Köstlich killt der Weihnachtsmann - Astrid Plötner - E-Book

Köstlich killt der Weihnachtsmann E-Book

Astrid Plötner

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Beschreibung

Vom Ruhrpott bis ins Sauerland wird gemordet, getrickst, betrogen und gelogen. In 24 Kurzkrimis entartet die besinnliche Zeit. Pfarrer Keule aus Freienohl wundert sich über eine Haschplantage in der Sankt Nikolauskirche. Kommissar Stein ermittelt im Dortmunder Binnenhafen, als am Weihnachtsmarkt schon die nächste Leiche auf ihn wartet. Und während in Schmallenberg ein Hexenhaus in Flammen aufgeht, beseitigen zwei Frauen in Unna ihre lästigen Ehemänner. Als Leckerbissen folgt auf jeden Krimi ein Rezept. Genießbar und vollkommen ungefährlich.

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Seitenzahl: 337

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Astrid Plötner / Anke Kemper

Köstlich killt der Weihnachtsmann

Mörderischer Adventskalender

Zum Buch

Festlich abgemurkst Vom Ruhrpott bis ins Sauerland wird gemordet, getrickst, betrogen und gelogen. In 24 Kurzkrimis entartet die besinnliche Zeit in bizarre Momente des Schreckens. Pfarrer Keule aus Freienohl wundert sich über eine Haschplantage über dem Gewölbe der Sankt Nikolauskirche. Eine gestohlene Krippenfigur und ein Nymphensittich sorgen außerdem für Turbulenzen. Kommissar Stein ermittelt im Dortmunder Binnenhafen wegen des Mordes an einem Koch, als in der Innenstadt mitten im Trubel des Weihnachtsmarkts schon die zweite Leiche auf ihn wartet. Und während im Schmallenberger Raum ein Hexenhaus in Flammen aufgeht, beseitigen zwei genervte Frauen in Unna ihre lästigen Ehemänner. Weitere Tatorte finden sich unter anderem in Winterberg, Arnsberg, Sundern, Wenholthausen, Hagen, Hamm, Fröndenberg und Schwerte. Als Leckerbissen folgt auf jeden Krimi ein Rezept – genießbar und vollkommen ungefährlich.

Astrid Plötner wurde am Rande des Ruhrgebiets im westfälischen Unna geboren, wo sie bis heute lebt. Nach langjähriger Berufstätigkeit im Handel absolvierte sie ein Fernstudium in Schriftstellerei und arbeitet nun als freie Autorin. In den Jahren 2013 und 2014 wurde sie für den Agatha-Christie-Preis nominiert. Seither hat sie zahlreiche Kurzkrimis in Anthologien und mehrere Romane veröffentlicht. www.astrid-ploetner.de

Anke Kemper lebt und arbeitet in Freienohl/Sauerland. Sie schreibt Theaterstücke für Erwachsene und spielt selbst leidenschaftlich Theater und Improvisationstheater und führt Regie. Sie ist Inhaberin des adspecta Theaterverlages. Zwischendurch schreibt sie humorvolle Kurzgeschichten und Krimis sowie kabarettistische Texte für Groß und Klein. www.kempers-art.de

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © KatyaKatya / stock.adobe.com

Zeichnungen von: © Astrid Plötner und Anke Kemper

ISBN 978-3-8392-7670-9

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Vorwort

Das Zimtstern-Tattoo

Zimtsterne in Unna-Massen Astrid Plötner

Rezept: Zimtsterne

Das Ding mit dem Dong

Käse-Fondue in Freienohl Anke Kemper

Rezept: Käse-Fondue für Gemüse

Weihnachtsschmaus im Mörderhaus

Raclette in Kamen Astrid Plötner

Rezept: Raclette-Steak-Pfännchen

Stein-Kalt

Pflaume im Speckmantel am Klosterberg / Meschede Anke Kemper

Rezept: Pflaumen im Speckmantel

Codewort Apfelmus

Rinderrouladen in Dortmund Astrid Plötner

Rezept: Rinderrouladen

Eine Leiche mit Einfluss

Ente süßsauer im Schmallenberger Land Anke Kemper

Rezept: Ente süßsauer mit Ananas-Mangosoße

Vanillekipferl-Blues oder Es ist ein Ross gesprungen

Vanillekipferl in Bönen Astrid Plötner

Rezept: Vanillekipferl

Drei Engel für Charlotte

Marzipanbratapfel mit Vanillesoße in Hirschberg Anke Kemper

Rezept: Marzipan-Bratapfel mit Vanillesoße

Alle Jahre wieder kommt der Gänsedieb

Gans in Fröndenberg Astrid Plötner

Rezept: Gänsebraten

Leichenfledderer in Rock und Bluse

Milchreis mit beschwipsten Kirschen in Langscheid Anke Kemper

Rezept: Milchreis mit beschwipsten Kirschen

Endlich zur Ruhr gekommen

Kartoffelsalat mit Würstchen in Holzwickede Astrid Plötner

Rezept: Kartoffelsalat

Zimmer frei

Hirschbraten in Freienohl Anke Kemper

Rezept: Wildbraten (Reh- oder Hirschbraten, Wildschwein) in Rotwein-Preiselbeersoße

Die Wichtel-Täuschung

Nussecken in Unna Astrid Plötner

Rezept: Nussecken

Und zum Feste zu viele Gäste

Sauerländer Potthucke in Winterberg Anke Kemper

Rezept: Sauerländer Potthucke

Der Pfannkuchen-Junkie

Pfannkuchen in Hamm Astrid Plötner

Rezept: Blaubeer-Pfannkuchen

Ein Traum von Acapulco

Cocktail Acapulco Dream in Jagdhaus Anke Kemper

Rezept: Cocktail Acapulco Dream

Gehackt und um die Ecke gebracht

Grünkohl in Schwerte Astrid Plötner

Rezept: Grünkohl

Hot Chili und Kalte Schnauze

Kalte Schnauze in Wenholthausen Anke Kemper

Rezept: Kalte Schnauze (kalter Hund)

Jan, der böse Weihnachtsmann

Pfefferpotthast in Hagen Astrid Plötner

Rezept: Pfefferpotthast

Hexenhaus

Feuerzangenbowle am Schmallenberger HöhenliftAnke Kemper

Rezept: Feuerzangenbowle

Hörder Heilpunsch

Weihnachtspunsch in Dortmund-Hörde Astrid Plötner

Rezept: Weihnachtspunsch

Tabledance unterm Tannenbaum

Zwiebelkuchen in Arnsberg Anke Kemper

Rezept: Zwiebelkuchen ohne Boden

Oh, du tödliche Tortenzeit

Frankfurter Kranz in Unna Astrid Plötner

Rezept: Frankfurter Kranz

Die letzte Wurst des Jahres

Würstchen im Brotteig in Olsberg-Assinghausen Anke Kemper

Rezept: Bratwurst im Brotteig (mit Porreefüllung)

Viten

Lesen Sie weiter …

Vorwort

Die Weihnachtszeit – die Zeit von leckeren Gerichten, duftenden Tannenzweigen und Gewürzen, üppigen Dekorationen und Lichtern, wohin das Auge reicht, mit ausschweifenden Treffen mit der ganzen Familie und mit Freunden.

Wir haben die friedlichste Zeit des Jahres ein wenig umgekrempelt und lassen in unseren 24 spannenden und unterhaltsamen Krimis mal eine Leiche in der Ruhr verschwinden, schubsen einen unliebsamen Gesellen von einem Turm, morden gezielt mit einem Schuss oder vergiften mit allem, was der Haushalt so hergibt oder der Zufall bereithält.

Und das an den schönsten Orten – von der Ruhrquelle im Sauerland bis in den Ruhrpott – jede auf ihre charmante tödliche Art, gewürzt mit Wortwitz, Spannung und einem passenden Rezept zum Nachkochen – ganz sicher giftfrei.

Wir wünschen gute Unterhaltung und eine friedvolle Weihnachtszeit!

Astrid Plötner und Anke Kemper

Das Zimtstern-Tattoo

Zimtsterne in Unna-Massen Astrid Plötner

Draußen war es längst dunkel. Der Massener Hellweg, der den Verkehr mitten durch den Unnaer Ortsteil Massen führte, wurde von dekorativer Weihnachtsbeleuchtung überspannt. Alle Läden an der Verkaufsstraße hatten an diesem Freitagabend vor dem zweiten Sonntag im Advent bereits geschlossen. In einigen Schaufenstern sah man Weihnachtsgirlanden oder leuchtende Sterne. Ein Schaufenster in einer Seitenstraße wurde von einer Mediabox beleuchtet und verkündete Passanten in wechselnden Bildern die neuesten Lokal-Nachrichten des Hellweger Anzeigers. Obwohl dieser Laden ebenfalls geschlossen war, konnte man im hinteren Bereich noch Licht brennen sehen. Inhaber Robert Jablonski saß mit zwei weiteren Männern an einem kleinen Tisch. Heute würde er nicht pünktlich nach Hause kommen, denn etwas Unfassbares war passiert. Und darüber musste er dringend mit seinen Freunden, dem Journalisten Tom Sperling und dem Lokalpolitiker Oliver Rath, reden.

»Ich hatte heute ein Gespräch mit einer Kundin. Sie ist am Vormittag von Dortmund mit der S-Bahn gekommen und auf unserem Bahnsteig ausgestiegen, als die Kriminalpolizei ebenfalls dort eintraf. Man hat einen Toten auf einer der Wartebänke gefunden.«

Seine Freunde schauten ihn gebannt an. »Und?«, kam es wie aus einem Mund.

»Angeblich hatte der eine Tätowierung am Bein. Die soll ganz frisch gewesen sein, also höchstens ein paar Stunden alt. Und einer der Polizisten hätte das Opfer erkannt.«

»Wer ist er? Und was für eine Tätowierung?«, fragte Oliver Rath.

»Ein Zimtstern-Tattoo«, erwiderte der Ladeninhaber und genoss dabei die überraschten Gesichter seiner Gäste. »Bei dem Toten soll es sich um Steffen handeln. Ich hoffe, ihr wisst, was das bedeutet?«

Tom Sperling und Oliver Rath rissen überrascht die Augen auf. Ihre Mimik drückte Bestürzung aus.

»Wir müssen herausfinden, ob es tatsächlich unser Steffen ist. Und sollte er einem Mord zum Opfer gefallen sein, müssen wir etwas unternehmen. Ich hoffe, da sind wir einer Meinung?«

Seine Gäste nickten erneut. Journalist Tom nippte an seinem Wasserglas, dann lehnte er sich zurück. »Ich werde recherchieren, ob es sich um unseren ehemaligen Freund handelt, und wie er genau zu Tode gekommen ist. Ich habe Kontakte zur Polizei und auch zum Rechtsmedizinischen Institut in Dortmund, wo die Leiche gewiss obduziert wird. Ich melde mich bei euch, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe.« Er stand auf.

»Moment!«, hielt Robert Jablonski ihn zurück. »Setz dich wieder, wir sind hier noch nicht fertig.« Er zog ein geknicktes Papier aus der Gesäßtasche seiner Hose, faltete es auseinander und legte es auf den Tisch. »Habt ihr das auch bekommen?«

Die Männer warfen einen flüchtigen Blick darauf und schüttelten den Kopf. »War das bei dir in der Post?«, fragte Oliver. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Er wischte sie mit dem Handrücken fort und fuhr sich dann nervös durch sein helles Haar.

»Nee, jemand hat es unter der Ladentür durchgeschoben, als ich gerade Mittagspause gemacht habe.« Jablonski nahm das Papier wieder an sich. Er blickte auf den mit Bleistift gezeichneten Zimtstern, über den mit Filzstift ein Totenkopf gezeichnet war. Ob Steffen auch so eine Warnung erhalten hatte? Die schriftliche Drohung, bevor der Mörder zuschlug? Sollte er das nächste Opfer sein? Musste man die Polizei informieren? Aber dann würde diese alte Geschichte ans Tageslicht kommen. Das konnte niemand von ihnen gebrauchen.

»Das muss nichts bedeuten«, versuchte Tom Sperling, ihn mit wenig Überzeugung zu beruhigen. Er hatte sich nicht noch einmal an den Tisch gesetzt und schaute nun auf ihn herab. »Hattest du seit damals noch Kontakt zu ihm oder zu Steffen?«

Robert Jablonski schüttelte den Kopf. »Nein, zu beiden nicht. Er ist ja damals gleich am nächsten Tag nach Kanada geflogen, um sein Studium fortzusetzen. Und Steffen? Wollte der nicht auch studieren? In München, oder? War es nicht Jura?«

Tom hob zaghaft die Schultern. »Ja, kann sein. Keine Ahnung. Ist ja schon über 20 Jahre her. Lässt sich aber gewiss herausfinden. Ich melde mich, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe. Sollte ich so einen Wisch mit Zimtstern bekommen, sage ich euch auch Bescheid.« Er drehte sich um und ging schnellen Schrittes durch den Laden. Der elektrische Eingangsgong ertönte, und die Tür schlug zu.

Oliver Rath stand ebenfalls auf. »Ich mach mich dann auch mal vom Acker, Robert. Halt die Ohren steif!«

Jablonski nickte. »Mach ich. Pass du auf dich auf und sei vorsichtig!« Der Politiker hob grüßend die Hand und verließ den Laden. Jablonski sperrte die Tür hinter ihm zu, dann setzte er sich erneut an den Tisch. Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit.

Es war am Tag vor Heiligabend gewesen. Ziemlich genau vor 25 Jahren. Sie hatten im Sommer ihr Abitur bestanden und sich zum Weihnachtsfest noch einmal treffen wollen, um über ihren jeweiligen Start ins neue Leben zu berichten. Zu siebt waren sie gewesen. Fünf Jungs und zwei Mädels. Außer Oliver, Tom, Robert und Steffen waren noch Kristin, Yvonne und René dabei gewesen. Letzterer war nach seinem ersten Auslandssemester extra aus Kanada angereist. Jeder der Clique hatte ein verpacktes Geschenk mitgebracht, das später einem der anderen zugelost werden sollte.

Die Feier fand bei Oliver statt, dessen Eltern einen Partykeller in ihrem Haus im Winkelweg besaßen. Da die Raths zu einem Skiurlaub nach Österreich aufgebrochen waren, hieß es »sturmfrei«. Bald saßen sie an der Bar und ließen sich von Oliver hochprozentige Cocktails mixen. Kaum jemand sprach über sein »neues« Leben. Man lachte, alberte und tanzte. Als der Alkoholspiegel schon ziemlich gestiegen war, loste Yvonne die Geschenke zu. Und damit begann das Desaster, denn jeder sollte seine Errungenschaft vorführen. Robert wusste bis heute nicht, welcher seiner damaligen Freunde auf die Idee gekommen war, ein Tätowierungsset zu verschenken. Jedenfalls kam Steffen in den Genuss des Sets und wollte es ausprobieren. Er schwankte auf René zu und grinste. Beide hatten sich für das Auslandsstudium in Kanada beworben, aber nur René war erfolgreich gewesen. Das musste Steffen mehr zu schaffen machen, als er zugab. Er befahl Robert, Oliver und Tom, sein Opfer festzuhalten. René wehrte sich mit Händen und Füßen, hatte aber keine Chance gegen uns vier. Als Muster nutzte Steffen einen von den Zimtsternen, die Mutter Rath für die Clique gebacken hatte.

René schrie vor Schmerz. So laut, dass sich Robert irgendwann von den Mädels wegziehen ließ. Aber die anderen machten weiter. Am Ende prangte über Renés Schienbein ein Tattoo, von dem man kaum etwas sehen konnte, weil das Bein mit Blut verschmiert war. René war kreidebleich im Gesicht, er zog sich wortlos das Hosenbein herunter und humpelte aus dem Keller. Die beiden Mädchen folgten ihm. Robert hatte nie wieder von ihnen gehört. Weder von René noch von Yvonne oder Kristin. Renés Eltern lebten schon damals nicht mehr in Massen, sie waren nach Köln gezogen. Zu den Mädchen hatte Robert nie engeren Kontakt gehabt.

Er seufzte und stand auf. Ob René sich nach so langer Zeit plötzlich rächen wollte? Warum hatte er so lange gewartet? Fakt war, es gab einen Toten. Und irgendjemand hatte Steffen ein frisches Zimtstern-Tattoo auf sein Bein gestochen. René musste also zurückgekehrt sein. Robert zog seine Jacke an und griff nach dem Autoschlüssel. Er ging durch den Laden, schloss die Tür auf und trat ins Freie. In dem Moment wurde er von beiden Seiten angegriffen. Zwei mit Sturmhauben maskierte Kolosse stürzten sich auf ihn, schoben ihn durchs Geschäft bis ins Hinterzimmer, wo er auf einen Stuhl gedrückt wurde.

»René?«, keuchte Robert, »bist du das? Was soll der Quatsch? Es tut mir leid, das mit dem Tattoo. Ich wollte das nicht. Ich … ich … ich wollte mich bei dir entschuldigen damals, aber du warst wie vom Erdboden verschluckt.« Robert zitterte am ganzen Körper. Einer der dunkel gekleideten Muskelprotze verschloss ihm den Mund mit Klebeband. Sein Oberkörper wurde samt der Arme an die Rückenlehne des Stuhls gebunden, wobei fast die ganze Rolle Panzerklebeband draufging. Das linke Bein fixierten die beiden am Stuhlbein. Sein rechtes Bein legte einer der Maskierten auf den Sitz eines Stuhls und schob ihm das Hosenbein bis zum Knie hoch.

»Stillhalten!«, zischte der etwas Größere mit grollender Stimme.

Der Kleinere nahm ein Gerät aus seinem Rucksack, das Robert sofort als Tätowier-Maschine erkannte. Ihm wurde übel. Das Summen des Geräts erinnerte ihn an seinen Zahnarzt, zu dem er längst wieder zur Kontrolle gemusst hätte. Robert schloss verzweifelt die Augen. Als er den ersten Stich im Bein spürte, zuckte er zusammen. Die Nadel wurde tief in die Haut getrieben. Er stöhnte, hätte gerne protestiert, aber das Klebeband hinderte ihn. Der Tätowierer arbeitete gewissenhaft. Robert schluckte und öffnete die Augen. Er versuchte, in einer der beiden Gestalten René zu erkennen, aber das war unmöglich. Beide trugen dunkle Jeans, schwarzes robustes Schuhwerk, wattierte Jacken und Sturmhauben, die nur schmale Schlitze für die Augen offenließen. Über die Augen hatten sie getönte Skibrillen gestülpt. Roberts Bein zuckte jedes Mal, wenn der Tätowierer neu ansetzte. »Stillhalten, habe ich gesagt!«, fluchte der jetzt.

Die Stimme kam Robert nicht bekannt vor. Vielleicht hatte René jemanden geschickt, der die Drecksarbeit für ihn erledigte. Sein Bein schmerzte und brannte wie Feuer. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließen die Eindringlinge endlich von ihm ab. Die Tätowier-Maschine verschwand im Rucksack, eine Flasche wurde vor ihm auf dem Tisch abgestellt. Dann kam der Kleinere mit einem Skalpell in der Hand auf ihn zu. Er stellte sich drohend vor ihn. Das Messer näherte sich Roberts Gesicht.

»Lass den Scheiß!«, forderte der andere. »Trenn das Klebeband durch und komm! Wir haben noch zu tun.«

Das Skalpell senkte sich bis zu Roberts Oberarm, wurde am Klebeband angesetzt und ratschte durch die Lagen hinunter bis zum Stuhlsitz. Der Maskierte ließ es in den Rucksack fallen und deutete auf die Flasche. »Trink das!«, befahl er. Dann verließen die beiden den Laden.

Robert riss seinen rechten Arm vom Klebeband ab und zerrte die Streifen von seinem Pullover. Er entfernte den Kleber an Mund und Füßen und zog sofort sein Smartphone aus der Hose. Dann wählte er die Nummer von Tom, doch der Journalist meldete sich nicht. »Verdammt«, rief er verzweifelt und versuchte es bei Oliver, aber der nahm das Gespräch auch nicht entgegen. Was sollte Robert jetzt machen? Befand er sich noch in Gefahr? Bei Steffen hatte es auch geheißen, das Tattoo sei nur wenige Stunden alt gewesen. Was, wenn die Maskierten ihm vor dem Laden erneut auflauerten? Robert eilte zur Eingangstür und verschloss sie zweimal. Danach zog er sich ins Hinterzimmer zurück und setzte sich erneut auf den Stuhl, auf dem er gefesselt worden war. Sollte er die Polizei rufen? Sein Blick fiel auf die Flasche. »Trink das«, hatte der Maskierte ihm befohlen. Robert nahm das Fläschchen in die Hand. Russischer Wodka. Hochprozentig. Seit dem Vorfall vor 25 Jahren hatte Robert keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken, und dabei würde er es auch heute belassen.

Die Tätowierung am Unterschenkel brannte. Er zog das Hosenbein etwas hoch und warf einen besorgten Blick darauf. Schwarze Tinte, genau wie bei René damals. Die Spitzen des Sterns waren abgerundet. Robert wusste, dass das Tattoo einen Zimtstern darstellte. Er zog seine Winterjacke über und verließ den Laden durch die Hintertür. Vorsichtig äugte er in die dunkle Seitenstraße. Niemand zu sehen. Robert trat auf den Bürgersteig und lief Richtung Hellweg. Die Weihnachtsbeleuchtung über der Straße brannte noch. Auch jetzt um 22 Uhr fuhren hier zahlreiche Autos entlang. Das gab ihm Sicherheit. Er überquerte den Massener Hellweg an der Ampelkreuzung und lief schnellen Schrittes am Modehaus und dem Optiker vorbei. Kurz darauf erreichte er den Gemeindeplatz von Massen, auf dem die Buden des Weihnachtsmarktes standen, der jedes Jahr zum zweiten Advent stattfand, um diese Zeit natürlich längst geschlossen war. Robert hetzte daran vorbei, würdigte weder den dahinterliegenden Hofladen noch den Lebensmittelmarkt eines Blickes, sondern lief den Büddenberg hoch, wo Tom Sperling wohnte.

Sein Haus lag völlig im Dunkeln. Auf Roberts Klingeln öffnete niemand. Tom wohnte allein. War er noch nicht zu Hause? Hatte er sofort mit seiner Recherche begonnen? Robert drehte verzweifelt um und lief denselben Weg zurück, den er gekommen war, bog an der Ampelkreuzung jedoch nach links ab. Bald darauf erreichte er den Winkelweg. Sollte die Geschichte von damals in dem Haus enden, wo sie einst begonnen hatte? Oliver wohnte immer noch im Haus seiner Eltern, die nach Bayern umgesiedelt waren. Er hatte viel renoviert und lebte mit Frau und drei Kindern zusammen, die an diesem Wochenende jedoch bei den Großeltern übernachteten. Soweit Robert wusste, gab es sogar den Partykeller noch. Das Anwesen der Familie Rath lag etwas zurückgebaut von der Straße. In jedem Fenster hing ein leuchtender Stern, was Robert wie ein böses Omen vorkam. Er erklomm die zwei Stufen zum Hauseingang und lauschte. Kein Laut drang nach draußen. Da stimmte etwas nicht! Robert schlich ums Haus. Durch die Terrassentür, die zum Garten führte, konnte er in den Wohn- und Essbereich blicken. Er erschrak, als er Tom und Oliver, an zwei Stühle gefesselt, sitzen sah. Tom erlitt gerade dieselbe Prozedur wie Robert eben. Die beiden Maskierten mussten von seinem Laden sofort zu Oliver gegangen sein. Warum Tom bei ihm war, darauf konnte Robert sich keinen Reim machen. »Ich muss die Polizei informieren«, murmelte er. »Wer weiß, was die Kerle sonst noch vorhaben. Immerhin ist Steffen tot.«

»Den Anruf kannst du dir sparen!«

Robert schnellte herum. Vor ihm stand eine dunkle Gestalt. »Bist du das, René?« Im Dunkel des Gartens konnte man die Gesichtszüge des Mannes nicht erkennen.

»Ja, ich bin es tatsächlich«, erklärte René. »Und ich genieße den Anblick meiner ehemaligen Freunde, die nun endlich das bekommen, was sie lange verdient haben. Schade, dass ich die Prozedur bei dir nicht beobachten konnte.«

»Es tut mir leid, d… das von damals«, stotterte Robert. Ob René eine Waffe in seiner Jackentasche hielt? Würde er gleich abdrücken und zu Ende bringen, was seine Kumpane begonnen hatten? »D… du mu… musst mich nicht töten.«

René brach in schallendes Gelächter aus. »Du hast Angst? Geschieht dir recht.« Er schaute wieder zu Tom und Oliver. Seine Kumpane hatten die Tätowierungsprozedur gerade beendet. »Wir gehen jetzt da rein.« Er drückte die Terrassentür auf und betrat das Wohnzimmer.

Robert folgte ihm. Eine Flucht hätte nichts gebracht. Mit dem Brennen im Bein hätte er niemals schnell genug laufen können. Er beobachtete die Maskierten, die Tom und Oliver mit dem Skalpell das Klebeband aufschnitten und sich dann vor die Terrassentür stellten.

»Im Gegensatz zu meinem Tattoo wurden eure von Profis gestochen«, sagte René nun. Dann zog er seine Jeans hoch und schob das Bein vor. Über dem Schienbein war eine hässliche Narbe zu sehen. »Das hat sich damals schrecklich entzündet. Ihr glaubt gar nicht, was ich für Schmerzen hatte. Wenn ich nicht noch an Heiligabend zurückgeflogen wäre nach Kanada, hätte ich euch verklagt oder sonst was mit euch gemacht.« Er setzte sich auf die Couch, streckte die Beine von sich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Robert, Tom und Oliver starrten ihn schweigend an.

»Ich habe mir immer geschworen, irgendwann werde ich mich an euch rächen«, fuhr René fort. »Dass es fast 25 Jahre dauern würde, hätte ich nicht gedacht, aber ich habe erst jetzt Zeit dazu gefunden. So was braucht ja eine ordentliche Vorbereitung.« Er schob seine rechte Hand zurück in die Jackentasche.

»Das mit deiner Narbe tut mir schrecklich leid«, sagte Robert und fühlte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht fiel. »Aber deshalb musst du uns doch nicht erschießen.« Er ließ Renés Hand nicht aus den Augen. Auf wen würde er zuerst zielen?

René starrte ihn verwundert an. »Erschießen, wieso?«

Robert hob die Schultern. »Steffen ist tot. Du hast ihm erst das Tattoo stechen lassen und ihn dann umgebracht. Wie auch immer.«

Der ehemalige Freund stand auf. Dann brach er in Gelächter aus und schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. Tom und Oliver hatten sich inzwischen vom Klebeband befreit und kamen näher.

»Was soll der Scheiß?«, rief Tom. Er riss ein Papier aus seiner Jacke, auf dem ein Zimtstern mit einem Totenkopf abgebildet war. »Das lag eben bei mir im Briefkasten, deshalb bin ich gleich zu Oliver. Aber den hattet ihr ja schon überwältigt, und ich musste zusehen, wie er dieses Tattoo gestochen bekam. Das kann ich alles nachvollziehen, aber du kannst uns doch wegen dieser Sache von damals nicht alle umbringen.«

René konnte sich kaum beruhigen. Tränen liefen seine Wangen herab. »Nein«, sagte er endlich. »Das werde ich auch nicht. Ich wollte nur, dass ihr eine bleibende Erinnerung an meine Rache bekommt. Die habt ihr ja jetzt.«

»Und warum musste Steffen sterben?«, fragte Robert Jablonski.

René grinste. »Schon mal was von Fake-News gehört? Die Kundin, die dir von Steffens Tod erzählt hat, das war meine Frau. Es hat nie einen Toten am Massener Bahnhof gegeben.«

»Wo ist Steffen?«, fragte Tom.

»Er wohnt in München«, erklärte René. »Aber er kommt jedes Jahr zum zweiten Advent seine Eltern besuchen. Die wohnen seit einigen Jahren wieder in der Nähe der Sonnenschule. Einen Tag muss ich mich wegen der Rache an ihm also noch gedulden. Ihr werdet ihn doch nicht warnen? Yvonne hat mir übrigens damals erzählt, dass Steffen das Tattoo-Set selbst gekauft und sie beschworen hat, es ihm zuzulosen. Der Zimtstern an meinem Bein war keine spontane Idee. Er wollte mich erniedrigen, wegen des Kanada-Studiums.«

Die frisch Tätowierten starrten René überrascht an. »Also ich halte dicht«, sagte Robert. »Da kannst du Gift drauf nehmen.« Oliver und Tom nickten.

René grinste und ging auf die Terrassentür zu. »Nichts für ungut, Leute. Mein Rückflug nach Kanada geht bereits Sonntagnachmittag. Wir werden uns also nicht mehr sehen. Frohe Weihnachten.«

Robert blickte ihm nach, wie er mit den Tätowierern durch den Garten verschwand. Der gestochene Zimtstern an seinem Bein brannte immer noch. Aber das schlechte Gewissen, das ihn seit jenem Vorfall vor 25 Jahren besonders zur Weihnachtszeit plagte, war verschwunden.

Rezept: Zimtsterne

Zutaten für den Teig:

500 g Mandeln

300 g Puderzucker

2 TL Zimt

2 Eiweiß

2 EL Mandellikör

Für die Glasur:

1 Eiweiß

125 g Puderzucker

(das übrige Eigelb kann man gut für Spritzgebäck verwenden)

Mandeln, Puderzucker und Zimt mischen. 2 Eiweiß und Mandellikör zugeben und mit Knethaken zu einem glatten Teig verrühren. Teig ca. 1 cm dick auf einer mit Puderzucker bestäubten Fläche ausrollen. Sterne ausstechen, Form immer wieder in Puderzucker tauchen. Eiweiß steif schlagen, Puderzucker nach und nach zugeben. Sterne mit Glasur bestreichen und im vorgeheizten Backofen auf unterster Schiene bei 150 Grad ca. 10 – 15 Minuten backen.

 

Das Ding mit dem Dong

Käse-Fondue in Freienohl Anke Kemper

Pfarrer Keule schmiss wütend das Telefon auf seinen Schreibtisch. »Nicht das auch noch!«, rief er verzweifelt und lehnte sich tief atmend in seinem wackeligen Schreibtischsessel zurück.

»Gott vergelt’s, Gott vergelt’s«, schnatterte sein Nymphensittich Josef.

»Ach, Josef, das hilft mir jetzt auch nicht, halt mal deinen Schnabel«, antwortete der Pfarrer genervt. Am liebsten würde er den Vogelkäfig mit einem Tuch zudecken, damit der Sittich endlich Ruhe gab, aber das Tier würde protestieren, es war noch nicht Schlafenszeit, und der schlaue Vogel wusste das. Keule hatte seinem Bruder versprochen, gut auf Josef aufzupassen, als der im Frühjahr von München nach Melbourne ausgewandert war. Der Pfarrer war sich sicher, dass sein jüngster Bruder dem Sittich mit Absicht das dämliche »Gott vergelt’s« vorher beigebracht hatte. Etwas anderes konnte das Tier auch nicht von sich geben. Keule wühlte in seinen Unterlagen. Er hatte jetzt alle Elektriker im gesamten Sauerland abtelefoniert, niemand war in der Lage, vor dem Heiligen Abend die Elektronik der Kirchenglocken in der Sankt-Nikolaus-Kirche zu reparieren. Einige hatten sogar gemeint, wie er denn auf die Idee käme, dass es an der Elektronik läge. Wenn doch eine Glocke funktionierte und die anderen nicht, müsse ein ganz anderes Problem vorliegen. Und schon hörte sich Pfarrer Keule die verschiedensten mehr oder weniger unnötigen Tipps der Fachleute an. Und als ob das noch nicht genug war, wollte ihm einer für den telefonischen Rat 50 Euro in Rechnung stellen, ein anderer hielt den Anruf des Pfarrers für einen Witz, und ein weiterer teilte ihm mit, dass er es vielleicht vor Ostern einrichten könne, mal vorbeizuschauen.

Keule war vor zehn Jahren von Essen in die kleine Gemeinde Freienohl gekommen. Sein geräumiges Pfarrhaus lag nur 200 Meter entfernt von der Sankt-Nikolaus-Kirche. Es gab ein Pfarrheim direkt neben seinem Haus, wo Jung und Alt ihre Treffen abhalten konnten, und sogar eine kleine Bücherei, die sonntags nach der heiligen Messe geöffnet hatte. Im letzten Jahr hatten engagierte Freienohler dafür gesorgt, dass ein altes Gebäude, das früher einmal eine Schule gewesen war, neben der Kirche abgerissen wurde, um dort einen schönen begrünten Hof zu gestalten, den sogenannten Pausenhof. Pfarrer Keule war sehr zufrieden mit seiner Arbeitsstelle in dieser kleinen Gemeinde. Alles war beschaulich und ruhig hier auf dem Land, so wie er es sich auch gewünscht hatte nach seinem Umzug von Essen. Josef unterbrach Keules Gedanken mit lautem Geschnatter.

»Das hilft mir jetzt wirklich nicht weiter«, sagte der Pfarrer erneut. Was für ein fürchterlicher Gedanke, dass an Weihnachten nur ein schepperndes Gedingel durch den Ort Freienohl tönen würde, um die Gemeinde in die Kirche zu rufen. Ein richtiges Geläut brauchte einen hallenden Dong, anders ging das einfach nicht. So etwas hatte es in der Geschichte des Ortes sicherlich noch nicht gegeben. Der Pfarrer ärgerte sich, dass er sich nicht eher um die Reparatur der Glocken gekümmert hatte. Er wusste es schon seit drei Wochen, dass da etwas nicht stimmte. Aber täglich kam etwas anderes dazwischen, und wenn er recht überlegte, war das auch immer wichtiger, als sich um das Geläut der Kirche zu kümmern. Jetzt war ein Tag vor Heiligabend, und er hatte noch keine Lösung gefunden. »Um alles muss ich mich selbst kümmern. Wenn Weihnachten vorbei ist, mache ich drei Kreuzzeichen«, sagte er zu sich, und wie auf Kommando antwortete sein Nymphensittich mit: »Gott vergelt’s, Gott vergelt’s.«

Dieses Jahr schien alles aus den Fugen zu geraten. Erst hatte der Organist wegen einer Erkältung abgesagt, und dann musste er den Messdienern einen Fünfer versprechen, damit sie über die Weihnachtstage Dienst machten. Ausgerechnet jetzt hatte seine Sekretärin unerwartet Urlaub eingereicht, weil sie zu ihrer kranken Mutter in den Schwarzwald wollte. Der Küster hatte Höhenangst und würde sicherlich nicht in den Glockenturm hochklettern, um mal nach dem Rechten zu sehen. Dem Frührentner wurde schon schwindelig, wenn er nur nach oben blicken musste, behauptete er immer zu seiner Entschuldigung, wenn es darum ging, die Weihnachtsbäume in der Kirche zu schmücken. Einen kurzen Moment überlegte Keule, ob er seine Putzfrau fragen sollte. Frau Besering schien unerschütterlich und komplett angstfrei, wenn sie auf Stühlen, Tischen und Leitern rumkletterte, um Spinnweben zu fegen. Sie schaffte es, hinter allem herzujagen, was nicht ins Pfarrhaus gehörte, und setzte auf Wunsch des Pfarrers jede Spinne einzeln wieder aus. Nein, der Glockenturm war kein Vergleich, das konnte er ihr nicht zumuten. Wenn da etwas passierte … Er seufzte erneut. Es blieb jetzt also alles an ihm hängen.

Ding-Dong. Die Türglocke. »Es ist offen!«, brüllte Pfarrer Keule und atmete tief durch.

Der Küster, Willi Schmidt, kam vorsichtig ins Büro. Den Kragen seines Jankers hoch gestellt, den Cordhut tief ins Gesicht gezogen. Verstohlen schielte er unter seiner Hutkrempe hervor. »’tschuldigung, Herr Pfarrer«, stammelte er. »Aber der Josef ist weg.«

»Sie meinen das Jesuskind«, antwortete Keule knapp. An diese jährliche Prozedur hatte er bei all der Aufregung heute noch gar nicht gedacht. Die Dorfjungend machte sich einen Spaß daraus, vor Weihnachten das Jesuskind aus der Krippe zu entwenden, um es anschließend bei ihm gegen ein paar Bierchen wieder einzutauschen.

»Nein, nein. Das Jesuskind liegt in seiner Krippe. Aber der Josef ist weg«, stammelte Schmidt erneut. »Sonst wäre ich doch nicht vorbeigekommen, um Sie zu stören«, fügte er entschuldigend hinzu.

»Nun dann gab es mal eine kleine Programmänderung. Ich bin mir sicher, dass ich den Josef heute Abend wiederbekomme. Sonst noch etwas?« Pfarrer Keule sah den Küster fragend an.

»Nein, also, aber … ich … also … Sie wissen ja, was ich davon halte, dass die Kirche geöffnet bleibt, also …«

»Genau, Herr Schmidt, die Kirche ist immer offen für alle. Dazu stehe ich mit meinem Namen. Wenn es sonst nichts mehr gibt? Schönen Nachmittag noch.« Pfarrer Keule hob die Hand zum Gruß und widmete sich den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Das Gespräch war beendet.

»’tschuldigung«, hörte er den Küster noch sagen, bevor er das Haus verließ.

Der Pfarrer hatte es aufgegeben. Er würde heute auch keinen Elektriker oder Monteur oder irgendeinen mutigen Menschen im Ort finden, der in den Glockenturm kletterte. Er nahm sich vor, es am frühen Morgen selbst zu versuchen. Für heute konnte er nichts mehr ausrichten. Außerdem würde es gleich dunkel werden, und bei der spärlichen Beleuchtung im Glockenturm würde er ganz sicher nicht nach dem Rechten sehen. Vielleicht war es auch nur ein kleines Problem, das er selbst lösen konnte, und mit Gottes Hilfe würde es sowieso irgendwie gehen. Darauf konnte er vertrauen. Ob mit Glocken oder ohne, das war doch nicht das Wichtigste an der Weihnachtsbotschaft. Die Predigt war so gut wie fertig, und ein bisschen Ablenkung war jetzt genau richtig. Schnellen Schrittes eilte er in seine geräumige Küche, räumte einen Stapel Teller aus dem Schrank auf den Küchentisch, legte Besteck dazu sowie drei Pakete Toastbrot, die er für diesen Anlass immer kaufte. Vier Bierkisten und zwei Paletten Eier hatte er auf seiner Terrasse kaltgestellt. Die jährliche Pfandübergabe fand er immer sehr amüsant. Er mochte die Jugendlichen aus dem Ort sehr und genoss es, mit ihnen Zeit zu verbringen. Eigentlich mal eine perfekte Abwechslung zu seinen anderen Pflichten. Auch wenn Frau Besering immer mit ihm schimpfte, wenn sie am anderen Morgen den verklebten Herd vom traditionellen Sauerländer Eierbacken säubern musste. Er befürchtete nur, dass seine jungen Freunde doch schon ziemlich betrunken waren, wenn sie es nicht mehr schafften, das Jesuskind vom Josef zu unterscheiden. Ding-Dong. Da waren sie.

Pfarrer Keule stöhnte laut, als der Wecker nach seinem gezielten Schlag von der Kommode fiel. Wie auf Kommando startete das Gedingel der 7 Uhr-Glocke. »Ach nee«, seufzte er und rieb sich die Stirn. Sein Kopf schmerzte, seine Zunge hatte einen pelzigen Belag, und seine Augen brannten. Er hatte zu viel getrunken. Ausgerechnet die Tochter von Frau Besering hatte mit Mutters Thermomix drei Flaschen Eierlikör angerührt, den er unbedingt probieren musste. Ihr Freund hatte Papas Whiskey-Vorrat geplündert, und ein anderer hatte noch eine Lage Kümmerlinge vom Schützenfest übriggehabt. Es war ein rauschendes und sehr lustiges Fest, das bis nach Mitternacht dauerte, aber eine Übergabe hatte es nicht gegeben. Die Jugendlichen hatten beteuert, dass sie dieses Mal gar nicht in die Kirche gekommen waren, weil der Küster alle Eingänge wegen der defekten Glocken verschlossen hatte. Sie fanden es sehr amüsant, dass ausgerechnet Josef fehlte, und ließen die wildesten Spekulationen vom Stapel. Pfarrer Keule war es egal, er hatte noch irgendwo einen Ersatzjosef auf Lager, auch wenn der proportional nicht zu den anderen Figuren passte. Was ihn ärgerte, war, dass der Küster die Kirche nun doch zusperrte, obwohl er es ihm immer wieder untersagte. Mindestens eine Tür musste für die Gemeinde geöffnet bleiben, da bestand er drauf. Auch wenn mal etwas abhandenkam, so schlimm konnte das ja nicht sein. Eine Krippenfigur konnte man ersetzen, und was sollte die dämliche Ausrede mit den defekten Glocken. Auch die Haustür des Pfarrers stand immer für alle offen. Dafür stand er ein und dafür war er bekannt. Keule ärgerte sich, dass Schmidt sich einfach nicht daran hielt. Mit dem Küster würde er später ein Machtwort sprechen, heute stand erst einmal ein ganz anderes Problem an. Er wollte das Ding mit den Glocken lösen. Zumindest nahm er sich vor, es zu versuchen. Bei dem Gedanken, dass er in seinem Zustand die engen Holzstiegen zur Kuppel empor und anschließend die Leiter in den Glockenturm hinaufsteigen sollte, wurde ihm direkt übel.

»Ach nee«, seufzte er wieder und strampelte die Bettdecke beiseite.

Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, der Kaffee schmeckte ihm nicht, und an feste Nahrung war gar nicht zu denken. Schnell räumte er die leeren Flaschen auf die Terrasse, beseitigte den Müll, stellte Schnapsgläser und Teller in die Spüle und ließ Wasser über die angetrockneten Essensreste fließen, bevor er alles in die Spülmaschine packte. In ein paar Minuten würde seine Putzfrau auf der Matte stehen, und ihr Gezeter konnte er heute nicht ertragen. So viel stand fest. Als die Spülmaschine surrte und er halbwegs zufrieden mit seinem Werk war, eilte er in sein Büro, um den Vogel zu füttern, bevor er sich auf den Weg in die Kirche machte.

Pfarrer Keule stockte für einen Augenblick der Atem, als er den Lichtschalter im Büro betätigte. Josef war weg. Samt Käfig. Das war jetzt nicht witzig. Er hatte nie Einwände gehabt, wenn die Jugendlichen die Krippenfiguren entwendeten, um sie gegen Bier einzutauschen, aber das ging zu weit. Der Nymphensittich war empfindlich. Nicht auszudenken, wenn er den Transport bei der Kälte da draußen nicht überstehen würde. Keule ärgerte sich, dass er am Abend zu viel getrunken hatte und ihm noch nicht einmal aufgefallen war, dass seine Gäste beim Hinausgehen einen Abstecher in sein Büro gemacht hatten, um offensichtlich den Vogel zu entwenden. Auf der Kommode, wo sonst der Käfig platziert war, stand die vermisste Krippenfigur, darunter lag ein Zettel. Der Pfarrer warf wütend die Figur in eine Ecke des Zimmers und faltete den Zettel auseinander. »Sorgen Sie dafür, dass die Kirche geöffnet bleibt, sonst sehen Sie Ihren Josef nie wieder«, stand dort in einer kritzeligen Schrift.

»Das geht zu weit. Das geht definitiv zu weit«, brüllte Keule, schnappte den Generalschlüssel der Kirche, warf sich seinen Mantel über und eilte hinaus. »Mitkommen«, brüllte er seiner Putzfrau entgegen, die gerade die Auffahrt hinaufkam und direkt auf dem Absatz kehrtmachte, um dem wütenden Pfarrer zu folgen.

Pfarrer Keule öffnete das Hauptportal und betrat die Kirche.

»Darf ich fragen …«, begann Frau Besering völlig außer Atem.

»Nein, Ruhe«, blaffte Keule und lauschte in die Stille. So oft ihm sein Nymphensittich mit seinem »Gott vergelt’s« auf die Nerven gegangen war, jetzt wünschte er sich, das Tier würde sich irgendwie bemerkbar machen. Der Pfarrer eilte durch das Seitenschiff zur Krippe, öffnete den Beichtstuhl, schaute in jede Bankreihe, unter den Altar und sogar in den Tabernakel. Kein Vogel zu sehen.

»Das Christkind backt«, rief Frau Besering aufgeregt vom rechten Seitenschiff herüber und deutete zur Orgelbühne. Keule blickte entnervt nach oben und sah den rötlichen Lichtschein, der seitlich am Deckengewölbe zu erkennen war. Der Pfarrer zögerte nicht lange. Mit langen Schritten eilte er das Hauptschiff hinunter.

»Sie halten hier die Stellung«, befahl er seiner Putzfrau.

»Das können Sie vergessen«, antwortete diese resolut und eilte in flinken Trippelschritten hinter ihrem Chef her.

Der Weg nach oben war beschwerlich. Vor allem in Keules Zustand. Je höher es ging, desto schmaler wurden die Holzstiegen, und die Luft wurde stickiger. Auf der Holzplattform angekommen, die über dem Gewölbe lag, bot sich ihnen ein surreales Bild. Pfarrer Keule musste sich vor Schreck einen Moment am Geländer festhalten. Frau Besering schob sich zielsicher an ihm vorbei. »Blumen«, sagte sie ungläubig.

»Hanf«, antwortete ihr Chef leise.

»Jesus, Maria und Josef«, stotterte Frau Besering und bekreuzigte sich mehrmals.

»Gott vergelt’s, Gott vergelt’s«, begrüßte Josef die Ankömmlinge.

Die komplette Plattform war mit Kisten und Eimern, gefüllt mit Hanfpflanzen, übersät. Es mussten an die 100 sein, die unter einer Plane, überflutet von Rotlicht, ihrem Gedeihen und ihrer Wirkung entgegenwuchsen. Der Vogelkäfig mit dem Nymphensittich stand auf einer Kiste mittendrin. Die Plane war mit Seilen kuppelförmig zu einem Zeltdach bis zum Turm hochgezogen und an den Klöppeln der großen Glocken befestigt. Keule atmete tief durch. Immerhin wusste er jetzt, warum die Glocken nicht läuteten. Und was er auch sicher wusste: dass er beim Bischof einiges zu erklären hatte.

Obwohl er seit dem Morgen keine Ruhe gefunden und kaum etwas gegessen hatte, fühlte sich Pfarrer Keule an diesem Heiligen Abend einfach großartig. Nie zuvor war die Kirche derart überfüllt gewesen. Alle Sitzplätze waren belegt, und in den Gängen drängelten sich die Menschen. Der Josef stand wieder an seinem Platz in der Krippe, und alles schien so, als wäre nie etwas geschehen. Keule hatte bereits Interviews für die Tageszeitung gegeben, und sogar das Fernsehen war da gewesen, um live von der Haschplantage in der Sankt-Nikolaus-Kirche zu berichten. Auch wenn Keule wusste, dass die wenigsten wegen seiner Predigt hier waren, genoss er die Aufmerksamkeit heute besonders. Die Polizei hatte die Täter schnell ausfindig machen können, da sie einige Spuren in der Kuppel der Kirche hinterlassen hatten und sie bereits aktenkundig waren. Der Hanf war schnell abtransportiert und die Glocken von ihrer Last befreit. Und somit der Tatort Kirche passend zum Fest wieder freigegeben. Die beiden jugendlichen Täter aus dem Nachbarort hatten gewusst, dass die Kirche immer geöffnet war, und den riesigen Raum über der Kuppel für einen großartigen Platz ihrer Plantage befunden. Auch weil sie wussten, dass dieser Teil der Kirche nur betreten wurde, wenn die Kirchturmuhr auf Sommer- oder Winterzeit umgestellt werden musste, und ihr Vorhaben vor neugierigen Blicken geschützt bleiben würde. Dass die beiden großen Glocken nicht schlagen würden, wenn sie eine schwere Plane an den Klöppeln befestigten, war ihnen nicht bewusst gewesen. »Wen interessiert denn schon so ein Gebimmel!«, hatten sie nur gesagt. Weil der Küster sie hin und wieder unwissentlich einsperrte, hatten sie die Idee, den Pfarrer zu erpressen, damit er veranlasste, dass die Kirche geöffnet blieb. Und weil sie auch wussten, dass am Tag vor Heiligabend die Dorfjugend beim Pfarrer ausgiebig feierte, war das der passende Augenblick, um durch die stets geöffnete Tür ins Pfarrhaus zu gelangen, um den Nymphensittich zu entführen. Keule konnte dem Bischof und auch den Kripobeamten überzeugend erklären, dass man den violetten Lichtstrahl oberhalb der Orgelbühne nicht bei einer voll beleuchteten Kirche erkennen konnte, und dass es den Adleraugen von Frau Besering zu verdanken war, dass überhaupt etwas entdeckt worden war. Dem Küster konnte man auch keine Vorwürfe machen, da der Frührentner nicht schwindelfrei war und niemals zum Glockenturm hinaufstieg. Fest stand: Die Kirche würde von nun an nur zu bestimmten Zeiten für die Gemeinde geöffnet bleiben, und auch die Haustür des Pfarrers musste immer verschlossen sein.

Am heutigen Heiligen Abend war er nach dem Festgottesdienst bei der Familie des Küsters zum Fondueessen eingeladen. Frau Besering hatte ihm eine Flasche Eierlikör eingepackt, die er mitnehmen sollte, und dem Pfarrer mit den Worten: den müsse er unbedingt mal probieren, auch eine geschenkt. Wie gut, dass der Nymphensittich die ganze Prozedur gut überstanden hatte. Keule legte behutsam ein Tuch über den Vogelkäfig, bevor er sich auf den Weg zu den Schmidts machte. »Gott vergelt’s, Gott vergelt’s«, hörte er Josef schnarren, als er sorgsam die Haustür hinter sich schloss.

Rezept: Käse-Fondue für Gemüse

Zutaten:

300 g Gruyère (oder anderer Rohmilchkäse), fein gerieben

300 g Emmentaler, fein gerieben

1 Knoblauchzehe

300 ml Weißwein

1 EL Speisestärke

2 EL Kirschwasser

weißer Pfeffer, Paprikapulver und Muskat

2 Baguette

Mehrere Gemüsesorten wie Paprikastücke, Brokkoli, Champignons, Frühlingszwiebeln, Karotten etc.

Den Fonduetopf mit der Hälfte der zerdrückten Knoblauchzehe ausreiben. Wein in den Topf gießen und bei kleiner Hitze langsam erwärmen. Den Käse portionsweise hineingeben und unter ständigem Rühren schmelzen lassen. Die andere Hälfte der Knoblauchzehe pressen und zum Käse geben. Die Speisestärke mit dem Kirschwasser verrühren, zum Käse geben und unter Rühren nochmal aufkochen lassen. Fondue mit Pfeffer, Paprika und Muskat würzen.

Die Flamme im Rechaud entzünden. Gemüse und Baguette aufspießen und eintauchen. Als Beilage eignen sich verschiedene Salate und Dips.

 

Weihnachtsschmaus im Mörderhaus

Raclette in Kamen Astrid Plötner

Dieser erste Advent vor fünf Jahren, der hat sich in mein Hirn gefräst wie ein glühendes Brandeisen in das Hinterteil einer Kuh. Noch heute kann ich kaum fassen, was an jenem Tag geschehen ist. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände, ein falscher Satz zur falschen Zeit, und die folgenden Ereignisse ließen sich nicht mehr aufhalten.

Wir waren gerade in unser neues Haus in Kamen eingezogen. Ein hübsches Einfamilienhaus aus dem 19. Jahrhundert mit großem Garten und von Grund auf saniert. Es lag in der Germaniastraße nahe der berühmten Sportschule Kaiserau