Runengrab - Hannes Sprado - E-Book

Runengrab E-Book

Hannes Sprado

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Beschreibung

Die Leiche einer Schauspielerin, merkwürdig verrenkt im Schnee. Schnell schlussfolgert die Polizei in Reykjavík, dass es sich hierbei um die Nachbildung einer Rune handelt. Doch was will der Mörder damit sagen? Judith von Matt und ihr Ermittlerteam müssen nun als Experten für Verbrechen mit okkultem Hintergrund versuchen, diesen mysteriösen Fall zu lösen und den Mörder vor weiteren Verbrechen aufzuhalten.

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Der AutorHannes Sprado, 1956 geboren, war Redakteur und Chefredakteur mehrerer Zeitschriften. Seit 2006 ist er Herausgeber der P.M.-Zeitschriftengruppe. Er lebt mit seiner Familie in München.

Das Buch

Die Leiche einer Schauspielerin, merkwürdig verrenkt im Schnee. Schnell schlussfolgert die Polizei in Reykjavík, dass es sich hierbei um die Nachbildung einer Rune handelt. Doch was will der Mörder damit sagen? Judith von Matt und ihr Ermittlerteam müssen nun als Experten für Verbrechen mit okkultem Hintergrund versuchen, diesen mysteriösen Fall zu lösen und den Mörder vor weiteren Verbrechen aufzuhalten.

Hannes Sprado

Runengrab

Thriller

Refinery by Ullsteinwww.ullteinbucherlage.de/verlage/refinery

Neuausgabe bei Refinery Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 1. Auflage Februar 2017 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®  ISBN 978-3-96048-067-9  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für Max

Und die Götter mögen Dir den Tod gewähren,

ehe die Alten wieder über die Erde herrschen.

Abdul Alhazred (arabischer Poet, 8. Jahrhundert)

Prolog

Der Anblick ist übel, wie er nur übel sein kann, Chef. Du kriegst hier keinen Picasso zu sehen, mach dich darauf gefasst.

Die warnenden Worte seines Assistenten im Ohr, lenkte Hauptkommissar Olafur Hinriksson seinen vierzehn Jahre alten Volvo 850 GTL durch die morgendlich leeren Straßen von Reykjavík zum Tjörnin, dem Stadtteich im Zentrum, an dessen Ufer ein Busfahrer auf dem Weg zur Frühschicht die furchtbar zugerichtete Leiche einer Frau gefunden hatte.

Ein sauberer Schnitt glatt durch. Aber es ist eigentlich mehr das ganze Drumherum, was mir Sorgen macht.

Hinriksson hatte wie jedes Jahr die Julnacht vom 21. zum 22. Dezember bei seiner Mutter in Hafnarfjordur verbracht, um mit ihr die Wintersonnenwende bei einem üppigen Abendessen und ein paar Bieren zu feiern. Dort hatte sein Assistent Magnús Blöndal ihn vor einer halben Stunde auf dem Handy angerufen und ihm mitgeteilt, was passiert war.

Wer das getan hat, ist kein Freund von halben Sachen. Um das Bild wieder aus dem Kopf zu bekommen, bräuchte man einen verdammt guten Korkenzieher. Ein paar Leute sind ziemlich nervös. Beeil dich!

Leicht verkatert vom Bier und dem Cognac, den seine Mutter immer wieder nachgeschenkt hatte, bog Hinriksson an der Südseite des Tjörnin von der Straße auf einen Sandweg ab. Er folgte dem Weg bis zu einer Reihe von Fahrzeugen, die am Rand einer Wiese nahe beim Wasser parkten: drei Polizeiwagen, ein Krankenwagen und der graue verdreckte Transporter der Spurensicherung.

Er stieg aus und hielt einem Beamten, der zum Auto kam, seinen Ausweis unter die Nase.

Der Beamte nickte und sagte: »Nicht mehr nötig, inzwischen wissen wir, wer du bist.«

»Dann vergiss es nicht wieder«, antwortete Hinriksson kurz angebunden.

Sein Einstand bei der Kriminalpolizei von Reykjavík hatte viele Kollegen verärgert, vor allem die älteren unter ihnen. Wochenlang war er gegen eine unüberwindbar scheinende Mauer der Ablehnung gestoßen, weil er einem beliebten Beamten vorgezogen worden war, der fest mit seiner Beförderung gerechnet hatte. Die Stimmung wendete sich erst zum Besseren, als es Hinriksson innerhalb von achtundvierzig Stunden gelang, einen Kindermörder zu überführen, der eben im Begriff war, erneut zuzuschlagen. Seitdem begegnete man ihm mit Respekt, aber der Makel, ein auf Grönland geborener Inuit zu sein, blieb an ihm haften, obwohl er seit seinem achten Lebensjahr einen isländischen Pass besaß.

»Wo ist Magnús?«, fragte er.

Der Beamte deutete zum See. Auf einer eisfreien Fläche am Rand drehten ein paar Eisenten ihre Runden.

»Redet, glaube ich, mit dem Mann, der sie gefunden hat.«

Hinriksson tauchte unter dem flatternden Absperrband hindurch, das die Medienmeute und Neugierige auf Abstand halten sollte. Der Tatort lag ein ganzes Stück dahinter und war von dort, wo sie standen und auf Fotos, Interviews und Filmaufnahmen hofften, nicht zu sehen.

Es begann zu nieseln. Hinriksson zog den Kragen seiner Jacke hoch, ignorierte die Zurufe der Presseleute und machte sich auf den Weg. Er beschleunigte den Schritt, als er seinen Assistenten Magnús Blöndal bei drei Gestalten in weißen Overalls stehen sah, die im nassen Schnee hockten und nach Beweismaterial suchten.

»Na endlich«, sagte Magnús erleichtert. »Ich dachte schon, du willst mich alles allein machen lassen.«

»Schon was gefunden?«, fragte Hinriksson.

»Darauf kannst du wetten. Komm mit. Wir müssen zu dem Baum am Ufer, da liegt sie. Der Fotograf macht die letzten Aufnahmen. In ungefähr einer Stunde können wir die Leiche in die Gerichtsmedizin abtransportieren lassen.«

Doch Hinriksson hörte ihm bereits nicht mehr zu. Sein Blick hatte den nackten Frauenkörper erfasst, der quer über den weit aus der Erde ragenden Wurzeln des Baums lag. Mit scheinbar größter Sorgfalt hatte der Mörder die Arme und Beine der Toten zu einem bizarren Gebilde arrangiert, das im kalten Licht der Scheinwerfer seltsam fremd und unheimlich aussah.

Überall war Blut. Der scharfe Geruch des Bluts stieg ihm in die Nase.

Neben der Leiche steckten glatt polierte Steine im Schnee, so groß wie Tennisbälle. Scharfkantige Symbole waren in die Steine eingeritzt, rot ausgemalte Linien und Bögen und Ecken. Instinktiv zählte Hinriksson die Steine, es waren dreizehn.

»Runen?«, fragte er.

»Die Zeichen unserer Ahnen, du sagst es. Sieht aus, als wollte der Täter uns etwas mitteilen.«

Hinriksson war kein Spezialist für Runen, er verstand nicht, was sie bedeuteten und erst recht nicht, warum der Mörder sie in einem Halbkreis um die Tote ausgelegt hatte. Wozu diese Dramatik? Warum der Aufwand?

Ein weiteres Detail interessierte ihn jedoch noch viel mehr, seit er den makabren Schauplatz betreten hatte.

»Wo zum Teufel ist ihr Kopf?«

Sein Assistent runzelte die Stirn und hob demonstrativ den Blick.

Die Zweige des Baumes raschelten harmlos im Wind. Zwei Meter über ihnen schaukelte ein großes Vogelnest in den kahlen Ästen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Hinriksson, was das Vogelnest wirklich war.

1

Das sündhaft teure Restaurant am Hafen von Reykjavík, in das der isländische Bankier Arne Gauti die Mitarbeiter der deutschen Knossos Filmproduktion zur Sonnenwendfeier eingeladen hatte, war berühmt für seine lokalen Spezialitäten. Auf der Speisekarte standen so außergewöhnliche Gerichte wie gegrilltes Walfischsteak, gesottener Hammelhoden und gesengter Schafkopf.

Die Stimmung am Tisch war ausgelassen, denn nach fünf zermürbenden Wochen gingen die Dreharbeiten für den Kinofilm Der Eiskrieger endlich zu Ende. Alle waren froh, Island bald verlassen zu können. Sie hatten genug vom schauderhaften Schneeregen, der unablässig von der See über das Land peitschte, genug von der nassen Kälte, die binnen Minuten durch die Kleider kroch und die Hände klamm machte. Auch von Feen und Trollen wollte niemand mehr etwas wissen. Anfälle von unerklärlichem Trübsinn hatten ihnen die Freude an den isländischen Fabelwesen gründlich verdorben.

Vom Regisseur bis zur Kostümbildnerin wusste inzwischen jeder, was er von den Reiseberichten zu halten hatte, die in Hochglanz-Magazinen von der kreativen Modeszene, den spektakulären Clubs und den trendigen Galerien der isländischen Hauptstadt schwärmten. Vielleicht war es auf dieser Klippe im Nordatlantik im Sommer tatsächlich so wunderbar, wie immer behauptet wurde, im Winter war es das nicht. Definitiv nicht. Stattdessen grauer Beton, Wellblechfassaden, karge Gärten, beschlagene Fenster und Dunkelheit. Ewige Dunkelheit. Nichts passte zueinander, und doch hielt alles irgendwie zusammen. Reykjavík war eine Kleinstadt mit einem internationalen Flughafen, und damit hatte es sich.

Zur musikalischen Untermalung der Feier hatte der Wirt eine Panflöten-Combo aus Südamerika angeheuert, die mit ihren rhythmischen Klängen in den vergangenen Tagen die beheizte Flaniermeile Laugavegur beschallt hatte. Die Musiker gaben sich alle Mühe, ihrem Ruf gerecht zu werden, und spielten auf, als gäbe es kein Morgen. Ihre gestreiften Ponchos wirbelten wie Ikea-Läufer durch die Luft und kamen den Gläsern auf dem Tresen oft gefährlich nahe.

Die dritte Runde Brennivin, ein isländischer Aquavit, der von den Einheimischen wegen seines schwarzen Etiketts auch Schwarzer Tod genannt wurde, belebte die Konversation. An einem solchen Abend waren die Sätze oft genug nur ein Gesumm ohne jede Bedeutung, doch keiner störte sich daran. Lediglich der Produzent des Films, Hilmar Barring, und sein Star, Julia Mestrom, steckten die Köpfe zusammen und schienen in ein ernsthaftes Gespräch vertieft zu sein.

Barring sah auf unheimliche Weise wie Danny de Vito aus. Na ja, fast. Der gleiche Typ, klein, mit kurzen schwarzen Haaren, rundliche Figur. Seine Augen hatten eine ungesunde stumpfe Farbe, und die Lider waren in den Winkeln etwas schlaff geworden. Wer ihn kannte, fragte sich, wie lange er seinen dreiundneunzig Kilo noch einen Blutdruck von hundertsechzig zumuten konnte.

Julia Mestrom hätte jeder Mann, wenn nicht als schön, dann wenigstens als aufregend bezeichnet. Ihre wegen des Films blond gefärbten Haare bildeten ein seltsames Arrangement mit den schwarz lackierten Fingernägeln, den roten Lippen und ihrer säuerlichen Miene.

Durch den Nebel seiner Schläfrigkeit drang ihre Stimme immer wieder zu Barring durch, und er wünschte sich, sie würde endlich den Mund halten. Sich stets ihren gleichgültig gedehnten Ton anhören zu müssen, konnte einen fassungslos machen, besonders jetzt, da ihre Stimme schrill wurde. Barring hätte am liebsten gesagt: Bist du fertig? Hast du dich endlich lange genug selbst quatschen hören? Doch das brachte nichts. Er schwieg lieber und aß weiter, als denke er über etwas nach.

Seit Tagen war sie nervös. Regte alle auf mit ihren Sonderwünschen, ihrer Aggressivität. Kam ständig zu spät zu den Aufnahmen und vergaß ihren Text.

»Warum hast du ihn nicht gefeuert, als ich dich darum gebeten habe?«, fing sie wieder an. »Er ist ein lausiger Regisseur und ein noch schlechterer Autor. Seine Dialoge kann man nur mit einer Hasenscharte sprechen.«

»Das Drehbuch hat dir gefallen, als ich dich fragte, ob du die Hauptrolle spielen willst«, erwiderte Barring.

»Du weißt genau, warum ich die Rolle haben wollte.«

»Und du hast sie bekommen. Etwa nicht? Also hör auf, ihm Schwierigkeiten zu machen. Die Leute haben die Nase voll von euren Eskapaden.«

Vom ersten Drehtag an hatte sich Julia Mestrom den Anweisungen des Regisseurs widersetzt und versucht, mit eigensinnigen Interpretationen ihrer Rolle mehr Raum und Gewicht zu geben. Doch Kohrs stand nicht im Ruf, einem Schauspieler, Star hin oder her, mit unterwürfigem Respekt zu begegnen, und trieb ihr die Flausen schnell wieder aus. Seitdem herrschte eine anstrengende Dauerfehde zwischen den beiden, die allenfalls von ihrer Professionalität einigermaßen in Schach gehalten wurde.

Julia Mestroms Stimmung hatte sich nicht gebessert, als am Morgen überraschend ihr Mann aus Rom zu Besuch gekommen war. Jetzt saß Paolo Costa zwischen all den Filmleuten, von denen keiner Notiz von ihm nahm, und beobachtete, was um ihn herum geschah.

»Warum ist er hier?«, fragte Barring und deutete eine Kopfbewegung in Costas Richtung an. »Hat er einen Verdacht?«

»Aber wie.«

»Was hast du ihm erzählt?«

»Dass er wieder nach Hause fahren soll.«

»Ist dir egal, was du ihm antust?«, fragte Barring. »Von deinen anderen Verrücktheiten will ich gar nicht reden.«

»Was soll’s. Früher oder später ist er immer dahintergekommen. Diesmal, finde ich, hat er ziemlich lange gebraucht.«

Als sie Barrings bohrenden Blick bemerkte, fügte sie gereizt hinzu: »Ist was? Darum wolltest du mich doch haben, auf der Leinwand und am liebsten auch im Bett, stimmt’s? Weil alles Dunkle und Gefährliche mich anzieht.«

Dabei funkelte sie Barring mit ihren beiden verschiedenfarbigen Augen an, einem braunen und einem blauen Auge, mit denen die Natur sie ausgestattet hatte. Sie waren das Resultat einer Iris-Heterochromie und seit Jahrzehnten ihr unverwechselbares Markenzeichen.

Auf dem Set war natürlich bekannt, dass Julia Mestrom sich auf eine Affäre mit dem isländischen Kameramann Argná Kristjánsson eingelassen hatte. Barring konnte sie sogar verstehen, denn mit seinem Vollbart, den ausgeprägten Schultern und den langen Haaren, die ihm ständig ins Gesicht fielen, sah er bemerkenswert rustikal aus. Ein Eindruck, der durch eine Narbe verstärkt wurde, die sich quer über seine Stirn zog. Barring hatte er erzählt, die Narbe stamme von einer Kneipenschlägerei, bei der ihm sein Gegner einen Kristallaschenbecher ins Gesicht gedrückt und blitzschnell herumgedreht habe. Den Kampf hatte Kristjánsson trotzdem gewonnen. Wie alle Kämpfe zuvor und danach auch. Mit anderen Worten: Er gehörte nicht zu den Typen, denen man auf die Zehen treten sollte.

Julia Mestrom versuchte, Barring über den Kopf zu streicheln. »Entspann dich«, sagte sie. »In einer Woche reisen wir ab. Dann brauchst du dir keine Gedanken mehr um mich zu machen. Haken dahinter, fertig.«

Er wischte ihre Hand beiseite. »Lass den Quatsch.«

»Machst du dir Sorgen wegen der da?«, fragte sie.

Die Frau, auf die sie anspielte, hieß Eva Wahlberg. Sie schrieb als Reporterin im Unterhaltungsressort einer großen deutschen Sonntagszeitung und war für ein paar Tage nach Island gekommen, um einen Hintergrundbericht über die Dreharbeiten zu schreiben, denn seit die ersten Gerüchte über den Filmstoff kursierten, sorgte die Produktion für einiges Aufsehen. Im Moment galt das Interesse der Journalistin allerdings ihrem Tischnachbarn, dem bissigen Talkshow-Moderator Kurt Küster, der zum ersten Mal in einem Kinofilm mitspielte, was ihn wenig Überwindung und den Produzenten ein Honorar in sechsstelliger Höhe gekostete hatte.

»Sieh dir diesen Banker an«, sagte Küster zu ihr. »Der verzieht keine Miene. Sitzt einfach nur da. Wie seine Leute hinterm Schalter.«

Der Banker, Arne Gauti, saß ihm direkt gegenüber an der langen Tafel. Küster musterte seinen dunkelblau gestreiften Brioni-Anzug, das rosa Hemd und die goldfunkelnden Manschettenknöpfe.

»Versprüht Eitelkeit um sich herum wie ein billiges Eau de Toilette«, sagte Küster.

»Na, immerhin ist er es, der heute Abend die Rechnung bezahlt«, erwiderte Eva Wahlberg. »Ich finde es sehr nett von ihm, uns alle zur Sonnenwendfeier einzuladen. Eine Zeche weniger, für die Barring aufkommen muss. Das dürfte ihn freuen.«

»Was meinst du damit?«, hakte Küster nach. Wenn er nicht redete, waren seine dünnen, akkuraten Lippen permanent zusammengekniffen.

»Seine beiden letzten Filme hat er mustergültig in den Sand gesetzt. In München heißt es, Knossos stehe vor der Pleite.«

»Pleite?«

»Die Ausgaben übersteigen die Einnahmen, falls du das besser verstehst.«

»Warum bittet er nicht Gauti, ihm etwas zu leihen? Ohne Quatsch, es heißt, der ist so reich, dass er vor Lachen nicht in den Schlaf kommt.«

»Soweit ich weiß«, sagte Eva Wahlberg, »ist seine Bank bereits mit ein paar Millionen eingestiegen. Julia Mestrom und Gautis Frau Ingrid, eine Deutsche übrigens, aus Hamburg, alte Kaffeedynastie, gingen auf dasselbe Internat, irgendwo in Schleswig-Holstein, in Plön, glaube ich. Seit dieser Zeit sind die beiden die besten Freundinnen. Auf Drängen von Barring soll Julia Mestrom sie gebeten haben, ihren Mann von dem Projekt zu überzeugen, damit er für die Restfinanzierung bürgt. Offensichtlich hatte sie Erfolg damit.«

Küster schenkte sich ein weiteres Glas Brennivin ein – das fünfte – und trank es in einem Zug aus, während Eva Wahlberg lustlos in ihrem Vorspeisenteller herumpickte. Amüsiert sah Küster ihr eine Weile zu, bevor er sagte: »Gott, bist du eine lahme Esserin.«

»Ich mag nur Gemüse und Salat, sonst nichts. Nichts, was Eltern hat«, meinte Eva Wahlberg und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Außerdem bist du blau.«

Sie selber war es auch.

»Kommst du mit hoch?«, fragte Küster. »Ein bisschen vögeln?«

»Du liebe Güte, ich dachte schon, du würdest mich nie fragen.«

»Wir müssen früh raus. Lass uns gehen.«

Am nächsten Morgen wollte das Filmteam um sechs Uhr zum Langjökull aufbrechen, dem zweitgrößten Gletscher Islands, wo ein dreitägiger Außendreh geplant war. Dabei sollten die Strapazen einer historisch umstrittenen Expedition im ewigen Eis festgehalten werden.

Die beiden waren noch nicht einmal beim Ausgang, als plötzlich die Tür aufflog und ein kalter Windstoß durch das Restaurant fegte. Fast gleichzeitig setzte die Musik aus.

Ein Mann in schwarzem Ledermantel trat ein, geräuschvoll folgten ihm vier Männer und drei Frauen in grauen Kapuzenpullovern und verteilten sich im Lokal.

Das Gesicht des Mannes wirkte alt und hart wie aus Stein, rotbraune Haare hingen wie eine dünne Gardine von seinem Kopf, in seinem rechten Ohr steckte eine dichte Reihe kleiner Silberringe. Langsam schritt er auf den Tisch zu, an dem die Filmleute saßen.

Es herrschte absolute Stille, eine Stille, die vibrierte und rauschte, als hielte man sich eine Muschel ans Ohr.

Der Mann zog sich einen Stuhl heran, setzte sich hin, legte lässig die Beine übereinander. Er sagte nichts, sah sich nur jedes Gesicht an, eins nach dem anderen.

»Haltet euch fern vom Langjökull«, begann er. Seine Stimme war kaum zu hören. »Ihr habt da oben nichts zu suchen. Der Gletscher ist heiliges Gebiet. Verflucht sei jeder von euch, der es wagt, seinen Fuß dorthin zu setzen.«

Argná Kristjánsson, der Kameramann, erhob sich, ging um den Tisch herum und baute sich in seiner ganzen Größe vor dem Mann auf. Er zog den Bund seiner Jeans hoch und stemmte die Fäuste in die Seite.

»Was willst du von uns, Sigurpáll?«, fragte er. »Im Sommer gehen die Touristen zu Dutzenden auf den Langjökull, und keiner schert sich um sie. Was ist mit denen?«

Der Mann, den er Sigurpáll nannte, sprang auf, seine Augen glühten. Sie waren beide ungefähr gleich groß.

»Ihr seid keine Touristen! Eure Absicht ist es, den Ort zu entweihen, die Geister zu stören und Lügen zu verbreiten. Wir kennen eure Pläne.«

Kristjánsson seufzte laut.

»Du und deine größenwahnsinnige Germanenschwärmerei. Lass uns in Ruhe damit und verschwinde.«

»Wir beide hatten große Pläne«, sagte der Mann. »Hast du das vergessen? Ich bin enttäuscht von dir.«

»Das ist lange her«, knurrte Kristjánsson.

»Du fandest nichts dabei, den Göttern zu opfern.«

»Zum Teufel mit deinen Göttern!«

»Es waren auch deine Götter. Eine Kuh für Odin, ein Schaf für …«

»Sei still!«, erwiderte Kristjánsson, immer noch ruhig. »Pfeif deine Kapuzen zusammen, und dann raus hier.«

»Du vergisst, wer ich bin. Niemand verbietet mir zu reden, wenn mir der Sinn danach steht.«

Er schlug seinen Mantel zurück. Im Gürtel seiner Hose steckte eine Axt, ein zurechtgehauener Stein mit einem Holzgriff, zusammengeschnürt mit einem Lederriemen. Er zerrte sie aus dem Gürtel und schwang sie über seinem Kopf. Dann machte er einen Schritt nach vorn, auf Kristjánsson zu.

Doch bevor sein Fuß den Boden berührte, war Kristjánsson bei ihm und hieb ihm seine Faust ins Gesicht. Der Mann taumelte, fasste sich an die Lippen. Die Axt fiel zu Boden. Zwei seiner Begleiter, die am dichtesten bei ihm standen, packten ihn unter den Achseln und richteten ihn auf. Er schüttelte sie wütend ab und spuckte einen Schwall Blut aus.

Kristjánsson knurrte: »Das war für den Mist, den du überall erzählst.«

Er rieb sich die schmerzenden Knöchel seiner Schlaghand und wandte sich ab.

Der ungebetene Gast bückte sich, hob seine Axt auf und schob sie in den Gürtel zurück. Fertig. Mit einem Aufschrei riss er beide Arme empor, seine kehlige Stimme dröhnte durch das Lokal: »Ich, Herr der Runenreihe, versteckte mächtigen Zauber an jenem Ort. Rastlos durch das Böse soll jeder sterben, der das Heilige beschädigt, einen einsamen Tod.«

Durch seinen Körper ging ein Ruck, als würde sich irgendwo da drinnen ein großer Muskel zusammenziehen. Seine Arme sanken herab.

»Seid gewarnt«, sagte er, jetzt bedeutend leiser, drehte sich um und wankte zur Tür. Die Kapuzen folgten ihm.

Alle atmeten auf. Auch der Wirt. Er gab der Band ein Zeichen weiterzuspielen. Die Trommeln waren die Ersten, dann fielen die Gitarren ein, schließlich leckte sich auch der verängstigte Flötist die Lippen und begann, sein Instrument mit hin- und herfliegendem Unterkiefer nach besten Kräften zu bearbeiten.

Julia Mestrom kümmerte sich um Kristjánsson. Sie nahm seine lädierte Hand, sagte: »Zeig mal«, und inspizierte die aufgeplatzte Haut. »Wer war dieser verrückte Kerl?«

»Sigurpáll Einarsson. Nennt sich Großmeister der radikalen Heiden, einer Gruppe idealistischer Hitzköpfe, die sich die Wiedergeburt eines nordischen Volkes wünschen. Sie wollen die alte Magie wiederbeleben und berufen sich dabei auf unsere Vorfahren.«

»Er sieht wie ein süßer alter Uhu aus«, meinte Julia Mestrom.

Kristjánsson zog sie dicht zu sich heran.

»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Diese Typen sind keine Spaßvögel, die das als Wochenendhobby betreiben. Sie haben eine eigenartige Phantasie.«

Er ließ sie los und starrte auf seine Hand.

»Du nanntest ihn Sigurpáll«, entgegnete Julia Mestrom. »Wie gut kennst du ihn?«

»Das ist eine lange Geschichte. Eine verdammt lange und ungemütliche Geschichte.«

»Wollten wir nicht noch zur Julfeier deiner Freunde? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zu gehen. Unterwegs kannst du mir deine Geschichte erzählen. In aller Ruhe.«

»Was ist mit deinem Mann?«

Julia Mestrom lachte auf.

»Was soll mit ihm sein? Ich habe ihn nicht gebeten zu kommen, also wird er wohl auf mich warten müssen. Wie immer.«

2

Am nächsten Morgen lag Schnee.

In Zimmer 213 des Hotels Borg zog Eva Wahlberg die Gardinen beiseite und sah hinaus auf den Austurvöllur mit dem Parlamentsgebäude, der Domkirche und der Statue von Jón Sigurosson, Islands berühmtem Unabhängigkeitskämpfer. Der Platz lag menschenleer in der Dunkelheit.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach fünf.

Sie war allein. Irgendwann in der Nacht war Kurt Küster aufgestanden und in sein Zimmer gegangen. Er brauche sein eigenes Bett, hatte er gemurmelt. Sie hatte gewollt, dass er blieb. Enttäuscht hatte sie sich umgedreht und war sofort wieder eingeschlafen.

Immerhin hatte sie ein paar Informationsleckerbissen von ihm bekommen, und als Liebhaber hatte er Leidenschaft und Ausdauer bewiesen. Fortsetzung unwahrscheinlich. Aus Erfahrung wusste sie, dass es mit dem Glücklichsein vorbei war, sobald das Licht anging.

Sie löste zwei Aspirin in einem Wasserglas auf, duschte heiß und kalt, zog ihre wetterfesten Wanderstiefel an, schwere Timberlands mit grober Profilsohle, packte die Reisetasche und schlüpfte in ihre Daunenjacke.

Vor ihr lag eine mehrstündige Autofahrt auf miserablen Pisten zum Langjökull. Ein kleines Team, im Gepäck die vierhunderttausend Euro teure 35-mm-Arriflex-Kamera, war schon vor zwei Tagen dorthin aufgebrochen, um die notwendigen Vorbereitungen für die Aufnahmen zu treffen.

Der dicke Nachtportier grüßte sie nachlässig, als sie an ihm vorbei ins Restaurant ging, um zu frühstücken. Sie setzte sich zu Gunhild Weberstetter an den Tisch, der anorektischen Kostümbildnerin, die meistens, so auch heute, verblichene Camouflagehosen trug und Schnürboots, die zwei Nummern zu groß waren.

»Dicke Luft«, sagte sie und schluckte hastig einen Bissen Marmeladenbrötchen runter. »Die Mestrom ist verschwunden.«

»Wollte sie nicht noch mit Kristjánsson los?«

»Schon, sind sie auch. Aber er ist vor ein paar Minuten gekommen – dahinten sitzt er, mit den anderen Isländern – und sagt, er habe keinen Schimmer, wo sie steckt.«

»Und ihr Mann?«

»Sagt, sie sei die ganze Nacht nicht da gewesen. Meint, er hätte es gehört, wenn sie gekommen wäre, aber ihr Bett war leer.«

»Das dürfte einige Turbulenzen geben«, sagte Eva Wahlberg. Sie biss in eine frische Quarktasche. Es schneite Puderzucker auf ihren roten Kaschmirpullover.

»In deinem Beruf entwickelt man bestimmt einen siebten Sinn für Tragödien, wenn sie sich anbahnen«, meinte die Kostümbildnerin.

Eva Wahlberg überhörte den mitschwingenden Spott, denn in diesem Augenblick schlenderte Kurt Küster mit einem Teller voller Rührei an ihnen vorbei, schenkte ihr ein casanovahaftes Weißt-du-noch-Lächeln, blieb aber nicht stehen, sondern ging weiter und suchte sich einen Platz am Fenster, allein.

Aus der Lobby drangen erregte Stimmen in das Restaurant. Hilmar Barring machte den Regieassistenten zur Schnecke. Alle konnten es hören.

»Es ist mir egal, wo du schon überall nach ihr gesucht hast. Schaff sie ran, und zwar schnell. Nimm ein paar Leute mit. In einer halben Stunde fahren wir los!«

Der Nachtportier hatte Barring endlos vor seinem Tresen hin und her laufen sehen. Jetzt blieb Barring stehen. Bei Jan Kohrs, dem Regisseur, der gelangweilt in einem Sessel saß und Barring dabei zusah, wie er sich aufführte, der deutsche Großproduzent.

»Ich weiß, was du denkst«, fuhr Barring ihn an. »Du denkst, sie liegt unter einem wildfremden Kerl und kriegt ihn nicht aus dem Bett.«

Er versuchte es witzig klingen zu lassen. Lachte aber nicht.

»Wohl eher umgekehrt«, erwiderte Kohrs. Selbst in Island, bei der Kälte, lief er in seinen grünen Chucks herum, auch im Freien. Er nahm seine schwarze Woody-Allen-Brille von der Nase, hauchte die Gläser an, zupfte sein T-Shirt unter dem Troyer hervor und begann, die Gläser zu putzen.

Barring schaute auf seine Armbanduhr, schnaufte und schüttelte den Kopf.

»Immer mit der Ruhe«, fuhr Kohrs fort. »Ihr wird schon nichts passiert sein.«

»Wieso passiert?«

»Wie du hier rumspringst, könnte man meinen, du machst dir ernsthaft Sorgen um sie. Fahren wir eben ein paar Stunden später los. Oder erst morgen. Mir soll’s recht sein.«

»Was bin ich, die Wohlfahrt?«

Im Kopf überschlug Barring, wie viel ihn eine neuerliche Verschiebung des Drehplans kosten würde. Noch bewegte sich die Produktion im Rahmen, aber weitere Verzögerungen konnte er sich nicht leisten, vier Drehtage hatten sie bereits verloren. Grund waren schlechtes Wetter und die sentimentale Wikinger-Romantik zweier isländischer Schauspieler gewesen, die in einer eisigen Nacht besoffen zum Hafen getorkelt waren, wo sie sich am Mast eines Segelboots festbanden und sich dann vom Wind aufs Meer hinaustreiben ließen. Sterben wie echte Wikinger wollten sie, aufrecht und mutig. Ein auslaufender Fischtrawler nahm sie drei Seemeilen vor der Küste an Bord und brachte sie, stocknüchtern und beinahe erfroren, nach Reykjavík zurück, im Schlepptau das Boot.

Frühzeitig hatte ein mit Barring befreundeter Bavaria-Produzent ihn vor den überfallartigen Gemütswallungen der isländischen Männer gewarnt. Wenn Isländer leiden, sagte er, leiden sie exzessiv. Eigentlich seien sie lieb und gesellig, feine Burschen, aber irgendwann, vor allem wenn Alkohol im Spiel sei, würden sie von einer Sekunde zur anderen handgreiflich. Das Ende mag so nah sein wie es will, die Aktienkurse können abstürzen und die Sparkonten gleich mit in die Hölle nehmen, der Isländer hat selbst da noch seinen Spaß, wenn man ihm genug zu trinken gibt.

Dieses Wissen hatte Barring veranlasst, alle Verträge mit einem Zusatzparagraphen zu versehen, der Schnaps vierundzwanzig Stunden vor dem nächsten Dreh ausdrücklich verbot. Aber Verträge, er hätte es wissen müssen, waren dazu da, um gebrochen zu werden.

Kohrs sagte: »Also, erstens will mir kein Grund einfallen, wieso sie abhauen sollte, wo sie doch weiß, was auf dem Spiel steht. Zweitens taucht sie vielleicht gleich auf, und du hast dir umsonst Gedanken gemacht. Gehen wir was essen. Ich habe Hunger und brauche einen Kaffee.«

Mürrisch folgte ihm Barring zum Büfett, nickte kurz zu den Tischen hinüber, an denen seine müden Leute saßen, nahm einen vorgewärmten Teller und begann, Kartoffelbrei, zwei gekochte Eier und weiße Bohnen in Tomatensoße darauf zu häufen. Am Tisch verschlang er alles mit großem Appetit.

Während Kohrs aufstand, um sich einen zweiten Teller mit warmen Pancakes und Ahornsirup zu holen, griff Barring zu dessen Drehbuch und blätterte durch die Seiten, bis er zu den Szenen kam, die sie heute auf dem Gletscher drehen wollten.

Der grüne Kartoneinband des Drehbuchs war von der täglichen Arbeit abgegriffen und an den Ecken eingeknickt. In winziger Handschrift, die nur er selbst entziffern konnte, hatte Kohrs mit Bleistift Anweisungen für die Schauspieler zwischen die Dialogzeilen geschrieben.

Sein Gespür hatte Barring wieder einmal recht gegeben. Er hielt einen goldenen Stoff in der Hand. Noch bevor die Dreharbeiten begonnen hatten, war in Deutschland spekuliert worden, worum es bei dem Projekt gehe. Politiker und Historiker ereiferten sich über das Thema, von dem bislang nur Gerüchte kursierten, die Barring an verlässlichen Stellen gestreut hatte. Es war eingetreten, was er sich gewünscht und was er vorausgesagt hatte: Praktisch vom ersten Tag an stand Der Eiskrieger im Rampenlicht der Öffentlichkeit.

In diesem Moment betrat der Nachtportier als letzte Dienstleistung seiner Schicht in Begleitung eines Mannes mit fast kahl rasiertem Schädel das Restaurant. Der Mann trug schwarze Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und darüber eine schwarze, mit Lammfell gefütterte Lederjacke. Selbst seine zu Schlitzen verengten Augen schienen schwarz zu sein.

Der Portier zeigte auf Barring, deutete eine Verbeugung an und kehrte in den Schutz seines Tresens zurück.

Barring sah den Mann mit federnden Schritten auf sich zusteuern. Er stand auf, die Serviette in der Hand.

»Sind Sie Hilmar Barring?«, fragte der Mann. »Der Produzent?«

Barring nickte. »Ja, und?«

Im Gesicht des Mannes zeigte sich keine Regung.

»Mein Name ist Olafur Hinriksson. Hauptkommissar Hinriksson, um genau zu sein. Ich arbeite bei der Kriminalpolizei von Reykjavík. Es handelt sich um eine sehr unerfreuliche Angelegenheit. Eine Ihrer Schauspielerinnen …«

»Julia Mestrom? Sie haben sie aufgegriffen?«

»Gefunden.«

»Meinetwegen. Hauptsache sie ist wieder aufgetaucht. Gott sei Dank. Was hat sie getan? Betrunken einen Polizisten belästigt?«

»Sie hat gar nichts getan. Frau Mestrom ist tot.«

Barring sank schwer auf seinen Stuhl zurück. Hinriksson zog sich einen freien Stuhl heran.

»Ihre Leiche wurde am Stadtteich gefunden. Soweit wir die Umstände ihres Todes bisher beurteilen können, haben wir es mit einem okkulten Verbrechen zu tun.«

»Okkultes Verbrechen? Was meinen Sie damit?«

»Aus diesem Grund habe ich die Unterstützung einer deutschen Kollegin angefordert«, fuhr Hinriksson fort. »Sie leitet in Berlin ein Dezernat, das auf diese Art von Tötungsdelikten spezialisiert ist. Da können wir nicht mithalten. Mit dem nächsten Flugzeug trifft sie hier ein.«

3

Der Pilot der Icelandair-Maschine meldete kurz vor der Landung eine niedrige Wolkendecke und leichten Schneefall.

Judith von Matt legte die amerikanische Originalausgabe des Theaterstücks The Heidi Chronicles von Wendy Wasserstein beiseite und rieb sich verschlafen die Augen, streckte die Beine aus und dehnte ihre Arme über dem Kopf. Sie wusste nicht genau, was sie nach ihrer Ankunft in Reykjavík erwartete, aber Olafur Hinriksson hatte einigermaßen angestrengt geklungen, als er ihr von seinem neuen Fall berichtete, der den Indizien zufolge alle Anzeichen eines Ritualmordes aufwies.

Sofort hatte sie angefangen, ihm Fragen zu stellen, noch ehe er mit seinem Bericht fertig gewesen war. Eine dumme Angewohnheit, doch seine staunenswerte Schilderung hatte ihre Neugier geweckt. Es war nur eine Formsache gewesen, ihren Chef, Dr. Schäferkordt, Staatssekretär des Inneren, davon zu überzeugen, der isländischen Polizei Amtshilfe zu leisten. Nach ein paar eilig geführten Telefongesprächen zwischen dem Innenministerium und der isländischen Botschaft in Berlin, der deutschen Botschaft Reykjavík und dem dortigen Polizeipräsidium, hatte Schäferkordt grünes Licht gegeben.

Den Ausschlag gab der Hinweis, dass es sich nach den ersten Ermittlungen bei der Toten um die international bekannte deutsche Schauspielerin Julia Mestrom handelte, aus deren Bewunderung Schäferkordt kein Hehl machte. Erleichtert wurde ihm seine Entscheidung auch durch die Zusage der isländischen Behörden, für die Reisekosten und die Spesen seiner Leute aufzukommen.

Denn Judith von Matt reiste nicht allein. Zwei Leute ihres Teams begleiteten sie: Richard Gossmann, der Spezialist für afrikanische und karibische Religionskulte, und Frank Tannen. Er hatte jahrelang die militärische Eingreiftruppe GSG 9 geführt, bis er sich bei einer Routineübung leicht verletzte und den Job einem Jüngeren überlassen musste. Nur zu gern hatte Judith ihn in ihre Abteilung aufgenommen. Nachdem alle von ihr gewünschten Positionen mit den fähigsten Mitarbeitern besetzt worden waren, hatte ihr nur noch einer gefehlt: ein gewiefter Logistiker und erfahrener Kämpfer, der ihr den Rücken freihielt.

Jetzt sagte Tannen: »Wenn ich früher an Island gedacht habe, dachte ich immer an kratzige Wollpullover mit einem Elch vorne drauf.«

»Unsinn, da gibt es keine Elche«, erwiderte Gossmann mürrisch.

»Ist mir doch egal.«

Seit drei Stunden hatte Gossmann keine Zigarette mehr geraucht, was für ihn eine schiere Ewigkeit bedeutete. Vor ein paar Minuten hatte er damit begonnen, sich geduldig einen Vorrat zu drehen. Seit vierzig Jahren, damals hatte er als Zwölfjähriger mit dem Rauchen angefangen, hielt er einer holländischen Marke die Treue. An gewöhnlichen Filterzigaretten fand er keinen Gefallen, da sie nach Staubsaugerbeuteln schmeckten und nur was für Mädchen seien. Einen ordentlichen Lungenzug müsse man bis tief in die Spitzen spüren, sonst sei es rausgeschmissenes Geld, das war seine Devise. Die Investition begann sich zu rächen, denn neuerdings wurde Gossmann von anhaltenden Hustenanfällen geplagt.

»Kann mir einer von euch erklären, warum die Mestrom wieder einen deutschen Film gemacht hat?«, fragte er. »Mich interessiert dieser ganze Filmkram eigentlich nicht, aber an ihren dramatischen Abgang nach Italien erinnere ich mich noch gut, die Zeitungen waren ja voll davon. Irgendein Skandal mit einem minderjährigen Nebendarsteller vor sieben oder acht Jahren, richtig?«

»Die Anwälte haben die Geschichte außergerichtlich beigelegt. Niemand weiß genau, was damals tatsächlich vorgefallen ist«, entgegnete Judith. »Außer den beiden Beteiligten. Die Presse fiel über sie her und wühlte in ihrem Privatleben herum. Eine Menge Staub wurde aufgewirbelt. Ehemalige Liebhaber packten aus, sagten, sie habe eindeutig nymphomanische Energie. Den Rest gab ihr die fünfteilige Serie einer großen Boulevard-Zeitung. Nach dieser Schmutzkampagne gewährte sie dem ›Spiegel‹ ein letztes Interview und floh Hals über Kopf nach Rom, wo sie später bei einer Premierenfeier ihren heutigen Mann kennenlernte.«

»Du hast dich gut vorbereitet«, staunte Tannen.

»Steht alles in den Unterlagen. Wenn du einen Blick hineingeworfen hättest, wüsstest du auch, dass sie damals gesagt hat, sie werde nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen.«

»Und was hat sie bewogen, ihre Meinung zu ändern?«

Die Antwort auf diese Frage kam von Gossmann: »Hat sie gar nicht. Der Film ist zwar eine deutsche Produktion, spielt aber in Island. Die Studioaufnahmen wurden in den Pinewood-Studios in England gedreht.«

»Brauchte sie Geld?«

»Ihr Mann«, sagte Judith, »hat reich geerbt. Später ging er in die Politik. Zurzeit steckt er mit seiner Partei Forza Italia in den letzten Zügen des Wahlkampfs. Wenn alles planmäßig läuft, darf er sich Hoffnung auf das Amt des Außenministers machen. Selbstverständlich hat auch Julia Mestrom mit ihren Filmen ein paar Millionen auf die Seite gelegt. Mit anderen Worten: Seit ihrem spektakulären Abgang lief bei ihr alles wie gehabt, bloß drei Nummern größer. Plus Mehrwertsteuer. Nachdem bekannt wurde, Julia Mestrom stehe demnächst für einen Film der deutschen Knossos Produktion vor der Kamera, fingen die Feuilletons das Spekulieren an, ihr Interesse an dem Projekt gelte offensichtlich der besonderen Thematik des Films.«

»Bei einem Klassentreffen«, sagte Gossmann, »fragte ich mal einen Schulfreund, der heute als Cutter beim NDR arbeitet, wer die beste deutsche Schauspielerin sei.«

Er leckte das Zigarettenpapier einer neuen Kippe an und drehte es fest um den bröselnden Tabak.

»Früher, hat er geantwortet, sei das Julia Mestrom gewesen, heute Veronica Ferres. Daraufhin kaufte ich mir jede DVD mit der Ferres. Und was soll ich euch sagen? Der Mann hat recht.«

»Ich habe gewisse Schwierigkeiten, mir das vorzustellen«, erwiderte Tannen. »Was für ein Jammer, Veronica Ferres! Was sagst du dazu, Judith? Immerhin bist du diejenige von uns, die am meisten Ahnung von der Schauspielerei hat.«

Das stimmte. Häufig verbrachte Judith von Matt ihre freie Zeit in einer Theatergruppe in Kreuzberg, in die sie der stellvertretende Leiter der Gerichtsmedizin der Charité, Dr. Christiansen, kurz nach ihrer Ankunft in Berlin eingeführt hatte. Er spielte dort selbst mit und machte aus seiner Bewunderung für Judith kein Hehl. Judith hatte immer ein Theaterstück bei sich, in dem sie bei jeder Gelegenheit las, im Café, in der U-Bahn. Besonders gelungene Dialogzeilen lernte sie auf der Stelle auswendig. Für die Reise nach Island hatte sie neben Wendy Wasserstein ihre Lieblingsstücke der nordischen Dramatiker Henrik Ibsen und Björnstierne Björnsen eingepackt.

»Ich mag die Ferres auch«, sagte sie. »Krieg ich deswegen jetzt Schwierigkeiten?«

Sie schaute Tannen mit einem herausfordernden Lächeln an.

»Manchmal erlebt man so seine Überraschungen«, brummte dieser.

»Hört auf, euch zu zanken«, sagte Gossmann mit seiner väterlichen Baritonstimme. »Ich weiß längst, was da bei euch im Gange ist.«

Tatsächlich hatte Frank Tannen bei Judith von Anfang an den Eindruck erweckt, als könnte er ein stabiler Teil ihres Lebens werden. Ihres neuen Lebens, das nach der Scheidung von ihrem Mann erst langsam wieder begann. Aber sie war noch nicht bereit, und selbst wenn, durfte sie es nicht so weit kommen lassen, obwohl Tannens charmante Annäherungsversuche ihrer verletzten Seele guttaten. Sie würden aufpassen müssen, beide, damit sich ihre ungeklärte Situation nicht in das Gegenteil dessen verkehrte, was es im Moment war.

In der menschenleeren Ankunftshalle des tristen Flughafens Kevlavik empfing sie ein fahlhäutiger isländischer Kripobeamter mit einem Dauerlächeln, als wäre es einbalsamiert. Nachdem er sich ihnen vorgestellt hatte, rasselte er mit einer rowdyhaften Schmirgelpapierstimme die ihm bekannten Fakten des Falles herunter wie ein Pizzabäcker das Mittagsmenü. Er lotste sie an einer französischen Reisegruppe mit schweren Rucksäcken vorbei zum Ausgang, wo sein Wagen parkte.

»Der Kopf!«, sagte er. »Muss man sich mal vorstellen. Ein schöner Schreck war das, kann ich Ihnen sagen. Noch nie habe ich eine Leiche so gesehen, in diesem Zustand.«

Er stieg in den Wagen, einen viertürigen Japaner, braun, schon länger nicht mehr gewaschen, ließ den Motor an, schaltete die Heizung an und wartete, bis der Schnee auf der Windschutzscheibe geschmolzen war.

Unter schwarzen Wolken fuhren sie im aschfarbenen Nachmittagslicht durch eine einsame Gegend voller Felsen und an humorlosen grauen Häusern vorbei. In den Straßen von Reykjavík, dessen Vororte sie nach einer halben Stunde erreicht hatten, kämpften sich die Menschen gegen den Wind über die Bürgersteige. In der Luft kreisten Möwen und Tölpel schreiend in den letzten Strahlen der Wintersonne, die es manchmal durch die wenigen Lücken in der dicken Wolkendecke schafften.

Vor dem Polizeipräsidium gegenüber der S-Bahn-Station Hverfisgatan im Stadtzentrum stiegen sie aus. Das Gebäude war gedrungen und rechteckig und wirkte wenig einladend. Über ihnen war das Pfeifen eines Jets zu hören, er flog nicht sehr hoch, wahrscheinlich kam er vom Inlandsflughafen, der im Stadtgebiet von Reykjavík lag, und flog zu einer der nördlichen Provinzen, nach Vopnafjördur oder Grimsey. In der Ferne gingen Regenschauer nieder, und vom Meer wehte eine frische Brise und trug den Geruch von Öl aus dem Hafen heran.

Der Wind war so heftig und scharf, dass Judith glaubte, Risse in der Haut zu spüren.

»Hier piept kein Vogel«, sagte Gossmann, hielt inne und lauschte. »Viel zu kalt zum Piepen.«

Der gesprächige Polizist, der sie gefahren hatte, lieferte sie im Zimmer von Kommissar Hinriksson ab. Dessen angespannte Gesichtszüge hellten sich auf, als er Judith sah.

»Sauwetter, was?«, begrüßte er sie und ging mit ausgebreiteten Armen um den Schreibtisch herum auf sie zu. Dann drückte er sie an sich.

»Es wird noch kälter werden, der Frost kommt von Spitzbergen rein. Danke, dass du so schnell gekommen bist, Judith. Wenn ich mir auch nettere Umstände für unser Wiedersehen gewünscht hätte.«

»Ich habe zwei Kollegen mitgebracht«, sagte sie und stellte ihm Gossmann und Tannen vor. »Ich muss dir nicht sagen, dass sie gut sind. Sie sind gut. Gemeinsam kommen wir hoffentlich schnell dahinter, wer diese irrsinnige Tat begangen hat und können einen Schlussstrich darunter ziehen.«

Sie klang zuversichtlicher, als sie sich fühlte.

»Noch eine Kleinigkeit«, sagte Hinriksson, »bevor wir anfangen. In Island ist es üblich, dass wir uns duzen und beim Vornamen nennen. Geht das für euch in Ordnung?«

Judith, Tannen und Gossmann nickten.

»Na, dann los«, begann Hinriksson. »Sämtliche Spurensicherungsarbeiten sind bereits erledigt, ebenso die Autopsie und die Zeugenbefragungen. Die Tat als solche war dreist und riskant. Die Tote wurde erdrosselt, bevor ihr der Täter den Kopf vom Rumpf abgetrennt hat. Wie es aussieht, geschah das mit einem Messer oder etwas Ähnlichem, das verdammt scharf gewesen sein muss. Auf der Haut am Hals, unterhalb der Schnittwunde, wurden Lederpartikel gefunden. Todeszeitpunkt: heute Morgen zwischen drei und vier Uhr. Fingerabdrücke zero.«

»Gibt es sonst noch etwas Beweiserhebliches?«, wollte Gossmann wissen.

»Kein Hinweis auf sexuellen Missbrauch, falls du das meinst. Kein Sperma in der Vagina oder sonst wo. Brieftasche, Handy, Reisepass, Kreditkarten und jede Menge Bargeld – alles da. Alles befand sich in ihren Kleidern, die der Mörder einfach in den nächsten Abfalleimer beim Tatort gestopft hat. Demzufolge scheidet ein Raubüberfall ebenfalls aus.«

Judith speicherte sämtliche Aspekte des Mordes in ihrem Gedächtnis ab und versuchte, nach einer gewissen Logik im Vorgehen des Mörders zu suchen.

»Offenbar«, sagte sie, »haben wir es mit einem Täter zu tun, der hingebungsvoll sein Handwerk ausübt. Die Runen sind ein Symbol. Wie er sie auswählt und platziert, ist ritualistisch, und wenn Rituale im Spiel sind, dann sind sie in der Regel das Entscheidende. Er schneidet seinem Opfer den Kopf ab und platziert die Arme und Beine mit Absicht auf ungewöhnliche Weise. Dies und die Runen bilden offenbar seine Signatur, von der er nicht wieder abweichen wird, wenn er sie erst einmal entwickelt hat.«

Hinriksson pflichtete ihr bei. »Wir dürfen ihm keine Gelegenheit geben, seine ›Kunst‹ zu perfektionieren.«

»Dieser Sigurpáll Einarsson, von dem wir gehört haben, ist er tatsächlich ein ernstzunehmender Verdächtiger?«, fragte Gossmann.

»Jedenfalls verdient er es, einer zu sein«, erwiderte Hinriksson. »Aber das ist nicht unbedingt die Art von Geschichte, mit der wir an die Öffentlichkeit gehen können. Wir haben zu wenig gegen ihn in der Hand, um ihn festzunehmen. Natürlich machen sein merkwürdiger Auftritt im Restaurant und die Drohungen, die er dabei ausstieß, ihn für uns zum ersten Kandidaten. Es gibt jedoch eine Menge Zeugen, die behaupten, zur Tatzeit mit ihm zusammen gewesen zu sein. Der Armanen-Orden, den er anführt, tritt nach außen hin nicht offen rassistisch auf. Im Gegenteil, er dementiert sogar grundsätzlich jede rassische Tendenz. Die Mitglieder, jedenfalls die meisten, wohnen unter einem Dach, genauer gesagt auf einem alten Bauernhof am Stadtrand, wo sie Islandpferde züchten. Neun Männer und acht Frauen. Eine der Frauen stammt aus Schweden, eine ist Amerikanerin. Die anderen sind Isländer. Einarsson wohnt auch da. Jeder gibt für den anderen ein perfektes Alibi ab. Ähnlich schwierig gestalten sich die Ermittlungen bei euren Landsleuten, die für den Film arbeiten. Fast alle haben ein Einzelzimmer im Hotel Borg, jeder behauptet, er habe geschlafen, selbstverständlich allein. Was die Heiden im Überfluss haben, nämlich Zeugen, damit kann von denen keiner dienen. Ich schlage vor, ihr befragt sie morgen selbst noch einmal. Der Reihe nach. In der Muttersprache plaudert es sich bekanntlich leichter.«

Judith sah aus dem Fenster auf die wild bewegte See und die großen Lagertanks, in denen importiertes Öl und Benzin gebunkert wurden. Ein einsamer Jogger stemmte sich auf dem Fußweg neben der Küstenstraße gegen den Wind und schien kaum voranzukommen.

Gossmann entschuldigte sich. Er brauche eine Zigarette, Wind hin oder her.

»Bleibt noch der Kameramann, dieser Kristjánsson«, sagte Judith und wandte sich wieder dem Gespräch zu. »Du sagtest, er ist mit Julia Mestrom schon früh von dem Filmfest im Restaurant weg und zu einer weiteren Feier gegangen. Welches Alibi hat er?«

»Wie es aussieht, hat er nicht gerade den Gentleman gespielt. Übereinstimmenden Aussagen zufolge wollte Julia Mestrom gegen zwei Uhr die andere Party verlassen und ins Hotel zurückkehren. Sie forderte ihn auf, sie zu begleiten, aber er wollte noch dableiben. Vielleicht hing das mit dem Krach zusammen, den die beiden zuvor hatten. Angeblich hat sie ihn rumkommandiert, hol mir einen Drink, ich will noch was von dem Heilbutt, die Musik ist zu laut und dies und das, man weiß ja, wie so etwas läuft. Irgendwann hatte er die Nase voll und ließ sie links liegen, stattdessen kümmerte er sich um ein hübsches Ding, das ungefähr dreißig Jahre jünger als die Mestrom war. Da ist sie erst recht wütend geworden und hat ihm eine Szene gemacht, vor versammelter Mannschaft, ihn als Schlappschwanz beschimpft und einen Versager und Kriecher genannt. Anschließend goss sie ihm eine halbe Flasche Bier über den Kopf, woraufhin Kristjánsson ihr eine scheuerte. Sie fing das Kreischen an, schnappte sich ihren Mantel und ist abgehauen.«

»Kein Taxi?«, fragte Tannen.

»Sie hätte wohl besser eins genommen. Das Haus, in dem die Party lief, gehört einer Band, den Bloodhounds, in der spielt auch Kristjánsson mit, als Gitarrist. Sie machen auf Rockergang, sind aber ziemlich friedlich.«

»Und der Tatort?«, fragte Tannen.

»Liegt vom Haus der Bloodhounds höchstens zehn Minuten und vom Hotel Borg fünf Minuten entfernt. Keine direkte Linie.«

»Also muss jemand sie abgefangen haben«, sagte Judith. »Dieser Kristjánsson, was ist das für ein Typ?«

»Hat mal gesessen.«

»Was hat er gemacht?«

»Faule Schecks in Umlauf gebracht«, antwortete Hinriksson. »Hat sechs Monate gekriegt. Dann war er noch einmal angeklagt, wegen Rauschgifthandels. Er hat auf dem Schiff Drogen von Schottland nach Island transportiert. Aber die Anklage wurde fallengelassen. Einer unserer Informanten hatte uns erzählt, dass Kristjánsson dabei war, einen Schmuggeldienst aufzuziehen. Ein paar Mal hat das anscheinend auch geklappt, doch ausgerechnet als wir ihn uns einmal bei seiner Ankunft schnappen wollten, hatte er bloß lächerliche zwei Gramm dabei, in seiner Hosentasche. Schwarzer Afghane, minderwertige Ware. Der Staatsanwalt hat nur gelacht und uns nach Haus geschickt. Außerdem gab’s ein paar Schlägereien, an denen er beteiligt war, immer im Suff. Mit sechzehn Jahren wurde er für eine Nacht eingebuchtet, weil er nach einem Konzert gegen die Limousine von Phil Collins gepinkelt hat und anschließend zwei Scheiben der Karre zertrümmerte.«

»Dafür landet man bei euch im Gefängnis?«, fragte Tannen.

Hinriksson ging nicht darauf ein. »Wenn er keine Filme dreht, arbeitet er als Aushilfskellner oder malt zur Entspannung in Öl. Als Kellner ist er besser. Wenn ihr einverstanden seid, schauen wir uns die Fotos vom Tatort später an, zusammen mit einem Experten, an dessen Meinung mir sehr gelegen ist. Er hält sich zu einem Seminar in Aberdeen auf und kehrt erst morgen früh mit der ersten Maschine von dort zurück.«