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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Info
Astrid Plötner
Teufels Tod
Hellweg-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum
sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Unna und den anderen Ruhrgebietsstädten, die in diesem Roman vorkommen.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2021
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: © totoa.grafie, adobe stock
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-233-1
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-223-2
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Astrid Plötner wuchs am Rande des Ruhrpotts im westfälischen Unna auf, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet seit einigen
Jahren als freie Autorin, hat zahlreiche Kurzkrimis in Anthologien und einige
Romane veröffentlicht. Zwei Mal, in den Jahren 2013 und 2014, wurde sie für den Agatha-Christie-Preis nominiert.
Teufels Tod ist der vierte Kriminalroman der Autorin mit dem Kommissaren-Team
Maike Graf und Max Teubner, die im westfälischen Unna ermitteln. Astrid Plötner ist Mitglied der Autorenvereinigung Syndikat e.V.
Weitere Informationen unter: www.astrid-ploetner.de
Kapitel 1
Donnerstag, 11. November, 11:05 Uhr
Friedrich hasste es, wenn sein täglicher Rhythmus nicht nach Plan ablief. Er war nicht pingelig, aber bei dem
Sauwetter würde er keinen Fuß vor die Tür setzen. Selbst wenn er nach diesem unfassbaren Brief sehr gern frische Luft
geatmet hätte, er lechzte regelrecht danach. Er würde später aufbrechen, noch prasselte der Regen unablässig gegen das Glas seines Wohnzimmerfensters. Er starrte auf die
Fensterscheibe, an der sich Regentropfen vereinigten zu vielen und immer wieder
neuen Rinnsalen, die sich überholend hinunterrasten. Seine schlanke Gestalt spiegelte sich. Auch mit seinen
jetzt 90 Jahren stand er in aristokratischer Haltung da. Seine Haare waren weiß und dünner, sein Gesicht und die Hände faltiger geworden, aber sein Verstand funktionierte einwandfrei. Er schüttelte stumm den Kopf. Niemals würde er sich unter Druck setzen lassen. »Aasgeier!«, schimpfte er, spuckte das Wort regelrecht aus.
Hinten am Horizont, knapp über dem Dach seines Bauernhofs, sah er einen hellen Streifen am Himmel. Er
wartete ungeduldig, endlich zu seinem morgendlichen Spaziergang aufbrechen zu können, vielleicht würde die angestaute Wut dabei von ihm abfallen.
»Schmarotzer!« Er zerknüllte das Schreiben in seiner Hand zu einer Papierkugel, ohne einen weiteren
Blick darauf zu werfen. »Nichts werden sie bekommen! Keinen Cent!« Er wandte sich vom Fenster ab und betrat die Küche. Seine Wohnung war wie immer sauber und aufgeräumt. Friedrich ging auf die Spüle zu und zog ein goldenes Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Er entfaltete das
Papierknäuel in seiner Hand und zündete es an. Die Flammen züngelten in die Höhe. Er ließ das Papier ins Spülbecken fallen und beobachtete, wie es zu Asche zerfiel. Nachdem der letzte
Funken verlöscht war, spülte er die Reste mit Wasser in den Ausguss. Das goldene Feuerzeug steckte er
wieder in seine Hosentasche. Ein kleines Vermögen von der Firma Dupont, das ihm einst seine Frau Alma-Luise zu seinem
Sechzigsten geschenkt hatte. Damals war sie noch nicht wirr im Kopf gewesen.
Aber irgendwann war ein Zusammenleben mit ihr schwierig geworden. Na ja, da, wo
sie jetzt war, störte sie niemanden mehr.
Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Er trat in den Flur, zog seine festen Wanderschuhe und den
dunkelgrauen Wollmantel an. Mit einem kurzen Blick in den Spiegel prüfte er sein Aussehen. Die blaue Krawatte gab den Ton seiner Augen wieder und saß über dem weißen Hemd perfekt unterm Mantel. Zufrieden griff er nach dem Hausschlüssel und trat ins Freie. Klare, reine Luft empfing ihn. Auf dem Innenhof war
keine Menschenseele zu sehen. Das Personal vom Restaurant war vermutlich mit
den Vorbereitungen für das Gänseessen am Abend beschäftigt. Sollte ihm nur recht sein. Er stellte den Kragen des Mantels hoch, als
ihn ein Windstoß streifte, dann verließ er den Hof und ging strammen Schrittes einen Weg entlang, der sich durch die
Felder wand, hin zu einem kleinen Waldstück.
Das Dröhnen eines Traktors störte die Stille. Das konnte nur einer dieser idiotischen … Was um alles in der Welt machten sie zu dieser Jahreszeit auf dem Acker? Soweit
Friedrich wusste, bauten sie nur Kartoffeln und Zuckerrüben an, die sollten längst eingefahren sein.
»Hey! Warte mal!«, brüllte da plötzlich jemand von hinten, als er bereits in den Wald eingetaucht war.
Friedrich schaute sich verwundert um. Eine abgehetzt wirkende Gestalt trat
zwischen den dicht stehenden Bäumen heraus. Im Gegenlicht konnte er sie zunächst nicht erkennen, aber er ahnte Böses. Sollte er Recht behalten, war der Streit vorprogrammiert, aber er sah keine
Chance, dem auszuweichen. Er blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein Schutzschild. Stumm wartete er, schließlich erkannte er sicher, wen er vor sich hatte.
»Wir müssen reden! Ich habe Rechte! Du musst dich unserem Problem stellen.«
In Friedrich Teufel brodelte Wut. »Es ist nicht mein Problem! Lass mich in Ruhe, hast du verstanden?« Er schob die Hände wieder in die Manteltaschen. Die Temperatur war heute nur im einstelligen
Bereich, zudem wehte ihm der böige Wind nasskalte Luft in den Nacken. Er hätte Handschuhe und Schal anziehen sollen.
»Hör mir doch nur einen Moment zu. Ich möchte bloß …«
»Deine Probleme interessieren mich nicht!«, unterbrach Friedrich. »Ich will damit nichts zu tun haben! Kapier das endlich!«
»Wie kann man nur so arrogant sein? So gefühllos?«
Friedrich weigerte sich, nur eine Sekunde länger zuzuhören. Das führte sowieso zu keinem Ergebnis. Seine Füße sogen die Kälte des nassen Waldwegs auf und brachten ihn zum Frösteln. Er würde zum Bauernhof zurückkehren. Vielleicht ergab sich am Nachmittag eine bessere Gelegenheit für einen Spaziergang. Er drehte sich zur Seite, um an dem widerwärtigen Individuum vorbeizukommen.
»Jetzt warte doch mal!«
Friedrich hob genervt die Augenbrauen. »Ich habe keinen Redebedarf! Kapier das endlich!«
»Nur einen Moment! Bitte! Du musst mich unterstützen!«
»Mach den Weg frei, verdammt noch mal!«
»Ich werde nicht eher gehen, bis du mir …«
»Was?«, unterbrach Friedrich sogleich. »Willst du mir drohen? Du bist das absolut Letzte. Eine Mistfliege, die ich am
liebsten auf dem Boden zertreten würde. Widerlich einfach nur widerlich.«
Das rote Gesicht wurde blass. »Du meinst das tatsächlich ernst, oder? Und was ist hiermit?« Der Mann zog etwas aus der Tasche und hielt es ihm entgegen.
Friedrich erkannte sofort, was es war. Am liebsten hätte er es ihm aus der Hand geschlagen. Aber er drängte sich nur wortlos vorbei, musste dazu allerdings in den Matsch am Wegesrand
treten und fluchte. Er rief dem Kerl noch eine Gehässigkeit zu und beschleunigte seinen Gang. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust. Das Dröhnen des Traktors war verstummt. Einen Moment hörte er nur seine eigenen Schritte. Kurz darauf merkte er, dass er verfolgt
wurde. Diese elende Brut! Er würde sich nicht umdrehen. Friedrich wäre gerne gelaufen, aber das klappte in seinem Alter leider nicht mehr. Endlich
kam der Feldweg in Sicht, der zu seinem Bauernhof führte. Plötzlich spürte er von hinten einen heftigen Stoß. Er stolperte nach vorn, verlor das Gleichgewicht und landete der Länge nach auf dem morastigen Boden. Ein Knacken in seinem Handgelenk ließ ihn vor Schmerz laut aufschreien. Friedrich holte tief Luft und schloss kurz
die Augen, sein Herzschlag raste. Mühsam drückte er sich auf die Knie. Im nächsten Moment erhielt er einen Schlag auf den Kopf. Es fühlte sich an, als wäre in seinem Inneren eine Bombe explodiert. Er fasste sich mit der linken Hand
an den Hinterkopf. Seine Finger waren voller Blut. Schwindel überkam ihn, für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Als der zweite Schlag ihn traf,
verlor er das Bewusstsein.
Kapitel 2
Donnerstag, 11. November, 12:23 Uhr
Kriminalhauptkommissarin Maike Graf saß in ihrem Büro und legte verträumt lächelnd ihr Smartphone auf den Schreibtisch. Jochen hatte sie gerade zu einer
Veranstaltung mit Mario Barth in die Westfalenhalle Dortmund eingeladen. Die
Karten hatte er einem Kollegen abgekauft, dem plötzlich etwas dazwischengekommen war. Natürlich hatte Maike begeistert zugesagt. Sie war zwar eigentlich kein
Mario-Barth-Fan, aber wann war sie das letzte Mal ausgegangen? Sie freute sich
auf den morgigen Abend und ging in Gedanken bereits ihren Kleiderschrank durch.
Seit einiger Zeit trafen sich Jochen und Maike wieder regelmäßig, falls sie gemeinsam frei hatten. Sie war schon einmal mit Jochen liiert
gewesen, als sie unter ihm als Chef im Kriminalkommissariat 11 in Dortmund
gearbeitet hatte. Als er ihr einen Heiratsantrag machte, hatte sie in einer
Kurzschlusshandlung die Beziehung beendet. Familie, Kinder, Haushalt, hektische
Szenen waren wie ein Albtraum an ihr vorbeigezogen. Sie konnte sich ein Leben
ohne ihren Beruf nicht vorstellen. Um Jochen nicht weiterhin jeden Tag über den Weg zu laufen, hatte sie sich nach Unna versetzen lassen, wo sie jetzt
bereits seit vier Jahren tätig war.
Maike seufzte versonnen. Inzwischen war sie 41, da hatte sich das Thema Kinder
aus ihrer Sicht sowieso erledigt. Das Klingeln des Diensttelefons riss Maike
aus ihren Gedanken. Sie erkannte Jochens Dienstnummer. Hatte er noch etwas
vergessen? »Ja?«
»Ich bin’s noch mal!«, erklärte er. »Diesmal leider beruflich. Im Süden von Unna ist ein Mann tot aufgefunden worden. Wir brauchen eine Weile, bis
wir vor Ort sind. Kannst du dir den Tatort mit einem deiner Kollegen ansehen?«
Maike nickte. Sie würde Max Teubner, mit dem sie sich das Büro teilte, nur eben aus dem Frühstücksraum holen müssen. »Klar! Gibst du mir die Adresse?« Sie notierte sich die Anschrift eines Bauernhofs mit dem Namen Hof Gänseheim. Sie kannte das Restaurant dort, das besonders für Geflügelgerichte bekannt war. Die Schlachttiere stammten aus eigener Zucht.
Teubner kam ihr bereits auf dem Flur entgegen. Er war vier Jahre älter und mit einem Meter achtzig nur fünf Zentimeter größer als sie selbst. Seine dunkelblonden Haare lagen wie immer wirr, aber er
machte jetzt, nach dem Frühstück, einen wachen Eindruck. »Einsatz?«
Maike nickte. »Ein Toter in einem Waldstück Richtung Billmerich.« Das lag am Rande der Massener Heide, einem ländlichen Gebiet im Süden des Stadtteils Massen, das mit seinen Land- und Einfamilienhäusern zu den bevorzugten Wohnlagen Unnas gehörte. Maike war gespannt, mit wem sie es zu tun bekommen würden.
Zwanzig Minuten später parkten sie den Dienstwagen im Innenhof des Bauernhofs, der etwas zurückgebaut von der Hauptstraße lag. Vor Kopf ein Haupthaus mit schwarzem Gebälk und weiß verputztem Mauerwerk. Das darin befindliche Restaurant nutzte beide Etagen, wie
Maike wusste, und war rustikal eingerichtet. Über der Eingangstür prangte der Schriftzug Hof Gänseheim. Rechts davor befand sich ein Fachwerkhaus mit ebenfalls dunklen Balken, die
Mauerteile rot verputzt, links eine Scheune, die vermutlich das Federvieh
beheimatete. Im Innenhof dieser U-förmig angeordneten Gebäude waren Pflastersteine verlegt, in seiner Mitte stand ein gemauerter Brunnen
mit Holzaufbau und Spitzdach, darunter eine Stange mit Spule und Kette, an der
vielleicht heute noch Grundwasser nach oben befördert werden konnte.
»Ah, die Kollegen von der Kripo!«, hörte Maike Polizeioberkommissar Gerold Schmidtke sagen, der von einem Feldweg
seitlich des Haupthauses auf sie zutrat. Seine kurzen graubraunen Haare wurden
vom Wind zerzaust, die Dienstmütze hielt er in der Hand, während er den Weg zum Tatort erklärte. Dort sei sein Partner Jan Bliefert mit dem Absperren beschäftigt. »Hoffentlich habt ihr festes Schuhwerk an. Ist matschig da draußen und du fliegst fast weg«, rief er ihnen nach.
»Muss wohl gehen«, antwortete Teubner und schaute misstrauisch auf seine hellen Sportschuhe,
bevor er vorauslief.
Maike folgte ihm. Der scharfe Wind fegte ihr zum wiederholten Male die Kapuze
vom Kopf und wirbelte ihr die langen braunen Haare ins Gesicht. Sie schob ihre
Mähne hinter die Ohren, zog die Kapuze erneut über und hielt sie fest. Auf Zehenspitzen tänzelte ihr Kollege über die halbwegs trockenen Stellen des Weges, mehrfach fluchte er. Maike war
froh, am Morgen ihre Boots angezogen zu haben.
Nach einem Fünfminutenmarsch durch den Matsch erreichten sie ein kleines Waldstück, wo der Wind etwas von seiner Kraft einbüßte. Gleich an der Wegbiegung trafen sie auf zwei Männer, die sich gegenseitig beschimpften. Beide waren größer als Teubner. Einer trug Sneakers, schwarze Jeans und eine anthrazitfarbene
Jacke von Wellensteyn, der andere Gummistiefel, einen Arbeitsoverall und eine
dicke olivgrüne Öljacke. Teubner wies sich als Kriminalhauptkommissar aus und stellte auch Maike
vor.
»Da hinten liegt mein Vater«, rief der Mann im Freizeitdress gegen den Wind an. »Und der Bauer da hat ihn auf dem Gewissen!«
»Sie sind der Sohn des Opfers? Was ist passiert?«, fragte Maike und rieb sich fröstelnd die Arme.
»Mein Name ist Andreas Teufel. Mir gehört das Restaurant auf dem Hof. Gesehen habe ich nichts, aber als der mich eben
angerufen hat, wusste ich sofort, dass er jetzt völlig ausgerastet ist.« Er fuhr sich mit den Fingerspitzen durch die dunklen kurzen Haare, danach schob
er die Hände in die Jackentaschen. »Gedroht hat er uns oft genug. Dass er allerdings so weit gehen würde …«
»Sachma, hast du sie noch alle?«, blaffte der Bauer und trat auf Teufel zu. »Wenn einer deinen Alten um die Ecke gebracht hat, dann warst ja wohl du das! Wie
lange isses her, dass du drauf gewartet hass, dass der dir endlich den Hof überschreiben tut. Hä? Doch von euch hat niemand gewagt, die Schnauze gegen ihn aufzureißen. Außer vielleicht deine Kleine, die Melissa.«
»Halt den Mund!«, brüllte Andreas Teufel. »Mein Vater war schwierig. Ja. Das ist ja wohl kein Grund für einen Mord! Du hast ihn mehrfach bedroht. Dafür kann ich zig Zeugen benennen! Und ist doch seltsam, dass ausgerechnet du ihn
gefunden haben willst.«
Der Bauer trat näher auf seinen Kontrahenten zu. Seine Augen blickten böse, sein Gesicht lief rot an. »Was willst du damit sagen? Hä?«, schrie er. »Der lag da. Ohne, dass ich ihn angerührt hab. Und da war er schon mausetot! Wo warst du denn, als es passiert is?«
Andreas Teufel packte den Landwirt am Kragen seiner Jacke. »Pass auf, was du sagst, Gerhard! Du hast meinen Vater gehasst!«
Borck befreite sich von dem Griff. »Ich hab nie gesagt, dass ich deinen Alten leiden kann. Das war ein intrigantes
Arschloch! Schon immer! Ich werd dem keine Träne nachweinen. Aber ich wette, du tust dich selber freuen, dass er endlich weg
is. Gezz kannze schalten und walten wiede willst.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.
Ehe Andreas Teufel sich erneut auf den Bauern stürzen konnte, packte Teubner ihn am Arm. »Jetzt halten Sie mal beide den Ball flach! Da hinten liegt ein Toter! Und Sie
haben nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig zu beschuldigen?«
Maike trat auf den Landwirt zu. »Würden Sie uns bitte schildern, was passiert ist, Herr …«
»Borck. Gerhard Borck. Ich bin hier Pächter. Aber das tut nix zur Sache.«
»Sie haben das Opfer gefunden? Wie kam es dazu? Was haben Sie hier draußen gemacht?«
»Genau!«, blaffte Andreas Teufel dazwischen. »Was hattest du im Wald zu suchen? Den hast du nicht gepachtet, Gerhard! Du hast
meinen Vater gesehen, wolltest mit ihm reden und es ist wie so oft zum Streit
gekommen! Nur, dass du diesmal die Kontrolle verloren hast.«
»Du kannst mich ma kreuzweise, du Arschloch! Kehr doch ersma vor deine eigene Tür. Ich sach gezz gar nix mehr.« Der Bauer drehte sich um und wollte gehen.
»Nun seien Sie vernünftig, Herr Borck!«, mahnte Maike und wies Teubner mit einem Kopfnicken an, sich um Andreas Teufel
zu kümmern. »Begleiten Sie mich bitte zum Fundort der Leiche? Dabei können Sie mir erklären, was Sie beobachtet haben.«
Borck grummelte etwas Unverständliches, setzte sich aber sogleich in Bewegung. Mit großen Schritten stiefelte er durch den Matsch, sodass Maike Schwierigkeiten hatte,
ihm zu folgen. Seine massige Gestalt strahlte sture Verschlossenheit aus. Ob er
mit dem Mord zu tun hatte? So konnte sie sich jedenfalls nicht mit ihm
unterhalten. Vielleicht brauchte er etwas Zeit, um sich von dem Disput mit
Andreas Teufel zu erholen. Endlich erreichten sie das rotweiße Absperrband, das im Wind flatterte und quer über den Weg zwischen zwei Bäumen befestigt war. Borck blieb stehen.
Maike blickte hinter die Absperrung. Vom Kollegen Bliefert keine Spur. Aber auch
ohne seine Hilfe erkannte sie die Leiche nur wenige Meter entfernt am Wegrand.
Ein weißhaariger Mann lag bäuchlings im Matsch. Den Kopf hielt er leicht zur Seite gedreht, er musste die 80
Jahre lange überschritten haben. Eine tiefe Wunde klaffte an seinem Hinterkopf. Das Blut war
ihm über das weiße Haar bis ins Gesicht gelaufen. Seine blauen Augen blickten starr auf das
matschige Laub auf dem Waldboden. Er trug teure Kleidung: Unter dem Wollmantel
schaute eine Anzughose hervor. Nur die robusten Wanderschuhe wollten irgendwie
nicht zu seinem Outfit passen. Und der Rosenkranz um seinen Hals, zwischen den
weißen Perlen ein silbernes Kreuz mit Jesusfigur, der seitlich über dem Mantelkragen hing, wirkte wie ein übergestreifter Fremdkörper.
Kapitel 3
Donnerstag, 11. November, 13:15 Uhr
Das nasskalte Wetter war Gift für Alma-Luises Rheuma. Deshalb hatte Melissa ihrer Oma eine flauschige Wolldecke
um die Beine gelegt, bevor sie mit ihr im Rollstuhl vom Sankt Bonifatius Wohn-
und Pflegeheim aus losgezogen waren. Natürlich hatte sie auch darauf geachtet, dass ihre Oma warm genug angezogen war:
die Hose aus reiner Schurwolle, dazu eine Strickjacke, gefütterte Schuhe und ein dicker Wollmantel. Im Seniorenheim konnte Alma-Luise sich
noch langsam auf zwei Beinen bewegen, aber durch das fortgeschrittene Rheuma
fiel ihr das Gehen von Jahr zu Jahr schwerer. Dazu kam die Demenz. Seit sie im
Heim war, wurden auch ihre lichten Momente seltener, das machte Melissa
unsagbar traurig. An manchen Tagen erkannte ihre Oma sie gar nicht mehr. Als
sie noch auf dem Hof lebte, war das anders gewesen. Aber man hatte sie ja
unbedingt aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen müssen. Melissa schluckte die düsteren Gedanken herunter. Sie blickte auf das graue Haar ihrer Oma, das ein
Windstoß zerzauste. Sofort griff sie in das Netz des Rollstuhls. »Nicht erschrecken, Oma, ich setze dir eben eine Mütze auf.«
Der Kopf ihrer Oma drehte sich ein wenig nach hinten. »Du bist ein liebes Kind, Melissa. Schön, dass du mich besuchen kommst.«
Melissa lächelte erfreut. Es war einer der seltenen Momente, an denen die Oma sie beim
Namen nannte. »Das mache ich gerne, ich würde öfter herkommen, wenn ich nicht so viel mit der Uni zu tun hätte. Und wenn ich mit Bahn und Bus von Dortmund hierherkomme, dann brauche ich
dafür ganz schön viel Zeit. Deshalb schaffe ich es leider nur einmal in der Woche. «
»Von Dortmund?«, fragte Oma Alma erstaunt. »Wohnst du nicht mehr auf dem Hof?«
Melissa lächelte. Sie hatte es ihrer Oma bereits mehrfach erklärt, aber Dinge, die nicht so lange zurücklagen, vergaß sie. »Seit dem Studium lebe ich in einer kleinen Wohnung in Dortmund mit einer
Freundin zusammen.« Sie verschwieg ihrer Oma, dass sie nur deshalb von Unna weggezogen war, weil
sie sich mit ihren Eltern und ihrem Opa völlig zerstritten hatte. Die rücksichtslose Art, wie sie Alma-Luise abgeschoben hatten, das konnte Melissa
ihnen nicht verzeihen.
»Du warst immer schon ein schlaues Mädchen. Was studierst du noch mal?« Ihre Augen blickten in ehrlichem Interesse.
»Deutsch und Kunst fürs Lehramt. Ich möchte später Kinder in der Grundschule unterrichten.«
Oma Alma nickte zufrieden. »Das passt. Deine Aufsätze früher, die waren einmalig, so lebhaft und fantasievoll. Und das Malen hast du
vielleicht von meiner Schwester. Die hatte darin auch Talent.«
»Das kann durchaus sein«, gab Melissa zu. Ihre Großtante Christa stellte seit dem Rentenalter ihre Bilder in Galerien aus.
Inzwischen hatten sie die Ampel am Verkehrsring erreicht. Melissa blieb hinter
ihrer Oma auf der Verkehrsinsel stehen und wartete auf Grün. Autos rauschten an ihnen vorbei. Der Wind zerrte an ihren langen Haaren.
Endlich konnten sie weitergehen. Auf der anderen Straßenseite wurde der Bürgersteig unwegsam. An einigen Stellen hatten die Wurzeln der Bäume regelrechte Wellen aus dem Boden gedrückt. Das Brummen ihres Smartphones ließ Melissa stoppen. Das Foto ihres Vaters erschien auf dem Bildschirm. Sofort
kroch eine unbändige Wut in ihr hoch. Für einen Moment war sie versucht, das Gespräch anzunehmen und ihm erneut die Meinung zu sagen. Er hatte seine Mutter nicht
ein einziges Mal im Heim besucht, seit Opa Friedrich sie dort untergebracht
hatte. Er hatte die Entscheidung hingenommen, nicht darüber diskutiert, kein einziges Wort der Gegenwehr! Und dafür hatte Melissa überhaupt kein Verständnis. Wenn sie könnte, würde sie sich selbst um die alte Dame kümmern, aber ihr Lehramtsstudium ließ ihr leider zu wenig Zeit. Auf dem Hof dagegen hätte sich Simone Merzig, die Haushälterin ihrer Großeltern, um Oma Alma kümmern können, die mit ihrer Vergesslichkeit gewiss niemanden gestört hätte. Außer Opa Friedrich. »Dieser arrogante, alte Nörgler!«, entfuhr es Melissa.
»Wen meinst du, Kind?«, fragte Alma-Luise.
Deinen egoistischen Ehemann hätte sie am liebsten gesagt, aber sie schluckte ihre Wut herunter und erwiderte
nur: »Kennst du nicht, Oma!« Melissa liebte Oma Alma über alles. Denn sie war es gewesen, die sich in ihrer Kindheit um sie gekümmert hatte. Sie hatte ihr die Windeln gewechselt und sie gefüttert, später bei den Hausaufgaben geholfen, mit ihr gespielt, sie im Winter mit dem
Schlitten durch die Felder gezogen. Ihre Eltern hatten nur wenig Zeit gehabt,
da sie zunächst mit der Landwirtschaft und danach mit dem Führen des Restaurants beschäftigt waren. Und als Omas Gedächtnis sich verwirrt und man eine beginnende Demenz festgestellt hatte, da
sollte sie eben weg vom Hof. Sie war zur Last geworden.
Das Brummen des Handys war schon eine Weile verstummt, jetzt vibrierte es
erneut. Wieder ihr Vater. Was wollte er bloß? Er rief sie doch sonst nie an. Ob etwas passiert war? Melissa fiel plötzlich ein, dass heute der 11. November war und somit Ausnahmezustand auf Hof Gänseheim herrschte. The same procedure every year: das traditionelle Gänseessen. Da war jeder Platz im Restaurant ausgebucht. Vielleicht war eine
Bedienung ausgefallen und nun suchte ihr Vater Ersatz. Der konnte sie mal
kreuzweise. Sie schaltete das Smartphone stumm und ließ es in ihre Jackentasche gleiten. Resolut schob sie den Rollstuhl voran. Sie
passierten das katholische Krankenhaus – Christliches Klinikum Unna Mitte, wie man es seit Ende Oktober 2020 nach der Gründung des Hospitalverbunds nannte. Ein moderner Gebäudekomplex, der an das alte rote Backsteingebäude angebaut worden war.
Alma-Luise drehte den Kopf nach hinten. »Hier haben sie mich letztens eingewiesen. Weißt du noch? Als ich auf dem Hof gestürzt bin.«
Melissa nickte. Der Vorfall war allerdings über zehn Jahre her. Da war ihre Oma die Treppe im Restaurant heruntergefallen,
als sie nach einer Großfeier beim Aufräumen geholfen hatte.
»Wo fährst du mich eigentlich hin, Claudia?«
Melissa seufzte. Der lichte Moment war vorbei. Nun glaubte ihre Oma, sie würde von ihrer Schwiegertochter, also Melissas Mutter geschoben. »Wir machen einen Spaziergang in die Innenstadt. Claudia ist meine Mama, ich bin
die Melissa.«
Erneut drehte Alma-Luise den Kopf, warf ihr einen verwunderten Blick zu und
schwieg danach. Wenige Minuten später erreichten sie den Marktplatz, der umgeben war von alten Fachwerk- und
Handelshäusern. Trotz des nasskalten Wetters saßen sowohl vorm Café Extrablatt als auch vor der Brasserie zahlreiche Gäste, die sich an Cappuccino und Kaffee wärmten oder eine Kleinigkeit aßen. Stimmengewirr drang an Melissas Ohren, unterbrochen vom Klang der
Kirchturmuhr, die verkündete, dass es bereits halb zwei war. Melissa schob den Rollstuhl quer über den Platz, beobachtete einige Tauben, die ihren Durst am Eselsbrunnen löschten. »Möchtest du etwas vom Bäcker?«, fragte sie und beugte sich seitlich zu ihrer Oma. Sie hatten den Marktplatz
verlassen und die Fußgängerzone erreicht. Gleich rechts befand sich eine kleine Bäckerei, wo Melissa für sich und ihre Mitbewohnerin ein Körnerbrot kaufen wollte. Ihre Oma reagierte nicht. Sie war in ihrer eigenen Welt,
vielleicht zu überwältigt vom Treiben in der Innenstadt, als dass sie die Frage beantworten konnte.
Melissa schob ihre Oma neben die Bäckerei, sodass der Rollstuhl nicht im Weg stand, und blockierte die Räder mit der Bremse. »Ich bin sofort zurück.«
Alma-Luise lächelte und nickte.
Melissa betrat den Laden und stellte sich an den Verkaufstresen. Eine massige
Frau vor ihr bestellte zehn belegte Brötchen, die frisch zubereitet werden sollten. Eine zweite Verkäuferin kam nicht in Sicht. Melissa wurde nervös. Sie ließ ihre Oma ungern zu lange warten. Ungeduldig trat sie einen Schritt zur
Eingangstür, um einen Blick auf Oma Alma werfen zu können. Der Rollstuhl war weg! Sie rannte aus dem Geschäft. Das war doch nicht möglich! Ihre Oma war verschwunden. Melissa sah sich hektisch um. Oma Alma hatte
sich noch nie von der Stelle gerührt, wenn die Bremse angezogen war. Wie hätte sie die auch selbst lösen sollen? Sie wusste gar nicht, wie das ging! Eine junge Mutter schob ihr etwa
zweijähriges Kind in einem Buggy vorbei. Melissa trat sofort auf sie zu. »Haben Sie eine ältere Dame im Rollstuhl gesehen?«
Die Frau schüttelte den Kopf und eilte weiter. Melissa blickte die Fußgängerzone hinauf Richtung Kino, dann hinunter bis zur Wasserstraße. Keine Spur von ihrer Oma. »Das gibt’s nicht!«, fluchte Melissa. Sie hatte sie doch höchstens für zwei Minuten aus den Augen gelassen. Und nun hatte es auch noch zu nieseln
begonnen. Melissa lief zurück zum Marktplatz und suchte die Umgebung ab. Niemand, den sie fragte, erinnerte
sich an eine Frau im Rollstuhl. Was sollte sie jetzt machen? Je länger sie nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihr vor, dass Oma Alma sich
allein auf den Weg gemacht hatte. Irgendjemand musste sie geschoben haben. Wer
könnte das gewesen sein? Ein Entführer? Melissa war mit der Situation völlig überfordert. Dennoch würde sie niemals ihre Eltern um Rat fragen. Und ihren egoistischen Opa erst recht
nicht. Sie rief zunächst die Polizei, danach das Boniheim an und dann betete sie, dass es ihrer Oma gutging.
Kapitel 4
Donnerstag, 11. November, 14:11 Uhr
Christian Schneider arbeitete nun seit acht Jahren als Pfleger im Sankt Bonifatius Wohn- und Pflegeheim oder Boniheim, wie es im Volksmund hieß. Er keuchte, als er mit seinem Rad die Mühlenstraße hochfuhr. Diese letzte Anhöhe hinter der Eisenbahnunterführung trieb ihm jeden Tag den Schweiß auf die Stirn. Seit Monaten nahm er sich vor, wieder Sport zu treiben, um seine
Kondition zu verbessern. Wenn er von der Arbeit kam, fühlte er sich jedoch so antriebslos, dass er den Fernseher oder seinen PC
jeglicher anstrengenderen Aktivität vorzog. Da schob er den Drahtesel lieber auf den letzten Metern. Heute hatte
ihn jedoch seine Nachbarin aufgehalten. Sie hatte ihn eindringlich ermahnt, am
kommenden Samstag den Flurdienst nicht wieder zu vergessen, und ihm eine
Moralpredigt gehalten. Er hatte keine Chance gehabt, ihren Redefluss zu
unterbrechen und nur mehrfach auf seine Armbanduhr geschaut. Als sie ihn
endlich aus ihren Fängen entließ, war es bereits fast zwei Uhr gewesen, wo seine Schicht ja schon begann. Also
musste er trampeln. Endlich erreichte er die Abbiegung zum Boniheim. Schneider
hatte Glück, kein Gegenverkehr, der ihn zum Anhalten gezwungen hätte. Er bog in die Mozartstraße ein, lenkte das Fahrrad an der Einfahrt auf den Bürgersteig und stutzte augenblicklich.
Auf dem Gehweg vor der Mauer stand ein Rollstuhl! Und da saß jemand drin! Mitten auf den Stolpersteinen, die man als Andenken an die
deportierten Juden der Nazizeit vor dem Heim verlegt hatte!
Da dieser Jemand ihm den Rücken zukehrte und Schneiders Brille vom Schwitzen beschlug, konnte er auf den
ersten Blick nicht ausmachen, ob es ein Bewohner des Heims war. Im Näherkommen erkannte er die alte Frau Teufel. Sie hielt den Kopf gesenkt, als würde sie schlafen. »Guten Tag, Alma-Luise«, grüßte er freundlich, da es wegen ihres Nachnamens schon mehrfach zu Missverständnissen gekommen war. Mit ihrer fortgeschrittenen Demenz vergaß sie ihn manchmal und fühlte sich aufs tiefste beleidigt, wenn man sie Frau Teufel nannte. So hatte man
sich unter den Pflegern geeinigt, sie beim Vornamen zu nennen. »Was machen Sie so ganz allein hier draußen bei dem schäbigen Wetter?«
Die Alte rührte sich nicht. War vermutlich in ihrer eigenen Welt versunken.
»Alma-Luise? Alles gut? Ich bin sofort bei Ihnen! Schließe nur eben das Fahrrad weg!« Er schob das Rad eilig in die Einfahrt bis an den Container, in dem die
Mitarbeiter ihre Räder abstellen durften. Das Schloss ließ sich mit dem Transponderschlüssel öffnen, den jeder Angestellte des Heims besaß. Nachdem er das Rad abgestellt und die Tür wieder verschlossen hatte, fielen dicke Regentropfen vom Himmel. Rasch eilte
er zurück, fasste an die Griffe des Rollstuhls und wendete ihn, um die alte Dame ins
Warme und Trockene zu befördern.
»Nun machen Sie doch nicht so hektisch!«, rief Frau Teufel sofort. »Sehen Sie nicht, was ich hier habe?«
Christian Schneider warf einen flüchtigen Blick auf den Schoß der Frau und stutzte. Spielte die Alte jetzt mit Puppen? Sie hielt eine
Babypuppe in einer Decke gewickelt mit Mützchen auf dem Kopf. Bislang hatte er Frau Teufel trotz ihrer Demenz für relativ normal gehalten. Etwas vergesslich halt, jedenfalls nicht
durchgeknallt. Aber jetzt … »Was haben Sie denn da?«, fragte er dennoch höflich.
Sie drehte sich entrüstet um. »Sie werden doch ein Baby erkennen! Es ist von Edith! Ich soll darauf aufpassen!«
Schneider schüttelte den Kopf und schob den Rollstuhl auf den Eingang zu. Nach zwei Schritten
blieb er abrupt stehen. Hatte die Puppe sich bewegt? Er stellte die Bremse fest
und ging um den Rollstuhl herum. Dann beugte er sich über Frau Teufel. Sie hielt das Bündel nun im Arm, fest an ihre Brust gepresst. »Darf ich mal sehen?«
Vorsichtig, als wolle sie die Puppe nicht wecken, drehte Frau Teufel ihren Arm. »Das Kleine schläft!«, flüsterte sie. »Es ist das Baby von Edith!«, wiederholte sie. »Ich werde mich darum kümmern.«
Im selben Moment schlug die vermeintliche Puppe die Augen auf. Christian
Schneider schluckte. Das sah so echt aus. Krass! Er konnte nicht umhin, seine
Hand nach dem winzigen Würmchen auszustrecken. Mit der Rückseite seines Zeigefingers berührte er vorsichtig die Wange. Er fühlte weiche Babyhaut. Augenblicklich verzog sich das Gesicht und das kleine
Wesen schrie seine Empörung hinaus. Seine Hand zuckte zurück.
»Jetzt haben Sie es geweckt«, sagte Alma-Luise vorwurfsvoll.
Schneiders Herz klopfte wild. »Tut mir leid«, murmelte er nur und löste die Bremse des Rollstuhls. Rasch schob er Alma-Luise Teufel hinein in die
Einrichtung, raus aus dem Regen.
Der Door-Keeper sah ihn überrascht an. »Wo haben Sie Frau Teufel gefunden? Waren Sie mit ihr spazieren? Es wird überall nach ihr gesucht!« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Und wieso hat sie ein Baby im Arm?«
Kapitel 5
Donnerstag, 11.November, 15:35 Uhr
»Das hätte nicht passieren dürfen!«, brüllte Jochen Hübner den uniformierten Kollegen Gerold Schmidtke an. Maike hatte ihn selten so
außer sich gesehen. Jochen war erst vor zehn Minuten eingetroffen. Das
Techniker-Team war bereits seit zwei Stunden bei der Arbeit. Jetzt standen sie
an der Weggabelung, die in den Wald führte, während Kriminaltechnik und Rechtsmedizin den Tatort untersuchten. »Und da wundern Sie sich, wenn die Kollegen Sie Streifenhörnchen nennen! Was hat Bliefert sich dabei gedacht, in dem Waldstück nach der Tatwaffe zu suchen?« Das Gesicht von Jochen lief rot an. »Dafür haben wir geschulte Leute, verdammt noch mal! Und deren erster Grundsatz
lautet: ÜBERLEGEN, DANN HANDELN! Sie hätten einfach warten sollen, bis die Kollegen Graf und Teubner vor Ort waren. Die
kennen sich mit Mordermittlungen aus und hätten nicht wahllos Spuren zerstört, beziehungsweise neue geschaffen. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie viel
Mehrarbeit Sie uns damit aufhalsen?«
»Es tut mir leid«, stammelte Schmidtke und blickte etwas hilflos zu Maike. »Ich wollte den Kollegen Graf und Teubner nur den Weg zum Tatort erklären und habe Bliefert gesagt, er soll den Weg absperren und aufpassen, dass die
beiden Zeugen sich nicht entfernen.«
Jochen schüttelte genervt den Kopf. »Mensch, das weiß doch jeder Laie, dass man einen Tatort nicht verändern darf.«
Schmidtke hob ratlos die Schultern. »Bliefert ist erst 28.«
»Mit 28 ist man kein Anfänger mehr. Da sollte man den Ablauf kennen: Eigensicherung, Überblick verschaffen, nichts anfassen und weiträumig absperren. Das wäre vorbildlich! Wie Sie sehen, markieren sich die Kollegen der Kriminaltechnik
eine Spurensicherungsgasse «, schnauzte Jochen. »Wo ist Bliefert jetzt?«
Schmidtke deutete den Weg hinunter, wo auf dem gepflügten Feld ein Traktor stand. »Der passt auf Herrn Borck auf. Der Sohn des Opfers meint, der Pächter könnte der Täter sein.«
Jochen Hübner verdrehte die Augen und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ach sooo!«, rief er in gespielter Überzeugung. »Der Fall ist also geklärt! Warum sagen Sie das nicht gleich?«
»Jochen, bitte!« Maike fasste ihren Ex-Freund sanft am Arm. »Gerold kann doch nichts dafür.«
»Und wo ist der Sohn des Opfers?«, blaffte Jochen erneut.
»Max hat ihn zum Restaurant auf dem Hof begleitet«, erklärte Maike an Schmidtkes Stelle. »Andreas Teufel sah sehr mitgenommen aus. Immerhin ist sein Vater tot. Er wollte sich hinlegen.«
»Gut«, nickte Jochen. »Wurden Herr Borck und Herr Teufel junior von den Technikern untersucht?«
»Ja. Das habe ich sofort veranlasst. Ich habe den Pächter selbst befragt. Die KT hat Fußspuren gefunden, die vom Fundort der Leiche bis zu seinem Traktor führen. Das Profil passte zu seinen Gummistiefeln. Er behauptet, sein Handy
vergessen zu haben und deshalb sei er zurückgelaufen, um die Polizei und Andreas Teufel informieren zu können.«
»Hast du den Pächter gefragt, was er im Wald gemacht hat?«
Maike nickte. »Gerhard Borck gibt an, mit seinem Traktor auf dem Feld gewesen zu sein, um
einige Bodenproben zu nehmen. Angeblich möchte er in Zukunft eine neue Kartoffelsorte anbauen. Nun will er testen, ob der
Boden geeignet ist. Als er den Feldrand abgefahren ist, hat er geglaubt, im
Wald ein Licht zu sehen. Einen flackernden Schein, wie bei einer Taschenlampe.
Da er sowieso die nächste Probe einsammeln wollte, hat er den Motor des Treckers ausgestellt und
eine Weile das Waldstück beobachtet. Er glaubte schon, sich getäuscht zu haben, als er einen lauten Schrei gehört hat.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er sagt, er ist sofort vom Traktor gesprungen und bis zur Weggabelung gerannt.
Da hat er gesehen, dass jemand am Boden liegt. Als er Friedrich Teufel erreicht
hat, sei der bereits tot gewesen. Borck wollte den Notruf absetzen und hat
bemerkt, dass …«
»Sein Handy lag im Trecker «, unterbrach Jochen. »Könnte so abgelaufen sein. Wenn man auf dem Bock so eines Riesen sitzt, stört das Smartphone vermutlich in der Gesäßtasche.«
»Genau das hat er auch gesagt. Ich habe ihn gebeten, am Traktor zu warten.«
Jochen nickte etwas besänftigt und wandte sich erneut an Schmidtke. »Sie und Bliefert werden Herrn Borck jetzt nach Hause begleiten. Der Mann soll
seine Kleidung wechseln, damit die Kriminaltechnik die untersuchen kann, die er
jetzt trägt. Denken Sie an die Stiefel und packen Sie alles getrennt in
Beweissicherungsbeutel. Die finden Sie da vorn im Transporter der KT.
Beschriften nicht vergessen. Und lassen Sie sich von Borck die Bodenproben
zeigen!«
Schmidtke nickte und wandte sich ab. Er machte einen bedrückten Eindruck. Maike beobachtete ihn einen Moment, hätte ihm gern noch eine Aufmunterung zugerufen, schwieg aber.
»Ich werde mir mal Bliefert vorknöpfen«, erklärte Jochen. »Und mir gleichzeitig ein Bild von Gerhard Borck machen. Kommst du mit?«
Maike schüttelte den Kopf. »Ich möchte mir den Tatort ansehen. Die KT hat eben grünes Licht gegeben.«
»Gut«, nickte Jochen. »Ich bin gleich bei dir.« Er rieb sich fröstelnd die Hände, lächelte ihr kurz zu und ging.
Maike nahm sich aus dem weißen Transporter, den die Mitarbeiter der Kriminaltechnik rückwärts in den Waldweg hineingefahren hatten, einen Schutzanzug sowie Hand- und Überschuhe und zog sie an. Dann lief sie bis zur Absperrung, beugte sich darunter
hindurch und balancierte über die Spurensicherungsgasse zum Fundort der Leiche. Ein großes, weißes Zelt war über dem Tatort errichtet worden, um ihn vor Regen und Wind zu schützen. Die Spuren auf den Zu- und Abwegen waren bereits fotografiert und die
Auffinde-Situation des Opfers dokumentiert worden. Man hatte Fußabdrücke im Boden gesichert und ordentlich gekennzeichnet. Nun waren einige
Mitarbeiter der Kriminaltechnik damit beschäftigt, das umliegende kleine Waldstück zu durchsuchen, denn Bliefert hatte trotz seines Eifers keine Tatwaffe
gefunden.
Maike erreichte das Zelt und schob die Öffnung ein wenig beiseite. Sie sah Rechtsmediziner Werner Severin, der die erste
Leichenschau gerade beendet hatte. Maike kannte ihn aus ihrer Zeit in Dortmund
als freundlichen, besonnenen und kompetenten Kumpeltyp. Rein äußerlich glich er auffallend dem Bares-für-Rares-Moderator Horst Lichter. Er liebte seinen Kaiser-Wilhelm-Bart und trug
ebenfalls eine Nickelbrille. Mit dem weißen Schutzanzug wirkte er hier allerdings nicht wie ein Fernsehstar, sondern eher
wie ein Wissenschaftler in einem kontaminierten Waldgebiet.
»Hey, Werner!«, grüßte Maike ihn. »Wie sieht’s aus?«
Er wandte ihr den Kopf zu und lächelte, als er sie erkannte. »Hallo, Maike! Schön, dich zu sehen. Kommst gerade rechtzeitig. Ich bin hier so weit fertig.« Er drückte sich ächzend aus der Hocke in den Stand und hielt sich den unteren Rücken. »Dieses nasskalte Mistwetter mögen meine alten Knochen nicht.«
Maike nickte besorgt. Der Wind zerrte heftig an den Zeltwänden. Von Westen schob sich eine dunkle Wolkenwand heran. Die ersten Tropfen
fielen bereits. »Bandscheibe?«, fragte sie und deutete auf Severins Rücken.
Der Rechtsmediziner nickte. »Lendenwirbel. Ich werde nächstes Jahr 60. Da muss man mit solchen Wehwehchen rechnen.« Er grinste.
»Auf mich machst du noch einen völlig fitten Eindruck, Werner. Außerdem ist 60 ja heute kein Alter.« Sie deutete auf den Toten zu seinen Füßen. »Todesursache sind die Schläge auf den Kopf, vermute ich?«
Severin hob ratlos die Schultern. »Ich denke ja. Genau kann ich das wie immer erst nach der Obduktion sagen.«
»Fundort gleich Tatort?« Maike hatte außerhalb des Zelts keine Schleifspuren entdeckt. Außerdem hätte der Täter, falls er das Opfer woanders getötet hatte, es wohl tiefer in den Wald hineingeschleift, um ein frühes Auffinden verhindern zu können.
»Ja«, bestätigte Severin sofort. »Erschlagen wurde der Mann hier, wo er aufgefunden wurde. Nach der
Hutkrempelregel sind die Verletzungen oberhalb eines gedachten Hutrands durch
Schläge entstanden.« Er deutete einen Kreis über der Schläfe des Opfers an. »Es gibt aber auch Kratzer im Gesicht, die er sich vermutlich beim Sturz
zugezogen hat. Abschürfungen an der rechten Wange, eine blutige Nase. Ich werde das im Institut
genauer untersuchen.«
»Was hältst du von dem Rosenkranz?«, fragte Maike. »Sah drapiert aus, oder? Ich kann mir kaum vorstellen, dass der alte Mann sich
den selbst umgehängt hat. Nutzt man den religiösen Schmuck nicht nur zum Beten?«
Severin blickte ratlos. »Ja, merkwürdig. Ich habe die Kette fotografiert, bevor sie eingetütet worden ist. Soll ich dir die Fotos schicken?«
»Auf jeden Fall«, nickte Maike, während ein heftiger Windzug an ihrer Schutzkleidung zerrte und es fester zu
regnen begann.
»Mensch, komm rein! Wirst ja ganz nass. Ich warte den Guss noch ab, dann fahr ich
zurück ins Institut.« Er ging erneut in die Hocke und packte seine Sachen in einen Alukoffer.
Maike trat in das Zelt. Obwohl sie in ihrer polizeilichen Laufbahn viele Leichen
gesehen hatte, war es immer ein beklemmendes Gefühl, sich in so unmittelbarer Nähe des Toten zu befinden. Ein kräftiger Regenschauer prasselte auf das Dach des Zelts, während seine Wände dem heftigen Wind trotzen mussten. Wenn sich im Wald noch Spuren befunden
hatten, würden sie den augenblicklichen Witterungsbedingungen nicht mehr lange
standhalten.
Severin hatte seinen Koffer gepackt und stand auf. Im selben Moment wurde die
Zeltöffnung auseinandergeschoben und zwei Mitarbeiter der Kriminaltechnik traten ein.
»So ein Sauwetter«, schimpfte einer der beiden. »Wir sind hier fertig. Da findet sich jetzt sowieso nichts mehr, was man
verwerten kann.«
Der zweite Mann nickte und hob einen Plastikbeutel. »Zum Glück haben wir vor dem Schauer noch die mutmaßliche Tatwaffe gesichert. Vielleicht haften Täterspuren daran.«
Maike blickte neugierig auf den Beutel mit einer großen schwarzen Taschenlampe darin. »Wo habt ihr die gefunden?«
»Am Ende des Waldstücks befindet sich eine Straße. Ganz in der Nähe lag die Lampe auf dem Waldboden. Sie brannte noch, als hätte sie jemand in Panik fallengelassen. Es haften Blutspuren daran.«
»Gab es Fußspuren am Fundort?«
Der Techniker schüttelte den Kopf. »Der Boden dort ist wie ein Nadelteppich. Da bilden sich leider keine Abdrücke. Aber einige Äste im Umfeld waren abgeknickt. Möglich, dass da jemand gestolpert, getaumelt und gefallen ist. Am Straßenrand konnten wir Reifenspuren sichern, ob die relevant sind, bleibt zu klären.«
Maike nickte. Sie dachte an die Aussage des Pächters Gerhard Borck, der einen Lichtschein im Wald ausgemacht hatte. Vom Täter? Oder wollte Borck nur von sich selbst ablenken? Vielleicht hatte er
Friedrich Teufel im Affekt erschlagen, war dann panisch in das Waldstück gerannt und hatte seine Taschenlampe verloren. Wer wusste schon, wie ein Täter sich nach einem Totschlag verhielt? Eventuell war Borck sich erst nach
seiner Tat bewusst geworden, was er getan hatte. Er war zum Opfer zurückgekehrt, um zu sehen, ob man ihm noch helfen konnte. Und danach war er zu
seinem Traktor gegangen, um die Polizei zu informieren.
Kapitel 6
Donnerstag, 11. November, 16:27 Uhr
Kriminaloberkommissar Sören Reinders arbeitete seit fast zehn Jahren in der Dienststelle Unna. Eine entführte Oma im Rollstuhl war ihm in dieser Zeit allerdings noch nicht gemeldet
worden. Er war nach der Aufnahme eines Verkehrsunfalls zurück in seinem Büro angelangt, als der Dienststellenleiter ihn zur Befragung in das
Sankt-Bonifatius-Wohn- und Pflegeheim in die Mühlenstraße schickte. Die kurze Distanz zum Heim würde er in knappen zehn Minuten zu Fuß bewältigen. Während des Marsches durch den Nieselregen schweiften seine Gedanken zu Beatrice,
seiner aktuellen Freundin. Sie arbeitete als Fitnesstrainerin in einem
Sportstudio, das er regelmäßig besuchte. Aufgefallen war sie ihm, als er nach der Corona-Pause zum ersten
Mal trainieren konnte. Sein Engel besaß lange blonde Haare, eine schlanke Figur und ein gewinnendes Lächeln, das ihn sofort bezaubert hatte. Eigentlich war er nach einer
gescheiterten Ehe nicht sonderlich scharf auf eine feste Bindung und hatte sich
in den vergangenen Jahren mit gelegentlichen Bordellbesuchen begnügt. Aber bei Beatrice wollte er das Wagnis einer Beziehung noch einmal eingehen.
Reinders seufzte verträumt und bemerkte, dass er das Wohn- und Pflegeheim bereits erreicht hatte. Ein
großes, helles Gebäude mit zahlreichen Giebeln, das von einer niedrigen Bruchsteinmauer mit
Zaunelementen umschlossen war. Besonders auffällig fand er die weit über 100 Stolpersteine, die links und rechts der Einfahrt im Bürgersteig versenkt waren. Reinders hatte im Web gelesen, dass das Haus einst
eine jüdische Einrichtung gewesen war. Bis zum Jahr 1942 hatten die Nazis insgesamt 162
Bewohner und Angestellte deportiert. Für jedes dieser Opfer lag ein Stolperstein vor dem Heim.
Heute galt das Boniheim als eines der angesehensten Senioreneinrichtungen Unnas. Reinders wusste, dass
eine Bewohnerin mit ihrer Enkelin die Innenstadt besucht hatte und dort vor
einer Bäckerei verschwunden war. Wie die alte Dame mit Rollstuhl schließlich zurück vor die Einfahrt der Einrichtung gelangt war, blieb schleierhaft. Sowohl das
Pflegepersonal als auch die Enkelin schlossen aus, dass Alma-Luise Teufel den
Weg zurück allein gefunden hatte. Es gab zwar im Eingangsbereich eine Überwachungskamera, aber der mysteriöse Begleiter von Alma-Luise Teufel musste davon gewusst haben. Denn der
Rollstuhl hatte nicht in deren Aufzeichnungsbereich gestanden.
Reinders trat nun durch eine Glastür in das Foyer des Seniorenheims, um die Aussage der Enkelin Melissa Teufel
aufzunehmen. Der Pfleger, der Alma-Luise Teufel vor dem Heim entdeckt hatte,
wartete bereits.
»Hallo, Sie sind gewiss von der Polizei. Mein Name ist Christian Schneider. Ich
habe Frau Teufel auf dem Bürgersteig vorm Boniheim in ihrem Rollstuhl sitzen sehen, als ich meine Schicht
begann. Soll ich Ihnen die Stelle zeigen?«
»Das wird nicht nötig sein«, wehrte Reinders ab.
»Die Bremse des Rollstuhls war angezogen. Lange kann sie dort aber nicht
gestanden haben, denn kurz vor mir sind noch andere Mitarbeiter zum
Schichtwechsel gekommen.«
»Ist Ihnen in der Nähe jemand aufgefallen?«
Christian Schneider, ein drahtiger Typ etwa Mitte 30 mit schwarzem Haar, das er
zu einem kleinen Zopf gebunden hatte, schüttelte den Kopf. »Habe ich nicht drauf geachtet. «
Auf Reinders machte der Pfleger einen ehrlichen Eindruck, dennoch fragte er: »Frau Teufel ist gegen Viertel vor zwei verschwunden. Da waren Sie nicht zufällig auch in der City?«
Eine leichte Röte zog sich durch das blasse Gesicht von Christian Schneider. »Nein. Um die Zeit wollte ich gerade zu Hause losfahren. Ich wohne in Königsborn. Meine Nachbarin kam zur Haustür rein und hat mich aufgehalten, die können Sie gerne fragen.«
»Das werden wir bei Bedarf tun«, erklärte Reinders. »Kann ich jetzt mit Frau Teufel und ihrer Enkelin reden?«
»Natürlich! Kommen Sie!« Christian Schneider führte Reinders in einen abgeteilten Aufenthaltsraum mit bodenlangen Fenstern, wo
Melissa Teufel bei ihrer Oma an einem Tisch saß. Das unbekannte Baby schlief auf dem Schoß von Alma-Luise Teufel.
»Wurde das Baby noch nicht fortgebracht?«, fragte Reinders erstaunt.
Schneider hob etwas ratlos die Schultern. »Meine Kollegen werden herausfinden, ob es aus einem der Krankenhäuser in der Umgebung verschwunden ist. Wir haben das Jugendamt informiert. Die
werden es abholen, sobald klar ist, wo man es unterbringen kann. Wir dachten,
solange könnte es ruhig bei Frau Teufel bleiben. Ich habe die alte Dame selten so glücklich gesehen.«
Reinders nickte und bedankte sich bei dem Pfleger, dann steuerte er auf Melissa
und Alma-Luise Teufel zu. »Guten Tag«, grüßte er und zeigte seinen Ausweis, bevor er sich an die Jüngere wandte, die er auf Mitte zwanzig schätzte. »Sören Reinders, Kriminaloberkommissar Dienststelle Unna. Sie haben die Polizei
informiert, weil Ihre Oma verschwunden war?«
»Schau’n Sie nur, junger Mann!«, rief Alma-Luise. »Das ist das Baby von Edith. Sie hat es mir gebracht, damit ich darauf achtgebe.« Sie strahlte ihn aus wachen, braunen Augen an. »Das kleine Würmchen wird es gut bei mir haben. Ich werde es so liebhaben wie meinen Andreas.«
»Ja. Äh …« Reinders schaute irritiert zu Melissa Teufel.
Diese hob ratlos die Schultern. »Keine Ahnung, wovon meine Oma da spricht. Andreas ist mein Vater, also ihr Sohn.
Aber wer Edith ist, weiß ich nicht.«
»Setzen Sie sich doch junger Mann!«, forderte Alma-Luise. »Wie heißen Sie gleich?«
»Reinders. Sören Reinders«, sagte er laut. »Ich bin Polizist. Können Sie mir sagen, wer Ihnen den Säugling gegeben hat?«
»Sie müssen nicht so schreien. Sie wecken das Baby ja auf! Ich höre ganz gut für mein Alter. Nur mit dem Gedächtnis hapert es ein wenig«, lächelte Alma-Luise.
Reinders setzte sich zu den Frauen an den Tisch. »Wissen Sie, wer Ihnen das Baby auf den Schoß gelegt hat, Frau Teufel? Können Sie die Person beschreiben?«
»Das Baby ist von Edith«, wiederholte sie.
»Es war also eine Frau?«
Alma-Luise Teufel lächelte versonnen. »Das Baby ist von Edith.«
»Ja, aber …«
»Ich glaube, das hat wenig Sinn«, unterbrach ihn Melissa Teufel. Sie wirkte zart auf dem rustikalen Holzstuhl
mit Armlehne, über die sie ihre rote Winterjacke gelegt hatte. Ihre blauen Augen blickten
traurig. Sie schob sich das lange, hellbraune Haar hinter die Ohren und seufzte
leise. »Ich habe schon mehrfach gefragt, wer ihr das Baby gegeben hat und wie sie zurückgekommen ist. Sie hat es vergessen. Seit mein Opa sie von seinem Hof
abgeschoben hat, ist ihre Demenz viel schlimmer geworden. Das macht wohl die
unbekannte Umgebung, denn die Betreuung hier im Heim ist erstklassig.
Jedenfalls kann meine Oma Ihnen nicht sagen, was passiert ist.«
Reinders nickte. »Verstehe. Aber es muss ja irgendeine Verbindung geben. So, wie ich das Baby
einschätze, ist es höchstens zwei Wochen alt. Ihre Großmutter ist ja sicher schon länger hier untergebracht. Hatte sie mal Besuch von einer schwangeren Frau?«
»Sie glauben, die Mutter des Babys kennt meine Oma? Nein. Das kann ich mir nicht
vorstellen. Ich wüsste auch nicht, wie Oma Alma Kontakt zu einer Schwangeren hätte aufbauen sollen. Sie hat praktisch nie Besuch, außer von mir. Aber fragen Sie doch die Pfleger hier, die können Ihnen das gewiss bestätigen.«
»Sie kommen regelmäßig zu Ihrer Oma?«
»Ja. Einmal in der Woche nach der Uni. Ich schiebe sie bei trockenem Wetter gern
in die Innenstadt und kaufe ihr dort etwas Gebäck.«
Reinders machte sich Notizen. Als er aufblickte, schaute Alma-Luise Teufel unverändert lächelnd auf den Säugling auf ihrem Schoß. Sie schien ihre Umwelt völlig zu vergessen. »Wer wusste von Ihren regelmäßigen Besuchen hier im Heim?«, wandte er sich an Melissa.
Die hob ratlos die Schultern. »Meine Eltern, mein Opa und meine Mitbewohnerin. Vielleicht auch einige
Angestellte auf dem Hof.«
»Ihre Eltern kommen nie her?«, fragte Reinders.
Melissa schüttelte den Kopf. »Nein. Genauso wenig wie mein Opa.« Sie kniff die Augen zusammen, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. »Dabei hat Oma Alma alles für sie getan, als es ihr noch gutging. Und es ist ihr Geld, mit dem der Hof
finanziert wird.«
»Sie leben weiterhin auf dem Bauernhof?«
»Nein«, erklärte Melissa Teufel resolut. »Keine Minute länger hätte ich es bei diesen intriganten Egoisten ausgehalten. Ich wohne in einer
kleinen Studenten-WG nahe der Uni.«
»Ich bräuchte eine Liste mit den Namen und Adressen der Personen, die von den Besuchen
bei Ihrer Oma gewusst haben. Wären Sie so nett?«
Melissa nickte und zog einen Rucksack unter ihrem Stuhl hervor. Dann legte sie
einen Collegeblock auf den Tisch und begann zu schreiben.
»Ich bin so froh, dass Edith mir das Baby gebracht hat«, sagte Alma erneut und lächelte. »Ich werde mich darum kümmern. Aber jetzt bin ich schrecklich müde. Können Sie mir das Kind abnehmen, junger Mann? Sind Sie mit diesem Schlagersänger verwandt? Wie heißt er gleich?« Sie blickte Reinders erwartungsvoll an.
»Sie meinen vermutlich Florian Silbereisen«, murrte Reinders und stand auf. Er hasste es, mit dem Schlager-Fuzzi verglichen
zu werden. Vorsichtig nahm er der Frau den Säugling vom Schoß. Augenblicklich kamen Erinnerungen in ihm hoch. Als seine Tochter ein Baby
gewesen war, hatte Familie Reinders noch funktioniert. Mittlerweile lebte seine
Ex mit einem Apotheker zusammen und er sah die inzwischen Elfjährige nur jedes zweite Wochenende.
»So«, erklärte Melissa und stand ebenfalls auf. »Mehr Namen fallen mir nicht ein.« Sie riss das beschriebene Blatt aus dem Collegeblock und reichte es ihm.
Im selben Moment kam Christian Schneider mit einer unscheinbaren Frau mittleren
Alters in den Aufenthaltsraum, die eine Babyschale mit sich trug. »Das ist Judith Bleifuß vom Jugendamt«, stellte er sie vor. »Sie hat eine Pflegefamilie gefunden, wo das Baby untergebracht wird, bis die
Umstände geklärt sind.«
Reinders nickte. Alma-Luise Teufel war glücklicherweise in ihrem Rollstuhl eingeschlafen. So legte er den Säugling vorsichtig in den Babysafe. Judith Bleifuß klickte den Gurt ein und warf eine Decke über Bauch und Füße des Babys. Sie lächelte ihnen freundlich zu und verabschiedete sich eilig. Reinders schaute ihnen
nach und wünschte dem Baby still alles Gute.
»Ich werde Frau Teufel dann jetzt in ihr Zimmer bringen, damit sie sich ausruhen
kann«, erklärte Christian Schneider. »Oder möchten Sie das machen?«, wandte er sich an Melissa.
»Normalerweise gerne, aber durch die Aufregung ist es spät geworden. Ich muss den nächsten Zug erwischen.« Während der Pfleger daraufhin ihre Oma aus dem Raum schob, griff Melissa nach
ihrer roten Jacke, zog sie an und verschloss den Reißverschluss. Sie warf Block und Stift in den Rucksack und setzte ihn auf. »Ich müsste jetzt los«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.