folie und schob es in den Mund. Seinen Vorsatz, das Rauchen
aufzugeben, hatte er anscheinend noch nicht über Bord geworfen.
»Meinetwegen«, seufzte Teubner. »Bestell ihn für Montag in die Dienststelle. Dann haben wir genug Zeit, uns vorzubereiten. Was
hat die Befragung der Hausbewohner ergeben? Hat irgendjemand etwas beobachtet?«
Reinders hob leicht die Schultern. »Im ersten Stock wohnt eine alte Dame. Gisela Breitner ist weit über 80 und ohne Hörgerät so gut wie taub. Deshalb hat sie auch nichts mitgekriegt. Die Brechts kannte
sie nur sehr flüchtig, man habe sich manchmal hinterm Haus gesehen, wenn sie den Müll zu den Tonnen im Hinterhof gebracht habe. Die Geschäftsleute hätten den Kontakt zu den Mietern eher gemieden.«
Teubner nickte. »Sonst noch was?«
»Im Dachgeschoss wohnt eine Ines Scherber, Studentin. Sie soll laut Frau Breitner
zur Tatzeit zu Hause gewesen sein, wir haben sie aber nicht angetroffen.«
»Was ist mit Verwandten der Toten? Wurde jemand informiert?«
Reinders zuckte die Schultern. »Frau Brecht hat den Laden hier mit ihrem Ehemann Matthias geführt. Den haben wir bislang nicht erreicht. Weder übers Handy, noch auf seinem Anschluss zu Hause. Aber eine Streife ist unterwegs.«
Teubner rieb sich nachdenklich das Kinn. »Eigentlich müsste Herr Brecht am letzten Verkaufstag doch hier gewesen sein. Hat ihn niemand
gesehen?«
Reinders blickte in seine Notizen. »Frau Breitner wusste jedenfalls nicht, ob er heute im Laden war.«
»Okay, belassen wir es erst mal dabei. Schaffst du den Rest allein? Ich bin seit
heute früh auf den Beinen und brauche dringend etwas Schlaf.« Teubner verkniff sich ein Gähnen.
»Klar, mach den Abflug, Kollege!«
Teubner verließ den Antiquitätenladen durch den Hinterausgang. Sein Blick fiel auf den Bürgersteig, wo gerade ein VW-Golf einparkte. Eine schlanke Frau mit langem
naturblondem Haar, etwa Mitte dreißig, stieg aus und hievte zwei Einkaufstaschen aus dem Kofferraum.
Er trat auf sie zu und stellte sich vor. »Wohnen Sie in der Nähe? Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen, Frau ...«
»Melanie Dinawari«, sagte die Blonde und setzte die Einkäufe ab. »Ja, ich wohne mit meinem Mann im Haus nebenan, in der ersten Etage, über der Boutique. Aber bitte sagen Sie mir doch, was hier los ist? Was sollen
denn die ganzen Polizeiwagen hier? Ist etwas passiert?«
Teubner nickte. »Ja, es hat einen Mord gegeben, an der Antiquitätenhändlerin. Sie waren einkaufen?« Er warf einen Blick auf ihre Taschen. »Wann sind Sie denn losgefahren?«
»Gegen Viertel vor sieben.«
»Ist davor etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie jemanden beobachtet? Vielleicht hat Ihr Mann
etwas bemerkt?«
Melanie Dinawari schob nachdenklich die Hände in die Taschen ihrer weißen Steppjacke. »Shervin ist Arzt am Christlichen Klinikum Mitte. Er musste heute schon um sechs
anfangen und eben hat er mich angerufen, dass er vor 21 Uhr nicht zu Hause ist.
Seit der Pandemie sind geregelte Arbeitszeiten ein Fremdwort für ihn geworden.« Sie seufzte laut. »Ja, da war tatsächlich jemand. Ein mir unbekannter Mann hat sich am Lieferwagen der Brechts zu
schaffen gemacht, als ich von hier losgefahren bin. Ich dachte, es sei ein
Helfer. Der Laden muss ja leer geräumt werden.«
»Mit dem Lieferwagen meinen Sie den schwarzen Mercedes Vito, der im Hinterhof
steht? Können Sie die Person beschreiben?«
»Ja, der Mercedes gehört den Brechts. Den fahren sie aber nur geschäftlich und sonst bleibt er im Hof stehen. Ich habe den Typ, der sich
hineingebeugt hat, nur kurz gesehen. Er war schlank, vielleicht 40 Jahre alt,
etwa 1,75 groß und er hatte dunkle, fast schwarze Haare.«
»Sie haben erwähnt, der Unbekannte könne ein Helfer der Brechts gewesen sein. Gab es feste Angestellte? Oder
Aushilfen?«
»Mir ist nur ein Mitarbeiter bekannt, der ab und zu Antiquitäten ausgeliefert hat. Kern heißt er. Der ist immer mit einem Motorrad gekommen, das einen Höllenlärm gemacht hat. Eine Harley Davidson ist das. Habe mich oft gewundert, wie er sich die leisten kann. Die kosten ein
kleines Vermögen. Herr Kern war das aber nicht, den ich gesehen habe, der ist größer.«
»Wann haben Sie Herrn Kern zuletzt gesehen?«
Melanie Dinawari hob ratlos die Schultern. »Ich bin mir sicher, dass ich das Motorrad heute gehört habe, gesehen habe ich den Kern aber nicht.«
»Wie spät war es, als sie es gehört haben?«
Die Stirn der Frau legte sich in Falten. »Ich denke, kurz bevor ich zum Einkaufen los bin, also gegen zwanzig vor sieben.«
»Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«
»Wissen Sie, ob Herr Brecht heute auch im Geschäft war?«
Melanie Dinawari nickte. »Aber ja, er ist am Morgen mit seinem Jaguar in die Einfahrt gefahren, als ich
mich auf den Weg zur Arbeit gemacht habe. Seine Frau saß auf dem Beifahrersitz.«
»Und als Sie von der Arbeit gekommen sind? Oder am Abend, als Sie von hier zum
Einkaufen gefahren sind? Erinnern Sie sich, ob der Jaguar da immer noch auf dem
Parkplatz hinterm Haus stand?«
Sie hob die Schultern. »Da habe ich nicht drauf geachtet.«
Teubner bedankte sich, reichte ihr seine Visitenkarte und ging zurück in den Antiquitätenladen. Als Reinders ihn überrascht anblickte, fragte er ihn, ob man den Angestellten Kern schon befragt
habe.
Reinders nickte und griff nach seinem Notizbuch. »Kern. Holger Kern, ja, den haben wir telefonisch erreicht. Der wollte eigentlich
den Brechts am Abend beim Ausräumen des Ladens helfen. Allerdings ist er am Nachmittag in seiner Küche ausgerutscht und hingefallen. Hat sich den Arm lädiert. Nachbarin hat ihn bandagiert, und er hat ihn vorsichtshalber, weil die
Schnerzen nicht weggingen, im Christlichen Klinikum Mitte vorsichtshalber röntgen lassen. Kann aber eigentlich nicht so schlimm gewesen sein, er ist auf
seiner Harley hingefahren. War wohl angeknackst und ist geschient worden. Mit
den Schmerzen habe er nicht arbeiten können. Deshalb sei er auch gar nicht erst hergekommen. Zur Tatzeit hat er sich
angeblich im Krankenhaus befunden.«
Teubner hob die Augenbrauen. Hatte Melanie Dinawari ein anderes Motorrad gehört? »Das muss schnellstens überprüft werden. Wir sollten diesen Kern dringend zur erneuten Befragung in die
Dienststelle bestellen. Vielleicht hat er etwas beobachtet oder eine Idee, wer
hinter dem Überfall stecken könnte.«
Kapitel 3
Samstag, 26. März, 9.25 Uhr
Maike Graf hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Immer wenn sie an Jochen
dachte, stiegen Tränen in ihre Augen. Ihr ging der Flug mit dem Hubschrauber nicht aus dem Kopf,
als der Notarzt bereits um sein Überleben gekämpft hatte. Jochen hatte so verdammt viel Blut verloren. Bei Ankunft in den Städtischen Kliniken in Dortmund wurde er sofort in den OP gebracht. Bange Stunden
vergingen, ehe ein Arzt Maike und Chiara, Jochens Schwester, die ins
Krankenhaus geeilt war, Auskunft gab. Das Geschoss hatte viel Schaden
angerichtet, etliche Verletzungen und Blutungen ausgelöst. Jochen hatte wie durch ein Wunder überlebt. Man hatte ihm eine Niere entfernen müssen und einen Teil vom Darm. Das Projektil hatten die Ärzte beseitigen können, dennoch war sein Zustand äußerst kritisch und man hatte ihn ins künstliche Koma versetzt. Ob er durchkomme, stehe in den Sternen. Man müsse abwarten. Wann man ihn aus dem Koma hole, sei ungewiss, das hänge vom Genesungszustand ab, in seiner Lage aber gewiss mehrere Tage bis Wochen.
Man hatte Maike und Chiara nahegelegt, das Krankenhaus zu verlassen. Auf Besuch
sollten sie wegen der andauernden Pandemie und zum Schutz der Patienten
verzichten. Blieb Maike nur abzuwarten, dass Chiara oder Jochens Eltern sich
bei ihr meldeten. Denn die Ärzte gaben nur engen Verwandten Auskunft über seinen Gesundheitszustand.
Maike schluchzte. Die Ungewissheit zerfraß sie, als habe sie Säure geschluckt. Sie machte sich Vorwürfe. Warum war sie nicht einfach auf Jochens Vorschlag eingegangen und zu ihm
gezogen? Das hatte eine lange Zeit hervorragend funktioniert. Erst als er ihr
einen Heiratsantrag gemacht hatte, war Maike in Torschlusspanik geraten und
hatte die Beziehung beendet. Sie wollte sich in keine Abhängigkeit begeben. Niemand verstand diesen Schritt. Sie selbst stellte ihre
Handlung später oft infrage. Maike und Jochen galten als das perfekte Paar. Dennoch zog
Maike bei ihm aus, in ihre jetzige Eigentumswohnung in die Lortzingstraße. Beruflich wollte sie ebenfalls nicht mehr unter ihm arbeiten und ließ sich nach Unna versetzen. Aber ganz entfliehen konnte sie ihm nicht, denn bei
einigen Mordermittlungen in Unna waren sie aufeinandergetroffen und hatten sich
irgendwann auch privat wieder angenähert.
»Ich hätte einfach zu ihm zurückziehen sollen«, schluchzte Maike. Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Warum bin ich so dickköpfig gewesen?« Sie sank auf die Couch in ihrem Wohnzimmer und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Jochen lag mehr tot als lebendig im Krankenhaus. Sie hätte das verhindern können, wenn sie nicht so ignorant und selbstbestimmend wäre. Er hatte ihr niemals das Gefühl gegeben, dass sie sich von ihm abhängig gemacht hatte, nachdem sie bei ihm eingezogen war.
Es klingelte an der Tür. Maike wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Pullis aus den Augen und stand auf. Sie schniefte, schluckte und ging
zur Fernsprechanlage im Flur ihrer Wohnung. »Ja?«
»Hey, Maike. Ich bin ’s, Max. Bin auf dem Weg zum Privathaus der Brechts und wollte nur kurz bei dir
vorbeischauen, wie ’s dir geht. Gibt ’s schon was Neues von Hübner?«
Maike drückte auf den Türöffner und schloss ihre Wohnungstür auf. Sie sah Teubner die Stufen zu ihr hinaufsteigen. In seinem Gesicht las
sie Besorgnis. Er trat wortlos auf sie zu und nahm sie in die Arme. Maike legte
ihren Kopf an seine Brust und schluchzte. Sie hatte noch nie vor einem ihrer
Kollegen geweint, aber sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.
»Mensch, Maike, in was seid ihr da nur reingeraten? Willst du drüber reden? Früher oder später müssen wir dich sowieso noch einmal befragen.«
»Einfühlsam wie ein Elefant im Porzellanladen«, lächelte Maike krampfhaft und entzog sich der Umarmung ihres Kollegen. »Komm rein. Möchtest du einen Kaffee?«
Teubner schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Ich muss dringend Matthias Brecht befragen. Bislang konnten wir ihn
nicht erreichen. Er scheint wie vom Erdboden verschluckt. Er geht nicht ans
Telefon. Zu Hause haben ihn die Kollegen der Streife gestern nicht angetroffen.
Vielleicht ist er inzwischen zurück. Ich will nicht hoffen, dass er seine Frau erschossen hat.«
»Und da fährst du allein?«, fragte Maike.
Teubner hob ratlos die Schultern. »Du kennst die aktuelle Situation in der Dienststelle ja selbst. Es stehen kaum
Mitarbeiter zur Verfügung.«
»Dann werde ich dich begleiten.« Sie griff nach ihrer Jacke, die neben Teubner an der Garderobe hing.
»Du weißt schon, dass das nicht nach den Vorschriften ist«, widersprach er. »Du bist persönlich betroffen und befangen. Somit raus aus dem Fall.«
»Ich halte mich im Hintergrund. Versprochen. Alleine als Polizeibeamter zu
agieren, ist ebenfalls nicht nach Vorschrift. Erst recht nicht, wenn der
Befragte der Täter sein könnte.« Maike schob Teubner aus ihrer Wohnung und schloss die Tür hinter sich zu. Sollte etwas sie von ihrer Sorge um Jochen ablenken können, war es die Arbeit. Kämen sie dabei auch dem Mörder auf die Spur, umso besser.
Sie fuhren mit Teubners Privatwagen, einem in die Jahre gekommenen schwarzen VW
Scirocco. Während der Fahrt erzählte Maike vom Vortag. Nach und nach fiel eine schwere Last von ihr ab. Sie
versuchte kein Detail auszulassen. Wer sich allerdings außer Jochen und der Ladenbesitzerin noch im Antiquitätenladen aufgehalten hatte, wusste sie nicht. »Ich habe niemanden gesehen, nur das Läuten der Türglocke gehört. Folgen konnte ich dem Täter nicht, sonst …«
»Schon gut, Maike. Quäl dich nicht länger.« Teubner war über die alte B 1 Richtung Werl gefahren und schließlich nach Unna-Mühlhausen, einem der alten Hellwegdörfer, abgebogen. Inzwischen hatte er den Dorfkern hinter sich gelassen, setzte
den Blinker und verließ die Heerener Straße. Das Haus der Brechts aus den 80er-Jahren lag einsam. Eine lange Einfahrt mündete in einen halbrunden, großzügigen Vorplatz, an dessen Rand ein schwarzer SUV der Marke Jaguar stand. Die
Garage war an das Einfamilienhaus angebaut. Das deutete auf die Anwesenheit von
Matthias Brecht. Allerdings schimmerte nirgends ein Licht durch die Fenster.
Teubner parkte den Dienstwagen hinter dem SUV und pfiff durch die Zähne. »Wow. Ein Jaguar F-PACE, mit Panoramadach« Er stieg aus und begutachtete den Wagen. »Alles an Ausstattung drin, was das Herz begehrt«, schwärmte er. »Der kostet mal locker an die 100.000 Euro. Scheint ja gut zu laufen, das Geschäft mit Antiquitäten. Wohin Brecht damit wohl gestern unterwegs war? Das Auto stand laut der
Streife, die am Abend hier gewesen ist, jedenfalls nicht vorm Haus. Lass uns
den Herrn mal dazu befragen. Aber wie besprochen, halt dich im Hintergrund!« Teubner ging auf den Eingang zu und klingelte.
Maike fingerte Einweghandschuh aus ihrer Jacke und überprüfte die Fahrertür des Jaguars. Der Wagen war nicht verschlossen. Rasch warf sie einen Blick ins
Wageninnere, konnte nichts Auffallendes entdecken, schlug die Tür zu und folgte Teubner, der gerade erneut seinen Daumen auf die Klingel drückte. Maike blinzelte in die Sonnenstrahlen dieses milden Märzmorgens, die sich durch die vorüberziehenden Wolken schoben, und wandte sich nach links. »Ich sehe mich mal ein bisschen um.« Sie steuerte auf die angrenzende Garage zu und blieb unschlüssig stehen. Neben dem Anbau sah sie dicht gepflanzte Koniferen, die über drei Meter in den Himmel wuchsen und das Grundstück längs der Einfahrt begrenzten. Sie verhinderten eine Sicht auf den hinteren Teil
des Hauses. Maike bückte sich, drehte den Griff des Garagentors, das sie mühelos aufziehen konnte.
Teubner kam auf sie zu und ließ seine Taschenlampe aufblitzen. Im Inneren der Garage befand sich ein mit grüner Plane abgedecktes Auto. Er blickte unter die Plane und erkannte einen
Oldtimer. Brecht schien ein Jaguar-Fan zu sein, denn es handelte sich um eine
alte Limousine dieser Marke. Umzingelt von alten Autoreifen, Regalen, einer
Werkzeugbank, Getränkekisten und Einkaufskörben. Am Ende der rechten Wand sah man eine Stahltür, die ins Haus führen musste. Teubner, der ebenfalls Einweghandschuhe trug, erreichte sie zuerst und drückte die Klinke hinab. Gleichzeitig tastete er nach seiner Dienstwaffe.
Maike folgte ihm stumm. Hier stimmte etwas nicht. So einsam gelegen, wie dieses
Grundstück lag, würde Matthias Brecht kaum sein Auto unverschlossen vor der Tür stehen lassen und danach weder Garage noch Hauszugang versperren. »Wieso haben die Kollegen gestern nicht bemerkt, dass die Türen nicht verschlossen sind?«, flüsterte sie.
»Die haben keinen schwarzen Jaguar erwähnt, auch kein anderes Auto. Sie haben geklingelt und sind ums Grundstück gegangen. Es habe keinen Hinweis darauf gegeben, dass jemand im Haus gewesen
sei. Laut Bericht waren die Kollegen gestern gegen 21 Uhr hier«, wisperte Teubner und zog die Verbindungstür langsam auf. Das Quietschen der Türangeln übertönte das fröhliche Vogelgezwitscher, das von draußen hereindrang. »Herr Brecht? Hier ist die Polizei. Wir kommen jetzt ins Haus!« Seine Stimme hallte unwirklich durch die untere Etage.
Sie betraten einen lang gezogenen Hausflur, von dem vier weitere Türen abgingen und eine Wendeltreppe ins Obergeschoss führte. Maike betätigte den Lichtschalter. Ihr Blick fiel auf eine antike Kommode, deren
Schubladen herausgerissen waren, der Inhalt lag ringsum auf dem Boden verteilt.
»Hallo? Herr Brecht?«, rief sie und drückte vorsichtig eine Tür links von ihr auf. Ein Gäste-WC. Die Tür hinter der Treppe führte in eine durchwühlte Küche. Sie betraten ein großräumiges Wohnzimmer mit bodenlangen Fenstern und einer Terrassentür mit Blick in den Garten. Die Einrichtung wirkte gediegen. Antike Möbel, Perserteppiche, Skulpturen und alte Ölbilder dominierten das Zimmer. Man fühlte sich wie in einem Museum, allerdings auch hier offene Schränke und herausgerissene Gegenstände. Von Matthias Brecht keine Spur.
In der ersten Etage fanden sie ein ähnliches Szenario wie im Erdgeschoss vor. Die Matratzen im Schlafzimmer waren
aus den Rahmen gerissen, der Kleiderschrank durchwühlt. Ein angrenzendes Zimmer wirkte mit Bett, Schrankwand und Schreibtisch wie
ein Jugendzimmer aus den 80er oder 90er-Jahren. Sowohl Bettdecke, Kopfkissen
und Schaumstoffmatratze lagen auf dem Boden, als habe man sie unter Zeitdruck
herausgerissen.
Vom langen schmalen Flur gingen drei weitere Türen ab. Eine führte in ein geräumiges Bad, eine zweite in eine Abstellkammer, mit Wendeltreppe zum Dachboden,
eine dritte in ein Büro. Hier saß eine korpulente Person auf einem Drehstuhl. Sie hatte ihnen den Rücken zugedreht. Jemand hatte den Oberkörper mit Panzergewebeband am Rückenteil des Bürostuhls fixiert. Die Gestalt rührte sich nicht, hielt den Kopf gesenkt. Maike hastete mit zwei langen Schritten
hin und tastete mit den Fingern am Hals des Mannes, den sie für Matthias Brecht hielt, nach dem Puls, fand keinen. Als sie den Stuhl langsam
drehte, fuhr ihr ein Schreck durch die Glieder. Er war aufs Übelste gefoltert worden. Sein Gesicht war schlimmer zugerichtet, als das eines
Boxers nach einem verlorenen Kampf über zwölf Runden: aufgeplatzte Lippen, zugeschwollene Augen, gebrochene Nase, eingedrückter Kiefer, ausgeschlagene Zähne. Seine Krawatte war gelöst, die obersten Knöpfe des Hemdes standen offen. Am Hals leuchteten Würgemale. Auch seine Unterarme waren an den Armlehnen des Bürostuhls fixiert. Sämtliche Finger beider Hände schienen gebrochen zu sein. Dazu kamen Schusswunden am linken Fuß und am rechten Knie. Irgendwann musste der Mörder die Geduld verloren haben. Davon zeugte der vermutlich finale Schuss ins
Herz.
Kapitel 4
Montag, 28. März, 9.58 Uhr
Teubner saß in seinem Büro und starrte auf den leeren Platz ihm gegenüber. Das laute Ticken der Bahnhofsuhr an der Wand machte ihm deutlich, wie ruhig
es ohne Maike war. Nach dem Auffinden der Leiche von Matthias Brecht am
vergangenen Samstag hatte er sofort die Unnaer Kollegen und die
Kriminalhauptstelle Dortmund informiert. Inzwischen war ihm der Bericht der
Rechtsmedizin übermittelt worden. Der Todeszeitpunkt von Brecht lag nach 24 Uhr in der Nacht
von Freitag auf Samstag. Wo hatte er sich den ganzen Abend befunden, nachdem
sein Laden überfallen worden war?
Mark-Oliver Marschewski hatte die Ermittlungen in den beiden Mordfällen sofort der von ihm gebildeten Sonderkommission zugeteilt. Als er am Tatort
eingetroffen war und dort Maike gesehen hatte, war er völlig ausgerastet. Ob die Dorfpolizei nicht wisse, dass ein persönlich involvierter Polizeibeamter nichts bei den Ermittlungen zu suchen habe. Er
schrie Maike an, als sei sie von Geburt an fast taub, dann jagte er sie vom
Grundstück. Ehe Teubner eingreifen konnte, lief Maike mit hochrotem Kopf aus dem Haus
und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Von Mühlhausen zu ihrer Eigentumswohnung in der Unnaer City waren das immerhin etwa fünf Kilometer. Teubner seufzte. Seine Kollegin hatte ihm unendlich leidgetan.
Trotz der schwachen Personaldecke in der Dienststelle hatte sie sich nun einige
Tage Urlaub genommen, was ihr niemand verübeln konnte. Teubner hatte versprochen, sie – soweit es ihm möglich war – auf dem Laufenden zu halten.
Marschewski hatte auch ihm und Reinders gegenüber klargemacht, dass seine Art der Mordermittlung sich von der des
Ermittlungsleiters Jochen Hübner deutlich unterschied. »Dieser Mordfall wird ausschließlich von Fachleuten bearbeitet!«, hatte er gebrüllt. »Dilettanten kann ich in meinem Team nicht brauchen! Offiziell sind Sie aus
diesem Fall raus! Wenn ich die Hilfe der Dienststelle Unna benötigen sollte, werde ich das ausdrücklich sagen. Haben Sie das kapiert? Bis dahin können Sie sich wieder um Verkehrsdelikte, Einbrüche oder sonst was kümmern. Ich denke, da liegen Ihre Kompetenzen am ehesten!« Anscheinend bezog er Maikes Fehlverhalten auf die gesamte Dienststelle Unna.
Immerhin hatte er Teubner später doch die Aufgabe zugeteilt, die einzige Verwandte der Brechts zu befragen.
Die Nichte hieß Jana Helmes und lebte seit vielen Jahren in Hamburg. Marschewski glaubte wohl,
ihre Aussage würde zur Aufklärung des Falls sowieso nichts beitragen. Da war Teubner mittlerweile jedoch
anderer Meinung. Er hatte sich am Wochenende intensiv auf die Befragung
vorbereitet und dabei sehr interessante Dinge erfahren. So war er auch auf
einen ungeklärten Mordfall gestoßen, der sich vor über drei Jahrzehnten ereignet hatte. Dieser Cold Case ging ihm seitdem nicht aus
dem Kopf.
Jemand klopfte an die Bürotür. »Ja bitte?«, rief Teubner, worauf eine Frau mit dunkelblondem und schulterlangem Haar
eintrat. Aus den Unterlagen wusste er, dass sie 39 Jahre alt war. Sie wirkte
zerbrechlich und hatte ein Gesicht wie eine Porzellanpuppe. Ein süßliches Parfüm umspielte ihre schlanke Figur. Zu engen Jeans trug sie Turnschuhe, einen
grauen Sweater und eine Fleecejacke. Teubner grüßte freundlich und bot ihr den Besucherstuhl neben seinem Schreibtisch an. Sie
setzte sich, kramte nervös in ihrer Umhängetasche, hielt sich ein Asthmaspray an den Mund und zog daran wie eine
Verdurstende.
»Sie sind Jana Helmes, gebürtig in Unna, jetzt wohnhaft in Hamburg-Altona. Nicht verheiratet, keine Kinder
und laut meiner Unterlagen sind Sie die einzige lebende Verwandte des Ehepaars
Silvia und Matthias Brecht. Ist das so weit korrekt?«
Jana Helmes nickte und überlegte kurz. »Ja, Tante Silvia war die jüngere Schwester meiner Mutter. Sie muss, wenn ich mich richtig erinnere, jetzt
68 gewesen sein.«
»Trotzdem hat sie noch gearbeitet?«, fragte Teubner verwundert.
»Die Brechts hatten den Antiquitätenladen seit zig Jahren. Sie haben die Arbeit mit diesem alten Kram geliebt,
waren damit verwachsen.« Ihre weißen Hände zitterten. Sie rutschte auf dem Stuhl zurück und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals hoch. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander. Sie schien mit den Nerven völlig am Ende zu sein. »Könnte ich ein Glas Wasser haben?«, krächzte sie.
Teubner stand auf, schloss das gekippte Fenster und goss ihr Mineralwasser ein.
Danach blätterte er in einem Stapel Papiere, seufzte, fand nicht, wonach er suchte und zog
eine Schublade auf. Er kramte einen Hefter hervor. »Frau Helmes, zunächst mein aufrichtiges Beileid. Es ist furchtbar, was mit Ihren Verwandten
passiert ist, und wir arbeiten mit aller Macht daran, diese brutalen Mordfälle aufzuklären. Wie war Ihr Verhältnis zu den Brechts? Wann haben Sie sich zuletzt gesehen?«
Sie räusperte sich. »Ich bin bei den Brechts aufgewachsen, sie haben mich sehr streng erzogen. Als
ich mit 18 ausgezogen bin, habe ich sie nicht großartig vermisst, sondern war eher erleichtert, von ihnen wegzukommen. Kontakt
hatte ich zu beiden seit Jahren nicht. Weder persönlich noch am Telefon.«
Teubner nickte. »Ihre Eltern sind früh verstorben? Wollen Sie mir erzählen, wie es dazu kam? Was ist passiert?«
Jana Brecht griff nach dem Glas, trank in langsamen Schlucken und stellte es zurück. Dann streckte sie ihren Rücken und bemühte sich, einen selbstbewussten Eindruck zu machen. Nebenbei zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke wieder auf. »Meine Mutter ist gestorben, als ich ein noch kleines Kind war. Gerade zwei Jahre
alt. Mein Vater gilt seitdem als verschollen.«
Teubner taxierte die Frau. Er griff nach einem DIN-A4-Blatt. »Ich hatte ein wenig Zeit, mich mit Ihrer Familiengeschichte zu beschäftigen. Das Polizeiarchiv gibt einiges her. Was Sie mir erzählen, ist eine ausgedünnte Wahrheit. Ihr Vater wurde als Mörder Ihrer Mutter gesucht.«
Jana Brecht starrte ihn an und schluckte. »Ja, also«, begann sie unsicher, »ich, ich habe mich lange an den Gedanken geklammert, dass mein Papa unschuldig
ist. Habe gehofft, irgendwann kommt er zurück und klärt alles auf. Ich war ja noch ein Kleinkind, als es geschah. Erst als ich zwölf war, hat Onkel Matthias mir erzählt, was damals passiert sein soll. Bis dahin dachte ich, meine Eltern wären bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich habe das nicht glauben können, habe später, als ich in Hamburg lebte, sogar einen Privatdetektiv beauftragt. Aber auch
der fand keine Spur von Papa. Vielleicht hat er sich im Ausland eine neue
Identität zugelegt.«
»In meinem Bericht steht«, erwiderte Teubner geduldig, »dass Ihr Vater Ihre Mutter erschlagen haben soll. Ich habe sämtliche Zeugenaussagen aus den damaligen Untersuchungen durchforstet. Es deutet
nichts zwingend darauf hin, dass er schuldig ist. Dennoch gilt er seitdem als
verschwunden. Hatten Sie in den letzten Jahren Kontakt zu ihm?«
Jana Helmes schüttelte langsam den Kopf.
»Er hat sich nie bei Ihnen gemeldet?«
Jana griff erneut zu ihrem Asthmaspray. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin mit den Nerven am Ende.« Sie schluckte.
»Was wissen Sie von dem Mord an Ihrer Mutter?«
Jana seufzte. »Onkel Matthias hat mir erzählt, dass Papa meine Mama kaltblütig erschlagen haben soll«, begann sie leise. Sie vermied es, Teubner in die Augen zu sehen, fixierte
dagegen einen schwarzen Stiftbehälter mit dem Logo des BVB. »Papa hat als Bauunternehmer gearbeitet. Mama, die ältere Schwester von Tante Silvia, hatte die Baufirma von ihren Eltern übernommen, da Tante Silvia und Onkel Matthias kein Interesse am Bau gezeigt
haben. Sie wollten sich anderweitig selbstständig machen. Meine Tante hat sich ihr Erbteil auszahlen lassen, nachdem meine
Großeltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren.«
»Wissen Sie, wie es zu den Geschehnissen gekommen ist?«, fragte Teubner. Er war nicht sicher, ob diese alte Geschichte mit den
aktuellen Ereignissen zu tun hatte, aber er hatte in den Unterlagen gelesen,
dass Matthias Brecht seinen Schwager mit seinen Aussagen schwer belastet hatte.
Daher bestand die Möglichkeit, dass Janas Vater für Jahrzehnte im Ausland untergetaucht und erst jetzt nach Deutschland zurückgekehrt war, um sich an seinem Schwager zu rächen. Vielleicht hatte Silvia Brecht versucht, sich ihm in den Weg zu stellen,
und die für ihren Mann bestimmte Kugel hatte sie erwischt und Matthias Brecht die Möglichkeit gegeben, zunächst zu fliehen.
Jana Helmes Stimme zitterte, als sie leise fortfuhr: »Papa sollte das Haus für meinen Onkel bauen. Das Haus, in dem ich später aufgewachsen bin und in dem die Brechts bis zuletzt gelebt haben. An jenem
Abend hatten die beiden Männer einen Bagger von der Firma auf das Grundstück fahren lassen und waren damit beschäftigt, selbst die Grube für das Fundament der Garage auszuheben. Sie haben wohl viel eigenständig in ihrer Freizeit erledigt, um Kosten zu sparen. Laut Onkel Matthias soll
meine Mama gegen 20 Uhr mit dem Fahrrad zur Baustelle gekommen sein. Ich saß auf dem Kindersitz, weil ich nicht alleine zu Hause bleiben sollte. Dann sei es
zum Streit zwischen meinen Eltern gekommen. Meine Mama habe Papa mitgeteilt,
sie habe eine Affäre und wolle ihn verlassen. Mich nehme sie mit. Onkel Matthias hat behauptet,
der Konflikt zwischen meinen Eltern sei ihm zu persönlich geworden. Er sei nach Hause gefahren und wisse nicht, was danach passiert
sei. Es ist mir immer schwergefallen, diese Geschichte zu glauben. Sie klingt
so an den Haaren herbeigezogen. Aber was blieb mir anderes übrig? Es gab ja keine anderen Zeugen an jenem Abend.«
»Haben Sie selbst noch Erinnerungen an den Tag?«, fragte Teubner.
Jana Brecht schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war ja gerade mal zwei Jahre alt. Man hat rekonstruiert, dass meine
Mama auf dem Rad von einem Auto von der Straße abgedrängt worden ist. Sie konnte auf einen Feldweg flüchten, wo ihr Mörder sie jedoch eingeholt und mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen hat. Die
Tatwaffe ist nie gefunden worden. Auf das Fahrrad, auf dem ich immer noch im
Kindersitz angeschnallt saß, ist erst am nächsten Tag ein Spaziergänger aufmerksam geworden. Es soll unweit der Leiche meiner Mutter im Gras unter
einem Baum gelegen haben.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte Teubner ehrlich. »Was geschah danach?«
»Ich habe damals einige Tage auf der Intensivstation gelegen und bin dem Tod nur
knapp entronnen. Ich war stark unterkühlt und habe schon damals an schwerem Asthma gelitten.« Sie hielt das Spray wie zur Bestätigung hoch. »Das alles ist weit über 30 Jahre her.«