Das dunkle Ritual - Hannes Sprado - E-Book

Das dunkle Ritual E-Book

Hannes Sprado

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  • Herausgeber: Refinery
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Der neue Fall von Kommissarin Judith von Matt und ihrem Team, den Experten für Verbrechen mit okkultem Hintergrund, ist an Grausamkeit kaum zu übertreffen. In einem Waldstück nahe Berlin wurde die ausgeweidete Leiche eines Kindes gefunden, das wahrscheinlich Opfer der Anhänger des afrikanischen Muti-Kultes geworden ist. Diese stellen ihre Muti-Medizin aus den Organen von Kindern her, die als besonders wirksam gelten, ganz besonders, wenn sie bei der Entnahme noch am Leben sind. Zu Recht vermuten die Ermittler, dass dies erst der Anfang einer grausamen Serie ist…

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Der Autor Hannes Sprado, 1956 geboren, war Redakteur und Chefredakteur mehrerer Zeitschriften. Seit 2006 ist er Herausgeber der P.M.-Zeitschriftengruppe. Er lebt mit seiner Familie in München.

Das Buch

Der neue Fall von Kommissarin Judith von Matt und ihrem Team, den Experten für Verbrechen mit okkultem Hintergrund, ist an Grausamkeit kaum zu übertreffen. In einem Waldstück nahe Berlin wurde die ausgeweidete Leiche eines Kindes gefunden, das wahrscheinlich Opfer der Anhänger des afrikanischen Muti-Kultes geworden ist. Diese stellen ihre Muti-Medizin aus den Organen von Kindern her, die als besonders wirksam gelten, ganz besonders, wenn sie bei der Entnahme noch am Leben sind. Zu Recht vermuten die Ermittler, dass dies erst der Anfang einer grausamen Serie ist…

Hannes Sprado

Das dunkle Ritual

Thriller

Refinery by Ullsteinwww.ullteinbucherlage.de/verlage/refinery

Neuausgabe bei Refinery Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 1. Auflage Februar 2017 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®   ISBN 978-3-96048-066-2   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

1

Zuerst sah der Junge das Feuer, dann sah er die Männer, die Schatten der Männer, sah, wie sie in einem Halbkreis um die lodernden Flammen auf der Erde hockten und ihn mit neugierigen Blicken willkommen hießen. Sie dünsteten ein schweres Schweigen aus, das dem Jungen gegen die Brust drückte.

Dünne Rauchsäulen züngelten geisterhaft empor und hielten ein paar glühende Holzsplitter in der Schwebe. Der Widerschein des Feuers tanzte in den Wipfeln der Bäume. Hinter dem Feuer liefen die Wellen eines Baches auf das flache Ufer. Der Bach floss lautlos und schwarz dahin, ein paar Äste drehten sich langsam in der Strömung. Auf der beinahe glatten Wasseroberfläche sah der Junge den Mond.

Unwillkürlich hob er den Blick und schaute hinauf in die Nacht. Der Anblick der Sterne erfüllte ihn mit Sehnsucht. Hier sahen sie anders aus als in seiner Heimat, unendlich weit weg waren sie hier und so blass.

Er schmeckte den Rauch. Etwas Finsteres und Beunruhigendes rührte sich in seinem Unterbewusstsein, und sein schmächtiger Körper begann zu zittern.

»Komm jetzt«, sagte der Mann, der ihn abgeholt und auf diese Lichtung gebracht hatte. Die letzten Kilometer waren sie über schmale Schotterwege durch dicht stehende Tannen gefahren, die wie eine drohende Armee der Nacht Spalier standen. Schnell hatte der Junge in der Dunkelheit jegliche Orientierung verloren.

Der Mann schlug die Tür des Wagens zu und legte dem Jungen seine große Hand auf die Schulter.

»Man erwartet dich.«

Einen Moment lang schaute der Junge in die schwärzesten Augen, die er jemals gesehen hatte, dann wandte der Mann den Blick ab und schob ihn vorwärts.

Ein warmer Lufthauch wehte ihnen entgegen, als sie auf das Feuer zugingen. Auf einmal fühlte der Junge die immense Hitze. Mit jedem Schritt wurde es schlimmer.

Er wusste nicht, dass er nur noch wenige Minuten zu leben hatte.

2

Ihre Gäste mussten jeden Augenblick kommen. Judith von Matt rührte die Majoran-Tomaten-Soße mit Krebsschwänzen um, die seit ein paar Minuten auf kleiner Flamme vor sich hin köchelte, zog die Spaghetti aus der Packung und legte sie neben den großen Topf mit gesalzenem Wasser. Die Vorspeisen – Oliven, Sardellen mit Kapern, Bresaola, fein geschnittene Paprika und Ziegenkäse – lagen hübsch garniert mit Petersilie und Zitronenscheiben auf einem blau-weiß gemusterten Porzellanteller aus der Zeit ihrer Großmutter. Für den besonderen Anlass standen drei entkorkte Flaschen eines 94er Bordeaux bereit, ein Spitzenjahrgang, der Judith von Matt ein kleines Vermögen gekostet hatte.

Sie goss sich ein Glas Prosecco ein, holte aus ihrem Schlafzimmer einen Band mit Theaterstücken von David Mamet, der in der Mitte des ersten Aktes von »Handlage Meerblick« aufgeschlagen war, und trat hinaus auf die kleine Dachterrasse.

Ein milder Sommerabendwind strich ihr übers Gesicht und verfing sich in den langen braunen Haaren, die in sanften Wellen über die Schultern und hinab auf das schwarze Top fielen. Sie blinzelte in die Sonne, die langsam hinter den Hochhäusern im Westen verschwand, aber noch so stark war, dass sie für einen Augenblick geblendet wurde. Sie setzte sich in einen weißen Korbstuhl, der in den vergangenen Tagen ihr Lieblingsplatz in der von einer Hitzewelle niedergedrückten Stadt geworden war, und begann zu lesen.

Wann immer sie die Zeit fand, las sie ein Drama. In der Badewanne, im Café, in der U-Bahn, beim Friseur. Aus Romanen machte sie sich kaum etwas und aus Sachbüchern, wenn sie nicht gerade ihre Arbeit betrafen, überhaupt nichts.

Solange sie denken konnte, hatte die Welt des Theaters sie fasziniert, weshalb sie von der neuen Einheit auch als ihrem »Ensemble« sprach.

In der Theater-AG des Alten Gymnasiums in Bremen hatte sie es in etlichen Inszenierungen zu bescheidenem Erfolg gebracht, vor allem in den Klassikern von Shakespeare, Kleist und Zuckmayer wusste sie zu überzeugen. Ihre Darstellung der Lady Macbeth trug ihr stehende Ovationen in der Aula ein und viel Lob von ihrem Schauspiellehrer. Sogar der »Weser Kurier« widmete der Aufführung in seinem Lokalteil eine wohlwollende Besprechung, in welcher der Kritiker der jungen Hauptdarstellerin ein »schneidiges Talent« bescheinigte. Daher war es nur logisch, dass sie sich nach dem Abitur, infiziert vom Theatervirus und angeregt durch die Werke bekannter Existenzialisten, einer ambitionierten Schauspielgruppe anschloss, die sich den amerikanischen Dramatikern verpflichtet fühlte, allen voran Arthur Miller, Thornton Wilder und Eugene O’Neill. Glücklicherweise begriff Judith beizeiten, dass sie vielleicht genug Talent besaß, um unter Laiendarstellern eine ordentliche Figur abzugeben, aber nicht annähernd genug, um eine professionelle Karriere in Erwägung zu ziehen. Diese Erkenntnis trieb ihr die Spielfreude keineswegs aus. Sobald es ihre Zeit erlaubte, würde sie sich in Berlin auf die Suche nach einer Amateurgruppe begeben, die zu ihrer Vorstellung von künstlerischem Anspruch passte. Es gab noch viele Rollen für Judith von Matt zu spielen.

Zu ihren Füßen, sechs Stockwerke tiefer, lag Charlottenburg, Berlin von seiner schöneren Seite. Ihr neues Büro lag nur ein paar Häuserblocks weiter, in der Kantstraße, die parallel zum Kurfürstendamm mit seiner endlosen Zahl von Geschäften verläuft, die in ihren Fenstern verfeinerten Luxus anbieten.

Ihre Exkollegen beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden hatten gestaunt, als sie erfuhren, was nun auf ihrer Visitenkarte stand: Dezernat für okkulte Verbrechen (DOV). Nicht, dass sie von der neuen Position ihrer Kollegin sonderlich überrascht waren, denn über die Jahre hatte sie die Fachwelt immer wieder mit bemerkenswerten Vorträgen über ihre Fachgebiete Buddhismus und Christentum begeistert. Ihre Examensarbeit hatte sogar einiges Aufsehen erregt, weil sie sich mit den Schreckgespenstern beschäftigte, die unter dem dünnen Lack des Katholizismus seit Jahrhunderten brodeln. Punkt für Punkt hatte sie angeführt, weswegen der katholischen Kirche nur noch eine begrenzte Zeit blieb, bis sie durch eine andere, vielleicht völlig neue Weltreligion verschluckt oder ersetzt werden würde. Daraufhin prophezeite ihr ein bayrischer Pfarrer, sie werde sich schon bald Crowley’sche Beschwörungsformeln murmelnd im dunklen Wahn unter einer Eisenbahnbrücke wiederfinden.

Dass Judith von Matt im BKA hervorragende Arbeit bei der Aufklärung von drei Ritualmorden geleistet hatte, in Freiburg, Saarbrücken und Görlitz, trug das Übrige zu ihrer Beförderung als Leiterin der neuen Einheit bei.

Inzwischen schienen die Jahre in Wiesbaden eine Ewigkeit her zu sein. Ja, sie war zielstrebig, voller Energie, karrierebewusst, aber eigentlich hatte sie nie vorgehabt, aus Wiesbaden wegzugehen. Das Ende ihrer Ehe mit Holger, einer Jugendliebe aus der Nachbarschaft im bremischen Ostertor, bewog sie dann schließlich doch, den neuen Job, den man ihr in der fernen Hauptstadt anbot, nach kurzem Zögern anzunehmen, auch wenn sie zunächst nicht wusste, wie ihre Arbeit genau aussehen würde. Selbstverständlich war sie sich von Anfang an darüber im Klaren, dass nicht nur die endgültige Trennung von ihrem Mann den Ausschlag gegeben hatte. Ein anderer, schwerer wiegender Grund hatte sie dazu veranlasst, und sie musste aufpassen, dass man sie deswegen nicht missbrauchte.

Es war zehn nach acht. Die neuen Kollegen ließen auf sich warten.

Zu den vielen Merkwürdigkeiten, derentwegen sie sich eine Woche Bedenkzeit für ihre endgültige Entscheidung erbeten hatte, gehörte, dass sie sich ihr Ensemble nicht selbst hatte zusammenstellen dürfen. Alle, sie selber eingeschlossen, waren von einem Stab des Innenministeriums in Absprache mit dem Bundeskriminalamt ausgewählt worden, mit dem Ziel, die ständig steigende Zahl von Verbrechen mit okkultem Hintergrund in Deutschland künftig schneller und effizienter aufzuklären.

Vor fünf Wochen hatten sie sich alle in den neuen Büros in der Kantstraße zum ersten Mal getroffen. Es war ein vorsichtiges aneinander Herantasten gewesen, schon damals wurde ihr klar, dass sie es mit ausgewiesenen Spezialisten in ihren jeweiligen Fachgebieten zu tun haben würde, ebenso schwierigen wie selbstbewussten Charakteren, die erst noch zueinanderfinden mussten. Aus diesem Grund hatte Judith von Matt sie an diesem Abend zu sich nach Hause zum Spaghetti-Essen eingeladen. Um das Eis zu brechen.

Sie gab noch ein paar Spritzer Tabasco an die Soße, kostete das Ergebnis, band die Schürze ab und stellte die Weinflaschen auf den Tisch. Im Wohnzimmer schob sie eine CD mit Filmmusik von »Gottes Werk und Teufels Beitrag« in die Stereoanlage und drehte sie auf eine angenehme Lautstärke.

Es klingelte, als sie damit beschäftigt war, die weißen Stoffservietten zu kunstvollen Schwänen zu falten, wie ihre Mutter es sie für Anlässe wie diesen gelehrt hatte.

Bettina Riess war die Erste, sie kam allein, in der Hand einen Blumenstrauß, dessen herausragende Eigenschaft seine Kargheit war: sechs beinahe vertrocknete Tulpen, eingewickelt in zerknautschtes Zellophanpapier.

»Tut mir leid«, sagte sie mit einem gequälten Lächeln. »Ich weiß, ich bin spät dran, und mein Kleingeld hat bloß für diesen mickrigen Strauß aus dem Automaten gereicht. Bist du jetzt sauer? Sag ehrlich? Sollen wir es mit einer Vase probieren, oder willst du sie gleich in den Mülleimer werfen?«

»Komm erst mal rein«, sagte Judith. »Ich freue mich über die Blumen – auch wenn sie ein bisschen gebraucht aussehen. Magst du einen Prosecco? Bedien dich, die Flasche und Gläser stehen im Wohnzimmer auf dem Sideboard neben dem Fenster.«

Judith nahm ihr die Blumen ab und sah Bettina Riess amüsiert nach, wie sie in ihrem Secondhand-Outfit – dunkelroter Minirock, schwarze Strumpfhose, schwarze Lederjacke, gelbes Top, Nietengürtel, weiße Turnschuhe – mit tippelnden Schritten im Wohnzimmer verschwand.

Sie mochte Bettinas unbeschwerte Art, so schnell schien sie nichts aus der Fassung zu bringen. Ebenso schätzte sie ihre bemerkenswerte Sprachbegabung – Englisch, Italienisch, Französisch, Russisch, ein bisschen Griechisch – und ihr unaufgeregtes Organisationstalent. Auch wenn Bettina Riess sie auf den ersten Blick an eines der Hippiemädchen in der Carnaby Street im London der sechziger Jahre erinnert hatte, als Yusuf Islam noch Cat Stevens hieß und LSD die Augen größer machte, so war sie inzwischen überzeugt, in ihr die perfekte Sekretärin gefunden zu haben.

»Schöne Musik«, rief Bettina aus dem Wohnzimmer. »Ich sehe, du magst Filmmusik. Hast du keine anderen CDs?«

»Ich bin quasi süchtig danach. Erinnerst du dich an ›Herr der Gezeiten‹?«

»Mit Barbra Streisand und Nick Nolte, klar.«

»Nach zehn Minuten saß ich Make-up-verschmiert im Parkett.«

»Wegen der Musik?«

»Auch, damals hat es angefangen. Die Einsamkeit, die Barbra im letzten Song, ›Places that belong to you‹, in ihre Stimme legt, ist einfach herzzerreißend.«

»Was kochst du uns? Riecht köstlich. Darf ich naschen?«

»Möchtest du das Rezept haben?«

»Ich lese keine Rezepte und Kochbücher mehr. Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört. Entweder waren sie zu gut, und ich war hinterher deprimiert, oder sie waren einfach schlecht, und ich kriegte einen Höhenflug. Beides war Scheiße.«

Fünf Minuten später tauchte auch der Rest des Ensembles auf. Es ergab sich ein flüchtiger Moment der Verlegenheit, als sie zusammen in den engen Flur traten und ihre Gastgeschenke ablieferten: Eine Flasche Ouzo, sie kam, natürlich, von Richard Gossmann. Eine Schachtel holländische Schokoplättchen, zartbitter, von Carlijn Overboek. Ein spießiger Salz- und Pfefferstreuer von Margret Karven (von ihr hatte sie nichts anderes erwartet), und Frank Tannen brachte einen intakten Strauß roter, blauer und gelber Dahlien mit.

»Die sind vielleicht ein bisschen lang«, sagte Tannen zerknirscht, »aber du kannst sie ja in den Schirmständer stellen.«

Judith sagte, das Essen sei fertig, sie sollten sich bitte gleich an den Tisch setzen.

»Du hast nur für sechs Personen gedeckt? Kommt denn Schäferkordt nicht?«, fragte Gossmann. Er stopfte sich mit einem Schnaufen die Serviette ins Hemd.

Carlijn Overboek sagte: »Der ist mit seinem Minister auf Wahlkampftour im Badischen. Hab es vorhin in den Nachrichten gesehen. Die beiden machen auf volksnah. Weinprobe in Sinzheim, Redaktionsbesuch bei Burda in Offenburg, Stadtfest in Gaggenau, Hände schütteln, Ferkel streicheln.«

»Breuning hat doch eh keine Chance«, sagte Tannen. »Habt ihr die letzten Umfrageergebnisse gesehen? Der schmiert völlig ab. Im ZDF-Politbarometer liegt er hinter Gregor Gysi.«

»Schäferkordt«, sagte Judith von Matt, »ist sowieso keiner von uns. Er spielt auf der anderen Seite.«

»Immerhin ist er dein Vorgesetzter, vergiss das nicht«, sagte Gossmann.

»Und wennschon. Für den Staatssekretär des Inneren steht heute keine Reservierung im Protokoll.«

Einige lachten.

Dr. Winfried Schäferkordt war der Mann, der sie alle auf Herz und Nieren geprüft und eingestellt hatte. Im Ministerium spotteten seine engsten Mitarbeiter, er habe das Organ von Mussolini und das Rückgrat einer Amöbe.

»Der Mann ist ein Künstler der Mimikry, wenn ihr mich fragt. Und ich kenne ihn ziemlich gut«, sagte Gossmann und starrte mit hungrigen Augen auf die Schale mit Spaghetti, die Judith soeben auf den Tisch stellte. Augenblicklich erfüllte der Duft von Knoblauch, Oregano und Parmesan die Luft.

»Stellt euch vor«, fuhr Gossmann fort, »er sitzt im Zug und schläft ein. Wenn er aufwacht, erzählst du ihm, er ist in Budapest, und er wird ungarisch sprechen.«

Margret Karven, eingehüllt in eine Wolke aus teurem Parfum, spielte mit den Lapislazuli-Perlen ihres Armbands. Sie war kräftig gebaut und hatte eine rauchige Stimme, daher klang alles, was sie sagte, auf seltsame Weise aggressiv. Wie üblich waren ihre Wimpern eine Spur zu schwarz getuscht, womit sie von ihrer cäsarischen Hakennase abzulenken versuchte. Man hatte Margret Karven für das Team ausgewählt, weil sie über hervorragende Kenntnisse der indianischen und asiatischen Kulte und Religionen verfügte.

»Schäferkordt nicht einzuladen könnte ein Fehler gewesen sein«, sagte sie.

»Er mag mich nicht besonders, ich weiß«, sagte Judith. »Aber das ist mir egal.«

»Sobald er eine Möglichkeit sieht, dich zu kippen, wird er es tun, das ist dir doch klar. Er wollte einen anderen für diesen Job. Allein das Wort des BKA-Präsidenten hat die Sache für dich entschieden. Ich bin sicher, du weißt warum.«

»Das stimmt nicht ganz«, sagte Judith mit Nachdruck. »Ich habe mich entschieden.«

»Hört, hört«, sagte Margret Karven spöttisch. Sie spreizte ihre Finger, die gefaltet vor ihr auf der Tischkante lagen.

»Kein Grund zum Zynismus, liebe Margret«, sagte Judith. »Ich weiß, dass du ebenfalls in der engeren Wahl gewesen bist. Wollen wir es trotzdem miteinander versuchen?«

»Was bleibt uns anderes übrig.« Ein missmutiger Ton schwang in ihrer Stimme mit. »Wir könnten die Karten befragen, wie es ausgeht. Oder hast du Angst davor?«

Aus ihrer Handtasche, die über der Stuhllehne hing, zog sie ein abgegriffenes Tarot-Kartenspiel und legte es neben ihren Teller, mit den Symbolen nach unten.

»Was glaubst du, welche Karte wird die erste sein, wenn ich sie aufdecke? Hast du Lust, es zu probieren? Nein? Dann tue ich es für dich … Sieh mal einer an, die ›Fünf der Stäbe‹! Das scheint mir doch sehr passend zu sein.«

»Und was bedeutet die ›Fünf der Stäbe‹?«, fragte Judith und versuchte nicht allzu neugierig zu klingen.

»Die Wandspruchversion lautet: Sie ist das Symbol des Unfriedens, der Frustration, weil derjenige, den sie betrifft, nicht weiß, wohin er mit seiner Energie soll.« Margret Karven ließ ihren Ausführungen einen schweren Seufzer folgen. »Pech für dich.«

»Mach dir um mich keine Sorgen«, erwiderte Judith. »Wenn es schlimm kommt, gebe ich dir einfach von meiner Energie etwas ab. Du könntest sie brauchen. Warum warten wir nicht ab, wie es sich entwickelt? Ich finde, das sind wir einander schuldig.«

Die angespannte Situation drohte in eine offene Feindseligkeit umzuschlagen.

»Wie sich was entwickelt?«, fragte Margret Karven.

»Du und ich. Wie wir miteinander auskommen.«

»Wollt ihr wohl damit aufhören, euch zu zanken?«

Das war Carlijn Overboek. Von Interpol in Den Haag angefordert, sollte sie ihr außerordentliches Wissen über die Geschichte der Hexen- und Satanskulte in Europa einbringen, die sie an der Universität Leiden ausgiebig studiert und als Fakultätsassistentin vertieft hatte, bis Interpol auf sie aufmerksam wurde. Jetzt legte sie demonstrativ ihr Besteck beiseite.

»Richard, Frank – sagt ihr doch auch mal was!«

»Komm runter von deinem Empörungs-Everest, Margret«, brummte Frank Tannen. »Um uns herum gibt es genug Neider und Stimmungsmacher, denen wir ein Dorn im Auge sind. Wenn wir auch noch anfangen, uns gegenseitig aufzureiben, können wir das Kontor gleich schließen.«

Unter seinem schwarzen T-Shirt zeichneten sich trainierte Muskeln ab, die er seit seiner Zeit als Einsatzleiter bei der GSG 9 mit einem strammen Fitness-Programm weiter in Form hielt. Für Judiths Geschmack sah Tannen unübertrefflich, ja spektakulär gut aus mit seinen langen schwarzen Koteletten und dem Dreitagebart, den tiefbraunen Augen und dem dunkel gestreiften Blazer zum weißen Hemd. Aber sie war noch nicht wieder bereit für einen neuen Versuch. Oder doch? Immer wieder wanderte ihr Blick zu ihm hin, zu seinen Augen, die das Zweitbeste an ihm waren. Das Beste waren seine Hände, kräftig und trotzdem aufregend sinnlich.

»Und du, Richard?« Margret Karven wandte sich an ihren Nachbarn. »Hast du auch etwas zu sagen, oder hältst du dich wieder einmal raus?«

»Lasst mich bloß mit eurem Weibergezicke in Ruhe«, sagte Gossmann, strich mit der linken Hand die Serviette über seinem Bauch glatt und stopfte sich eine Gabel aufgerollter Spaghetti in den Mund. Die Serviette zeigte bereits erste Spuren seiner leidenschaftlichen Essgewohnheiten.

»Und wenn nicht?«, hakte Margret Karven nach. »Holst du dann dein Püppchen raus und pikst es mit der Nadel, um mir wehzutun?«

»So was Ähnliches«, entgegnete Gossmann mit vollem Mund und hob den Blick, musterte ihr Kleid. »Du solltest Nutellabraun weiträumig meiden. Die Farbe passt nicht zu deinen grünen Augen.«

Richard Gossmann, der Älteste des Ensembles, war ein anerkannter Experte für Candomblé, Santería und Voodoo. Auf vielen Reisen nach Afrika, in die Karibik und nach Südamerika hatte er seine ohnehin enormen Kenntnisse über diese Kulte in Jahren mühseliger Recherche vervollständigt und verfeinert. Mit seiner langsamen Art zu sprechen, seinem breiten Gesicht und den weich gepolsterten Wangen wirkte er wie ein personifiziertes Lebensmotto: Warum gehen, wenn ich stehen kann, warum stehen, wenn ich sitzen kann, und warum sitzen, wenn ich liegen kann. Bei der Hamburger Polizei, von wo man ihn für die Okkulte Verbrechensermittlung abgezogen hatte, hieß es, Gossmann hätte sich jedes Mal am liebsten in einer Sänfte zum Tatort tragen lassen. Und selbstverständlich auch zurück.

Bettina Riess stand auf, um ihrer Chefin beim Abräumen zu helfen. Mit den Tellern in der Hand blieb sie vor dem Regal stehen und überflog die Titel der Bücher.

»Neil Simon, Peter Weiss, Edward Albee, Christopher Marlowe, Wendy Wasserstein und so weiter und so weiter. Hast du die alle gelesen?«

Beeindruckt schaute sie die sechs Regalbretter voller Tragödien, Komödien und Lustspiele an.

»In ein paar habe ich sogar mitgespielt«, sagte Judith und balancierte ein Tablett mit Schüsseln und Besteck an ihr vorbei.

»Das ist ja reizend«, sagte Bettina Riess und folgte ihr in die Küche. »Natürlich, es gibt gute Stücke. Aber schlechte Theaterinszenierungen sind das Längste, was es gibt. Wenn ich das Gefühl habe, dass das Leben mal wieder zu schnell dahinrast, gehe ich ins Theater, dann bleibt die Zeit stehen. Man glaubt, die Uhr geht falsch.«

Judith lachte.

»Hat Strindberg auch gesagt: ›Das Leben ist kurz, aber solange es andauert, kann es einem lang werden.‹«

»Recht hat der Mann«, entgegnete Bettina, als sie gemeinsam ins Wohnzimmer zurückkehrten. »Das Leben ist viel zu kurz, um nur unter der Dusche zu singen.«

Überrascht schauten die anderen auf.

»Was ist denn?«, fragte sie wie ertappt, als sie es bemerkte.

»Ergeben deine Worte einen tieferen Sinn?«, fragte Gossmann.

»Ich meine, wir sollten uns das Leben nicht unnötig schwer machen.«

»Damit könntest du richtig liegen«, sagte Gossmann, zufrieden mit dieser Antwort.

»Sie liegt immer richtig, außer da, wo richtig falsch ist«, sagte Tannen grinsend und stieß Bettina mit dem Ellenbogen neckend in die Seite. »Stimmt’s?«

»Pass du mal auf, ich …«

Ihre Erwiderung wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Judith entschuldigte sich, nahm das Telefon aus dem Ladegerät und ging nach nebenan ins Schlafzimmer, wo sie ungestört reden konnte.

Sie erschrak, als sie seine Stimme hörte, zum ersten Mal seit vier Monaten. Es war lange her, aber sie wusste, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Sich früher bei ihr zu melden, hätte ihn in Schwierigkeiten gebracht, was nicht bedeutete, dass der jetzige Zeitpunkt etwa günstiger war.

»Alexander! Bist du verrückt geworden? Mich zu Hause anzurufen?« Obwohl ihre Gäste sie nicht hören konnten, flüsterte sie. »Bestimmt wird mein Telefon noch immer abgehört.«

»Natürlich wird es das. Außer dir gibt es schließlich niemanden, an den ich mich wenden könnte, und das wissen sie.«

»Wo bist du, um Himmels willen?« Ihre Frage war töricht, sie wusste es in dem Moment, als sie ihr über die Lippen stolperte. »Ich meine, bist du gesund? Ist alles in Ordnung?«

»Manchmal frage ich mich schon beim Frühstück, was schlimmer ist, die Stimmung oder die Lage. Nein, im Ernst, ich bin in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Ich hab es in der Zeitung gelesen und wollte dir gratulieren. Okkulte Verbrechensermittlung also. Was ist denn das für ein Verein?«

»Einer, in dem wir jemanden wie dich gut gebrauchen könnten … unter anderen Umständen natürlich.«

»Du weißt, warum sie dich genommen haben. Sind sie wenigstens nett zu dir?«

»Wir probieren es gerade aus. Ich habe das ganze Ensemble zum Nudelnessen eingeladen. Sie sitzen alle im Wohnzimmer.«

»Das nenne ich perfektes Timing. Wissen sie über mich Bescheid? Über uns? Ich meine, dass du meine Schwester bist?«

»Vielleicht nicht alle, und die anderen sind taktvoll genug, es nicht jeden Tag zu erwähnen.«

»Hätte ich mir denken können.«

»Alexander, was willst du? Kann ich dir helfen?«

»Hab ich doch gesagt, dir gratulieren.«

»Deshalb begibst du dich in solche Gefahr?«

»Wenn meine Schwester die Karriereleiter hochspringt, ist das, finde ich, ein guter Grund. Trotzdem, ich mache mir ein bisschen Sorgen. Du bist ehrgeizig. Pass auf, lass dich von diesen Typen nicht verbrennen.«

»Sonst hast du keine Sorgen?«

»Beim letzten Mal habe ich das kürzere Streichholz gezogen, aber ich schwöre dir, ich werde das Schwein finden, das es getan hat.«

Seine Stimme wirkte plötzlich um Jahre gealtert, matt, die Silben verschluckend.

»Hast du getrunken?«, fragte sie vorsichtig. Sie hielt inne und gab ihm die Möglichkeit zu antworten.

»Natürlich trinke ich.« Ein leises verächtliches Lachen. »Alkohol zeigt einem das Leben in Technicolor, und für ein wenig Farbe habe ich im Moment durchaus Verwendung. Manche Menschen wünschen sich, dass es wieder gestern wird, mein Wunsch ist ein anderer, nämlich der, dass endlich morgen ist und ich an alles, was passiert ist, nur noch wie an einen Traum zurückdenke.«

»Du hättest dich damals stellen müssen«, sagte sie. »Dein größter Fehler war, dich nicht zu stellen.«

»Mir hätte doch niemand geglaubt. Alle Indizien sprachen gegen mich. Die ganze miese Geschichte war von langer Hand vorbereitet, und ich will wissen, wer mir in die Eier getreten hat. Glaubst du mir?«

»Sag mir, was ich glauben soll. Hast du nicht eine kleine Vision von der Wahrheit?«

»Wenn ich sie hätte, wäre ich nicht auf der Flucht.«

»Auf dem Messer waren deine Fingerabdrücke.«

»Weil es mein Messer war! Bloß habe ich keine verdammte Ahnung, wie es dahin gekommen ist.«

»Ein wenig mehr Vertrauen, und die Polizei hätte dir helfen können, den Täter zu finden.«

»Wenn ein Unglück passiert, sind wir im Grunde alle egoistisch. Hat man dich schon auf mich angesetzt?«

»Ich selbst habe die Unterlagen angefordert.«

»Das ist genau, was sie wollen.«

»Für Morde wie in deinem Fall hat man das Dezernat schließlich gegründet.«

»Und du lässt dich vor ihren Karren spannen.«

»Vielleicht kann ich aus dieser Position heraus etwas für dich tun. Die Sache noch einmal ins Rollen bringen, mit neuen Beweisen, nur deswegen habe ich den Job doch überhaupt angenommen.«

»Ist ja gut«, sagte er. »Ist ja schon gut.«

Je tiefer sie in dieses Gespräch geriet, desto stärker spürte sie die Zuneigung, die sie für ihren älteren Bruder empfand. Zeit ihres Lebens hatte sie zu ihm aufgesehen, ihn bewundert. Er hatte sie immer beschützt, egal, was sie anstellte oder gegen wen sie sich verteidigen musste. Zum Beispiel gegen die Bachler-Zwillinge von nebenan, die über den Zaun kletterten und mit Zwillen und kleinen Steinen auf sie schossen, ihr die Barbiepuppe und Lakritzstangen klauten oder sie im Freibad untertauchten. Wegen ihres Bruders, wegen ihres großen und starken Bruders, war sie – wie er selbst viele Jahre vor ihr – zur Polizei gegangen.

»Du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt, im Ernst«, sagte sie und versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Kann ich dich irgendwie erreichen? Willst du das?«

»Nein, so ist es besser, glaub mir. Ich möchte dich da raushalten, so gut es geht.«

»Ich stecke doch schon mittendrin.«

»Wir müssen jetzt Schluss machen.«

»Ja, ich weiß.«

Um einen Anruf zurückzuverfolgen, benötigen die Techniker der Polizei mindestens zwei Minuten, erst nach dieser Spanne verfügen sie über verlässliche Daten, die den Aufenthaltsort des Anrufers preisgeben.

»Also gut, dann …«

»Ja …«

»Viel Glück, Alexander.«

»Ja …«

»Lässt du wieder von dir hören?«

»Pass auf dich auf, kleine Schwester.«

Ein Klicken in der Leitung verriet Judith, dass er aufgelegt hatte.

Nachdenklich kehrte sie an den Tisch zurück und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, während sich das Gespräch des Ensembles um den Beförderungsstau bei der Polizei drehte.

Sie waren bereits beim Nachtisch angelangt, Schokoladenmousse mit einer weißen Mandelsoße, als das Telefon erneut klingelte. Im Glauben, es sei noch einmal ihr Bruder, sprang Judith hastig auf und ging hinaus.

»Alexander …?«

»Verzeihen Sie?«

Diese Stimme kannte sie nicht. Hatte sie nie gehört.

»Oh, ich dachte …«

»Mein Name ist Leo Osswald. Hauptkommissar Osswald. Ich bin für den Landkreis Oberspreewald-Lausitz zuständig.«

»Wie bitte?«

»Senftenberg, Sachsen. Man sagte mir, ich soll mich mit Ihnen in Verbindung setzen. Hier hat jemand eine ziemliche Sauerei angerichtet, und es heißt, Sie seien diejenige, die sich mit so was auskennt.«

»Um was geht es?«

»Ein junges Paar hat in der vergangenen Nacht in einem unzugänglichen Waldgebiet in der Nähe des Senftenberger Sees wild gezeltet. Gegen Mittag ist der Bursche aufgestanden, um zu pinkeln, da hat er den Jungen gesehen. Einen farbigen Jungen, höchstens sieben oder acht Jahre alt. Er lag am Ufer eines Baches.«

»Was ist mit dem Jungen?«, fragte Judith.

»Er ist tot.«

»Ermordet?«

»Wenn es bloß das wäre.« Auf einmal geriet seine Stimme ins Stocken. »Seine Mörder haben ihn … also … sie haben den Jungen in sechs Teile zerlegt.«

»Sechs?«

»Arme und Beine machen vier, der Kopf fünf und der Rumpf sechs. Die Leute vergessen oft den Rumpf mitzuzählen. Ich mache diesen Job schon seit vierundzwanzig Jahren, aber …«

»Und warum informieren Sie mich erst jetzt?«, unterbrach ihn Judith und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war genau 21.32 Uhr.

»Die Leute hier machen ihre Arbeit. Und sie machen sie gut. Bis vor zwei Stunden sind wir von einem normalen Mordfall ausgegangen, wenn man das angesichts dieser Tat überhaupt sagen kann, aber dann machten die Gerichtsmediziner eine merkwürdige Entdeckung.«

Kommissar Osswald legte eine Pause ein, um seinen nächsten Worten die Bedeutung mit auf den Weg zu geben, die ihnen seiner Meinung nach gebührte.

»Um was handelt es sich?«

»Nun, wie soll ich sagen … Die Täter haben dem Jungen etwas entfernt, das uns zu denken gibt.«

»Nun reden Sie endlich!«, drängte Judith und versuchte ruhig zu bleiben.

»Sie haben ihm den Atlasknochen herausgetrennt.«

Judith wusste nicht, was der Atlasknochen war, aber sie spürte, dass diesem Tatumstand große Bedeutung zufiel.

»Ich nehme an, jetzt verstehen Sie, warum ich Sie anrufe.«

»Wo sind Sie jetzt?«

»Draußen, am Tatort. Die Leiche wird in einer halben Stunde abtransportiert.«

»Auf keinen Fall!«, sagte Judith. Ihre Hand umkrampfte den Hörer. »Lassen Sie den Jungen liegen, wo er ist.«

»Die Spurensicherung hat ihre Arbeit erledigt. Es gibt keinen Grund, ihn …«

»Haben Sie mich nicht verstanden? Alles bleibt, wie es ist.«

»Ehrlich gesagt, Frau Kollegin, da ist nicht viel, was Sie sich ansehen könnten. Die Täter haben nur den Torso zurückgelassen. Und ein Paar blaue Shorts, die der Junge trug. Der Rest ist spurlos verschwunden. Selbstverständlich haben wir sofort die Hunde eingesetzt, aber auch sie konnten die fehlenden Körperteile bislang nicht aufspüren.«

»Wie lange brauche ich von Berlin zu Ihnen raus?«

Kommissar Osswald schätzte die Fahrtzeit auf eineinhalb Stunden und fügte, verärgert über ihre Zurechtweisung, hinzu, sie solle sich auf der Polizeiwache in Senftenberg melden, dort werde er auf sie warten und anschließend zum Tatort bringen, denn die Stelle liege mitten in einem großen Waldgebiet und sei schwer zu finden.

Judith stand in der Stille des Raumes und kämpfte gegen das Unbehagen an, das in ihr aufkam, dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und teilte ihren neuen Kollegen mit, dass ihre kleine Party vorbei sei. Als sie mit ihrem Bericht fertig war, herrschte Schweigen.

Dann platzte Bettina Riess heraus: »Scheiße, echt? Sechs Teile?«

Erschrocken presste sie ihre Hand vor den Mund.

Gossmann stöhnte auf, zog sich mit einem Ruck die Serviette aus dem Hemd. Es kam selten vor, aber jetzt war ihm der Appetit vergangen. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.

»Was ist das, ein Atlasknochen?«, fragte Bettina Riess.

»Was hast du gesagt, du Einstein?«, fragte Tannen.

»Ich wüsste gern, was das für ein Ding ist, dieser Atlasknochen«, antwortete sie. »Kann mir jemand sagen, was falsch an dieser Frage sein soll?«

»Ich fürchte«, sagte Judith, »darauf kann dir hier niemand eine Antwort geben. Wir sind keine Ärzte, aber wir werden es herausfinden.«

Gossmann saß, das Gesicht versteinert, am Tisch und trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand auf die Stuhllehne. Seine ohnehin fahle Haut wirkte jetzt weiß, sein Blick abwesend.

»Der Atlasknochen«, sagte er langsam, mehr zu sich selbst, »ist der erste Wirbel der Wirbelsäule. Er sitzt unmittelbar unter dem Kopf.«

Seine Hände tasteten nach dem Tabak in seiner Westentasche. Er nahm ein Blättchen und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Ein paar Krümel landeten auf seiner Hose, er wischte sie mit einer lässigen Handbewegung weg.

»Richard …?« Judith ermunterte ihn fortzufahren.

»Tja, wie’s sich anhört, wurde der Kopf des Jungen abgetrennt, um an den ersten Wirbel ranzukommen. Der Mythologie nach ist das der Knochen, auf dem Atlas die Weltkugel getragen haben soll«, erklärte er und wählte jedes seiner Worte bedachtsam aus. »Im Atlasknochen vereinigen sich alle Nerven und Blutgefäße des Menschen, deshalb sehen die Anhänger der Muti-Medizin ihn als Zentrum des Körpers an. Wenn es also das ist, was ich glaube, haben wir es mit einer üblen Sache zu tun.«

Alle Versuche, Gossmann weitere Informationen zu entlocken, scheiterten.

»Ich sage kein Wort mehr, bevor ich den Jungen gesehen habe«, sagte er. »Vielleicht liege ich auch falsch, und diesmal hoffe ich das sogar.«

Judith beschloss, sofort zum Tatort aufzubrechen und bat Gossmann, sie zu begleiten. Sie hoffte, unterwegs würde er ihr erzählen, was er der großen Runde verschwieg, denn dass er sehr viel mehr über den wahrscheinlichen Hintergrund dieser bestialischen Tat wusste, stand für sie außer Frage.

»Ich will auch mit«, sagte Margret Karven. Sie holte ihren knallroten Lippenstift hervor und zog sich, in einen Taschenspiegel blickend, die Lippen ihres großzügigen Mundes nach, dessen Winkel absichtsvoll herunterhingen. Auch die Vorderzähne bekamen etwas Farbe ab.

»Ich glaube …«, versuchte Judith einzuwenden.

»Ich kenne mich in der Gegend aus. Die ersten 14 Jahre meines Lebens habe ich in der Nähe von Senftenberg gewohnt, bevor meine Eltern nach Berlin zogen. Ich kann euch nützlich sein. Die Menschen in dieser Gegend sind nicht ganz einfach, es wimmelt nur so von Provinzidioten und Dorfgenies.«

»Nach Ostberlin, müsste es wohl heißen«, wandte Frank Tannen ein. »Nach Ostberlin gezogen.«

»Nicht jeder kann ein Wessi sein«, erwiderte Margret Karven, ohne dass ihr Gesicht eine Regung von Ärger oder Wut erkennen ließ, »obwohl es heutzutage jeder versucht, selbst, wenn er Jahrzehnte unter Ulbricht und Honecker begeistert gearbeitet und gut gelebt hat.«

»Bringen wir also ein bisschen Raffinesse in unseren Alltag!«, sagte Carlijn Overboek. »Was ist mit Frank und mir?«

»Versucht herauszubekommen, ob ein etwa sieben- oder achtjähriger farbiger Junge mit blauen Shorts vermisst wird«, sagte Judith. »Das ist im Moment das Wichtigste. Wir müssen wissen, wer der Junge ist und woher er kommt. Carlijn, du könntest bei deinen alten Freunden von Interpol anfragen, ob es in letzter Zeit ähnliche Fälle in anderen europäischen Ländern gegeben hat.«

Zwanzig Minuten später fuhren sie in Judiths grünem BMW Cabrio über die Stadtautobahn nach Süden. Mit Mühe hatte Gossmann sein Übergewicht auf den Beifahrersitz gezwängt. Hinten saß Margret und schaute aus dem Fenster auf die vorbeifliegenden Lichter der Straßenlaternen.

Mit überhöhter Geschwindigkeit jagte Judith auf der linken Spur dahin und grübelte über zwei Dinge nach: den Anruf ihres Bruders und den furchtbaren Tod des Jungen. Beide kamen sich in ihrem Kopf immer wieder in die Quere und lenkten sie ab.

Alexander Betzler hatte in seinen letzten Dienstjahren überwiegend als V-Mann des Münchner Kriminaldezernats gearbeitet, nur wenige Eingeweihte wussten von seinem Doppelleben. Damals gehörte seine Schwester Judith nicht dazu. Sie erfuhr erst aus der Presse davon, und später erzählte er es ihr selbst.

Unmittelbar nach seinem Verschwinden rief er sie an und setzte ihr auseinander, was geschehen war. Was wirklich geschehen war. Das, woran sie sich erinnerte, waren nur Momentaufnahmen, in der Bildmitte scharf, aber an den Rändern undeutlich.

Angefangen hatte alles mit dem Geständnis einer vierunddreißigjährigen Frau, die sich selbst bei der Münchner Polizei angezeigt hatte. Sie sprach von schwarzen Messen in Kirchen, Opferzeremonien im Ebersberger Forst, Ritualen auf Friedhöfen, Folter und Kindstötungen. Sie gab zu Protokoll, sie sei vor mehr als zwanzig Jahren dabei gewesen, als bei einer Blutmesse ein Baby getötet wurde. Zu dieser Zeit habe eine französische Austauschschülerin bei ihr gewohnt, die plötzlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht sei. Als sie jetzt im Fernsehen einen Bericht über einen ähnlichen Fall mit einer verschwundenen Austauschschülerin im Zusammenhang mit der Satansszene gesehen habe, sei der Entschluss in ihr gereift, die Polizei zu informieren.

Seit ihrer frühesten Kindheit war die Frau von ihren Eltern in den Satansorden »Thelem« gezwungen worden. An sämtlichen Ritualen musste sie teilnehmen. Bei einer dieser Zeremonien, sie war zwölf Jahre alt, wurde sie von anderen Sektenmitgliedern mehrfach vergewaltigt. Während des Verhörs teilte sie den Beamten alte Ritualplätze mit, aber sie konnte sich nur noch an einen einzigen Namen erinnern, der sich in ihr festgefressen hatte, denn mehr oder weniger gut war es ihr gelungen, die schockierenden Erlebnisse wenn auch nicht auszulöschen, so doch zu verdrängen. Sie sagte, der Name des Mannes sei Huntorp gewesen. Nach allem, was sie aus dem Fernsehen mitbekommen habe, halte sie es für möglich, dass dieser Huntorp auch für den aktuellen Fall verantwortlich sein könnte. Jedenfalls spreche vieles dafür, denn offenbar sei mit dieser Austauschschülerin das Gleiche passiert wie mit dem Mädchen, das damals bei ihr gewohnt habe und von dem sie immer überzeugt gewesen war, dass es mit dem Wissen und unter der Beteiligung ihrer eigenen Eltern bei einer dämonischen Feier der Thelem getötet worden war. Ihre Eltern, zu denen sie schon seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte, waren vor sechs Jahren kurz nacheinander an Krebs gestorben.

Die psychiatrische Untersuchung der Frau ergab keine Auffälligkeiten. Inzwischen lebte sie weit entfernt von den schrecklichen Orten ihrer Kindheit. Auf einem Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern.

Aufgrund ihrer Aussage wurde Alexander Betzler, der als einer der Besten der bayrischen Polizei hohes Ansehen genoss, beauftragt, die süddeutsche Satansgemeinde zu infiltrieren, um an Beweismaterial zu gelangen. Unter dem Namen Hendrik Polte bezog er ein Apartment in einem Wohnblock hinter der Ebersberger S-Bahn und begann seine Arbeit. Bis er in den innersten Zirkel der Thelem vordringen konnte, verging beinahe ein Jahr.

Harmlos verliefen die ersten Treffen, ein bisschen Rauch und Ruß, im Chorgesang vorgetragene Rezitate aus den Büchern von Aleister Crowley, dem berühmtesten Teufelsanbeter der Welt, Flüche für Feinde und Wünsche für Freunde. Beinahe lächerlich kamen Betzler die mitternächtlichen Versammlungen vor. Bis zum 23. Oktober 2005. An diesem Tag erschienen drei hochrangige Satanisten aus einem anderen Orden mit einem fremden Mädchen. Wie alle Anwesenden trugen auch sie die schwarzen Ku-Klux-Klan-Masken, nur das Mädchen nicht. Höchstens zehn Jahre war sie alt, ein kleines Wesen, ängstlich, mit strahlend blonden Haaren. Ihre Gliedmaßen bewegten sich wie Pflanzen im fließenden Wasser.

Willfährig ließ das Mädchen die Aufnahmezeremonie über sich ergehen, der diesmal jedoch eine Variante hinzugefügt werden sollte, die Betzler nur vom Hörensagen kannte. Die Männer packten das Mädchen, zwangen es auf die Knie und zogen ihr die Hose herunter. Ein Akt der Vermählung mit dem Teufel, nannten sie das, was dann geschah. Zwei von ihnen hielten das Mädchen fest, während der dritte seine Hose aufknöpfte und sich hinter ihr aufstellte. Die Gesänge wurden lauter, als er sich dem Mädchen näherte. Das Mädchen wimmerte leise.

Betzler blieb keine Wahl. Er sprang auf und stürzte sich auf die Männer. Seinen professionellen Schlägen hatten die ersten beiden nichts entgegenzusetzen, doch der dritte erwies sich als gefährlicher Kneipenschläger, schwerfällig aber unberechenbar, zögernd aber stark. Alle waren aufgestanden und schauten dem Kampf ratlos zu. In einem unachtsamen Moment traf Betzler ein Hieb an der Schläfe. Er taumelte, prallte rücklings mit dem Kopf gegen einen Baumstamm und sank ins Laub, wo er ein paar Sekunden benommen liegen blieb. Als er wieder auf den Beinen war, sah er, wie die drei Männer im Unterholz zwischen den Bäumen davonrannten.

Die Versammlung löste sich auf. Betzler wusste, dass er von den Teilnehmern der Zeremonie keinen Hinweis auf die Identität der Männer bekommen würde. Er trug selbst immer noch die Maske und wollte sich um keinen Preis zu erkennen geben. Zu lange hatte er gearbeitet, bis er so weit gekommen war.

Um das Mädchen kümmerten sich einige Frauen. Als er an dem Mädchen und den Frauen vorbeiging, drehte sich eine von ihnen zu ihm um und flüsterte: »Sieh dich vor! Huntorp ist ein rachsüchtiger Mensch.«

Da war er wieder, dieser Name, den auch die Zeugin zu Protokoll gegeben hatte.

Drei Wochen später wandte sich das Schicksal mit solcher Gewalt gegen Alexander Betzler, wie er das nie für möglich gehalten hätte. An einem Sonntag um drei Uhr morgens stürmte die Polizei seine Wohnung an den Bahngleisen und nahm ihn fest. Zunächst weigerten sich die Beamten, ihm eine Erklärung zu geben, deshalb traf es ihn umso heftiger, als man ihm schließlich erzählte, er sei wegen Mordes an einer dreiundzwanzigjährigen Frau festgenommen worden, die von einem Pilzsammler nahe der Waldwirtschaft Hubertus im Ebersberger Forst gefunden worden sei. So wie es aussehe, sei sie das Opfer einer Satanssekte geworden, man habe Spuren gefunden, die darauf hindeuteten, dass sie bei einem Initiationsritual getötet worden sei.

Neben ihr hatte die Tatwaffe gelegen, ein Küchenmesser mit geriffelter Schneide. Die Polizei erhielt einen anonymen Hinweis, wonach es sich um das Messer von Alexander Betzler handelte. Die Fingerabdrücke bestätigten das.

Betzler war außer sich gewesen, als die Polizei ihm vorwarf, allem Anschein nach sei er selbst in den Sog der Teufelsanbeter geraten und habe sich zu der Tat hinreißen lassen. Ein Alibi konnte er nicht vorweisen, denn zur Tatzeit war er allein zu Hause gewesen und hatte ferngesehen.

Alle Indizien sprachen gegen ihn. Deshalb sah er nur einen Ausweg: Einige Wochen nach seiner Verhaftung, bei einer Tatortbesichtigung, schlug er in einem günstigen Augenblick zwei Polizeibeamte nieder und floh in den Wald. Seitdem war Alexander Betzler auf der Flucht und suchte nun den Mörder auf eigene Faust.

Die Schlagzeilen und die Fernsehnachrichten, die daraufhin folgten, nahmen seinem Vater, der herzkrank in einem Sanatorium in Bad Orb lag, jeden Lebensmut. Er schämte sich für seinen Sohn und starb drei Tage nach dessen spektakulärer Flucht an einem zweiten Infarkt.

Als Judith jetzt daran dachte, stiegen ihr Tränen der Trauer in die Augen; sie hatte ihren Vater sehr geliebt. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter, als Judith neun Jahre alt war, hatte er sich aufopfernd um sie und ihren Bruder gekümmert. Er lehrte als Professor für griechische und römische Geschichte an der Bremer Universität und war bei seinen Studenten sehr beliebt, was daran lag, dass er für sie stets das beinahe gleiche Interesse wie für seine eigenen Kinder aufbrachte.

Plötzlich zog vor Judith ein Tieflader von der rechten auf die linke Fahrspur, um einen erbsenpüreefarbenen Trabbi zu überholen, den wahrscheinlich letzten seiner Art. Judith packte das Lenkrad fest mit beiden Händen und trat auf die Bremse.

»Verdammte Scheiße«, stieß Gossmann hervor. Er wurde nach vorn geschleudert und blieb wie ein nasser Sack in seinem Gurt hängen.

»Hinten alles in Ordnung?«, fragte Judith.

Der Beinahezusammenstoß hatte sie wieder in die Wirklichkeit katapultiert. Im Rückspiegel sah sie, wie Margret Karven nickte.

Es wurde Zeit, Gossmann zum Reden zu bringen, sie musste wissen, was es mit dem Wort Muti auf sich hatte und welche Bedeutung das für die weiteren Ermittlungen haben würde. Was würde sie am Tatort erwarten?

»Weshalb warst du so betroffen, Richard, als du uns von deiner Vermutung erzählt hast?«, fragte Judith.

»Bete, dass es nicht das ist, was ich denke. Wenn doch, dann haben wir es mit einer Tat von diabolischem Ausmaß zu tun. Die Geschichte ist größer, als du dir ausmalen kannst.«

»Könnten die fehlenden Körperteile ein Indiz für Kannibalismus sein?«, fragte Margret.

Gossmann schüttelte den Kopf und drehte sich bedächtig eine Zigarette, leckte das Papier an und rollte den Tabak fest ein.

»Nicht hier drinnen«, sagte Judith mit einem missbilligenden Seitenblick.

»Ohne den Atlasknochen«, fuhr Gossmann fort, die Zigarette in seine Hemdtasche steckend, »wäre das vielleicht eine Spur, aber die Umstände des Mordes weisen eindeutig eine rituelle Handschrift auf, die dem Muti-Kult zuzuordnen ist. Im Augenblick drängt sich mir keine andere Erklärung auf, was nicht heißen soll, dass es nicht doch eine geben könnte.«

»Lass nichts aus. Wir müssen so viel wie möglich über deine Theorie wissen, damit wir keinen Fehler machen oder etwas übersehen.«

»Oder willst du dich wieder raushalten, bis wir für dich die Arbeit erledigt haben?«, fragte Margret spitz.

Gossmann warf ihr im Rückspiegel einen zornigen Blick zu.