Meuchelei in der Weihnachtsbäckerei - Astrid Plötner - E-Book
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Meuchelei in der Weihnachtsbäckerei E-Book

Astrid Plötner

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Beschreibung

Advent in Ruhrpott und Sauerland mit 24 Türchen voll krimineller Energien. So eskaliert im Dortmunder Stadion eine Familienfeier beim Adventssingen. Während Frau Rose in Eslohe den Verdacht hat, dass ihr Mann sie loswerden will, betrügt eine Witwe am Möhnesee mit dem Schneeballsystem. Der Grinch interessiert sich für die Fröndenberger Sparkasse, und in Unna endet ein Zirkusbesuch tödlich. Nicht zuletzt setzt die Briloner Bestsellerautorin einen perfiden Plan im Escape-Room in die Tat um. Auf jeden Krimi folgt ein Rezept - köstlich und völlig ungiftig!

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Astrid Plötner / Anke Kemper

Meuchelei in der Weihnachtsbäckerei

Mörderischer Adventskalender

Zum Buch

Tödliche Nascherei Advent in Ruhrpott und Sauerland. 24 Türchen voll krimineller Energien, die manchmal sogar mörderisch werden. Die Motive sind genauso vielfältig wie die Verbrechen selbst. In Dortmund eskaliert eine Familienfeier beim großen Adventssingen im Stadion. Am Möhnesee will eine bankrotte Witwe wieder auf die Füße kommen, indem sie betuchte Gäste ausnimmt. Ob ihr das mit dem raffiniert erdachten Schneeballsystem beim Teeplausch gelingt? Mit dem Ruhestand beginnen die Probleme bei Ehepaar Rose aus Eslohe. Ist Frau Roses Verdacht, dass ihr Mann sie loswerden will, begründet? Der Grinch vom Lunapark in Fröndenberg hat es auf die Sparkasse abgesehen. Plant er tatsächlich einen Banküberfall? Und während im »Zirkus Travados« in Unna ein Mann auf der Toilette zu Tode kommt, konstruiert Bestsellerautorin Gerlach in Brilon einen speziellen Escape-Room, um sich an ihren ehemaligen Freunden zu rächen. Auf jeden Krimi folgt das passende Rezept. Lecker und völlig ungiftig!

Astrid Plötner lebt am Rande des Ruhrgebiets. Nach langjähriger Berufstätigkeit im Handel absolvierte sie ein Fernstudium in Schriftstellerei und arbeitet heute als freie Autorin. Sie schreibt vorwiegend Kriminalromane, die im Ruhrpott spielen. Aus dieser Serie sind »Todesgruß« und »Enkeltrick« im Gmeiner-Verlag erschienen, ebenfalls der Kurzkrimiband »Köstlich killt der Weihnachtsmann« gemeinsam mit Anke Kemper.

www.astrid-ploetner.de

Anke Kemper lebt und arbeitet in Freienohl/Sauerland. Sie schreibt Theaterstücke für Erwachsene, spielt selbst leidenschaftlich Theater und Improvisationstheater und führt Regie. Sie ist Inhaberin des adspecta Theaterverlags. Zwischendurch schreibt sie humorvolle Kurzgeschichten und Krimis sowie kabarettistische Texte für Groß und Klein.

www.kempers-art.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung von: © Illustration Lutz Eberle mit Elementen von KatyaKatya / stock.adobe.com

Zeichnungen von: © Astrid Plötner und Anke Kemper

ISBN 978-3-7349-3064-5

Vorwort

Wir haben es schon wieder getan! Pünktlich zu Weihnachten – eigentlich der besinnlichsten Zeit des Jahres – haben wir viel kriminelle Energie freigesetzt. Eingebettet in ein Ambiente aus duftenden Tannenzweigen, herrlichen Weihnachtsdekorationen und genussvollen oder auch feierlichen Momenten wird vom Ruhrpott bis ins Sauerland gemeuchelt, getrickst und betrogen.

Nach dem großen Erfolg unseres ersten mörderischen Adventskalenders mit Rezepten unter dem Titel »Köstlich killt der Weihnachtsmann« folgt hier also nun Teil zwei. Wir bringen Abwechslung auf den Tisch! Deshalb halten sich die Rezepte mit selbst gefertigten Zeichnungen, die im jeweiligen Krimi manchmal eine Haupt-, manchmal auch nur eine Nebenrolle spielen, dieses Mal vorrangig an süße Naschereien aus der Weihnachtsbäckerei.

Die 24 spannenden und verzwickten Storys könnten unterschiedlicher nicht sein. In einigen haben wir ein besonderes Augenmerk auf außergewöhnliche Tatorte gelegt. So geht die literarische Reise in einen Escape-Room, in den Signal-Iduna-Park, in eine Schokoladenmanufaktur, in den Zirkus, in ein B&B und in den Kletterwald, um nur einige zu nennen.

Wir hoffen, wir konnten Ihre Neugier wecken, und wünschen Ihnen nun genussvolle und spannende Unterhaltung sowie eine frohe und besinnliche Adventszeit!

Anke Kemper und Astrid Plötner

Bier auf Wein, das kann tödlich sein

Bierkuchen in Dortmund Astrid Plötner

Der erste Advent fiel in diesem Jahr auf den ersten Dezember. Ein Datum, das wie ein böses Omen den Tag verdunkelte, als sei es der Hölle entstiegen. Am ersten Dezember war Dieter ums Leben gekommen und sie vermisste ihn schmerzlich seit nun schon 25 Jahren. Gudrun stand am Wohnzimmerfenster im dritten Stock und behielt die Straße im Auge. Ihre Freundin Christa musste jeden Moment kommen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie auf der anderen Straßenseite seitlich der Mauer parken, die das Gelände des Brauereimuseums von der Steigerstraße abgrenzte. Eine Parklücke war noch frei, aber ob Christa mit ihrem Citroën da hineinpasste? Sie fuhr mit 75 Jahren zwar noch recht souverän, aber das Parken war nie ihre Stärke gewesen.

Gudrun riss ihren Blick von der Straße los, als der Wasserkessel in der Küche zu pfeifen begann. Sie eilte an den Herd, ließ das kochende Wasser in die Kanne mit dem blauen Zwiebelmuster laufen, wo sie bereits einige Löffel gemahlenen Kaffee hineingegeben hatte. Erneut warf sie einen prüfenden Blick auf den Esstisch im Wohnzimmer. Die weiße Damastdecke bestickt mit Tannenzweigen und Kerzen lag gestärkt und gebügelt darauf, das blau-weiße Kaffeeservice war für drei Personen gedeckt: für Christa und Gudrun und pro forma für Laura Robe. In der Mitte thronte der Adventskranz, an dem eine Kerze brannte. Direkt daneben stand der Bierkuchen. Dafür nutzte Gudrun stets ihre Gugelhupf-Backform und streute zum Schluss nur Puderzucker darüber. Genau so, wie sie ihn damals von Laura Robe bekommen hatte. Das Kaffeetrinken am ersten Dezember war zu einem Ritual geworden. Das Mindeste, was sie für ihre beste Freundin Christa tun konnte, nachdem sie ihr aus dem Schlamassel geholfen hatte. Das Desaster begann mit dem Tod von Dieter vor genau 25 Jahren.

*

Mittwoch, 1.12.1999

Dieter arbeitete als Fahrer bei der Brauerei gegenüber und kam nach Feierabend wieder einmal völlig erschöpft nach Hause. Sein Job hatte ihn jahrzehntelang erfüllt. Das Ausliefern der Getränke machte ihm Freude, war er doch selbst ein leidenschaftlicher Biertrinker. Seine Fuhren gingen ins gesamte Ruhrgebiet und die Marktleiter der Super- und Getränkemärkte schätzten seine Zuverlässigkeit. Er war immer mit Elan bei der Sache gewesen. Der verging ihm jedoch mit dem neu eingestellten Disponenten, der nun seit etwa einem halben Jahr den Arbeitsablauf des Unternehmens auf den Kopf stellte. Neue Dienstpläne, neue Routen, neue Kunden. Und wehe, er fuhr zehn Minuten zu spät los, weil er die Getränkekisten nicht schnell genug verladen hatte. Markus Robe schien ein regelrechter Choleriker zu sein, denn Dieters fröhliche Stimmung verflog von Tag zu Tag.

Auch heute betrat er nach einer Zehn-Stunden-Schicht völlig fertig mit fahlem Gesicht und hängenden Schultern die Wohnung, warf seine Jacke über eine Stuhllehne in der Essecke und ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen. »Ich schaff das so nicht mehr, Gudrun«, stöhnte er. »Der Robe hat mich aufm Kieker, das sach ich dir. Ich hatte ’ne Route, die mich von einer Baustelle inne nächste und von einem Stau innen anderen geführt hat. Ich glaube, der Typ will mich loswerden, mich so lange striezen, bis ich von selbst kündige.«

Gudrun setzte sich ihrem Mann gegenüber auf das Sofa. Besorgt betrachtete sie ihn. »Der macht dich kaputt, Dieter! Rede mal mit deinem Chef. So können die nicht mit dir umgehen. Nicht nach so vielen Dienstjahren.«

Dieter schloss die Augen und lehnte sich zurück. »30 Jahre maloche ich gezz inner Brauerei und dann so was.« Er schüttelte den Kopf. »Das halte ich nicht mehr lange aus, Gudrun.« Er sah sie verzweifelt an.

Gudrun nickte und stand schwungvoll auf. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Dieter so demotiviert zu sehen, das schmerzte. »Jetzt sorge ich erst mal fürs Essen.« Sie eilte in die angrenzende Küche und servierte kurz darauf gebratenes Steak mit Salzkartoffeln und Böhnchen. »Möchtest du ein Pilsken dazu?«

Dieter schüttelte den Kopf. »Nee, von Bier hab ich die Schnauze voll. Mach mal den Rotwein auf, den der Nachbar von unten mir letzten Monat zum Fünfzigsten geschenkt hat. Den gönnen wir uns gezz.«

Eine halbe Stunde später – Merlot und Steak hatten fantastisch geschmeckt – schrillte das Telefon.

»Nanu? Wer ruft denn um diese Zeit noch an?«, wunderte sich Gudrun, während sie sich von der Couch hochmühte und zum Hörer griff. »Ja bitte?«

»Robe hier!«, drang eine herrische Stimme an ihr Ohr. »Ihr Mann soll mal schnell rüberkommen. Er muss noch eine Fuhre machen.«

»Auf gar keinen Fall!«, erwiderte Gudrun resolut und ärgerte sich zum wiederholten Male darüber, dass der Robe glaubte, Dieter würde zu jeder Tages- und Nachtzeit springen, nur weil er direkt gegenüber der Brauerei wohnte. »Es ist halb zehn durch und Dieter hat Wein getrunken.«

»Jetzt holen Sie Ihren Mann ans Telefon oder er braucht gar nicht mehr zur Arbeit zu kommen!«, blaffte Robe.

Dieter war inzwischen aufgestanden und nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Was gibt es?«, fragte er genervt und lauschte eine Weile. Dann nickte er und beendete das Gespräch. »Das dauert nicht lange, Gudrun!«, versprach er. »Einem Großkunden ist bei ’ner Weihnachtsfeier das Bier ausgegangen. Der hat sich bei über hundert Gästen verkalkuliert. Ich soll mit dem Bulli 20 Kästen rüberfahren.«

»Und das schafft der Klugscheißer nicht selbst? Du hast drei Gläser Wein intus, Dieter!«, mahnte Gudrun.

Er griff bereits nach seiner Jacke. »Ich bin schnell zurück, versprochen. Robe ist noch nie Bulli gefahren, aber er begleitet mich und will dann zurückfahren.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und verließ eilig die Wohnung.

Gudrun erledigte den Abwasch und setzte sich vor den Fernseher. Als Dieter gegen Mitternacht noch nicht zurück war, begann sie sich Sorgen zu machen. Irgendwann zog sie sich eine karierte Wolldecke über die Beine und schlief bei laufendem Fernsehprogramm ein.

Das Klingeln der Türglocke riss sie aus einem Traum, an den sie sich bereits mit dem Aufstehen nicht mehr erinnerte. Verschlafen blickte sie auf ihre Armbanduhr, es war bereits nach 3 Uhr morgens. Ob Dieter den Hausschlüssel vergessen hatte?

Erneut klingelte es. Gudrun quälte sich müde zum Türdrücker und betätigte ihn. Sie öffnete die Wohnungstür und sah, wie im Treppenhaus das Licht anging. Da stiegen zwei Personen die Stufen in den dritten Stock hinauf. Kam Dieter in Begleitung?

Nachdem die Ankömmlinge die letzte Treppenbiegung genommen hatten, erschrak Gudrun. Zwei uniformierte Polizeibeamte standen vor ihr. Die Mützen hielten sie vor dem Bauch. Noch bevor sie den Mund aufmachten, wusste Gudrun, dass etwas Schlimmes passiert war.

»Ihr Mann ist mit dem Bulli der Brauerei ungebremst vor einen Baum gefahren«, erklärte einer der Polizisten leise. »Unser herzliches Beileid. Der Notarzt sagt, er sei sofort tot gewesen. Ist vielleicht kein Trost, aber bei einem Alkoholgehalt von fast drei Promille im Blut hat er vermutlich nicht viel gespürt.« Er legte Gudrun kurz die Hand auf die Schulter, dann drehten die beiden Beamten sich um und setzten im Hinuntergehen ihre Dienstkappen wieder auf.

*

Sonntag, 19. Dezember 1999

Der Heilige Abend rückte näher. Noch nie hatte sich Gudrun so einsam und verloren gefühlt wie in diesem Jahr ohne ihren geliebten Dieter. Sie aß kaum noch und fror erbärmlich. Ihre Wohnung musste sie auf 28 Grad heizen, damit sie es einigermaßen aushielt. Und immer noch fragte sie sich, warum Dieter so viel Alkohol im Blut gehabt hatte. Bei drei Gläsern Wein wäre er bei seiner Statur nicht mal auf ein Promille gekommen. Er musste also noch ordentlich gebechert haben, und das machte Gudrun stutzig, denn er trank normalerweise nie, wenn er fahren musste.

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Gleich würde ihre beste Freundin Christa kommen und sie wollte ihr nicht schon wieder verheult begegnen. Gemeinsam würden sie einen Spaziergang zum Nordfriedhof machen und ein Licht für Dieter zum vierten Advent anzünden. Die vier Kilometer hin und zurück würden ihr guttun.

Es klingelte. Christa war eine halbe Stunde zu früh dran. Gudrun stand auf und warf einen Blick in den Garderobenspiegel neben der Wohnungstür. Ein eingefallenes Gesicht mit rot unterlaufenen Augen und dicken Ringen darunter blickte ihr entgegen. Sie seufzte und betätigte den Türdrücker.

Kurz darauf klopfte es an der Wohnungstür und nicht Christa, sondern eine Frau um die 30 mit strohblonden Haaren und blauen Augen trat in die Wohnung. In ihren Händen hielt sie einen in Alufolie gewickelten Kuchen. »Entschuldigen Sie die Störung«, begann sie, »mein Name ist Laura Robe und ich möchte Ihnen im Auftrag meines Gatten unser Mitgefühl zum Tode Ihres Mannes aussprechen. Den Bierkuchen hat unsere Haushälterin selbst gebacken.« Sie hielt ihr das in Alufolie gewickelte Paket entgegen.

Gudrun starrte die Frau an, deren dürre Beine in engen Jeans und kniehohen Stiefeln steckten. Dazu trug sie einen mit Lammfell gefütterten Ledermantel und einen Schal, der nach feinster Merinowolle aussah.

Mit einem Schlag wich Gudruns Trauer einer blinden Wut. »Was bilden Sie sich ein?«, fauchte sie. »Ihr dämlicher Kuchen bringt mir meinen Mann nicht zurück.« Sie wollte Laura Robe aus der Wohnung schieben, aber diese erwies sich als kräftiger als gedacht.

»Hören Sie mir einen Moment zu. Markus wollte das gewiss nicht. Auf der Weihnachtsfeier ging es hoch her, immer wieder wurde er zum Trinken animiert. Mein Mann verträgt aber keinen Alkohol, deshalb hat er Ihrem Dieter die Gedecke zugeschoben.«

Gudrun riss den Kuchen an sich, knallte ihn auf die Kommode in der Diele und machte endlich den Weg frei. »Sagen Sie das noch mal! Dieter musste Bier und Klaren in sich reinschütten und dann hat Ihr Ehemann zugelassen, dass er sich hinters Steuer setzt?« Sie brüllte die letzten Worte völlig außer sich und warf die Wohnungstür ins Schloss.

Laura Robe schoss das Blut ins Gesicht. Sie trat in die Küche, lockerte ihren Schal und zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf. »Hier ist ja eine Bullenhitze«, stöhnte sie.

Da das Wohnzimmer an der Frontseite des Hauses lag, erreichte man den Balkon nur über die Küche. Gudrun öffnete die Tür und Laura Robe drängte ins Freie. »Dieter hätte sich mit dem Alkoholpegel niemals freiwillig ans Steuer gesetzt!« Sie stellte sich neben Laura Robe auf den Balkon und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das glaube ich Ihnen sogar«, erklärte die Ehefrau des Disponenten. Mit den hohen Pfennigabsätzen war sie einen Kopf größer als Gudrun. Sie starrte über die Dächer des Dortmunder Nordens. »Was für eine hässliche Wohngegend«, meinte sie abschätzig. »Dass Sie sich hier wohlfühlen … Nun ja, ich wollte nur, dass Sie die Umstände des Unfalls verstehen.«

»Was gibt es da zu verstehen? Ihr Mann hat Dieter mit Alkohol abgefüllt und ihn nicht daran gehindert, mit dem Auto zu fahren. Das ist unterlassene Hilfeleistung!«, schluchzte Gudrun.

»Markus wollte erst selbst fahren, aber er kam mit dem großen Bulli nicht klar. Da hat er sich ein Taxi gerufen. Da der Firmenwagen am nächsten Tag in der Brauerei gebraucht wurde, musste Ihr Mann ihn zurückfahren, obwohl er sich zunächst geweigert hat. Markus konnte ja nicht ahnen, dass …«

Gudrun schüttelte fassungslos den Kopf. »Ihr Mann hat einen völlig Betrunkenen zum Autofahren genötigt. Das ist Mord!«, rief sie voller Abscheu.

»Nun mäßigen Sie sich mal, gute Frau! Bei der Polizei haben wir zu Protokoll gegeben, dass Ihr Mann ein Säufer war, der kein Maß kannte. Bei der Version sollten Sie ebenfalls bleiben, falls Sie die betriebliche Witwenrente nicht riskieren wollen.« Sie stand mit dem Rücken zum Geländer, das ihr nur bis zum Po reichte.

Gudrun überlegte nicht. Mit unmäßiger Wut trat sie auf Laura Robe zu und versetzte ihr einen heftigen Stoß vor die Brust. Diese stolperte überrumpelt rückwärts, strauchelte und versuchte, sich am Geländer festzuhalten. Sofort bückte sich Gudrun und griff an die Storchenbeine. Sie wuchtete sie hoch und im nächsten Moment stürzte Laura Robe schreiend in die Tiefe.

Ihr Herz klopfte wild, als Gudrun über die Brüstung schaute. Die Ehefrau des Disponenten lag mit seltsam verdrehter Haltung auf dem Rücken im Hinterhof. Über ihr gebeugt ein Mann im Mantel. Sie erkannte ihn. Es war Dieters Kollege Rolf, mit dem er sich ab und zu auf ein Bierchen getroffen hatte. Zweimal war er auch in ihrer Wohnung gewesen. Soweit sie wusste, wohnte er am Borsigplatz. Jetzt hielt er seinen Kopf mit dem Ohr dicht an den Mund von Laura Robe, gerade so, als würde er ihren letzten Worten lauschen.

*

25 Jahre später

Christa kam pünktlich an diesem ersten Dezember, an dem sie sich jedes Jahr trafen, um zu Dieters Andenken einen Bierkuchen zu essen. Heute kam Christa jedoch mit ernstem Gesicht die Stufen hinauf. Ihr Blick wirkte düster und das lag nicht am Rheuma, das ihr das Treppensteigen erschwerte. Sie legte einen Brief auf die Kommode im Flur, bevor sie sich aus ihrem Mantel schälte. »Wir werden erpresst«, sagte sie und fuhr sich vorm Spiegel mit den Fingern durch ihr schlohweißes Haar. »Der Kerl von damals braucht Geld. Du weißt schon, der, der unsere Aussage bestätigt hat.« Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den gedeckten Tisch.

»Rolf? Der Ex-Kollege von Dieter?«, fragte Gudrun überrascht. Sie erinnerte sich noch gut an den schlanken, rothaarigen Mann, obwohl sie ihn seit damals nicht gesehen hatte. Er hatte alles bestätigt, was Christa und Gudrun zu Protokoll gegeben hatten. Er habe die Frau des Disponenten bis zur Wohnungstür gebracht und ihr dort den Bierkuchen übergeben. Laura Robe sei von Christa und Gudrun zum gemeinsamen Trauern beim Kaffeetrinken erwartet worden. Er habe auf die Robe warten sollen, um sie nach Hause zu fahren. Da es sehr windig gewesen sei an jenem Tag, habe er sich in den Innenhof gestellt. Eine halbe Stunde später sei ihm die Frau des Disponenten neben die Füße geknallt. Er habe sich sofort über sie gebeugt und sie habe gewispert, sie sei gestolpert und über die Brüstung gestürzt. Der gerufene Notarzt habe nur noch ihren Tod feststellen können.

»5.000 Euro will er«, erklärte Christa und teilte mit dem bereitliegenden Messer ein Stück vom Bierkuchen ab. »Er wird jeden Moment hier sein, um das Geld in Empfang zu nehmen.«

»Wie? Du hast ihn herbestellt? Warum?«, fragte Gudrun und setzte sich völlig perplex.

»Na«, sie mampfte genüsslich, »ich habe ihm gesagt, er kann die 5.000 hier abholen, wir hätten unsere Ersparnisse zusammengekratzt. Natürlich habe ich ordentlich aufgedreht und Verzweiflung vorgeheuchelt.« Sie lehnte sich zurück und wischte sich mit dem Handrücken die Krümel vom Mund.

Obwohl Christa drei Jahre älter war als sie selbst, hatte Gudrun sie bislang für geistig fit gehalten. Jetzt kamen Zweifel auf. »Hast du das Geld? Wieso hast du nichts gesagt? Wo soll ich jetzt auf die Schnelle meinen Anteil hernehmen?«

»Wir werden nicht bezahlen« erwiderte Christa trocken. »Wir müssen uns den Kerl vom Hals schaffen. Stell dir vor, er sagt der Polizei die Wahrheit! Laura Robe hat ihm damals ins Ohr geflüstert, dass sie von dir gestoßen wurde. Er hat gelogen, weil er Mitleid mit dir hatte und weil er selbst in der Brauerei schlecht behandelt wurde. Mit seinen 75 Jahren will er nun sein Gewissen erleichtern.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir können nicht riskieren, dass er zur Polizei geht. Ich möchte einen Großteil meines Lebensabends nicht wegen einer Falschaussage hinter Gittern verbringen.«

Gudrun sackte in sich zusammen. »Er hat 25 Jahre geschwiegen, Christa. Ich zahle einfach die 5.000. Die bekomme ich schon zusammen. Rolf wird mir bestimmt einen Aufschub gewähren. Warum nur hast du nicht vorher mit mir gesprochen?«

Christa nahm sich ein zweites Stück Kuchen. »Hm«, schwärmte sie und schloss die Augen. »Der Bierkuchen schmeckt fantastisch.«

»Christa!«, rief Gudrun verzweifelt. Sie spürte, wie ihr Blutdruck in die Höhe schoss. Sie sah sich bereits im Gefängnis verrotten. »Jetzt rede endlich.« Die Türglocke ertönte. »Verdammt, da ist er schon«, jammerte Gudrun und konnte sich das verkniffene Grinsen im Gesicht ihrer Freundin nicht erklären.

»Nun mach schon auf! Mit dem Kerl werden wir fertig, Gudrun!«, meinte sie nur und schnitt drei weitere Stücke Kuchen ab, die sie auf die drei Teller verteilte. »So ein Bierkuchen als Henkersmahlzeit ist doch nicht das Schlechteste.« Sie grinste.

Gudrun schüttelte entsetzt den Kopf. Was hatte Christa vor? Wollte sie Rolf etwa auch über die Balkonbrüstung schubsen? Das Geländer war immer noch recht niedrig und so, wie sie Rolf in Erinnerung hatte, war der größer als Laura Robe mit ihren hohen Stiefelabsätzen. Mit zitternden Fingern betätigte sie den Türöffner und wartete mit pochendem Herzen an der Wohnungstür. Als Rolf die letzte Biegung nahm, sah sie, dass er einen riesigen Weihnachtsstern nach oben schleppte. Verwirrt trat Gudrun einen Schritt zur Seite, um ihn in die Wohnung zu lassen. »Hallo, Rolf«, murmelte sie leise.

»Schönen ersten Advent«, erwiderte er und drückte ihr den roten Christstern in die Hand. »Hat Christa es dir schon gesagt?«

Gudrun folgte Rolf ins Wohnzimmer, wo er wie selbstverständlich seine Jacke über die Stuhllehne hängte, sich neben Christa setzte und zärtlich ihre Hand ergriff. »Wir werden zusammenziehen. Da können wir uns ein bisken gegenseitig unterstützen«, erklärte er, »Christa meinte jedenfalls, ich soll ab gezz an eurem jährlichen Ritual teilnehmen.« Er goss sich Kaffee in die Tasse. »Ich liebe Prüttkaffee.«

Gudrun ließ sich ächzend auf den Stuhl gegenüber der beiden fallen. »Du hast mich verarscht!«, warf sie Christa vor und wusste nicht, ob sie erleichtert oder wütend sein sollte.

Christa nickte. »Ich konnte nicht anders«, meinte sie lachend. »Jedes Jahr, wenn wir uns zum Bierkuchen getroffen haben, hast du gezittert, dass uns der Rolf irgendwann verraten würde. Und dann habe ich ihn im Sommer in der Stadt getroffen. Ich habe ihn spontan auf einen Kaffee eingeladen und dabei haben wir auch über die alte Geschichte geredet.«

»Ich wär nicht im Traum drauf gekommen, euch zu verpfeifen«, meinte Rolf und nahm einen großen Bissen vom Kuchen. »Die Laura Robe und ihr Mann«, fuhr er mampfend fort, »das waren Sklaventreiber. Am liebsten hätte ich den Markus Robe hinter seiner Alten vom Balkon geschupst, aber er war ja nicht dabei gewesen, und deshalb musste ich den noch eine Weile inner Brauerei ertragen. Genau genommen bis zum vorzeitigen Ruhestand.«

Gudrun atmete auf. Endlich war auch sie in der Lage, den Bierkuchen zu kosten. Er schmeckte in der Tat vorzüglich. Das einzig Gute, das den schrecklichen Tag von damals begleitet hatte. Sie sah in die glücklichen Gesichter von Christa und Rolf und bemerkte erleichtert, dass sie ihre Ängste, doch noch des Mordes überführt zu werden, nach 25 Jahren endlich begraben konnte.

Rezept: Bierkuchen

Zutaten für den Teig:

250 g Mehl

150 g Zucker

150 ml helles Bier

4 Eier

2 TL Backpulver

¼ TL Salz

1 Pck. Vanillezucker

2 EL Butter

Für den Zuckerguss:

250 g Puderzucker

2 EL Bier

Mehl sieben und mit Backpulver und Salz vermischen, beiseitestellen. Zucker mit Eiern und Vanillezucker fünf Minuten lang auf höchster Stufe aufschäumen, danach vorsichtig das Mehlgemisch unterheben. Das Bier bis kurz vor dem Siedepunkt erwärmen, Butter schmelzen. Beides unter leichtem Rühren zum Teig geben und eine Gugelhupf-Form fetten. Teig in die Form geben.

Backzeit: 50 bis 60 Minuten bei 180 °C Ober-/Unterhitze/160 °C Umluft.

Kuchen abkühlen lassen. Für die Zuckerglasur den Puderzucker mit dem Bier anrühren (muss dickflüssig bleiben). Kuchen damit bestreichen.

Tee und Tratsch

Scones mit Frischkäse und Marmelade am Möhnesee Anke Kemper

Nelly hatte kaum geschlafen. Dieses Mal nicht aus Sorge. Sie hatte die halbe Nacht damit zugebracht, im Internet zu recherchieren. Jetzt glaubte sie, die Lösung für all ihre Probleme gefunden zu haben. Genauer gesagt für die Probleme ihrer Chefin Lisbeth Diederich, die damit auch ihre eigenen waren. Sie arbeitete ihr halbes Leben für Lisbeth und konnte sich nicht vorstellen, mit Ende 50 einen Neubeginn zu wagen. Sie liebte das Haus, das sich in exklusiver Lage am Südufer des Möhnesees befand, den Garten und die wunderschöne Landschaft, die Wanderwege ringsherum und ihre Ausflüge zum Möhneturm. Nelly Vogt und die mittlerweile 70-jährige Lisbeth Diederich hatten sich im Laufe der Jahre angefreundet. Unter dem Mantel der Verschwiegenheit, verstand sich. Nach außen hin mimte Lisbeth die Herrin des Hauses, die Frau Direktor, wie sie überall genannt wurde, und behandelte Nelly wie ihre Hausangestellte – stets freundlich, aber bestimmt. Nelly war das recht, sie wollte nicht, dass mit ihr anders umgegangen wurde. Zumal sie die vermeintlich standesgemäßen Freundinnen ihrer Chefin, die einmal wöchentlich zum Bridge antanzten, nicht ausstehen konnte und nicht mehr als nötig mit ihnen zu tun haben wollte. Sie war jedes Mal erleichtert, wenn sie die Damen bedient und beköstigt hatte, sodass sie sich mit einem guten Buch in ihre eigene Welt zurückziehen konnte.

Ihre Chefin hatte ein Faible für England. Seit sie in jungen Jahren geheiratet hatte, hatte sie ihren Ehemann bei jeder Geschäftsreise ins Königreich begleitet. Nach einer komplizierten Knie-OP war ihr das irgendwann nicht mehr möglich gewesen und der Herr Direktor reiste von da an mit seiner Sekretärin. Das führte unweigerlich dazu, dass er irgendwann nicht mehr in Lisbeths Haus und auch nicht mehr an ihrer Seite erwünscht war, aber ihre Liebe zu allem, was aus England kam oder damit zu tun hatte, war geblieben. Fast täglich musste Nelly frische Scones backen, die Lisbeth zur Tea-Time um vier wünschte. Standesgemäß saß sie dann in ihrem original Chesterfield-Sessel am Teetischchen im Wintergarten mit Blick auf den Garten, der zur Herbst- und Winterzeit extra für den schönen Schein aufwendig beleuchtet wurde, damit Tee und Scones in angemessenem Ambiente verzehrt werden konnten. Die dazugehörige Clotted Cream bereitete Nelly schon lange nicht mehr zu. Der zeitliche Aufwand hierfür war ihr zu hoch. Nelly hatte einen wunderbaren Ersatz, bestehend aus Frischkäse, aufgepeppt mit fetter Sahne, gefunden, um die Masse cremig zu machen, und hatte Lisbeth davon überzeugen können. Dass die Erdbeermarmelade dazu selbst gemacht sein musste, stand außer Frage. Nelly kochte zur Sommerzeit fast täglich frische Erdbeermarmelade auf Vorrat ein, damit sie zur übrigen Jahreszeit das süße, leckere Beiwerk zu den Scones stets zur Verfügung hatte. Die Früchte kaufte sie direkt vom Obsthof in der Soester Börde, der nur wenige Kilometer entfernt lag.

Lisbeth saß bereits am gedeckten Tisch und blätterte lustlos durch die Tageszeitung, als Nelly mit einer Kaffeekanne den Frühstücksraum betrat.

»Guten Morgen, Lisbeth«, sagte Nelly freundlich und goss unaufgefordert den Kaffee ein.

»Ach, guten Morgen, Nelly«, antwortete Lisbeth leise. Sie trug ihre Sonnenbrille und Nelly wusste, dass sie wieder geweint hatte. Deine eigene Schuld, du dumme Nuss, hätte Nelly am liebsten geschrien. Nutzte aber nichts mehr. Das Geld war weg. Lisbeth hatte sich nach der Trennung von ihrem Mann auf eine großzügige monatliche Zahlung eingelassen, die sie mit vollen Händen ausgegeben hatte, um ihren gewohnten Lebensstandard halten zu können. Dabei hatte sie das Kleingedruckte übersehen, das besagte, dass nach dem Ableben des Herrn Direktor auch die Zahlungen ausbleiben würden. Sein Tod lag nicht mal ein halbes Jahr zurück und Lisbeth war nicht mehr flüssig. Nellys Anregung, die Kunstsammlung und die Pelze zu verkaufen, um schnell an Geld zu kommen, war auf taube Ohren gestoßen. Lisbeth hielt stur daran fest, ihren Status niemals aufgeben zu wollen.

Nelly nahm zwei gefaltete Blatt Papier aus ihrer Kittelschürze und platzierte sie auf dem Tisch. »Was ist das?«, wollte Lisbeth wissen, faltete sorgfältig die Zeitung zusammen und strich lustlos über das Papier.

»Unsere Rettung. Also, deine Rettung.«

»Wie kann das sein?«

»Lies es, und du weißt, was wir machen werden.«

»Ach. Wirklich? Erzähl es mir bitte.« Lisbeth nippte an der Kaffeetasse und lehnte sich zurück.

Nelly räusperte sich, stellte sich neben ihre Chefin und begann zu erklären: »Es geht hierbei um ein altbewährtes System, das Menschen dazu veranlasst, Geld zu investieren.«

»Was soll mich daran retten? Ich habe nichts zu investieren, das hatte ich dir doch erklärt. Und fang nicht wieder davon an, dass ich die Kunstwerke veräußern soll«, erwiderte Lisbeth, nahm ihr Taschentuch aus einem gehäkelten Täschchen und schnäuzte sich vornehm.

»Es geht auch eher darum, dass andere investieren. In dich, sozusagen«, fuhr Nelly fort.

»Du sprichst in Rätseln.«

»Wir müssen dich als Produkt des finanziellen Erfolges verkaufen mit einem versprochenen Zinssatz von monatlich, sagen wir, zehn Prozent und die Leute werden Schlange stehen und dir das Geld nachwerfen. Lies das in Ruhe, ich mache schnell die Pfannkuchen«, sagte Nelly und verschwand in die Küche. Als sie knappe zehn Minuten später mit einem Tablett dampfender Pfannkuchen zurückkam, hatte Lisbeth ihre Sonnenbrille durch die Lesebrille ersetzt und brütete über den Text, den Nelly ihr gegeben hatte.

»Mhm«, sagte Lisbeth schließlich. »Interessant.«

»Interessant?«, Nelly tat entrüstet. »Das ist die Chance!«

»Diese Dame, diese Frau …«

»Adele Spitzeder«, führte Nelly fort.

»Genau. Das hat sie ja toll eingefädelt, aber wenn ich das richtig lese, ist sie aufgeflogen und im Gefängnis gelandet.«

»Tja, dumm gelaufen. Wird uns nicht passieren.«

»Ach, und warum nicht?«

»Weil wir nur Leute ansprechen, denen es viel zu peinlich wäre zuzugeben, darauf reingefallen zu sein und unversteuertes Bargeld gehortet zu haben.«

Lisbeth antwortete nicht. Sie nahm sich einen Pfannkuchen, bestrich ihn mit Erdbeermarmelade und begann zu essen. Nelly zog einen Stuhl heran und setzte sich dazu.

»Und wen genau meinst du damit?«, fragte Lisbeth schließlich.

»Na, nehmen wir mal deine Bridge-Damen, die hier jeden Montag auftauchen, sich bedienen lassen und den Tratsch des Dorfes in die Welt tragen, während sie sich dabei gegenseitig zu übertrumpfen versuchen.«

»Mhm«, meinte Lisbeth.

»Wenn du denen so ganz nebenbei erzählst, dass du ein spektakuläres, gewinnbringendes Investment getätigt hast, wollen sie das auf jeden Fall auch. Da bin ich mir sicher.«

»Mhm.«

»Ganz sicher«, wiederholte Nelly. »Weiß schon jemand, dass du pleite bist?«

Lisbeth schreckte auf. »Um Gottes willen, das darf niemals nach außen getragen werden. Ich habe es nur dir erzählt, und du hast mir versprochen, das Geheimnis zu hüten.«

»Aber ja, keine Sorge. Wenn außer deiner Bank niemand davon Ahnung hat, umso besser, du musst nur ein bisschen plaudern, so ganz nebenbei, und sie springen direkt darauf an. Wirst sehen, du bist ihr Vorbild.«

»Oh, Nelly, das halten meine Nerven nicht aus.« Lisbeth schluchzte an Nellys Schulter.

Ab diesem Zeitpunkt schlief Nelly nur noch stundenweise. Sie hatte knapp drei Tage Zeit, um ihren Plan Schritt für Schritt vorzubereiten. Am folgenden Bridge-Montag mussten sie starten. Die Zeit wurde knapp. Lisbeth hatte mit einem zurückhaltenden Nicken zugestimmt und Nelly mit: »Ich vertraue dir«, uneingeschränkte Handlungsvollmacht erteilt. Das Schwierigste war, dass sich die Zeiten, seit Adele Spitzeder das Schneeballsystem im 19. Jahrhundert groß gemacht hatte, drastisch geändert hatten. Die Bankenaufsicht, EZB, BaFin und weitere wichtige Behörden und Institutionen machten einen Betrug im großen Stil und auf lange Sicht fast unmöglich. Trotz ihrer Recherchen kannte sich Nelly nicht genügend damit aus. Womit sie sich allerdings auskannte, war der Kryptomarkt.

Der Gärtner war’s. Roland Schopp. Der Frührentner war für fast alle Gärten in dieser Straße auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zuständig, auch für Lisbeths. Während der Winterzeit räumte er die Wege vom Schnee frei, ab Februar schnitt er wieder die Bäume und Sträucher. Er und Nelly hatten sich schnell angefreundet, gingen regelmäßig in ihrer Freizeit am und um den Möhnesee wandern, mieteten bei gutem Wetter ein Ruderboot oder verabredeten sich auf einen Kaffee. Roland hatte sich von seinem Neffen alles über Bitcoin und Co. erklären lassen und dieses Wissen an Nelly weitergegeben. Erst durch Erzählen, dann hatten die beiden für Nelly ein Wallet eingerichtet und die ersten Käufe getätigt. Die Begeisterung bei Nelly hielt sich in Grenzen, da sie wusste, wie spekulativ dieser Handel war, und sie ihr überschaubares Einkommen lieber konventionell sparte. Jetzt aber war sie Feuer und Flamme. Trotzdem kam sie nicht umhin, Roland in ihre Pläne einzuweihen, auch wenn sie ihr Versprechen Lisbeth gegenüber damit brach. Aber Lisbeth hatte ja auch ihr Wort gebrochen, indem sie Nelly eine Anstellung auf Lebenszeit zugesichert hatte. »Für dich ist gesorgt, solange du lebst«, hatte sie versprochen. Große Worte, nichts dahinter. Weil sich die Ereignisse überschlugen, brauchte Nelly für dieses Projekt eine vertraute Person an ihrer Seite. Und das war ihr neu gewonnener Freund Roland.

Der Bridge-Montag kam und Nelly wuselte nervös in der Küche herum. Sie hatte Lisbeth eingewiesen, was sie sagen sollte und was auf gar keinen Fall. Lisbeth hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ich habe schon in der Schulzeit Theater gespielt, das sollte jetzt wohl auch noch funktionieren.«

Nelly hatte darauf nicht geantwortet. Sie befürchtete, dass jetzt nur noch Beten half. Roland stand auf Abruf bereit, wenn sie Hilfe brauchte, und er würde sie auch mental unterstützen, hatte er versprochen. Nelly wechselte ihre Küchenschürze in die Bedienschürze, als sie mit dem Tischeindecken fertig war. Wieder standen die üblichen Scones mit den altbewährten Beilagen bereit, dazu eine Kanne Tee und natürlich Champagner, Cracker, verschiedene Käsehäppchen und Dips. Auf dem Spieltisch daneben lagen die Bridgekarten bereit, das Licht war gedimmt, die Spannung kaum auszuhalten. Schnell eilte sie in die Diele, als es an der Haustür klingelte. Lisbeths Auftritt war gewohnt vornehm zurückhaltend, während ihre Bridgedamen mit einem übertriebenen »Hallo« das Haus betraten, als hätte man sich Monate nicht gesehen. Nelly diente als Garderobenständer für Nerz, Zobel und Kaschmir. Die Damen schwebten eingehüllt in Chanel No 5 Richtung Spieltisch, wo alle ihren gewohnten Platz einnahmen. Lisbeth saß ihrer Spielpartnerin Karin Groß gegenüber, das andere Duo bildeten Helene Funke und Ortrud Schultenkemper. Bevor es losging, genossen die Damen ein Glas Champagner und tauschten wie üblich den neuesten Tratsch aus. Essen war am Spieltisch nicht erlaubt. Die Regeln waren streng.

»Wenn Sie noch etwas wünschen, Frau Direktor, ich bin in der Küche«, sagte Nelly zum Abschied.

Lisbeth nickte. »Ich denke, ich habe alles im Griff, danke, Nelly.«

Nelly schloss die Wohnzimmertür hinter sich. Das Spiel war eröffnet.

Der Abend schien nicht zu Ende gehen zu wollen. Nelly war in der Küche auf und ab gegangen, hatte Schränke ausgeputzt, den Backofen gereinigt, mit Roland gechattet, gebetet und war wieder auf und ab gegangen. Aus dem Wohnzimmer hatte sie nichts Ungewöhnliches vernommen. Erstaunlich war, dass Lisbeth sie nicht zwischenzeitlich gerufen hatte, um Getränke einzuschenken, frischen Tee aufzubrühen oder das Taxi zu rufen. Es gab auch keine Freudenrufe, wenn ein Duo gewonnen hatte. Da stimmt doch was nicht, dachte Nelly und überlegte, unter welchem Vorwand sie das Wohnzimmer betreten konnte. Hoffentlich hatte Lisbeth das Vorhaben nicht in Schall und Rauch aufgelöst, bevor es überhaupt angefangen hatte. Nellys Wut auf ihre Chefin steigerte sich bei jedem Schritt durch die Küche. Wie konnte man in all den Jahren so viel Geld für unnötigen Schnickschnack ausgeben und denken, dass es immer so weitergehen würde? Endlich. Die Wohnzimmertür öffnete sich und Lisbeth verabschiedete ihre Freundinnen. Nelly unterbrach ihre Wanderung und lauschte. Die Damen schafften es offensichtlich allein in ihre Mäntel und verließen das Haus ohne die übliche Verabschiedungseuphorie. Autotüren öffneten sich und wurden zugeschlagen, das Taxi fuhr los. Stille. Lisbeth trug ihre Pumps in der Hand, als sie die Küche betrat.

»Und?«, fragte Nelly.

»Ich gebe es nicht gerne zu, aber du hattest recht. Diese geldgierigen Ziegen. Sollen sie kriegen, was sie verdienen«, antwortete Lisbeth.

»Und weiter?«

»Ich bekomme morgen die ersten Zahlungen. Bar. Wie du es gewünscht hast. Die Damen Friseurmeisterin, Gärtnereibesitzerin und Gastronomin haben tatsächlich Schwarzgeld, das sie investieren wollen. Ich bin entsetzt. Aufs Äußerste entsetzt. Gute Nacht.« Lisbeth wandte sich zum Gehen. »Nelly, ich vertraue dir. Das muss funktionieren, sonst bin ich verloren«, sagte sie zum Abschied und schloss die Küchentür.

Es war drei Uhr morgens, als Nelly die Villa wieder betrat und in ihr Apartment im Souterrain schlich. Roland hatte sie direkt nach ihrem Anruf abgeholt und sie waren den Plan etliche Male durchgegangen, während der Drucker in dem kleinen Arbeitszimmer des Gärtners surrte. Nelly legte sich bekleidet aufs Bett und schloss die Augen. Sie war zu erschöpft, um sich auszuziehen und zu duschen. In drei Stunden würde ihr Arbeitstag beginnen. Und die Maschinerie ihres Plans in Gang gesetzt.

Lisbeth übertraf ihr schauspielerisches Können. Vielleicht war es auch ihr erlerntes Pokerface aus der Zeit, als sie mit ihrem Mann auf Geschäftsreise gegangen war. Oder einfach die Angst, das Haus, ihre Pelze, Designerkleider, Kunstwerke und vor allem ihren Status als Frau Direktor zu verlieren.

»Was du nicht alles kannst«, hatte sie zu Nelly gesagt, als die ihr die ausgedruckten Formulare der gegründeten MÖHNE-Invest übergab. Nelly nickte nur und schwieg. Ihren Mitwisser Roland Schopp brachte sie nicht ins Spiel. Wie erwartet hatten ihre Bridgedamen die ersten Summen in bar eingezahlt, die Papiere unterschrieben und freuten sich auf die Zinszahlung in Höhe von zehn Prozent, die sie in einem Monat abholen konnten. Der Hinweis »Bitte erzählt nur engen Vertrauten von dem Geschäft. Es ist sehr exklusiv und wir wollen ja nicht jeden für dieses großartige Projekt haben« hatte genau die Wirkung gezeigt, die Nelly vorausgesagt hatte. Die versprochenen zwei Prozent zusätzlicher Zinsen für jeden weiteren geworbenen »vertrauten« Kunden brachten in kürzester Zeit den gewünschten Schneeball ins Rollen. Nelly hatte kaum noch Zeit, sich wie gewohnt um den Haushalt zu kümmern. Jeden zweiten Tag fuhr sie zum Hofladen Sauerland nach Neheim, wo ein Bitcoin-Automat stand und sie Bargeld in Bitcoin umwandeln konnte. Meistens begleitete Roland sie als moralische Unterstützung. Da die tägliche Summe, die eingezahlt werden konnte, auf 4.000 Euro begrenzt war, hatte sie mit Lisbeth vereinbart, dass einiges an Bargeld in der Villa im Safe gelagert werden musste. Roland hatte für sie den Bitcoin-Kurs im Blick. Eigentlich hatten sie an alles gedacht.

Am Montag, den 2.12., einem Bridge-Montag, überkamen Nelly große Zweifel. Lisbeth hatte aus der Vergangenheit nichts gelernt. Sie gab das Geld, das sich im Safe stapelte, mit vollen Händen aus. Für den Bridge-Abend hatte sie für jede ihrer Freundinnen ein teures Schmuckstück von ihrem Lieblingsjuwelier besorgen lassen. Für sich selbst ein edles Collier dazu. Als Adventsgeschenk, hatte sie erklärt. Auch Nelly bekam ein goldenes Armband mit einem kleinen Diamanten verziert. Sicherlich ein lieb gemeinter Zug, aber viel zu riskant. Während Nelly immer weitere Strecken mit dem Auto fuhr, um so unauffällig wie möglich größere Einkäufe zu erledigen, die sie neuerdings in bar bezahlte, wurde Lisbeth unvorsichtig. Und das konnte gefährlich für sie alle werden. Auch für Roland. Nelly bereitete für den heutigen Bridge-Abend alles wie gewohnt vor. Dieses Mal hatte sie zusätzlich einige Weihnachtsplätzchen gebacken und eine süffige Schlammbowle vorbereitet. Das Zimmer war aufwendig geschmückt. Draußen im Garten leuchteten Lichterketten in den Tannen und große goldfarbene Kugeln wippten im Wind. Nelly sah sich bedächtig um. So viele Jahre hatte sie hier mit Lisbeth verbracht. Für sie gearbeitet und alle Launen ertragen. Sie hatte diese Zeit geliebt. Sie mochte die Arbeit. Sie mochte Lisbeth und sie schuldete ihr nichts.

Während die Damen spielten, packte Nelly ihre Koffer. Den Brief, den sie an Lisbeth geschrieben hatte, legte sie auf den Küchentisch. Die Schmuckschatulle mit dem Armband daneben. Es war an der Zeit zu gehen und mit Roland einen Neuanfang zu wagen. Sie würde mit ihrem neu gewonnenen Freund eine längere Reise durch Spanien unternehmen. Roland wusste, wie man mit der Bitcoin-Debit-Card weltweit bezahlte, und Nelly vertraute ihm.

Im Wohnzimmer kreischten die Damen um die Wette. Es hörte sich nicht danach an, als würden sie konzentriert Bridge spielen. Nelly schloss leise hinter sich die Haustür und stapfte durch den Schnee Richtung Auto. Ein letzter Blick zurück, dann startete sie in ihr Abenteuer.

*

Hinweis der Autorin: Die Schauspielerin Adele Spitzeder brachte bereits im 19. Jahrhundert mithilfe des Schneeballsystems Tausende Menschen um ihr Erspartes und flog damit auf. Diese Betrugsmasche – in verschiedenen Variationen – funktioniert noch heute.

Rezept: Scones mit Frischkäse und Marmelade

Zutaten:

250 g Mehl

1 EL Backpulver

1 EL Zucker

½ TL Salz

60 g kalte Butter

150 ml Vollmilch

1 Ei zum Bestreichen

Das Mehl mit Backpulver, Zucker und Salz mischen. Die kalte Butter in Stücken mit dem Finger unter das Mehl kneten, bis die Konsistenz von krümeligem Sand entsteht. Das Mehlgemisch zurück in die Schüssel geben und in der Mitte eine Mulde formen. Milch in die Mulde gießen und mit einer Gabel das Mehl unterheben, bis sich der Teig zusammenfügt – der Teig wird nicht mehr geknetet, um die typische Konsistenz der Scones zu erreichen.

Den Backofen auf 190 °C Ober-/Unterhitze vorheizen. Ein Backblech mit Backpapier auslegen.

Die Arbeitsfläche leicht bemehlen, den Teig darauf geben und ebenfalls mit Mehl bestäuben, damit beim Ausrollen nichts anklebt. Den Teig 3 cm dick ausrollen und mit einem runden Keksausstecher (6 cm) ca. 9 Scones aus dem Teig stechen.

Die Scones auf das Backblech setzen und mit einem verquirlten Ei bestreichen. Im vorgeheizten Backofen auf der mittleren Schiene für 15–20 Minuten backen.

Die Scones schmecken bereits lauwarm herrlich.

Zu den Scones passt Frischkäse pur oder mit Sahne untergerührt. Dazu verschiedene Marmeladen – je nach Geschmack – genießen.

Zirkusluft und ein toter Schuft

Weihnachtlicher Crumble mit Vanilleeis in Unna Astrid Plötner

Die Karten für den Abend im CircusTravados hatte Rabea für sich und ihre Flur-Nachbarin Mirja Sawatzki besorgt. Rabea freute sich riesig auf das Ensemble, das vorwiegend aus Kindern und Jugendlichen bestand. Nach dem fantastischen Erfolg der Jubiläumsshow Fisso zum 40-Jährigen im vergangenen Jahr war sie neugierig auf die aktuelle Darbietung. Den einzigen Haken beim Zirkusbesuch stellte Mirjas Ehemann Jean dar. Der hatte wegen schweren Raubs noch bis vor einem halben Jahr im Knast gesessen, war jetzt auf Bewährung raus und kaum zu ertragen. Rabea hatte einen Plan ausgetüftelt, ihn kurzfristig auszuschalten, bei der heutigen Vorbereitung lief jedoch so ziemlich alles schief.

Zuerst fiel ihr auf, dass sie weder Zimt noch Haferflocken im Haus hatte. Auf dem Weg Richtung Lidl staute sich der Verkehr, sie musste eine Viertelstunde auf einen Parkplatz warten und im Discounter war nur eine Kasse geöffnet. Auf dem Rückweg nahm sie in der 30er-Zone jede rote Ampel mit, ehe sie in der Parkstraße ankam, wo sie in einer hübschen Dreizimmerwohnung mit Blick auf den Kurpark lebte. Im Treppenhaus lief sie in die Arme von Helga Meier aus dem Erdgeschoss. Einer herzensguten Ü-80-Jährigen, zierlich, mit weißem Haar, das wie eine Haube auf ihrem Kopf saß. Mit ihr setzte sich Rabea ab und zu bei einem Kaffee zusammen. Jetzt berichtete Helga Meier ihr völlig erregt vom Besuch ihres Neffen am heutigen Abend. »Tillmann ist so ein guter Junge«, schwärmte sie. »Ich habe mich sehr gefreut, als er sich nach so vielen Jahren bei mir gemeldet hat. Er kommt heute zwischen vier und fünf.«

»Das freut mich, Frau Meier.« Rabea hätte sich gern länger über den Neffen unterhalten, aber ihr lief die Zeit davon.

»Stellen Sie sich vor, ich dachte immer, er lebt in Kanada, dabei ist er vor einem halben Jahr zurückgekehrt. Professor ist er jetzt, an der Universität in Bochum. Er lehrt Germanistik und Romanische Philologie. Wissen Sie, was das ist?«

Rabea schüttelte den Kopf und musste daraufhin einen Vortrag über die Erforschung der romanischen Sprachen, die innerhalb und außerhalb Europas gesprochen wurden, über sich ergehen lassen. »Der Tillmann, der kann Ihnen bestimmt noch mehr dazu sagen, Fräulein Rabea. Wollen Sie heute Abend nicht zum Essen kommen? Es gibt original Wiener Schnitzel, die hat der Tillmann sich gewünscht.«

»Vielen Dank für die Einladung, Frau Meier, aber heute Abend bin ich bereits verabredet.«

»Oh, wirklich?«

»Ja. Ich schaue mir mit Frau Sawatzki die Vorstellung im Circus Travados an«, erklärte Rabea freundlich und zwängte sich lächelnd an der älteren Dame vorbei in den ersten Stock.

»Dann viel Spaß!«, rief Helga Meier ihr hinterher.

Es wurde höchste Zeit, ihren Plan auszuführen. Rabea hielt sich bei der Vorbereitung des weihnachtlichen Crumbles genau ans Rezept und befüllte sechs weiße Schälchen und ein rotes. 20 Minuten später waberte ein köstlicher Duft von Apfel-Zimt durch die Wohnung. Der Crumble sah fantastisch aus! Sie gab auf die sechs weißen Schälchen einen großen Löffel Vanillepudding als Topping, obwohl das Rezept dafür eigentlich Vanille- oder Zimteis vorgab. Für das rote Töpfchen zerbröselte sie zwei Schlaftabletten und mischte das Pulver in den Pudding, bevor sie etwas nervös mit zwei Schälchen zu den Sawatzkis ging, hinter deren Wohnungstür sie Jean laut brüllen hörte. Kurz nach ihrem Klingeln stand er mit hochrotem Kopf vor ihr.

»Was willst du?«, blaffte er sie an.

»Ich habe euch einen Crumble mit Apfel-Zimt gemacht. Das weiße Töpfchen ist für Mirja, da ist anstelle von Zucker Süßstoff drin«, log sie. »Sie achtet ja sehr auf die Kalorien.«

»Verpiss dich einfach«, brummte er. »Der Scheiß erinnert mich an den Apfelkuchen meiner Großmutter. Von den festen Apfelstücken darin ist mir jedes Mal übel geworden!« Damit schlug er ihr die Tür vor der Nase zu und Rabea stand im Treppenhaus wie ein abgewiesener Pizzabote. Sie hätte heulen können! Ihr Plan war dahin. Eine neue Idee fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. Rabea seufzte, ging zurück in ihre Wohnung und stellte den manipulierten Crumble in ihrer Küche etwas abseits der anderen Schälchen zurück auf die Arbeitsplatte. Da musste sie wohl allein in den Zirkus gehen. Arme Mirja!

Inzwischen war es 16 Uhr. Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie rechtzeitig vor dem großen Besucherandrang das andere Ende des Kurparks erreichen wollte. Um 17 Uhr begann die Vorstellung. Gerade als Rabea sich umziehen wollte, klingelte es an der Wohnungstür. Genervt öffnete sie und starrte in die erwartungsvollen Gesichter von Helga Meier und ihrem Neffen, einem blassen, unscheinbaren Typ, der seine Tante von der Größe kaum überragte.

»Hallo, Fräulein Rabea!«, grüßte die Nachbarin. »Tillmann ist früher als geplant gekommen, und da habe ich spontan beschlossen, dass wir Sie und Frau Sawatzki zum Circus Travados begleiten! Die Show ist etwas Besonderes, wenn man bedenkt, dass die Jugendlichen und Kinder das ganze Jahr dafür trainieren, um im Advent die Vorstellungen geben zu können.« Sie strahlte Tillmann an, der nickte stumm.

»Äh …« Rabea fühlte sich überrumpelt. »Frau Sawatzki hat leider abgesagt, aber kommen Sie doch erst einmal he­rein. Ich müsste mich noch rasch umziehen.«

»Hier riecht es aber lecker!«, schwärmte Tillmann. »Apfelkuchen?« Sofort steuerte er auf die Küche zu.

»Ich habe weihnachtlichen Crumble zubereitet. Sie dürfen gerne probieren!« Sie wollte Helga und ihrem Neffen ein weißes Schälchen reichen, aber Tillmann griff bereits nach dem roten.

Rabea wollte es ihm aus der Hand nehmen. »In dem roten ist Süßstoff, nehmen Sie lieber ein weißes!«

»Süßstoff ist perfekt!« Tillmann lächelte. »Ich meide Zucker, wenn es möglich ist.«

Rabea schoss das Blut in den Kopf. Was sollte sie machen? Sie konnte ihm das Schälchen schlecht aus der Hand reißen und erklären, sie habe es mit Schlafmittel versetzt. Sie ging Richtung Schublade, fischte zwei lange Dessertlöffel heraus, tat dann, als würde sie über ihre eigenen Füße stolpern, und rempelte Tillmann kräftig an, in der Hoffnung, er würde das Schälchen fallen lassen. Aber er stand wie ein Baum, was man dem schmächtigen Kerl nicht zugetraut hätte.

»Hoppla, nicht so stürmisch!«, grinste er nur, tauchte den Löffel in den Crumble und schwärmte. »Hervorragend!«

»Danke!« Als beide Schälchen geleert waren, fragte Rabea sich, wie lange es dauern mochte, bis die Wirkung des Schlafmittels einsetzte. Vielleicht schaffte er es zumindest bis in die Vorstellung. »Ich ziehe mich rasch um und dann können wir uns auf den Weg machen.«

Helga Meier nickte voller Vorfreude. Als sie kurz da­rauf auf die Straße traten, blieb sie stehen und schwärmte: »Travados