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Katrin Seddig

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Beschreibung

Eine Orgie des Menschlichen und Allzumenschlichen: Erik, Anwalt, verheiratet, zwei Kinder, Haus in Hamburg-Niendorf, wird von der Putzfrau Dani heimlich von seinem Garten aus beobachtet. Er bemerkt es, es erregt ihn, und er entblößt sich für sie. Das wird ihm so wichtig – seine Frau sieht ja nur noch fern, wenn sie nicht gerade zum Shoppen oder Reiten unterwegs ist –, dass sein Leben den Bach runtergeht: Sein Chef schmeißt ihn raus, Frau und Kinder verlassen ihn. Der Verfall macht sich breit, Erik trinkt und verkommt. Im Grunde trinken und verkommen beinahe alle Figuren in diesem Roman – und immer aus Liebesgründen. Was Erik und Co. antreibt, ist die Sehnsucht nach völliger Verschmelzung mit einem geliebten Gegenüber. Leider ist das geliebte Gegenüber in den seltensten Fällen zum Verschmelzen bereit, oder es verwechselt Liebe mit schnödem Sex. In beinahe Horváth'scher Manier lässt die Autorin ihre Helden sich durchboxen, Liebe machen und sich um Kopf und Kragen schwadronieren, dass dem Leser das Lachen im Halse steckenbleibt. Ein rasant erzählter Roman über die halsbrecherische Jagd nach dem großen Glück.

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Seitenzahl: 453

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Katrin Seddig

Runterkommen

Roman

Für Katrin McClean

ERSTER TEIL

Blätter und Blüten

Dani

Als er in seinem schwarzen Mercedes-Benz um die Ecke summt, kneift sie die Augen zusammen und umarmt den sonnenwarmen Stamm.

Mein Freund, der Baum.

Sie pult ein paar Stücke aus der weichen, moosigen Rinde und tritt vor Aufregung mit der Fußspitze gegen das Holz. Von vorn das Ploffen der Wagentür, das Knacken der Verriegelung, sie kennt sein Auto, auf dem Nummernschild seine Initialen und ein Aufkleber: Ich bremse auch für Rentner. Er streckt sich, Arme Richtung Himmel, eine unglaubliche Bläue heute, wie glühendes Metall, Flecken unter den Achseln, sein Ehering blitzt – Ehe, da war doch was – und macht dabei ein Geräusch wie ein Tier aus einem Zeichentrickfilm.

Während er sich bückt, um seinen Schnürsenkel zu binden, das hätte er nicht gemusst, er ist ja gleich zu Hause, stolpert er, sie hat es kommen sehen, hüpft, um sich zu fangen, und läuft während des sich Fangens gegen die Tür. Schönes, wunderschönes Zuhause. Blumenkübel am Eingang.

Hier. Wohnt. Familie.

Sie kennt seinen Arbeitsplatz, und sie kennt seinen goldenen Kugelschreiber, auf dem ist eingraviert: Alles Liebe im neuen Jahrtausend.

Alles, das ganze Liebe, was es überhaupt gibt.

Sie weiß, wie er tippt, draufhauen, verschreiben, zurückspringen und neu schreiben, immer zu schnell, und er muss eigentlich wissen, dass er sich gleich wieder verschreiben wird, aber darum geht es nicht, ums Richtigschreiben.

Sein Umriss zerfließt hinter dem dicken Glas der Haustür. Sie muss woandershin, hinter das Haus. Knistern unter ihren Sandalen, lackweiß wie seine Eingangstür, und ihre Zehennägel pinki.

Sie ist mit zwei Jugoslawinnen aus ihrer Arbeit bei Martina gewesen, und deren Nachbarin hat eine Farbberatung für sie gemacht. Die eine, deren Namen sie nicht kannte, weil sie erst seit zwei Tagen in der Firma war – zwei Tage später war sie wieder weg–, hat mehrmals gesagt: «Rot ist eine schöne Farbe», dabei trug sie alles in Schwarz. Die Farbberaterin hat Dani gesagt, grelle Farben stünden ihr nicht, wegen ihres blassen Teints. Findet Dani eigentlich nicht. Grelle Farben stehen ihr manchmal sehr gut, sieh dir mal deinen eigenen Teint an, wie Bierschinken und Butter, aber das sagte sie nicht, sie sagte: «Mein Teint ist blass, aber auf eine frische Art», die Farbberaterin sagte nichts mehr dazu, sie sah zur Seite, wo Martinas Sohn in Rot, Gelb, Blau mit den Händen wirbelte und lachte, farblich gesehen war er eine Attraktion. Sonst auch.

«Ich mein ja nur», sagte die Farbberaterin zum Schluss, «muss ja jeder selbst entscheiden, mir ist es ja egal, aber um was zu sagen, wurde ich schließlich gebucht.»

«Ich fand es sehr schön», sagte Dani. «Ich mag nun mal grelle Farben, weißt? Das ist mehr schockig, manchmal.»

Der Wald ist knistertrocken. Ein Streichholz würde genügen.

Die Büsche, der Zaun, der Grasstreifen neben den versetzt angeordneten, bläulich schimmernden Steinplatten, die fettigen Blätter des Rhododendrons, die Tannen vor dem Schlafzimmer… das Fenster würde platzen, die Hauchgardine schmelzen, alles würde brennen, auch der Beton und die Schindeln.

Und er kommt heraus, sieht sein Haus in Flammen aufgehen, zu Asche werden, sein ganzes, schönes Leben.

Sie geht zu ihrem Baumstumpf, ihrem Moosthron hinter dem mattgelben Busch. Sie muss warten. Sie ist schweißnass, er wird es auch sein. Er wird sich ausziehen, alles in die Wäsche – in den Wäschekorb der Familie zwischen die Frauensachen und Kindersachen und Katzensachen und Hundesachen–, alles von sich schleudern und unter die Dusche gehen.

Sie kann leider nicht in sein Badezimmer sehen. Einmal war er nackt im Wohnzimmer. Das war nur einmal. Da war er total nackt.

Sie streckt die Beine aus und fokussiert einen Fleck zwischen den Gräsern, eine Spiegelung von Himmel im Panoramafenster seines Wohnzimmers. Es verschwimmt und löst sich auf. Sie nimmt das Fernglas.

In seinem Wohnzimmer ist es wie immer, sauber, schwarz-weiß. Schwarz ist das Ledersofa, weiß ist der Teppich. An der Wand ein Aquarell mit einem galoppierenden Pferd. Es galoppiert so daher, seit sie es kennt, und wirbelt in der untergehenden Abendsonne Staub auf, nur – der scheiß Staub bleibt in der Luft hängen. Das ganze Bild ist erfüllt von Staub, Staub, Staub, so sieht man keine Landschaft, obwohl sie gerne wissen würde, welche Landschaft da ist, wo das Pferd langläuft die ganze Zeit.

Es ist nur Leinwand dahinter, das weiß sie eigentlich, aber in echt war da eine Landschaft, und gedacht ist da auch eine Landschaft, es läuft ja nicht in der Luft, das Pferd.

Hinter ihr knackt es, und ein Vogel mit einem richtigen Menschengesicht steht auf dem Moos, ein Bein arrogant angewinkelt, und verharrt. Er will sie überlisten, er glaubt, sie sieht ihn nicht, wenn er sich nicht bewegt, nicht mal die schwarzen Knopfaugen in seinem Gesicht, angenäht an das Federgesicht, das freche. Sie gibt sich Mühe, so zu tun, als würde sie ihn tatsächlich nicht sehen, aber sie kann ihn nicht täuschen, er schreit und fliegt weg. Wahrscheinlich hat sie ihm irgendwas versaut. In die folgende Stille ratscht sorgfältig eine Grille. Schweißrinnsale schlängeln sich an ihrem Körper hinab, zwischen den Brüsten, auf ihren Wirbeln den Rücken hinunter, und dünsten Lockstoffe in die Atmosphäre.

Sie hebt das Fernglas, aber das Sofa steht verlassen auf dem Teppich, die Tür ist geschlossen, das Zimmer leer, das Pferd staubt unermüdlich allein in dem Bild.

Sie legt den Kopf auf ihre Knie.

Als sie vom Baumstumpf kippt, wacht sie auf. Blick auf die Uhr. Gleich sieben. Mist, sie muss los, aber sie sieht noch einmal durch das Fernglas.

Sein weißer Slip leuchtet auf dem schwarzen Leder, sonst ist er nackt.

Nackt, wunderbare Hitze. Er sieht fern.

Seine Frau kommt von irgendwo und setzt sich neben ihn.

Er greift nach der Fernbedienung, hält sie vor sich und schüttelt sie. Er schüttelt, schüttelt wieder. Seine Frau rutscht an das andere Ende des Sofas, beleidigt vielleicht, und schlägt die Beine unter ihren dicken Hintern wie ein Mädchen. Nützt auch nichts, du. Die schlafen dir gleich ein – und dann…

Ihre Lippen bewegen sich, ihr Mund öffnet und schließt sich. Er sieht nicht zu ihr hin, schüttelt nur die Fernbedienung, wirft sie auf den Boden – mach nur, schmeiß alles in Scherben–, steht auf und tritt ans Fenster. Er mit seinem ganzen Körper und seiner Haut und seinen Härchen überall.

Sie nimmt ihr Fernglas von den Augen, dann wieder hoch, er steht noch da, hundert Jahre später, und betrachtet seinen Garten oder die Scheibe oder auch gar nichts, während seine Frau sich im Hintergrund eine Zigarette anzündet. Er streicht sich über den Bauch und über seine weiße Unterhose.

Sie verharrt wie ein Vogel, der andere über sein Vorhandensein täuschen möchte. Sie muss jetzt gehen, Spätschicht, aber sie verharrt. Sie kann sich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken.

Er lässt sich wieder neben seine Frau fallen, die teilnahmslos rauchend ins Nichts schaut, und packt die Fernbedienung wie eine Waffe. Hundertachtundsiebzig Sender. Scheint endlich zu gehen, geht doch, sie lässt die Hände mit dem Fernglas sinken. Sie sieht auf die Uhr. Viertel nach sieben. Renn, Dani, renn!

Beim Sprung über einen Baumstamm knickt sie um, fällt mit dem Knie auf einen Stein. Ihr Schrei bleibt in der Luft hängen. Sie versucht, so einen Schrei nochmal hinzukriegen, aber es gibt einen Unterschied zwischen echten und unechten Schreien. Echte sind echter.

Unecht schreiend humpelt sie weiter.

Als sie die Tür zu ihrem Auto aufmacht, zu ihrem Zuhause, Geruch von Bonbons, Kaugummi und Duschbad mit Meeresalgen, weil ihr das auf den Rücksitzen ausgelaufen ist, murmelt sie: «Scheiße, Mann.»

Der Wagen springt nicht gleich an.

Sie startet und startet, erst mit und dann ohne Gefühl, und bei ohne Gefühl klappt es irgendwann. Sie dreht das Fenster herunter, Nadeln und Äste knacken unter den Reifen, als sie auf die Straße fährt. Im Radio Oasis. (Today is gonna be the day, that they’re gonna throw it back to you, by now you should have somehow, realized what you gotta do…) Sie singt leise mit, und ihre Augen tränen vom Fahrtwind.

Sie parkt auf dem Parkplatz vor dem Haus, in dem sie wohnt. Der Fahrstuhl gähnt sie an. Innen, an die Wand gelehnt, liest sie jeden Tag das Gleiche: «Fuck Frau Gör. Frau Gör. ist Sau»

‹Frau Gör Punkt› ist ‹Frau Göring›, abgekürzt. Frau Göring wohnt ganz unten. Sie fegt den Eingang mit einem roten Besen, freiwillig, das wissen alle, weil sie oft sagt: «Ich mach das freiwillig, nicht dass hier einer denkt…», was hier einer denken könnte, sagt sie nicht.

Die Kinder beschmieren ihre Wohnungstür mit Eis. Sie gehen mit Eis vorbei und schmieren es einmal an ihrer Wohnungstür ab. Es ist selbstverständlich geworden. Es ist der Kindereintrittscode in dieses Haus. Dani hat gehört, wie ein Kind das andere fragte: «Schmierst du bei Gör?», und das Kind sagte: «Ich hab heut schon.»

Frau Göring schreit durch das Haus, sie weiß, wer das war.

Aber sie weiß es nicht. Alle waren es.

Oasis immer weiter. (I said maybe, I said maybe, you’re gonna be the one that saves me, saves me…) In ihrem Kopf.

Im neunten Stock, wo sie wohnt, ist es feucht und riecht zitronig. Die Frau neben ihr hält Ordnung. Aber sie nimmt zu viel Reiniger, das schmiert schon an den Schuhen. Wo die Frau wohnt, hängt ein Kranz aus getrockneten Blumen und ausgesägten Igeln, und auf ihrem Abtreter steht: «Tritt ein, bring Glück herein.» Kommt aber keiner.

Dani schließt die Tür auf, und dumpfe Luft klatscht ihr ins Gesicht, obwohl sie Durchzug gemacht hat. Sie geht gleich rüber ins Schlafzimmer, wo auf ihrem zerknüllten Bett noch der Overall liegt. Sie zieht ihre verschwitzten Sachen aus, Jeans, T-Shirt, und wirft sie auf den Boden. Auf dem Boden liegen noch andere Sachen, Waschtag naht, Aufräumtag naht, hurra, dann steigt sie in den hellblauen Overall, auf dem Rücken: natuerlich-sauber-martinariese.de. Sie krempelt die Beine hoch, Martina legt Wert auf die Overalls. Auch im Sommer. Die Mitarbeiter haben die richtige Einstellung zu haben.

Haben zu haben.

«Wir sind ein Team», sagt sie auch, Nurcan sagt dazu: «Du bist vielleicht ein Team, ich nicht.»

«Türkinnen sind aufmüpfig», findet Martina, aber Nurcan sagt: «Rassistin, ich bin nicht aufmüpfig, ich sag meine Meinung, ich mach meine Arbeit, und Schluss ist.» Aber der Overall kommt Nurcan entgegen, so ist sie bedeckt, dazu trägt sie Kopftuch, freiwillig, weil sie will. Sie hat keinen Mann. «Weil ich keinen will», sagt sie, «ich bin kein Team. Nich mit Mann und nich mit euch.»

Ich bin auch kein Team, Nurcan, ich bin ein Vogel.

Sie geht in die Küche, wo die Gardinen zugezogen sind, weil die Sonne voll auf die Scheiben knallt, aber es ist trotzdem heiß. Sie setzt sich auf ihren einzigen Stuhl – ein Plastikstuhl, den sie auch mit auf den Balkon nimmt, ein Drinnen- und ein Draußenstuhl – und trinkt ein Glas Grapefruitsaft. Sie betrachtet den PVC-Boden, Millionen mikroskopisch kleiner brauner Pünktchen auf einem beigen Untergrund, das ist praktisch, weil man die braunen Pünktchen nicht von Krümeln unterscheiden kann. Falls es irgendwann mal zu Krümeln kommen sollte, falls in dieser Küche mal groß gespeist werden sollte.

Acht auf ihrer Küchenuhr, sie muss los.

Sie stellt das Glas in den Geschirrspüler, in dem schon ein paar Gläser stehen, es dauert immer eine Woche, ehe sie ihn anstellen kann, und die Reste an dem Geschirr verschimmeln manchmal ein bisschen, und dann geht sie in Overall und rosa Nike-Turnschuhen zum Fahrstuhl und fährt hinab.

Fuck Frau Gör.

Sie steigt in ihr hundert Grad heißes Auto und denkt, dass der Overall jetzt schon klitschnass ist. Immer wie ein Schwein rumrennen, Mann.

Dann denkt sie zurück. Dunkelblaue Schweißflecken, milchige Haut. Ein Ausschnitt von Bläue über seinem Gesicht.

Es war spät damals, er saß an seinem Schreibtisch und besah seine Finger, auf dem Schreibtisch Aktenberge, der Computer an, Sauerstoffmangel, bitterer Geruch.

Sie hatte die Tür leise geöffnet, er hatte sie nicht gesehen, sie stand da und wartete, er sah sie immer noch nicht, er stand auf und lief dumme Kreise in seinem Büro, ein kleiner Wolf läuft kleine Kreise in seinem kleinen Käfig. Klein, klein, klein.

Sie stellte sich in der Tür auf mit ihrem Staubsauger und reckte sich, sie bewegte sich, sie wollte seine Aufmerksamkeit erregen, sie erregte seine Aufmerksamkeit in geringem Maße.

Er sagte: «Jaja, hopphopp.»

Sie holte ihren Eimer herein und ihre Sachen, wollte eigentlich saugen, den Staubsauger stellte sie gegenüber von seinem Schreibtisch auf, damit er sich drauf einstellen konnte oder gehen. Er setzte sich wieder hin und starrte und wand sich. Solche Verzweiflung nur wegen Arbeit.

Sie stellte den Staubsauger an. Das riss ihn raus, und er holte eine Apfelsine aus dem Schrank. Sie war so nahe an ihm dran, dass sie das kleine Fell auf seinem Hals sah, und in den Staubsaugergestank mischte sich Rasierwasser.

«Hopphopp», murmelte er.

«Hopphopp, bin ich ein Affe?», murmelte sie, aber er hörte es nicht in all dem Gesumm. Sie saugte zwischen seinen Stuhlbeinen, sie saugte alles weg, was nicht feststeckte. Dann war wieder Ruhe. Er bohrte mit dem Zeigefinger ein Loch in seine Apfelsine und pulte kleine Fitzel von der Schale ab. Er sah sie nicht im mindesten.

Hopphopp.

Hastig verließ sie den Raum. Ein Geruch von Orange in bitterer verbrauchter Luft, das kniff in ihre Eingeweide. Die ganze Verzweiflung in diesem Raum.

Viertel nach acht, sie steckt fest im Straßenverkehr.

Hopphopp.

Zwei fette kleine Türken werfen Wasserbomben. Es wäre eine Abkühlung, aber die Leute sind nicht offen dafür. Sie kurbeln die Fenster hoch. Sie auch, sie gehört auch zu den Leuten. Sie will nicht von etwas getroffen werden, das ist es eher. Nicht die Nässe. «Ihr Kröten», sie hebt den Zeigefinger, und die Kröten lachen und zielen auf ihre Scheibe. Sie dreht die Scheibe runter und schreit: «Ihr sollt nicht so viel Döner essen, ihr Kröten.»

«Du Hure!», schreit der eine.

«Ja, isch fig deine Mudder!», schreit sie zurück und fährt weiter.

Die Hits der Sechziger und Siebziger und Achtziger und Neunziger und Zweitausender. Das Beste von heute. Eine Fahne von Eulenmusik. Immer nur Eulenmusik in dieser Stadt.

Beim Stadthundekackpark biegt sie in die City Nord ein, fährt eine Betonauffahrt hoch, durch eine offene Schranke. Nur Martina hat einen Schlüssel, wer zu spät kommt, hat Pech gehabt. Sie steht rauchend am Eingang, sie raucht autoritär, sie muss den Laden in Schwung halten und alles auf ihre Kappe nehmen, Martina im hellblauen Overall, NY-Cap auf den Zöpfen, natuerlich-sauber-martinariese.de.

Die anderen Frauen sitzen auf der Treppe und reden in ihren Sprachen, Nurcan sprüht mit einer Sprühflasche den Frauen Wasser ins Gesicht, sie hat die Sprühflasche von zu Hause mit und sagt: «Das ist meine Klimaanlage.»

«Wo is Tom?»

Tom kommt mit dem Fahrrad. Gerade noch so zur Zeit. Er verspätet sich meistens, und Martina beschimpft ihn dann aufs übelste, aber das macht ihm nichts aus. Er lächelt nur, und Martina sagt, sie schmeißt ihn raus. Nächstes Mal.

Wenn er sein Gesicht wäscht, nimmt er die Brille ab, aber nur dann. Er hat glühend blaue Augen, das glühendste Blau, das jemals jemand bei Augen gesehen hat. Wenn er die Brille abgenommen hat. Seine Brille ist eine große Sonnenbrille mit goldenem Gestell, selbst im Winter, immer trägt er sie. Er kann schlecht sehen, aber dass er immer nur mit der Sonnenbrille rumläuft, das ist sein Ding und macht sein Leben vermutlich etwas dunkel.

«Das ist nur am Anfang, dann gewöhnt man sich dran», sagt er.

«An Blindsein gewöhnt man sich auch, ist auch dunkel am Anfang, und dann gewöhnt man sich dran», hatte sie gesagt, sagt sie öfter zu ihm.

«Ich seh ja was», sagt er, «ich bin nicht blind, ich seh alles, nur anders, im Grunde sieht es besser aus, irgendwie farbiger und mit mehr Kontur.»

Mit mehr Kontur.

Die Gespräche wiederholen sich. Wenn man mit denselben Leuten zusammen ist, wiederholen sich die Gespräche.

«Dann sind wir ja komplett», sagt Martina, auch schon das hundertste Mal, tritt ihre Zigarette aus und klatscht in die Hände. Sie öffnet den Transporter, der vor der Tür parkt, und sie holen ihr Zeug raus, ihre Putzwagen, Eimer, Staubsauger, Lappen und den biologischen Reiniger. Manche Firmen legen Wert drauf, aber kaum welche. Vielleicht später mal. «Das kommt», sagt Martina, «das kommt.»

Die Overalls sind aus der Behindertenwerkstatt, wo Martinas Sohn arbeitet. Deshalb. Leute mit behinderten Kindern sind meistens ökologisch.

«Du nimmst die Linken, Tom die Rechten, und ich gehe mit den anderen in den Dritten und Vierten», sagt Martina.

Da sitzen die Wirtschaftsprüfer, die sind hoffentlich alle weg.

Tom schiebt ihren Wagen und seinen Wagen zu den linken Büros.

«Na», sagt er, weil sie jetzt unter sich sind, und sie sagt:

«Na.»

Er sieht rasch in alle Büros. «Sind alle weg», sagt er dann, winkt mit dem Staubsaugersaugteil und geht rüber zu den rechten Büros. Wie sieht er nur immer aus. Wie schlappt er nur da lang.

Das Putzen ist gut. Es ist still und vernünftig. Sie saugt den Boden, leert die Papierkörbe und die Aschenbecher, wischt Fensterbretter und Schreibtische ab, und zuletzt wischt sie den Parkettboden.

Auf den Schreibtischen Fotos von Familie, Freundin, Kind, Hund. Aschereste, Lochkonfetti, Ringe von einer Kaffeetasse. Sie wischt ihre Hände am Overall ab und nimmt Sachen in die Hand. Es ist praktisch eine Sucht von ihr, immer alles ansehen und rumschnüffeln und alles in sich einsaugen.

«Davon kriegt man Kopfschmerzen», sagt Tom.

«Was soll ich machen, das ist Gier nach anderen, sehen, wie die sind und wo die drinstecken. Wie das riecht, wie sich das anfühlt, das Private, das interessiert mich. Ich kann es nicht erklären. Ich bin eben so.»

Er hat einen Holzschreibtisch, poliertes dunkles Holz mit Maserung und Astlöchern, darauf liegt ein Kalender, wo wirklich alles drinsteht. Name, Adresse, Telefon, sämtliche Termine, Arbeit und privat. In seiner eckigen Schrift, mal neigt sie sich nach rechts, mal nach links, schwankt durch die Tage, diese besoffene Schrift.

Sein Name ist Erik. Nachdem sie das erste Mal geschnüffelt hatte, sagte sie beim Saugen und dann wieder beim Ausleeren des Papierkorbs «Erik», und Erik fiel aus ihrem Mund in den Schlund des Müllcontainers.

Sie schreibt seine Termine in ihren Minitaschenkalender. So kann sie sich einrichten. Das ist besser. Erik. Sie ist schon oft umsonst zu seinem Haus gefahren und konnte dann seiner Frau beim Saufen zusehen oder den Kindern beim Fernsehen. Aber die sind nicht oft da, in erster Linie ist es sein Haus. Die anderen sind nur zu Besuch, die haben immer was vor und wollen immer weg. Er aber will dort sein. Er will dort sitzen und fernsehen und vergammeln. Was ist los mit dir? Erik.

Sie schließt die Fenster und sieht hinunter auf die Stadt. Bonbonschimmer auf den Häusern und auf den Straßen. Langsam wird es Abend.

Tom steht hinter ihr.

«Fertig?»

«Jo.»

«Hättest du Lust, nachher ins Kino?»

Sie weiß nicht, ob sie Lust hat, das stellt sich manchmal nicht so schnell ein, das Wissen, wie sie zu Unternehmungen steht. «Ich kann es dir nicht direkt sagen», sagt sie, «es ist auch ein bisschen abhängig davon, wie ich mich nachher fühle.» Tom nimmt die Brille ab, legt sie auf den Schreibtisch und wischt sich an den Augen herum. So geht der jetzt ran. Ohne Brille, mit seinen Augen. Hammerhart. «Was läuft denn heute?», fragt sie.

«Ein Film über die RAF», sagt er. «Würde dich interessieren.»

«Meinst du, ich interessiere mich für die RAF? Ich interessiere mich vielleicht für spannende Sachen, aber nicht, wenn sie politisch sind. Und RAF ist auch überhaupt nicht spannend, weil man ja weiß, wie es ausgeht.»

«Wie es ausgeht?», fragt Tom.

«Dass sie am Ende alle im Gefängnis sind und Flugzeuge entführen und Bomben bauen und wie sie reden und aussehen.»

«Du spinnst», sagt er. «Wenn sie im Gefängnis sind, entführen sie keine Flugzeuge. Und außerdem will man auch mal wissen, wie das wirklich war.»

«Du willst wissen, wie es wirklich war?»

«Ja!»

«Du willst wirklich wissen, wie es war?»

«Ja.»

«Dann frag doch Moritz Bleibtreu, der war dabei.»

«Du bist so dumm.»

«Du auch.»

«Ich hasse dich.»

«Ich hasse dich.» Er hält seinen Brillenbügel in der Hand und biegt daran herum.

«Du machst sie noch kaputt.»

«Geht’s dich was an?»

«Nein, aber wir sind ein Team. Dann wischst du wieder den Teppich.» Das hatte er einmal getan, Wasser über einen Teppich gegossen, weil er dachte, es sei kein Teppich, aber da war auch noch was anderes im Spiel.

«Das liegt daran, dass ich blind bin», sagt er.

Sie nickt. «Du bist blind und kannst nichts sehen und hast keine Ahnung. Du hast noch nicht mal Geld. Und dabei bist du ein Mann.»

Tom sagt nichts mehr, er biegt die Brille auf seiner Nase gerade. Sie findet die Brille richtig scheiße, das hat sie ihm schon tausendmal gesagt.

«Halb elf», sagt er, «im Abaton.»

«Ich bin nicht da», sagt sie. Aber sie denkt, sie ist doch da. Sie fährt ihren Putzwagen nach unten, stellt ihn in Martinas Transporter, verabschiedet sich von allen und von Tom, der ihr winkt und dann auf seinem Rad verschwindet.

Im Kino ist es kalt. Sie kauft Schokolade und Bier, setzt sich im Vorraum an einen Tisch und wartet auf Tom, der reingeschlendert kommt in seinem alten Anzug, den hat er immer an, wenn Gelegenheiten sind wie diese, dazu sein weißes Hemd mit dem gelben Fleck auf der Brusttasche. Das ist eklig, der Fleck geht nicht raus, er hat die Form eines Baumes, aber jeder sieht, dass es ein Fleck ist.

Sie hatte ihm zum Geburtstag ein neues Hemd gekauft, ein gutes, weißes Hemd, aber er zog es nicht an. Einmal hat er es angezogen, weil sie gesagt hatte: «Zieh mal dein neues Hemd an», dann hat er es bei sich zu Hause angezogen, aber als sie losgehen wollten, zog er doch schnell wieder das mit dem Fleck an.

Dani würde gerne viel Geld haben und teure Hemden kaufen und sich alles kaufen, was teuer ist. Auch für Tom oder für Martina oder Doreen.

Eigentlich auch nicht. Eigentlich interessiert sie das überhaupt nicht.

Tom sitzt neben ihr am Tisch und bläht seine Nasenlöcher auf.

Eine Frau setzt sich neben Tom und sagt: «Hier ist doch noch frei?»

«Jetzt nicht mehr», sagt er.

«Sie haben da einen Fleck auf dem Hemd.» Er betrachtet den Baum auf seiner Brust und macht dabei ein Doppelkinn.

«Eine Applikation», sagt Dani.

«Ah ja», sagt die Frau.

«Das ist keine Applikation, das ist ein Fleck», sagt Tom.

«Das ist eine Applikation von einem Baum, ein Druck. Er ist Künstler», sagt Dani. Die Frau sagt nichts mehr, sie verrenkt sich nach irgendwem den Hals. «Er schweißt Sachen zusammen», sagt Dani, «er ist Schweißkünstler.» Jetzt haut die Frau ab.

Im Saal setzt Dani sich neben Tom, und auf der anderen Seite häuft sie all ihre Sachen auf. Tom knetet seine Hände. Zum Glück liegen sie in seinem Schoß. Einmal hat er im Kino nach ihrer Hand gegriffen. Dani hat seinen Snickersatem an ihrem Ohr gerochen, er wollte etwas hineinflüstern, und sie schaffte es kaum, seine Hand loszuwerden, die warm und feucht und klebrig von dem Snickers wie ein Frosch auf ihrer Hand hockte. Sie war aus dem Kino abgehauen.

Als er hinterher anrief, sagte sie: «Fass mich nicht an. Fass mich nie wieder an, du!» Sie hatte solchen Hass, solchen Hass, deshalb. Sie wusste schon, dass es nicht ungewöhnlich war, dass man Leute anfasste, sie wusste, dass es Tom normalerweise nicht angekreidet werden konnte, aber sie glaubte auch, er müsste sich auskennen mit ihr.

Jetzt zerbricht sie die Schokolade in der Verpackung, öffnet sie dann und hält sie Tom rüber. Er hat immer Hunger, weil er sich nichts zu essen kauft. Er ist schlecht ernährt, das hat der Arzt gesagt. «Ihr Ernährungszustand ist schlecht», hat er gesagt.

Und er könnte mal Turnschuhe tragen oder irgendwas Normales.

Als der Film zu Ende ist, bleiben sie noch sitzen, bis sie die Letzten sind. RAF. Beng, beng, beng.

Draußen ist es warm, die Frau vom Anfang steht mit einem Mann vor der Tür und sieht dem Mann beim Rauchen zu. Tom läuft blind auf sie zu mit seiner Sonnenbrille, blind in der Dunkelheit und von dem Film, er sieht sie gar nicht. Weil sie nicht mehr wegkann, als er mit der Nase vor ihr steht, fragt sie: «Hat Ihnen der Film gefallen?»

«Moritz Bleibtreu», sagt Tom, «mir gefällt, wie der immer so guckt, wenn einer widerspricht.»

«Den hab ich letztens in einer Bar getroffen», sagt ihr Partner.

«Echt», sagt sie.

«Ja, er war da mit so ’ner Frau.» Dann gehen die beiden.

«Draußen ist heute wie drinnen», sagt Dani.

«Ich weiß, was du meinst», sagt Tom. Er krempelt die Ärmel seines Hemdes hoch. Er fragt sie, ob sie spazieren möchte oder irgendwo was trinken oder nach Hause oder was sie möchte.

«Spazieren hätte ich Lust, komischerweise.»

Er knetet seine Finger. Er sagt: «Kann es sein, dass du einen Freund hast?»

«Wieso?»

Er rüttelt am Gestell seiner Brille. Dann sagt er: «Ich habe so das Gefühl.»

«Wieso?»

«Du sagst Sachen ab, die wir machen wollten, du bist nicht zu Hause, wenn ich dich anrufe…» Und dann, nach einer Pause, sagt er: «Außerdem denkst du an ihn.»

«An ihn?»

Er nickt.

«Du weißt also, was ich denke und an wen?», fragt sie.

Er rüttelt am Gestell. Er nimmt die Brille ab und schwenkt sie in der Luft, als wollte er sie wegwerfen.

«Du bist ja mein Freund, Tom.»

Er schweigt. Sie gehen eine Straße runter, die sie grad schon mal hochgegangen sind. Dann sagt er: «Du musst mir nichts erzählen.»

Sie dreht die Scheiben vom Opel Corsa ganz nach unten und fährt Tom zu seiner Wohnung in Hasselbrook. Er sagt Werkstatt. Er sagt immer: «Ich lebe in meiner Werkstatt.» Sie sagt: «Bis dann», und er sagt gar nichts mehr.

Sie fährt nach Hause, Frau Göring steht im Dunkeln vor ihr wie eine Erscheinung, durchsichtig irgendwie, und nickt stumm.

«Es gab einen Anschlag», sagt sie und nickt wieder.

«Ja?»

«Da vorne haben sie die ganzen Knöpfe rausgerissen», sagt sie.

Dani starrt in die angewiesene Richtung auf eine Wand frei von Knöpfen. Da waren noch nie welche, oder?

«Ja, hab ich gehört», sagt sie vorsichtshalber, «kann man nichts machen», und geht an Frau Göring vorbei in den beschmierten Fahrstuhl.

«Das knallt heut noch!», ruft Frau Göring ihr hinterher.

Während die Fahrstuhltür sich schließt, sieht sie ihr Gesicht überdeutlich im Neonlicht, sie trägt blauen Lidschatten auf den runzligen Lidern. Das stimmt Dani irgendwie milde in Bezug auf Frau Göring.

«Fuck Frau Gör. Frau Gör. ist Sau»

Willkommen in der Zitronenheimat.

Als sie die Tür öffnet, schlägt mit lautem Knall ein Fenster zu. Grummeln am Himmel über der Stadt. Sie öffnet das Fenster wieder und lehnt sich hinaus. Die Luft liegt wie ein dicker, weicher Lappen zwischen den Häusern. Sie atmet tief ein und spürt einen Schmerz über ihrer linken Augenbraue. Eigentlich war der Schmerz schon lange da, aber er hat sich nicht bemerkbar gemacht. Erst jetzt, wo sie allein ist. Der Schmerz nimmt zu, als ein Windstoß sie streift. Irgendwo da unten kreischt ein Mädchen, und ein Junge lacht, dann ist es still wie nie zuvor. Der graue Beton, der Sandkasten, die Bänke und die parkenden Autos verfestigen sich im Blitzlicht, im Taglicht, und es knallt so gewaltig, dass es ihr schwer durch den Körper fährt.

Am Spielplatz brennt ein Baum.

Während es nun schwächer blitzt und donnert, frisst das Feuer sorgfältig Ast für Ast, der aufkommende Wind will es abdrängen, aber es krallt sich in den Baum, der schwarz wird und dessen verbrannte Äste brechen und zu Boden fallen.

Es klingelt. An der Sprechanlage Frau Göring: «Ich wollte nur sagen, ich hab es Ihnen gesagt», sagt sie.

«Stehen Sie immer noch da unten im Dunkeln?», fragt Dani durch die Sprechanlage.

«Ich geh jetzt mal rein», sagt Frau Göring.

Als sie die Sirene der Feuerwehr hört, schließt Dani das Fenster und setzt sich an ihren Tisch. Sie schaltet die Lampe an, nimmt einen Filzstift aus dem Glas und fängt an zu zeichnen. Sie zeichnet Erik, wie er am Fenster steht. Als sie die schwarze Umrandung fertig hat, malt sie alles mit Orange aus. Er sieht ein bisschen aus wie ein Affe im Käfig. Das ist so, die Dinge verändern sich beim Zeichnen, die Realität verbiegt sich zauberhaft unter ihren Zauberstiften. Als sie fertig ist, legt Dani die Zeichnung in die Kiste und schiebt sie unter das Bett, sie zieht sich aus und lässt sich hineinfallen. Vor dem Einschlafen fragt sie sich, ob er sie vielleicht bemerkt haben könnte.

Erik

Erik sieht aus dem Fenster und krault sich ein bisschen am Sack, als er die Gestalt zwischen den Blättern entdeckt. Sie hockt hinter dem Gartenzaun zwischen den Bäumen, fast verdeckt vom Grün, und obwohl er sie kaum sieht, glaubt er, dass es eine Frau ist.

Er bekommt eine Erektion, nimmt erschrocken seine Hand weg und dreht sich zu seiner Frau um, die sich eine Zigarette angezündet hat und mit zurückgelehntem Kopf und angezogenen Füßen raucht. Er setzt sich neben sie und schaltet den Fernseher wieder an, den er gerade ausgeschaltet hatte.

«Doch wieder fernsehen», sagt sie.

Er antwortet nicht. Er starrt auf das Gerät.

Die Erektion legt sich während der Sendung über Käseherstellung in Schweizer Bergdörfern. «Ich freu mich auf den Urlaub», sagt Karin, und es klingt wie eine Drohung. Aber alles klingt mittlerweile wie eine Drohung, was aus ihrem Mund kommt, wann hat das angefangen?

«Hm», sagt er.

«Mal raus», sagt sie. «Malediven. Das war doch letztens auch sehr schön. Und jetzt haben wir ein besseres Hotel.»

«Mal raus», sagt sie wieder, weil er immer noch nichts sagt.

Das Hotel letztes Jahr war auch ein besseres Hotel, erinnert er sich. Gab es Mängel? Er versucht, sich an das letzte Hotel auf den Malediven zu erinnern. Es gelingt ihm nicht, das Gebäude und das Zimmer, er weiß es nicht mehr. Aber an den Hintern der Bedienung erinnert er sich. Eine kleine dunkle Frau, mit einem Hintern wie eine Kugel, unglaublich rund und prall. Er fühlte sich förmlich in die Ritze zwischen ihren Backen hineingesogen, aber es ist niemandem aufgefallen. Und ein Pferd mit kranken Beinen war am Eingang des Hotels angebunden. Es stand steif und starrte, und seine Beine waren mit dreckigen Lappen umwickelt. Das weiß er auch noch. Sonst nichts. Das Zimmer war eins aus einer Reihe von Hotelzimmern, die ein Bett in der Mitte hatten, wo er sich am Abend auszog, sich neben Karin legte, einen im Tee hatte, aber so richtig, Karin abwimmelte oder manchmal auch, wenn es ihn juckte, bestieg. Dann wieder Morgen, der Ventilator, das Frühstücksbüfett, wieder die Bedienung mit dem Po.

Karin raucht. Dann sieht sie ihn an, schnelle Drehung des Kopfes, Angriff. Aufgepasst, Erik!

«Du redest gar nicht mit mir», sagt sie. «Manchmal sagst du den ganzen Tag nichts.»

«Was soll ich denn sagen», sagt er. Er reißt seinen Blick vom Fernseher los und sieht sie an. Ihr kurzärmliger Pulli ist am Bauch etwas hochgerutscht und gibt den Blick auf sonnenbankgebräunte Speckröllchen frei. Sie zündet sich die nächste Zigarette an. «Ich bin heute auf Karlos geritten, der so wild ist, aber bei mir war er ganz ruhig. Er braucht nur die richtige Reiterin.»

«Und das bist du», sagt er.

«Ja. Man muss nur richtig mit ihm umgehen. Wenn ich merke, dass er anfängt auszuscheren, reagiere ich gleich. Und dann klappt es auch. Wenn man es zu spät macht, hat er schon seinen eigenen Willen entwickelt, und dann lässt er sich nicht mehr zurückhalten. Aber dafür muss man eben ein Gespür haben.»

«Toll, wie du das machst», sagt er.

Karin quetscht ihre Augen zusammen. «Das interessiert dich doch gar nicht.»

«Vielleicht solltest du rausziehen, zu deinen Eltern, und das Gestüt übernehmen», sagt er.

«Das meinst du auch noch ernst», sagt sie, «das meinst du auch noch ernst, dass ich hier wegsoll.»

«Ach Quatsch, ich geh jetzt schlafen.» Er schaltet den Fernseher aus, steht auf und tritt noch einmal an die Scheibe. Der Garten liegt stumm im Dämmerlicht, und die Frau ist nicht mehr zu sehen. «Weißt du noch, das arme Pferd damals?»

Karin reißt die Augen auf, «welches Pferd?»

«Das kranke Pferd, das dort immer am Tor angebunden war und so traurig geguckt hat, letztes Mal auf den Malediven, als wir das noch nicht so gute Hotel hatten.»

«Das Pferd, das am Tor angebunden war?»

«Ja. Es hatte verletzte Beine.»

«Das war ein Rennpferd», sagt Karin. «Es war nur einmal da angebunden, und es gehörte dem Besitzer. Es war ein Rennpferd, ein Vollblutaraber, und es war weder alt noch krank.»

«Aber es hatte so verbundene Beine…»

«Ja», Karin hustet, «das stimmt. Ein wunderschönes Pferd, ich durfte einmal drauf reiten, ein ganz wunderschönes Pferd.»

«Du bist auf diesem armen Pferd geritten?»

«Das Pferd war nicht arm.»

«Es sah aber so aus.» Er geht aus dem Zimmer und lässt sie im Dunkeln sitzen.

Er wacht auf, als die Haustür zugeknallt wird, jemand öffnet den Kühlschrank, hantiert in der Küche. Es ist nicht laut, aber er hatte noch nicht richtig geschlafen und war noch halb in der Realität des Zimmers und halb im Schlaf gewesen. Er war einfach zu früh schlafen gegangen. Die Hitze und die Leere des Abends hatten ihn ins Bett getrieben.

Das muss Julian sein, der sich am Kühlschrank zu schaffen macht, denn Marthe isst nur im Notfall und nur außergewöhnliche Dinge wie Knäckebrot mit Sardellenpaste oder Sojawürstchen in Misosuppe. Eigentlich müsste sie auch längst zu Hause sein, aber sie hat einen Freund und kommt oft sehr spät. Er sieht auf die Uhr. Es ist zehn nach zehn. Er liegt im Bett und hat schon fast geschlafen. Zehn nach zehn. Sein Körper klebt in der Bettwäsche, in seinem Mund Taubheit.

Julian erscheint kauend in der Schlafzimmertür, eine Scheibe Brot in der Hand. «Na», sagt er, «bist du schon im Bett?»

«Würde dir auch nicht schaden.»

Julian trägt knallenge Stretchhosen, die die Form seiner leicht nach innen gebogenen Beine nachzeichnen, darüber hat er eine kleine Wampe, in seinem Alter; er müsste Sport treiben, er müsste sich anstrengen und sich wie ein junger Bär mit den anderen jungen Bären raufen und messen, aber nichts: kein Fußball, kein Judo, kein Rennrad, nichts. Bloß Kleidung ist ihm wichtig. Vielleicht ist er schwul.

«Ich war bei Remo», sagt Julian. «Wir haben bisschen gespielt.» Er kommt näher und setzt sich zu Erik. Er kaut an seinem Brot, und die Krümel fallen aufs Bett. Erik kann Remo nicht ausstehen, weil er ein angeberischer kleiner Drecksack ist.

«Wenn wir allein sind, ist er ganz anders», sagt Julian, was immer das auch bedeuten soll. Im Hinblick auf das Schwulsein will Erik sich das lieber nicht vorstellen, aber das spielt sowieso keine Rolle, wenn er jemanden einmal nicht leiden kann, instinktiv, dann ist es eben so, er hat einen Riecher für Menschen. Punkt.

«Remo hat gewonnen», sagt Julian.

«Remo gewinnt immer», sagt Erik.

«Meistens», räumt Julian ein.

«Macht dir nichts aus, oder?»

Julian schüttelt den Kopf. «Er ist einfach besser.»

«Du hast keinen Ehrgeiz.»

Julian schüttelt wieder den Kopf. «Wenn er besser ist. Ist doch egal.»

«Du hast überhaupt keinen Ehrgeiz», sagt Erik nochmal, «in nichts.»

«Ach komm», sagt Julian, «lass mich doch in Ruhe mit der Scheiße.» Er steht auf, und beim Rausgehen sagt er: «Mama sitzt unten vorm Fernseher und säuft.» Er hinterlässt den Geruch von Käsefüßen.

Erik versucht wieder einzuschlafen, aber er kann nicht, weil er sich verantwortlich fühlt. Ist das Ehe? Nochmal aufstehen, in Unterwäsche, und runtergehen und Schlimmeres verhindern? Wie oft hat er das schon gemacht? Zehnmal, hundertmal, tausendmal? Und das Zögern vor dem Aufstehen, das sich Ausmalen der Tatsachen unten auf dem Sofa. Und der immer selbe Gedanke, ein Satz wie eine Axt: Lass sie doch.

Das könnte sogar lieb gemeint sein, lass sie doch.

Er steht auf, geht runter ins Wohnzimmer, süße, verbrauchte Luft, Kochsendung, immer sieht sie Kochsendungen und kocht nie auch nur irgendwas von den leckeren Sachen nach. Er schaltet den Fernseher aus, nimmt die fast leere Flasche Baileys und wirft sie demonstrativ laut in der Küche in den Mülleimer. Etwas in ihm wehrt sich dagegen, eine nicht vollkommen geleerte Flasche wegzuwerfen. Er holt sie wieder raus und kippt den Rest. Ekliges Zeug, süß, klebrig, Schleckerzeug.

Im Wohnzimmer sitzt Karin immer noch auf dem Sofa und betrachtet mit kleinen Augen den toten Fernseher. Sie weiß, wie es ihr geht, deshalb bewegt sie sich nicht – als könnte sie dadurch etwas Unausweichliches aufhalten.

«Komm, Karin», sagt Erik.

Sie steht auf, ohne ihn anzusehen, konzentriert allein auf das Aufstehen, das nicht über den allzu nahen Couchtisch Fallen, das auf gerader Linie Erik und dem Ausgang Zustreben, und folgt ihm schließlich wortlos.

Vor der Treppe treffen sie auf Marthe. «Es ist halb elf», sagt Erik.

«Meine Uhr ist kaputt», sagt Marthe.

Erik runzelt die Stirn.

«Aber wirklich, die ist echt kaputt», sagt Marthe und hält den Arm mit ihrer Uhr hoch. Sie steht auf halb drei.

«Seit wann?»

«Seit letzter Woche.»

«Du trägst eine seit letzter Woche kaputte Uhr?»

«Ja. Ich trag sie immer. Ist doch egal.»

Das Argument kann er gefühlsmäßig nachvollziehen, aber intellektuell nicht. «Du trägst deine Uhr also nicht aus Gründen der Zeitmessung?»

«Wat?» Marthe zeigt ihm einen Vogel.

«Hat dein Joschi keine Uhr?», versucht er es anders.

«Der doch nicht», sagt sie, und Erik glaubt ihr, so, wie der rumrennt, hat der keine Uhr, das würde ihn bestimmt einschränken.

«Handy?»

«Das Handy hast du», sagt sie.

Das stimmt, er hatte es ihr weggenommen, aus finanziellen Gründen. Er konnte sich nicht erklären, wie sie die stundenlangen Telefonate bezahlte. Falls Karin ihr nicht ständig neue Telefonkarten kaufte, was er sich kaum vorstellen konnte, ging das nicht mit rechten Dingen zu. «Wenn du keine Uhr hast, die geht, musst du eben zu Hause bleiben», sagt er.

«Sicher», Marthe tippt sich wieder an die Stirn, während sie die Treppe hochsteigt und damit demonstriert, dass dieses Gespräch beendet ist. Aus dem Bund ihrer Hüfthose lugt ein lila String.

Erik sieht hilfesuchend Karin an, die sich grinsend am Geländer festhält, er sieht wieder hoch zu dem String, und etwas Unkontrollierbares braut sich zusammen. «Du rennst rum wie eine Nutte!», ruft er ihr hinterher.

Marthe bleibt oben stehen, sieht zu ihm herunter und verzieht ihren fast dunkelblau geschminkten Mund.

«Du spinnst so was von», sagt sie.

Karin sackt am Geländer zusammen. «Reiß dich doch mal zusammen!», brüllt er sie an und zieht sie hoch, während ihm ihr Atem ins Gesicht schlägt.

«Das musst du grad sagen», hört er Marthe oben murmeln, dann Türknallen, Musik.

Erik bringt Karin ins Bett und legt sich daneben. Beim erneuten Einschlafen, das sich etwas hinzieht, taucht wieder das Bild von der Frau in den Büschen auf. Es erregt ihn, und er wichst ein bisschen.

Karin reitet auf einem Pferd davon, das alt und krank ist. Es zittert, und Schaum tropft von seinen Lefzen, als es sich aufbäumt, um sie abzuschütteln. Aber sie lacht nur, und er starrt ihr hinterher, unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu tun.

Das Donnern weckt ihn auf. Karin schläft ruhig. Ihr Atem geht gleichmäßig, die Bettdecke bewegt sich auf und ab, wie eine Pumpe, die alten Baileys-Geruch verteilt.

Die Haare kleben ihm am Kopf, seine Schläfen stecken in einer Zwinge, und seine Mundhöhle ist mit stinkendem Atem gefüllt. Marthe fällt ihm ein, als sie ein zerknittertes, rotes Baby war und roch wie Samt und Seide. Wie frisches Obst. Aber an Karins Klamotten wurde sie immer gleich mit Chanel beschmiert.

Er steht auf und geht runter in die Küche. Mit dem Wasserglas in der Hand geht er rüber ins Wohnzimmer und stellt sich vor das Fenster.

Im Blitzlicht liegt sein Garten vor ihm wie sein Leben. Das letzte vertrocknete Pink zwischen den glänzenden Rhododendronblättern, das künstliche Grün des geschnittenen Rasens, die kalte Bläue der Tannen. Es donnert, er zuckt zusammen und verschüttet Wasser auf seinen nackten Fuß.

Hilfesuchend sieht er sich im Zimmer um, fahndet nach einem Anhaltspunkt, nach etwas von Wert, das mit ihm zu tun hat, sein Blick bleibt an dem Pferd hängen, das unaufhörlich galoppiert. Er wünscht, es würde sich niederlegen und ausruhen, er ist so müde. Immer der Galopp, immer der Staub.

«Ich schlag dir gleich die Keule über den Schädel, dann hast du aber Ruhe», flüstert er.

Ein Blitz schlägt ein. Der Rums geht durch seinen Körper, als würde es ihn betreffen, aber er kann nichts erkennen. Kein Feuer, keine Katastrophe, alles beim Alten. Das muss woanders gewesen sein, in der Stadt irgendwo. Dann endlich Regen, in einer großartigen Ausschüttung. Er öffnet die Terrassentür. Kalte Luft schlägt ihm entgegen, er schaudert und kann der Versuchung kaum widerstehen, seinen ausgetrockneten Körper dem Regen auszusetzen, aber er reißt sich zusammen. Er kippt den Rest Wasser auf die Terrasse, schließt die Tür und geht wieder in sein Schlafzimmer zu seiner schlafenden Frau.

Liegt da und schläft und macht sich keine Gedanken.

Die Vorhänge blähen sich vor dem geöffneten Fenster, frische Luft liegt auf seinem Bett. Er legt sich hin und schläft jetzt sofort ein.

Es bleibt heiß.

Er fährt ins Büro. Er schwitzt und fährt wieder nach Hause. Er fährt zum Gericht. Er redet mit Mandanten, die schwitzen, er bietet Getränke an. Er trinkt selbst viel, hauptsächlich Wasser. Er hat einen Durst, der sich nicht stillen lässt. In der Toilette der Kanzlei riecht es nach Schweiß, Urin und Raumspray.

Über seinem Tun liegt ein Schleier, den er der Hitze zuschreibt. Er lacht und erzählt den Kollegen Witze, was sonst gar nicht seine Art ist. Witze, die früher jemand erzählt hat, als er noch jünger war und es üblich war, witzig zu sein, besonders unter jungen Juristen. Ein junger Jurist war ganz sicher nicht spießig oder konservativ, neeeiiin, ein junger Jurist war so locker, davon konnten die Geisteswissenschaftler nur träumen, und feierte jede Menge ausgelassener Partys, wo dann Berit Sievert der Po mit Plakatfarbe angemalt wurde und alles grölte, wenn schon, dann richtig.

All dieser Humor fällt ihm ein und fällt ihn an, und er erzählt Witze. Die Kollegen lachen nicht immer. Er sagt: «Die Hitze macht einen ganz verrückt.» Zu Karin ist er nett und bemüht sich, sie zu respektieren, das Reiten und was sie so macht. Er sagt: «Der Pullover steht dir», sie starrt ihn an, er sagt, «ehrlich.»

Wenn sie vor dem Fernseher hockt, zwingt er sich, ein bisschen neben ihr zu sitzen. Sie sehen Kochsendungen, und er sagt: «Das können wir doch mal kochen.» Karin hat immer noch ihren Reithut auf dem Kopf, und er fragt sich, ob sie es nicht merkt, oder ob es ihr gefällt, ihn in der Wohnung zu tragen. «Schwitzt du nicht?», fragt er sie.

«Doch», sagt sie, «aber darunter hab ich so plattes Haar.»

Dass es ihr was ausmacht, wenn er ihr plattes Haar sieht, rührt ihn, und dass sie es auf sich nimmt, ihren Reithut in dieser Hitze aufzubehalten. «Das können wir doch mal kochen», versucht er es noch einmal.

Karin nickt.

Er weiß, was Nicken heißt.

Aber sie bemüht sich auch, deckt morgens den Tisch, holt griechisches Essen und bügelt sein blaues Hemd, aber sie trinkt immer noch und mehr als sonst. Marthe und Julian lassen sich kaum blicken. Sagen «Hallo» und «Tschüs». Erik denkt: Die gehen jetzt ihre eigenen Wege, und: Man muss auch loslassen können. Das sind Floskeln, Ersatzsätze für, was man nicht weiß. Aber sie sind tröstlich.

Am frühen Nachmittag muss er ins Gericht. Sein Mandant, Herr Menke, riecht übel und erwartet unentwegt etwas von ihm, das er nicht erfüllen kann. Erik glaubt noch nicht mal, dass Herr Menke im Recht ist, dass sie im Recht sind. «Meinen Sie, wir können die fertigmachen?», fragt Herr Menke. Am liebsten würde er ihn stehenlassen und rausgehen in die heiße Sonne. «Ich bin nicht Tom Cruise», antwortet er ihm, «hier in Deutschland…», dann gehen ihm die Argumente aus.

Hinterher muss er eigentlich nochmal ins Büro, aber er fährt nach Hause.

Vor der Tür lockert er die Krawatte, stolpert über die Schwelle in die Wohnung, trinkt in der Küche Saft, knöpft sein Hemd auf und lässt sich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen, auf das kühle Leder.

Er nimmt die Fernbedienung in die Hand und schaltet sich durch die Talkshows. Leute reden über Brustvergrößerung. Das Thema behagt ihm. Zur Anschauung treten nacheinander Frauen mit kleinen (natürlichen) und Frauen mit großen (vergrößerten) Brüsten in die Runde. Bei den Frauen mit den großen Brüsten pfeifen einige Männer. Eine Frau mit Brüsten wie Ballons behauptet, ihr Freund hätte ihr die geschenkt, eine andere schreit sie an, ihr Freund hätte gar kein Geld, aber Schulden. Und so fort. Leute schreien sich auf ganz natürliche Art an. Sie sagen alle du und nehmen kein Blatt vor den Mund.

Erik fährt sich mit der Hand über den verschwitzten Kopf und lehnt sich zurück. Er schließt die Augen, seine Gedanken torkeln durch den Raum, werden gütiger, seine Arme werden schlaff, sein Körper wird weich, und widerstandslos gleitet er in eine Welt von angenehm einfacher, silikongestützter Geilheit. Dem folgt eine gewaltige Erektion, und sofort erinnert er sich wieder. Er reißt die Augen auf, aber sein Blick ist noch verschwommen. Also steht er auf und stellt sich an das Panoramafenster. Er sieht vor Hitze gewellte, glühende Grasmatten, weiter hinten die Fichtenstämme und die gelb dampfenden Büsche, dahinter – sie!

Sein Herz beginnt zu schlagen, plötzlich beginnt es tatsächlich einmal zu schlagen, kommt richtig in Fahrt und wummert schmerzhaft gegen die Rippen. Zitternd knöpft er sein Hemd auf, zieht es hastig von den Armen, streift das Unterhemd über den Kopf, entfernt auch den Rest und verharrt dort am Fenster, die nackten Füße im Flor des weißen Teppichs vergraben. Im Fernseher hinter ihm Geschrei. Immer noch zitternd legt er Hand an sich, massiert die Spitze, greift dann zu, sieht dabei immer sie, ein Fleck Gesichtchen zwischen den Blättern, führt es fort, die Luft, die Wellen von heißer Luft über der Erde, die Vibrationen von Angst, der Kampf der unnatürlichen Brüste, seine eigene Hand, seine eigene wellige Haut, vor den Blumen und den Blättern, vor dem Vogel auf dem Stein, vor ihrem Gesicht, sein Sperma an der Scheibe macht sich auf den Weg der Schwerkraft.

Er sieht die Scheibe, er sieht seine Hand, seinen matten Schwanz und lässt sich auf das Sofa fallen.

Du willst doch nicht sagen, dass du dir gefällst, so wie du aussiehst, sagt eine Supertittenfrau zu einer Keinetittenfrau.

An der Haustür Geräusche, er rennt in die Küche nach Küchenpapier. Während er die Scheibe abwischt, sieht er immer noch den Fleck von Gesichtchen, es hat ein Fernglas.

«Ich kann nicht mit», sagt er, und Karin starrt ihn an. Wozu Malediven oder Bahamas? Sie ist braun wie ein Känguru. Und sie sieht aus, als ob sie ihn durchschaut. Weil sie nichts dazu sagt, wiederholt er es: «Ich kann wirklich nicht mit.» Er zuckt mit den Schultern.

Karin lässt sich in einen Sessel fallen und gießt sich Kognak ein. Sie trinkt, überlegt kurz und sagt dann: «Das kann nicht wahr sein. Wir haben den Urlaub lange geplant. Es kann nicht wahr sein, dass du jetzt nicht kannst.»

«Aber das konnte keiner absehen, dass sich das so entwickelt», sagt er. «Du weißt doch, mit der Clarencefamily, das ist eine schwierige Sache, da bin ich drin, und wer soll das jetzt machen, das ist richtig am Dampfen, da.»

Sie hört kaum hin.

Sie schüttelt nur den Kopf. «Dann muss das ein anderer für dich übernehmen», sagt sie. «Du wirst doch nicht unersetzlich sein.»

Er ist so ersetzbar wie nur irgendeiner, das ist der Witz dabei, ob die Clarencefamily von ihm oder vom Hausmeister bearbeitet wird, das kommt auf das Gleiche heraus. «Das ist nicht so einfach», sagt er, «ich hab mich da eingearbeitet. Da kommt jetzt keiner so schnell rein, und die andern sind ja auch fast alle weg, im Urlaub. Manchmal geht das nun mal nicht anders.»

«Dann bleibe ich auch hier», sagt sie.

«Und die Kinder», sagt er. (Die Kinder, das sind eigentlich gar keine Kinder mehr, das sind riesige Menschen auf ihren eigenen Wegen.) Die Kinder sollten mit, wahrscheinlich zum letzten Mal. Karin hat eine eigene Bambushütte für sie gebucht.

«Soll ich mit den Kindern allein fahren?», fragt sie. «Die scheren sich doch einen Dreck um mich. Die lassen mich doch allein am Strand liegen.»

Er denkt, dass das im Großen und Ganzen wohl so stimmt. «Es tut mir leid», sagt er.

«Ach komm», sagt Karin, «es tut dir leid, nichts tut dir leid.» Sie gießt sich einen Kognak ein und trinkt ihn aus. «Fahren wir eben allein.»

«Vielleicht kannst du dich mit jemandem anfreunden», sagt er.

«Na klar, bestimmt», sie knallt das Glas auf den Tisch.

Er atmet tief durch.

Er fühlt sich nicht wohl, als er sie am Flughafen verabschiedet. Karin trägt Klamotten in Weiß und einen gigantischen Strohhut. Auf ihrem Koffer ein Aufkleber, 3 × Honolulu und zurück + eine Katze mit Koffer.

«Was soll das?», er deutet auf den Aufkleber.

«Was? Den hast du doch draufgeklebt. Du warst das doch. Von der Frau mit den roten Haaren, die das in ihrer Mappe hatte, die uns betreut hat, von TUI.» Seine Gedanken rollen sich zusammen angesichts dieser grandiosen Erinnerungsleistung. Er weiß nichts mehr davon, wie kann sie ihr Gehirn nur mit so was anfüllen?

Unter dem Strohhut der untere Teil ihres Gesichts. «Willst du dein Gesicht vor der Sonne schützen?», fragt er und muss urplötzlich lachen, das Lachen kommt von ganz unten, aus seinen Eingeweiden, und schüttelt ihn still durch.

Braun wie ein Känguru.

Karin lächelt nur und wackelt ein bisschen mit dem Kopf. Das erinnert ihn an früher, an eine Geste von früher, wenn er versucht hat, sie aufzuheitern, wie sie dann so mit dem Kopf wackelte, wie süß sie da war. In ihren T-Shirts und mit ihren Reitkappen. In der engen Hose ein knackiger Hintern. Roch nach Pferd, sehr sexy, sehr süß.

Er trägt die Koffer in die Halle.

«Gutes Wetter brauche ich euch wohl nicht zu wünschen», sagt er, und Karin krächzt einmal fröhlich auf, aber auch nicht so richtig fröhlich.

«Essen hast du erst mal noch genug», sagt sie, «mach dir einen Zettel, wenn du einkaufen fährst, und denk an die Blumen.»

«Ich denke an die Blumen.»

Marthe tippt eine SMS in ihr Handy und stöhnt, als sie sich vertippt. Julian beobachtet sie voller Abscheu und macht Knutschgeräusche.

Dann nimmt er die Koffer an sich wie ein Mann, seine mickrigen Schultern gebeugt, und macht sich auf den Weg durch die Absperrung.

Karin lächelt Erik immer noch an, sie zeigt ihm ihre Zuversicht. «Dann woll’n wir mal», sagt sie und umarmt ihn zum Abschied. Matt erwidert er den Druck. Sie riecht nach ihrem Chanel. Als ihr der Strohhut runterrutscht, hebt er ihn auf, das Stroh fühlt sich an wie Plastik, er drückt ihn auf ihren Kopf und winkt dann mit übertriebenen Armbewegungen.

Während der Rückfahrt denkt er, denk an die Blumen, denk an die Blumen, ich denke. An die. Blumen. Im Rhythmus der Musik, die gerade im Radio läuft. Die Gesichtchenfrau taucht zwischen den Gedanken an die Blumen auf. Eine gefährliche kleine Knospe. Er öffnet das Fenster, und der Fahrtwind kühlt seinen Kopf.

Er stellt den Wagen in die Garage, geht ins Haus und holt sich ein Bier. Mit der Flasche setzt er sich auf das Sofa und entspannt sich. Fernsehen hat noch Zeit, das liegt noch vor ihm: den Fernseher anschalten, irgendwann, wenn er will, wenn es ihm öde wird.

Vor dem Fenster stehen ein grüner Plastikgartentisch und vier grüne Plastikgartenstühle. Auf dem Tisch liegt wie eine sehr kleine, feine Skulptur ein weißes Häufchen Vogeldreck. Im Garten ist es still und grün. Still und grün wächst es vor sich hin, nicht interessiert an ihm.

Pflanzen.

Eine beinahe unmerkliche Verwilderung hat eingesetzt. Er könnte den Gartendienst anrufen oder das auch selbst in Ordnung bringen, er hat jetzt Zeit.

Sein Blick wandert zu den Büschen jenseits der Gartengrenze. Sie stehen dicht und sind teilweise vertrocknet und strohig. Karins Hut fällt ihm ein. Ihr Parfüm. Schon immer mochte sie Dinge, die einen starken Reiz ausüben. Sie hat deshalb kein schlechtes Gewissen.

Er ist immer misstrauisch, wenn Dinge auf eine primitive Art ansprechen. Aber Karin kennt solche Feinheiten nicht. Im Grunde hat er sie dafür immer verachtet, auch wenn ihm gefiel, dass sie allem gegenüber offen war, im Gegensatz zu ihm, der sich immer erst vergewisserte, ob es im gesellschaftlichen Kontext in Ordnung war, etwas Bestimmtes gut zu finden. Schlechten Geschmack kann man niemandem vorwerfen.

Ihm fällt ein, dass auch er einmal nach ihrem Geschmack gewesen ist. Worauf war sie bei ihm angesprungen?

Hatte sie sich in ihm getäuscht – oder er sich in sich?

Er schließt die Augen.

Er wartet.

Er weiß nicht genau, worauf, sagt sich, dass er nichts zu erwarten hat. Aber die Erwartung verschwindet nicht. Er läuft durch die Wohnung, trägt Bücher durch die Räume, will Ordnung schaffen, legt die Bücher auf den Schuhschrank, schaltet den Fernseher an, dann Musik, Elvis Presley, eine Platte von Karins Vater, schaltet alles wieder aus.

Erik setzt sich in seinem Arbeitszimmer an den Schreibtisch, um etwas zu arbeiten, aber er kann sich nicht konzentrieren.

Er springt wieder auf, läuft durch die Wohnung.

Er hat Bedürfnisse. Trinken muss er, essen muss er, und als das erledigt ist, juckt es am Rücken, wo er nicht rankommt. Er schiebt seine Hand unter den Kragen, aber das Hemd ist zu eng. Er knöpft es auf und zieht es aus. Er versucht, die juckende Stelle zu erreichen, aber er findet sie nicht, obwohl sie immer weiter juckt. Also zieht er sein Hemd wieder an, setzt sich an den Schreibtisch.

Disziplin!

Egal, was kommt, er wird arbeiten. So einfach ist das. Er liest in den Akten, liest sich richtig fest, bis er merkt, dass er an etwas ganz anderes denkt und gar nicht mehr merkt, was er da eigentlich liest. Er kann lesen, ohne zu lesen. Das muss man sich mal vorstellen. Vielleicht kommt sie auch einfach gar nicht mehr, denkt er, und jetzt weiß er, worauf er gewartet hat.

Du bist nicht normal. Das ist der Satz, der ihn umtreibt, das ist der Satz, der sich in dem Tag festhakt. Nicht. Normal.

Ach, das machen viele, Erik. Ein bisschen wichsen.

Vor dem Fenster, vor fremden Menschen?

Vor einem nur.

Versuch es mal so zu sehen: Sie interessiert sich für dich. Das ist ja nicht abwegig. Vielleicht hat sie dich irgendwo gesehen und sich in dich verliebt, ist dir gefolgt und bums.

Und bums?

Er stellt sich vor den Spiegel im Flur. Er findet sich ganz gut. Bisschen wenig Muskeln vielleicht. Die Achselhaare zu lang. Wie Kopfhaare fast. Müsste man mal abschneiden.