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Ein Hotel, spätnachts: Hannes Sprado hat eine einprägsame Begegnung – mit Kakerlaken! Plötzlich tauchen sie auf und rennen quer durchs Zimmer. Als er endlich eine erwischt, kann er sie selbst mit roher Gewalt nicht außer Gefecht setzen. Sprado entwickelt immer mehr Respekt für diese Tiere. Denn Kakerlaken sind DAS Erfolgsmodell der Evolution. In 350 Millionen Jahren haben sie sich weder von Eiszeiten noch von Meteoriten beeindrucken lassen. Sie finden Nahrung in allem, was sie umgibt, und würden als Einzige einen Atomschlag überleben. Die amüsante Geschichte einer faszinierenden Spezies.
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Das Buch
Ein Hotel, spätnachts: Hannes Sprado hat eine einprägsame Begegnung – mit Kakerlaken! Plötzlich tauchen sie auf und rennen quer durchs Zimmer. Als er endlich eine erwischt, kann er sie selbst mit roher Gewalt nicht außer Gefecht setzen. Sprado entwickelt immer mehr Respekt für diese Tiere – Grund genug, sich mit ihnen näher zu befassen. Denn Kakerlaken sind mit das Widerstandsfähigste, was die Evolution je hervorgebracht hat. In 350 Millionen Jahren ihres Bestehens haben sie sich weder von Eiszeiten noch von Meteoriteneinschlägen beeindrucken lassen. Sie finden Nahrung in allem, was sie umgibt, und sind die Einzigen, die einen Atomschlag überleben. Die unterhaltsame Geschichte einer faszinierenden Spezies – und ein verblüffender Einblick in die Gesetze des Darwinismus.
Die Autor
Hannes Sprado, geboren 1956, war Redakteur mehrerer Tageszeitungen und Zeitschriften. Seit 1994 ist er Herausgeber und Chefredakteur der P.M.-Zeitschriftengruppe. Er lebt mit seiner Familie in München und ist Autor mehrerer Romane.
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,Speicherung oder Übertragungkönnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Das Zitat im Kapitel »Mensch und Schabe« stammt aus Franz Kafka: »Die Verwandlung«, Gesammelte Werke, Bd. 5, S. Fischer, Frankfurt/Main 1950 ff. Das Zitat im Kapitel »Runter damit!« stammt aus Gerald E. Kelly: Die Kakerlaken und das Heroin: Die Drogen der French Connection, Gryphon, München 2003
Neuausgabe bei RefineryRefinery ist ein Digitalverlag derUllstein Buchverlage GmbH, Berlin1. Auflage Februar 2017
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
Titelabbildung und Abbildungen im Innenteil: istockphoto
(Googly Eyed Insects Chris3fer)
ISBN 978-3-96048-068-6
Vorwort
Freunde fürs Leben – oder?
Eine prägende Begegnung
Weiche Schale, weicher Kern
Anatomie eines Monsters
Mensch und Schabe
Eine Beziehung voller Missverständnisse
Gäste aus grauer Vorzeit
Im Stechschritt durch die Evolution
Bis zum Horizont und weiter
Die Kakelake erobert die Welt
Überleben als Prinzip
Ein Lob den Reflexen
Auf Leben und Tod
Die Kakerlake im Duell mit Mensch und anderem Getier
Runter damit!
Der letzte Fraß ist gut genug
Macht nicht nur satt, ist auch gesund
Kakerlaken zum Dessert
Gefährliche Genossen
Wenn die Plagegeister krank machen
Ab ins Labor!
Wie aus Kakerlaken Roboter werden
Epilog
Quellen und Literatur
Danksagung
Dies ist keine Abhandlung mit wissenschaftlichen Fachbegriffen, wie sie Insektenkundler (auch Entomologen genannt) einander im Labor zuwerfen und die sonst keiner versteht. Dies ist ein Thriller. Liebe, Hass und Massenmord sind seine Ingredienzien. Die Spurensuche führt uns rund um den Erdball und von der tiefsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft. Täter und Opfer zugleich ist eines der schillerndsten Tiere, das die Evolution bislang hervorgebracht hat: die Kakerlake.
Mir ist bekannt, dass die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung für dieses possierliche Tierchen eigentlich »Schabe« lautet. Da aber kaum jemand von Schaben spricht, wenn er sie trifft, habe ich mich an den meisten Stellen für die populärere Bezeichnung entschieden.
Ich nannte sie Paula. Wir lernten uns in einem Hotelzimmer in Manhattan kennen, im 37. Stock, mit Blick auf den Hudson River. Sie kam allein, spätabends, so gegen 23.30 Uhr hörte ich sie. Ein Rascheln drang – ich lag seit fünf Minuten jetlagmüde im Dunkeln – aus einiger Entfernung zu meinem Bett herauf.
Ich knipste das Licht an, um dem seltsamen Geräusch auf die Spur zu kommen. Und da sah ich sie.
Dass mich ihr Anblick vom ersten Moment an begeistert hat, kann ich nicht sagen, denn sie war beinahe so breit wie lang und überdies schmutzigbraun. Ihre Größe schätzte ich auf drei mal drei Zentimeter. In dem winzigen Raum kam sie mir gigantisch vor. Sie wirkte auf dreiste Weise ungehemmt, als gehörte ihr das ganze Zimmer.
Die plötzliche Helligkeit machte ihr Beine. Sie rannte über den knöcheltiefen Teppichboden, dicht an der Fußleiste entlang, überwand mühelos das Kabelgewirr von Fernseher, Minibar und Stehleuchte, quetschte sich unter den Schrank – und war verschwunden.
Paula war die erste Kakerlake, die ich zu sehen bekam. Doch in jener ersten Nacht war ich noch nicht bereit, ohne Weiteres das Zimmer mit ihr zu teilen. Also griff ich nach einem Joggingschuh (Größe 43, grobes Profil), knipste die Nachttischlampe aus, zählte bis sechzig und knipste dann die Deckenlampe an, deren greller Lichtschein schlagartig alles überflutete.
Während der Lampenfinsternis hatte Paula ihr Versteck verlassen und befand sich nun auf halber Strecke zur Tür. Ich sprang vom Bett, stellte sie vor der Mauerritze, die sie ansteuerte – und schlug zu. Dreimal, mit voller Wucht, in schneller Folge.
Sie hatte keine Chance. Davon war ich überzeugt. Tief eingedrückt in den Teppichflor fand sie ihre letzte Ruhe.
Es vergingen drei Sekunden. Dann rappelte sie sich wieder auf, und bevor ich erneut rabiat werden konnte, war sie weg, abgetaucht in ein für mich unsichtbares Loch zwischen Wand und Boden.
Mit angefachtem Interesse wurde mir klar, dass ich zu härteren Waffen greifen musste, um dieses Insekt für immer plattzumachen. In der Schublade des Nachttisches fand ich eine schwere, großformatige Bibel. Diese schien mir das geeignete Instrument zu sein. Kaum kniete ich auf dem Boden, den Folianten in beiden Händen hoch über dem Kopf, streckte Paula ihre Fühler aus dem Versteck und tastete sich vorwärts. Ihre Fühler schwangen hin und her. Die Signale, die sie empfing, müssen vielversprechend gewesen sein, denn im nächsten Augenblick peilte sie die Düsternis unter dem Bett an und schoss los. Ein verhängnisvoller Fehler: Das volle Gewicht der Bibel, geschätzte zwei Kilo, zermalmte sie auf halbem Weg.
Um absolut sicherzugehen, dass es diesmal keine Überlebenden gab, stellte ich mich (geschätzte 70 Kilo) mit beiden Füßen auf das Buch der Bücher und sprang einige Male darauf herum.
Nach allen Regeln der Insektenjagd hätte von der Gejagten mit ihren geschätzten drei Gramm Kampfgewicht nicht mehr übrig sein dürfen als ein schmutzigbrauner Klumpen. Gespannt schaute ich nach – und fand meine Vermutung auf den ersten Blick bestätigt: Toter ging es nicht.
Dann sah ich genauer hin. Tatsächlich: Der Klumpen bewegte sich!
Ich holte tief Luft und hob die Bibel zum finalen Schlag. Doch Paulas Beine hatten den Angriff in allerbester Verfassung überstanden. Blitzschnell krabbelte sie davon, noch ehe ich meine heilige Waffe auf sie niedersausen lassen konnte – zurück in das bewährte Versteck, aus dem sie eben gekommen war. Bevor sie endgültig darin verschwand, hielt sie für einen Sekundenbruchteil inne.
Ich schwöre, sie hat gegrinst.
Daraufhin gelangte ich zu der Überzeugung, dass Paula es verdiente, mit dem Leben davonzukommen. Ich war schließlich in New York. Was sind da schon sechs Nächte mit einer Kakerlake?
Einigermaßen entspannt legte ich mich wieder hin. Bis ich im Halbschlaf die vertraute Stimme eines Freundes hörte, der seit acht Jahren in Manhattan lebte und nun aus weiter Ferne in mein Ohr flüsterte: »Mit jeder Kakerlake, die du siehst, sind zwanzig andere bereits verschwunden.«
Ich schreckte hoch. Das bedeutete, ich teilte mein Zimmer (geschätzte neun Quadratmeter) mit 60 Gramm Kakerlake.
Biologen sprechen in solchen Fällen von einer stabilen Population.
Als ich am nächsten Morgen aus schweren Träumen erwachte, kam mir Paula wieder in den Sinn – und verschwand von dort auch nicht mehr. Irgendwie hatte sie es verdient, dass ich mich ihr näher widmete. Daher ging ich – die Geschichte trug sich im dunklen Zeitalter vor dem Internet zu – in die Public Library an der 5th Avenue, um mehr über sie und die anderen Zimmergenossen meiner nächsten Tage zu erfahren.
Nachdem ich einer älteren Bibliothekarin erklärt hatte, worum es ging, versorgte sie mich mit Lektüre. Sie hatte pechschwarze Augen und ebensolche Augenbrauen in einem kalkweißen Gesicht. Als sie die Bücher vor mich hinlegte, zog sie besagte Augenbrauen hoch und legte ihre Stirn in krause Falten. Dabei fiel mir auf, dass aus jeder Braue ein überlanges Härchen herausragte. Wie Fühler. Mein Blick fiel auf das Namensschild an ihrem blauen Poloshirt. Die freundliche Dame hieß Paula.
»Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum wir uns vor den Viechern fürchten sollten«, eröffnete sie mir. Sie schien sich nicht im Geringsten über mein absonderliches Interesse zu wundern. »Sie sind klein. Sie sind nicht giftig. Wir können sie jederzeit zerquetschen. Ich meine, was kann Ihnen eine Kakerlake im schlimmsten Fall schon antun?«
Ich sagte, ich hätte keine Angst. Wie sie darauf komme?
Ich nahm die Bücher, suchte mir einen ruhigen Platz, knipste die Tischleuchte an und begann zu lesen. Nach ein paar Stunden emsiger Lektüre war ich über die wichtigsten Basics im Bilde:
Es gibt mehr als 500000 Arten von Insekten. Millionen Jahre lebten sie allein mit Pflanzen und anderen Tieren auf der Erde. Dann kam der Mensch. Seitdem tobt ein Machtkampf – auch zwischen Mensch und Kakerlake. Und der ist noch lange nicht entschieden.
Ein Hauch von modriger Erde, Lakritz und Mäuseleichen hängt in der Luft wie schweres Parfüm, als Dr. Erik Schmolz im Umweltbundesamt (UBA) in Berlin-Dahlem die chromblitzende Tür zur Kakerlaken-Abteilung aufstößt. Rund um die Uhr surren hier die Klimaanlagen. Brutschränke klappern. Luftbefeuchter zischen. Zusammen erzeugen sie eine konstante Geräuschkulisse und Sumpfhitze aus der Steckdose.
Schmolz ist kein kauziger Spinner, der in groß karierten Hosen und mit Schmetterlingsnetz auf die Pirsch geht, um buchhalterisch langweilige Exemplare exotischer Gattungen aufzuspießen. Mit Jeans, Koteletten und T-Shirt wirkt der Insektenspezialist vielmehr wie ein Student im letzten Semester, was ihn sympathisch macht, ohne seine Kompetenz zu schmälern.
Sein ganzes akademisches Leben hat er Insekten und Ungeziefer gewidmet. Besonders interessieren ihn die Kakerlaken, die in den Wärmekammern seines Labortrakts vom Ei bis zum Oldtimer alle Stadien des Werdens und Seins durchlaufen. Schmolz reibt sich an der betrüblichen Erkenntnis: »Insektenforschung hat keinen glamourösen Ruf. Gehirnchirurgie – das klingt gleich ganz anders.« Beirrt hat ihn dies freilich nie. »Ein wahrer Kakerlakenforscher findet die Tierchen ganz und gar nicht abstoßend, selbst wenn sie Müll fressen – was einige von ihnen wirklich tun.«
»Kakerlakenbunker« heißt diese Dienststelle im Kantinenjargon. Offiziell ist es das Fachgebiet Römisch Vier Arabisch Eins Punkt Vier des UBA, untergebracht in einem Neubau. Den darf nur betreten, wer angemeldet ist. Oder hier arbeitet und sich mit »Gesundheitsschädlingen und ihrer Bekämpfung« beschäftigt.
Hinter den Fenstern färbt das Zwielicht die Welt grau in grau, während die langen Schatten der Morgendämmerung sich wie eine dunkle Flüssigkeit über den Boden erstrecken. Dünnes, geisterhaftes Licht dringt in den Raum und vermischt sich mit dem Grell der Neonröhren, die an der Decke flackern. Und mit einem irrsinnigen Anblick: Unmengen von Kakerlaken hausen zwischen schaschlikartig aufgesteckten Pappdeckeln in durchsichtigen Plastikkisten, die sich auf dem weißgekachelten Fußboden stapeln und die Wandregale füllen. Es müssen Tausende sein, die hier wachsen und gedeihen. Vielleicht abertausende. Jedenfalls elendig viele.
Was da in den Kisten wimmelt und wuselt, krabbelt und knabbert, dient der Forschung. An den ausgebufften Überlebenskünstlern testen Schmolz und seine Kollegin Gabi Schrader Gifte und Techniken, die das Getier ins Jenseits befördern sollen. Mit Akribie werden die Kakerlaken gepäppelt, um beim Sterben stark zu sein. Viel Gemüse und frisches Obst halten sie fit und bei Laune. Ihr Lebenszweck – und zugleich ihr Todesurteil – ist festgehalten im Paragraph 18 des Infektionsschutzgesetzes. Auftraggeber sind Chemieunternehmen aus Deutschland und Europa. Das Umweltbundesamt prüft die Wirksamkeit der Anti-Kakerlaken-Mittel für den Gesundheitsbereich. Sind sie tödlich? Effizient? Und sicher?
»Kakerlaken sind echte Aliens«, sagt Schmolz, »und ein Glücksfall der Evolution.« Geht es um Kakerlaken, passen gröbste Beleidigungen und artige Komplimente offenbar in einen Satz. Ebenso wie Tötungsbereitschaft und größte Hochachtung in einen Menschen: »Denken Sie immer daran«, ermahnt mich Frau Schrader, »wenn Sie eine Kakerlake totschlagen, zerstören Sie ein Wunderwerk der Natur.«
Wie recht sie hat. Die Kakerlake ist eine Kreatur, die mehr Erdgeschichte erlebt hat, als ein Menschenhirn sich vorstellen kann. Es gibt sie schon schwindelerregend lange – und sie ist immer noch bestens im Geschäft. Man könnte sagen, sie wird demnächst 350 Millionen Jahre alt. In der Harvard Universität in den USA liegt ein 300 Millionen alter Bernstein, darin eingeschlossen ein Mega-Urahne des Geburtstagskindes. Von frühester Zeit an ist sie dabei – ein Paradebeispiel unbezwingbaren Überlebenswillens. Und doch blieb sie stets ein trauriger Außenseiter.
Zwischen 3500 und 4000 Arten wurden bislang katalogisiert. Die Kakerlake hatte ja auch reichlich Zeit, diese Vielfalt zu entwickeln. Auf eine genaue Zahl können sich die Forscher nicht einigen, manche schätzen sogar, dass es weitere tausend Arten geben könnte, die noch unentdeckt in den letzten Urwäldern der Erde leben, einige vielleicht so riesenwüchsig wie Feldmäuse.
Der Insektenspezialist George Beccaloni betreut als Kurator im weltweit größten Artenarchiv, dem Natural History Museum, London, die Kakerlakenabteilung. Daneben verwaltet er auch Stab-, Spring- und Heuschrecken, Ohrwürmer, Grillen und Termiten, zusammen etwa eine Million Exemplare, die meisten von ihnen sauber aufgespießt in hölzernen Schaukästen. Beccaloni ist davon überzeugt, dass es 8000 Kakerlakenarten gibt.
Um das Image der Schabe in ein besseres Licht zu rücken, hat er zusammen mit dem deutschen Kakerlaken-Guru Ingo Fritzsche aus Wernigerode die Cockroach Studies gegründet, ein zweimonatlich erscheinendes Fachjournal, das zeigen soll, wie interessant, ja aufregend die Tiere sind. Die erste Ausgabe erschien 2006; seither erfreuen sich die Cockroach Studies großer Beliebtheit, bei Profis und Amateuren.
In einer frühen Veröffentlichung hat das Blatt drei Rekordhalter unter den scheuen Geschöpfen aufgelistet:
• Die kleinste ihrer Art ist die Nordamerikanische Kakerlake (Attaphila fungicola). Sie wird nur drei Millimeter lang und lebt im Nest der Blattschneiderameise.
• Die schwerste ist die flügellose Australische Rhinozeros-Kakerlake (Macropanesthia rhinoceros). Sie wiegt bis zu 33,5 Gramm und kann acht Zentimeter groß werden. Mit einer Lebenserwartung von über zehn Jahren gehört sie zu den langlebigsten Insekten; so alt werden sonst nur einige Ameisenköniginnen.
• Die größten Flügel hat die Zentral- und Südamerikanische Kakerlake. Ihre Schwingen erreichen eine Spannweite von bis zu 18,5 Zentimeter. Der Jumbo unter den Kakerlaken wurde erst vor ein paar Jahren auf Borneo entdeckt, einer Insel im Indonesischen Archipel. Zehn Zentimeter kann dieser Bursche lang werden. Nur sein Körper. Die Fühler kommen noch dazu. Zum Glück ist Borneo weit weg. Bis dahin galt eine etwas weniger als zehn Zentimeter lange Kakerlake in Mittelamerika mit dem wissenschaftlichen Namen Megaloblatta blaberoides als größte bekannte Art.
Beherzt greift Schmolz in eine offene Kiste. »Unser Goliath ist die hier«, sagt er, »ein echtes Schätzchen.« Er hält mir ein handtellergroßes Geschöpf vor die Nase, das so bedrohlich aussieht wie Mike Tyson, wenn er seine Beruhigungsmittel nicht genommen hat. Die tückischen kleinen Augen leuchten wie Ofenlöcher; die Schabe zappelt mit den Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Goldhamster.
Das Tier gehört an die Leine, denke ich.
»Eine Fauchkakerlake«, jauchzt Schmolz begeistert. »Aus Madagaskar. Ein erstklassiges Exemplar.«
Für mich ein weißer Hirsch auf der Lichtung. Noch nie gesehen.
»Pusten Sie mal!«, sagt Schmolz.
Ich puste, ohne eine Ahnung, warum. Mal gucken, wie sie das findet.
Sie pumpt heftig Luft durch die Atemlöcher. Der mahagonifarbene Rückenpanzer hebt und senkt sich. Dann zischt sie los – laut, sehr laut. So laut wie eine Katze. Ich zucke zurück. Der schrille Ton lässt mich erschauern.
»Darum trägt sie ihren Namen«, erklärt Schmolz.
Alles klar.
»Möchten Sie sie mal anfassen?«
»Och nö.«
Schmolz wirkt etwas enttäuscht, sagt aber nichts und streichelt die dicke fauchende Schabe.
Dafür ergreift Frau Schrader das Wort: »Fauchkakerlaken sind die Pavarottis unter ihresgleichen. Sie beherrschen sechs bis acht Töne, mit denen sie kommunizieren oder Feinde abwehren. Unglaublich alt werden sie – so zwei bis drei Jahre.«
Der Steckbrief macht mir das zischende Ungetüm nicht sympathischer.
Zufrieden mit seiner Inszenierung setzt Schmolz das exzentrische Prachtstück zurück in die heimische Kiste, wo es sich umgehend in den Schutz und die Dunkelheit einer zerknitterten Pappschachtel verkrümelt.
Verglichen mit der Fauchkakerlake ist die Deutsche Kakerlake (Blattela germanica) das Lieschen Müller ihrer Art. Sie wird weder besonders groß noch besonders schwer, und mit nur 1,5 Zentimetern Länge gehört sie zu den Zwergwüchsigen der Branche. Schön ist sie auch nicht.
Außer ihr haben es sich in Zentraleuropa vier weitere Arten bequem gemacht, die synanthrop, also in unmittelbarer Nähe zu uns Menschen leben: die Orientalische Kakerlake (Blatta orientalis), die Braunbandkakerlake (Supella longipalpa), die Amerikanische Kakerlake (Periplaneta americana) sowie die Australische Kakerlake (Periplaneta australasiae).
»Weltweit lebt vielleicht ein Prozent aller Kakerlaken in direkter Gesellschaft des Menschen, mehr nicht », sagt Schmolz. »Die anderen 99 Prozent leben weit weg von uns, die wollen mit Menschen gar nichts zu tun haben.«
Gabi Schrader öffnet eine weitere Kiste und pflückt zwei schmutzbraune Küchenkakerlaken heraus, lässt sie über ihre Hand krabbeln und betrachtet sie seltsam entrückt.
»Die Stärke der Kakerlake ist das Simple«, sagt sie und sieht den beiden zu, wie sie ihren Unterarm hinauflaufen. »Das hat sie zu einem Erfolgsmodell der Evolution gemacht – obwohl sie ein Wesen ohne Intelligenz ist.«
Doch was ist schon ein hoher IQ gegen einen Körper, der Weltrekorde sprengt?
In den Genen und Konturen des Kakerlakenleibes hat sich die historische Last von Jahrmillionen abgelagert. Alle Gefahren, Epidemien und Krisen ihrer Vorfahren sind in der Datenbibliothek der Schabe gespeichert. Und deren Lösungen.
Ganz gleich aus welcher Perspektive man den Kakerlakenkörper betrachtet: Er ist ekelhaft schön und faszinierend hässlich. Er ist von geschmeidiger Sinnlichkeit. Ein brillant komplexes Gebilde von mustergültigem Design, das es bis heute unversehrt durch alle Zeitalter geschafft hat.
Vereinfacht gesagt, sind Kakerlaken Roboter aus Chemikalien. Sie bestehen bis zu 75 Prozent aus Eiweiß, bis zu 18 Prozent aus Fett und bis zu 16 Prozent aus Kohlehydraten. Die jeweilige 100-Prozent-Mischung hängt von der Art ab.
Den Körper umschließt ein einteiliger primitiver Panzer aus zelluloseverwandtem Polysaccharid (Chitin); er dient von außen zum Schutz vor Staub, Verletzungen und Krankheitserregern, von innen zur Isolation gegen Verdunstung. Selbstproduzierte Öle halten den Panzer wasserdicht. Wie alle Gliederfüßer müssen Kakerlaken ihr Außenskelett (Kutikula) regelmäßig ablegen, um wachsen zu können. Dabei bricht der Rücken auf, und die Kakerlake klettert aus dem Gehäuse. Wenn sie in so einem Moment ihre Schutzhülle verlässt, ist sie angreifbar für ihre Feinde. Also sucht sie sich meist ein geschütztes Fleckchen, um sich dort in Ruhe zu häuten.
Das neue Außenskelett ist weich und weiß. Doch innerhalb weniger Stunden trocknet und härtet die neue Kutikula aus und wird dunkler. Insgesamt durchläuft eine Kakerlake sechs bis sieben Häutungen in ihrem Leben, dann ist sie ausgewachsen. Besonders verblüffend: Kakerlaken haben zwei Gehirne! Aber kein zentrales Nervensystem. Ein großes Paar Nervenknoten befindet sich im Kopf, ein weiteres Paar sitzt unter dem Schlund. Im Restkörper stecken weitere elf Nervenknoten. Das ganze Nervensystem sieht aus wie eine Strickleiter: Fasern, die im Durchschnitt größer sind als beim Menschen, verbinden die Nervenknoten miteinander zu einem hoch empfindlichen Organismus, der auf Extremsituationen blitzschnell reagieren kann. David George Gordon schreibt in seinem Buch The Complete Cockroach, dass die Nerven Achtung-Impulse binnen 0,045 Sekunden an die Beine weiterleiten, die sich sofort in Bewegung setzen – all dies geschieht also in weniger als der Zeit eines Wimpernschlags.
Rund 80 Prozent der nur eine Million Nervenzellen (Zum Vergleich: Der Mensch besitzt annähernd hundert Milliarden.) beschäftigen sich pausenlos damit, Gefahrenmeldungen zu verarbeiten. Die übrigen zwanzig Prozent sorgen im Notfall für einen Alarmstart sondergleichen: Innerhalb von 0,54 Sekunden erreicht eine normalgroße Kakerlake eine Renngeschwindigkeit von bis zu 1,60 Meter pro Sekunde, also 80 Zentimeter in einer halben Sekunde! Das entspricht dem Hundertfachen ihrer Körperlänge. 25 Mal kann sie in einer Sekunde die Richtung ändern – und das tut sie auch. Macht also bis zu 100 Mal in vier Sekunden! Diese atemberaubende Kombination aus Beschleunigung und Richtungswechsel reicht normalerweise, um alle Feinde abzuhängen.
Selbst bei skeptischer Betrachtung sind das fantastische Werte. Auf den Menschen übertragen hieße das an Renngeschwindigkeit 25 Meter pro Sekunde – ein Traum für jeden 100-Meter-Läufer. Den Weltrekord mit 9,58 Sekunden hält seit 2008 der jamaikanische Sprinter Usain Bolt. Das ergibt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von gerade mal 10,44 Meter pro Sekunde. Für einen Menschen sensationell schnell, für eine Kakerlake nicht der Rede wert. Sie stünde längst auf dem Siegertreppchen, wenn Bolt über die Ziellinie hechelte.
Diese phänomenale Spitzengeschwindigkeit erreichen Kakerlaken dank ihrer langen Beine, die wie geschaffen sind für einen Rettungssprint. Drei der sechs Beine haben ständig Bodenkontakt und beschleunigen den Körper zeitgleich. Die Beine bestehen aus drei Gliedern, die Knie sind aus Kreuzgelenken zusammengesetzt, die Füße hängen an Kugelgelenken. Ein Scharnier verbindet die Oberschenkel mit dem Körper. Diese Konstruktion macht sie zum berühmtesten Sprinter der Welt und ermöglicht es ihr zugleich, auf einer Euro-Münze zu wenden.
»Auch Menschen können rennen, aber unsere Fähigkeiten sind nichts verglichen mit denen von Insekten«, schreibt der US-Forscher John Schmitt von der Oregon State University im Online-Portal The Register. »Eine Kakerlake reagiert schneller als ein Nervenimpuls. Sie denkt nicht übers Rennen nach, sie tut es einfach, ziellos und souverän. Selbst wenn sie ein Hindernis überwinden muss, das dreimal so hoch ist wie ihre Hüfte, verlangsamt sie ihr Tempo um nur 20 Prozent. Sie hebt und senkt ihre Beinchen instinktiv und verzichtet weitgehend auf die Energie und Zeit fressende Kontrolle der Bewegungen.«
Der Berliner Maler Nikolai Makarov hat sich das besondere Beschleunigungstalent der Kakerlaken zunutze gemacht – für sich, seine Freunde und jede Menge Wettfreaks, denen der Nervenkitzel von Lotto, Toto und Pferderennen nicht genug ist. Jedes Jahr Mitte Januar, am russischen Neujahrstag, veranstaltet er in seiner Atelierwohnung in der Chausseestraße 131 die beliebten Kakerlakenrennen, ein Event mit Wodka und Krimsekt, zu dem sich eine fröhliche Schar risikobereiter Tierfreunde einfindet, die ihr Geld auf Olga, Pamir, Iwan, Sputnik, Pionier, Dukat oder Ural setzen. Die Nachnamen werden strikt geheim gehalten.
Angesichts des Medienrummels um den Russen, dessen großformatige New-York-Motive nach eigener Auskunft gut und gerne 30