Rupert undercover - Ostfriesische Jagd - Klaus-Peter Wolf - E-Book
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Rupert undercover - Ostfriesische Jagd E-Book

Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Der zweite Auftrag für Hauptkommissar Rupert als Undercover-Agent, dem beliebten Kollegen von Ostfrieslands berühmtester Kommissarin Ann Kathrin Klaasen von Nummer-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf. Kriminaldirektorin Liane Brennecke hätte eigentlich Angst um ihr Leben haben müssen, aber dem war nicht so. Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie war sich selbst fremd geworden. In diesem Folterkeller war etwas mit ihr geschehen. Etwas war aus dem Körpergefängnis geflohen und hatte sich in Sicherheit gebracht. Ein Seelenanteil von ihr war entkommen. Sie sorgte sich um ihre geistige Gesundheit. War sie kurz davor, verrückt zu werden, oder hatte sie diese Schwelle bereits in dem Rattenloch überschritten, in dem er sie gefangen gehalten hatte? Um wieder ganz zu werden, musste sie ihn erledigen. Dazu brauchte sie einen Köder und ein Werkzeug. Nichts und niemand erschien ihr geeigneter als dieser Rupert. (Auszug aus Band 2)

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Klaus-Peter Wolf

Rupert undercover - Ostfriesische Jagd

Der neue Auftrag. Band 2 Kriminalroman

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Zitate]George hieß eigentlich Wilhelm [...]Madonna Rossi hatte keineswegs [...]George war keineswegs begeistert. [...]Entweder waren das moderne [...]Das Abenteuer geht weiter!LeseprobeWie der Schriftsteller die Marktforschung vorantrieb

»Dieses vegane Essen ist gar nicht so schlecht – wenn man ein bisschen Hack reinwirft oder eine Knackwurst …«

Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich, Mordkommission

 

 

»Männern, die Prosecco trinken, kann man einfach nicht trauen.«

Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich, Mordkommission

 

 

»Irgendwann werde ich dem Land Niedersachsen eine Rechnung für meine Überstunden schreiben. Dann ist der Laden sowieso pleite.«

Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich, Mordkommission

George hieß eigentlich Wilhelm Klempmann. Er wurde Willi gerufen. Aber vor einem Willi Klempmann hatten die Leute vielleicht Respekt. Angst hatten sie vor einem, der so hieß, nicht.

Als Gangsterboss lebte er aber davon, dass man ihn fürchtete. George klang irgendwie geheimnisvoll, fand er. Manche sprachen den Namen deutsch aus, mit »e« am Ende, wie bei Götz George. Früher hatte er sie dann selbst korrigiert, jetzt taten das seine persönliche Assistentin oder sein Bodyguard.

Die meisten Menschen wurden schon, bevor sie auf ihn trafen, von Mitarbeitern darauf hingewiesen, dass sein Name englisch ausgesprochen werde, wie bei George Clooney. Er selbst sah nicht gerade aus wie der erwähnte Filmstar, sondern eher wie der Fußballfunktionär Reiner Calmund – vor seiner Diät.

Früher war George als Boxer recht erfolgreich gewesen. Jetzt hätte er als Sumoringer eine gute Figur gemacht, aber Sport war nicht mehr sein Ding. Zumindest nicht aktiv. Er träumte immer davon, einen Boxstall zu leiten und einen Champion zu trainieren.

Jetzt weinte er. Ja, er weinte tatsächlich. Richtige, echte Tränen flossen über sein aufgedunsenes Gesicht bis hin zu seinen Lippen.

Carl und Heiner waren tot. Er hatte sie geliebt, wie andere Menschen ihre eigenen Kinder lieben. Hatte ihnen eine Chance gegeben. Eine Zukunft.

Frederico Müller-Gonzáles, auch Der Kronprinz genannt, hatte sie auf dem Gewissen. Im Norddeicher Yachthafen, vor dem Skipperhuus, waren beide erschossen worden.

Am liebsten hätte er in seiner Trauer das ganze Gebäude in die Luft gesprengt, dabei mochte er es eigentlich. Mehrfach hatte er dort gegessen und den Blick auf die Nordsee und den Hafen genossen. Das Haus war wie ein Schiff gebaut, mit großen Glasfenstern, die, besonders wenn es heftig stürmte oder ein Gewitter tobte, einen unwiderstehlichen Ausblick auf die Naturgewalten ermöglichten.

Er erinnerte sich an den letzten Besuch dort. Heiner und Carl hatten mit ihm Schollen gegessen und dazu viel Bier getrunken. Und jeder drei oder vier eiskalte Aquavit.

Sie waren seine Jungs gewesen. Seine! Treu ergeben. Dankbar. Sie hätten ihn einst beerben sollen. Noch hatten sie nicht das Zeug dazu gehabt. Nicht sein Format. Aber er war geduldig mit ihnen gewesen. Ihre Loyalität war ihm wichtiger als alles andere. Bildung konnte sich jeder Papagei aneignen, der in der Lage war, etwas auswendig zu lernen. Charakter hatte man oder eben nicht.

Jetzt waren die beiden tot, und im Skipperhuus hatte er, als der Regen gegen die Scheiben prasselte, gesagt: »Draußen wütet eine Sturmflut, und wir sitzen hier schön warm und gucken zu.«

Heiner hatte ihm recht gegeben: »Ja, hier sind wir sicher.«

Welch ein Irrtum! Sein lebloser Körper war zwischen Glasscherben auf der Terrasse gefunden worden. Der Terrasse, auf der sie letzten Sommer noch Eis gegessen hatten.

George schwor Rache. Vendetta. Das Wort kreiste in seinem Gehirn. Er musste es alle paar Minuten aussprechen: »Vendetta!« Es hörte sich italienisch furchterregender an als das deutsche Wort Blutrache, glaubte er. Er, der keine Fremdsprache wirklich beherrschte, fand Deutsch oft zu spießig oder zu provinziell. Deshalb schmückte er seine Reden gern mit ausländischen Vokabeln. Vendetta wurde jetzt zu seinem Lieblingswort.

Frederico Müller-Gonzáles sollte sterben. Und mit ihm sein ganzer Clan. Auge um Auge. Zahn um Zahn. So sah es der Ehrenkodex vor.

Zunächst wollten Weller und Rupert sich im Mittelhaus an der Theke treffen, um die Probleme einzudeichen. Es gab eine Menge zu besprechen und zu klären. Noch wusste keiner von beiden, ob sie sich am Ende weinend als Freunde in den Armen liegen würden oder ob ihnen eine Schlägerei bevorstand.

Mehr als einmal hatten sie sich Rücken an Rücken irgendwo freigekämpft. Jeder den jeweils anderen deckend und füreinander einstehend, waren sie meist ganz gut klargekommen. Doch diesmal war es möglich, dass sie gegeneinander statt miteinander gegen andere kämpfen würden.

Sie hatten sich dann vorsichtshalber lieber zu einem Spaziergang am Deich verabredet. Der Wind konnte die überkochenden Gefühle vielleicht ein bisschen abkühlen. Die Weite eröffnete manchmal auch in Gesprächen einen neuen Horizont. Einen Blick über Denkbarrieren hinweg. Das Meer bot eine Erweiterung der Perspektive. Die beiden fühlten sich hier geistig weniger eingemauert. Oder, wie der ehemalige Kripochef Ubbo Heide es ihnen beigebracht hatte: Ein Blick aufs Meer relativiert alles.

Sie hatten sich so viel zu sagen, doch jetzt gingen sie schweigend auf der Deichkrone nebeneinander her in Richtung Westen. Sie wurden immer schneller. Je fester sie die Lippen geschlossen hielten, umso mehr legten sie die unausgesprochene Wut in ihre Beinmuskulatur. Ihr Spaziergang ähnelte eher einem militärischen Gewaltmarsch. Rupert wurde schon kurzatmig und griff sich in die Seite.

Vor ihnen wich eine Schafherde aus. Fünfzig, sechzig Tiere flohen deichabwärts in Richtung Watt, die anderen Schafe liefen landeinwärts. Zum Glück hinderte ein Zaun sie daran, auf die Straße zu kommen. Normalerweise waren Schafe friedlich und eher faul. Sie machten zwar Spaziergängern bereitwillig Platz, gingen aber einfach nur kurz zur Seite und gaben den Weg frei.

Vor unbekannten Hunden hatten sie Angst. Weller hatte mal ein Schaf gesehen, das einen Herzinfarkt bekam und den Deich runterrollte, weil ein Hund auf die Herde zugelaufen kam. Schafe spürten aufkeimende Gefahren oder Aggressionen sofort. Insofern, dachte Weller, müsste Rupert auf die Tiere wie ein hungriger Wolf wirken.

Er schloss aus, dass es an ihm selbst liegen könnte. Obwohl er mit Rupert Schritt hielt, kam Weller sich ausgeglichen, ja friedlich vor. Rupert hingegen kochte spürbar.

Endlich platzte Rupert damit raus: »Was läuft zwischen dir und Beate?«

Weller blieb stehen. Rupert tat es ihm gleich. Der Wind blies Weller jetzt ins Gesicht und Rupert in den Rücken. Seine Jacke flatterte in Richtung Weller, und sein Hemd blähte sich auf.

Weller lachte, ein bisschen aus Verlegenheit und ein bisschen, weil es ihm so blöd vorkam: »Du bist ja eifersüchtig!«

»Ja, verdammt, bin ich! Sie ist meine Frau!«

»Gut, dass du dich daran erinnerst. Wenn mich nicht alles täuscht, hast du ja noch eine Miet-Ehefrau. Wie geht’s der denn?«

»Nicht ich«, wehrte Rupert ab, »ich habe keine Miet-Ehefrau, sondern Frederico!«

»Oh ja, verzeih, alter Kumpel. Wie konnte ich euch beide nur verwechseln … Ach, by the way, mit wem rede ich eigentlich gerade? Mit meinem Kollegen Rupert oder mit dem Gangsterboss Frederico Müller-Gonzáles?«

Rupert machte eine schneidende Bewegung durch die Luft, als müsste er etwas durchtrennen. »Fang jetzt bloß nicht diese Haarspalterei an!«

»Haarspalterei?«, hakte Weller nach.

»Hast du Ehekrüppel jetzt etwas mit meiner Beate oder nicht?«

Weller lachte für Ruperts Gefühl ein bisschen zu herausgestellt. Solch demonstratives Lachen kannte Rupert aus Verhören von Ganoven, wenn sie mit der Wahrheit konfrontiert wurden. Sie versuchten, mit einem Lachen ganze Indizienketten zu widerlegen, aber es ging meist schief, weil er clever genug war, ihr falsches Lachen richtig zu deuten.

»Ich habe«, erklärte Weller und wählte seine Worte mit Bedacht, »sie in Sicherheit gebracht, weil wir befürchtet haben, dass sich die Schweine Beate greifen, wenn du auffliegst.«

Rupert schluckte schwer daran, es klang aber ehrlich für ihn. »Und dann«, folgerte Rupert provokativ, »hast du mit ihr auf Norderney ein Doppelzimmer genommen?«

Weller wehrte ab: »Nein, nein, das stimmt nicht, Rupert.«

»Lüg mich nicht an!«, brüllte Rupert.

Weller blieb dabei: »Nicht auf Norderney. Auf Juist haben wir uns ein Doppelzimmer genommen.«

Rupert schlug sich mit der rechten Faust in die offene linke Handfläche. Er trampelte wild auf dem Boden herum.

Die ersten mutigen Schafe, die sich gerade den ruhig stehenden Männern vorsichtig näherten, verzogen sich sofort wieder.

»Deine Beate ist eine ganz wunderbare Frau, Rupert«, schwärmte Weller.

Rupert biss in den Rücken seiner rechten Hand. Nur so konnte er verhindern, Weller die Faust ins Gesicht zu hauen. Er hätte ihm zu gern die Zähne eingeschlagen. Gleichzeitig wusste er, dass er Weller brauchte. Der fuhr fort: »Ich mag ihre Leidenschaft …«

Rupert tänzelte herum wie ein Boxer, der eine Lücke in der Deckung seines Gegners suchte.

Weller musste niesen. Irgendwelche Gräserpollen flogen hier herum, gegen die er allergisch war.

»Ihre Leidenschaft?«, fragte Rupert ungläubig nach. »Da muss mir was entgangen sein.«

»Ja. Ihre Leidenschaft für gute Bücher. Sie ist so gar kein oberflächlicher Mensch – also, sie ist echt ganz anders als du, Rupert.«

»Ja klar«, bestätigte Rupert, »sie ist eine Frau, und ich bin ein Mann.«

»Das ist zu einfach gedacht, Rupert. Sie ist feinsinnig, spirituell, eine Seele von Mensch.«

Weller putzte sich die Nase. Sobald er das Taschentuch einsteckt, semmel ich ihm eine rein, dachte Rupert. Ein Mann, der eine Hand in der Tasche hat, macht seine Deckung sträflich weit offen.

Noch mit dem Taschentuch in der Hand, fuhr Weller kopfschüttelnd fort: »Völlig unverständlich, wieso sie ausgerechnet einen wie dich liebt.«

»Heißt das«, fragte Rupert, »du hast sie nicht flachgelegt?«

Weller schüttelte tadelnd den Kopf: »Denkst du das wirklich, Alter? Nee, deine Beate ist nicht so eine. Die hat sich nur Sorgen um dich gemacht.«

»Wie? Echt jetzt?«

»Ja, Rupert, echt.«

»Wollte sie nicht oder du?«, hakte Rupert nach.

»Das kommt dir vielleicht komisch vor, aber wir hatten keinen Sex und haben uns trotzdem nicht gelangweilt.«

Rupert staunte. Er wollte Weller nur zu gern glauben.

»Und jetzt erzähl mir mal, wie es mit dir und deiner Miet-Ehefrau so läuft. Ist sie so eine scharfe Schnitte, wie man sich erzählt?«

Rupert erschrak. »Wer erzählt das? Wer weiß davon? Verdammt! Das ist ein Dienstgeheimnis!«

»Dienstgeheimnis«, grinste Weller. »Schon klar. Also von mir aus muss Beate nichts erfahren.«

Rupert war erleichtert. Weller legte einen Arm um ihn und zog ihn nah zu sich. »Machst du den Job jetzt nur weiter, weil du dann zwei Frauen haben kannst? Eine als Rupert und eine als Frederico?«

Rupert überlegte einen Moment. »Nein«, sagte er, »ich mache es, weil ein Mann einfach tun muss, was ein Mann eben tun muss.«

»Ja«, grinste Weller, »schon klar. Und normalerweise sagt ihm seine Frau dann, was das genau ist.«

Rupert ging ein paar Schritte. Unter seinen Füßen zerkrachten Austernschalen, die Möwen hier abgeworfen hatten.

»Ja«, sagte er, »bei dir ist das bestimmt so, und bei den meisten Kollegen auch. Wahrscheinlich trifft es sogar auf mich zu. Aber als Frederico kann ich über so was nur lachen, verstehst du, Weller? Wenn ich Frederico bin, tanzen alle nach meiner Pfeife.«

Weller gab ihm mit einer kleinen Einschränkung recht: »Ja, wenn sie dich nicht vorher umlegen.«

Kriminaldirektorin Liane Brennecke hätte eigentlich Angst um ihr Leben haben müssen, aber dem war nicht so. Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie war sich selbst fremd geworden. In diesem Folterkeller, wo sie, an den Zahnarztstuhl gefesselt, den Gynäkologenstuhl als Drohung vor Augen hatte, war etwas mit ihr geschehen. Ihr fehlten noch die Worte dafür. Etwas hatte sich von ihr abgespalten, war aus ihrem Körper ausgetreten. Ein Teil von ihr war wie weg.

Sie trauerte dem fehlenden Anteil nicht nach. Im Gegenteil, es war wie ein Triumph. Etwas war aus dem Körpergefängnis geflohen und hatte sich in Sicherheit gebracht. Ein Seelenanteil von ihr war entkommen.

Sie wollte so nicht von sich denken. Sie sorgte sich um ihre geistige Gesundheit. War sie kurz davor, verrückt zu werden, oder hatte sie diese Schwelle bereits in dem Rattenloch überschritten, in dem er sie gefangen gehalten hatte?

Um wieder ganz zu werden, musste sie ihn erledigen. Dazu brauchte sie einen Köder und ein Werkzeug. Niemand erschien ihr geeigneter als dieser Rupert alias Frederico Müller-Gonzáles.

Sie hatte sich auf das Gespräch gut vorbereitet. Sie wusste immer genau, was sie wollte, und sie verstand es, Prioritäten zu setzen. Das verhalf ihr zu einem wesentlichen Vorsprung gegenüber allen Zauderern und Bedenkenträgern. Sie schuf Fakten, und damit musste die Welt dann eben leben.

Sie galt zu Unrecht als Aktenfresserin. In Wirklichkeit war sie einfach nur in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und sich das Wichtige dann zu merken.

An die neue Frisur musste sie sich noch gewöhnen. Sie hatte früher einmal lange, glatte hellblonde Haare gehabt und sie gerne mit emotional aufgeladenen Bewegungen nach hinten geworfen. Sie konnte das kokett, genervt, anmutig, verführerisch, streng, aber trotz ihrer vierzig Jahre auch schulmädchenhaft.

Sie wusste, dass sie Männer damit verunsichern, ja manipulieren konnte. Wenn sie dazu noch ihre langen Beine einsetzte, vergaßen manche Männer schnell, dass sie es mit einer hochintelligenten Frau zu tun hatten.

Dieser sadistische Folterknecht, der von allen Geier genannt wurde, hatte ihr die rechte Kopfhälfte mit einem scharfen Rasiermesser kahl rasiert.

Sie hatte die Haare jetzt wie zum Turban gebunden und ein buntes Tuch hineingeflochten. Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie sah ein bisschen aus wie eine höhere Tochter, die gegen den Willen ihrer Eltern in eine Hippiekommune gezogen war.

Ihre Sachen passten noch nicht ganz zum neuen Lebensstil. In der Gefangenschaft hatte sie abgenommen. Das blaue Kostüm war jetzt fast ein bisschen zu groß, ja schlabberte. Dabei hatte es mal sehr eng gesessen.

Immer noch warf sie ihre Haare nach hinten. Sie hingen aber gar nicht mehr bis zur Schulter hinab. Die Bewegungen wirkten daher komisch.

Sie brauchte ganz neue Gesten. Das verunsicherte sie, und sie hasste es, verunsichert zu sein. Noch mehr hasste sie es, einen verunsicherten Eindruck zu machen. Das ging gar nicht! Sie übte neue Gesten vor dem Spiegel.

Sie würde eine Weile in Norden bleiben und erst wieder in ihr altes Leben zurückkehren, wenn diese Sache erledigt war. Sie wollte nicht die ganze Zeit im Hotel wohnen. Sie hatte sich im Distelkamp 1 in die Ferienwohnung von Rita und Peter Grendel zurückgezogen. Hier war es ruhig. Es gab eine richtig große Küche. Ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer. Genug Platz, um eine Party zu feiern, doch das hatte sie nicht vor.

Früher war das mal die Wohnung von Rita und Peter gewesen. Jetzt lebten sie unten. Liane Brennecke hatte ihr Reich oben ganz für sich allein. Sie benutzte sogar einen separaten Eingang.

Sie mochte Ritas burschikose Art. Das alles hier war wohltuend normal. Bodenständig. Kein Schickimicki. Kein intellektuelles Gehabe, sondern ostfriesisch unaffektiert.

Liane Brennecke erwartete Rupert. Sie wollte hier allein mit ihm sprechen. Nicht in der Polizeiinspektion. Zeugen konnte sie bei diesem Gespräch nun wahrlich nicht gebrauchen.

Sie hatte Kaffee aufgesetzt. Sie mochte ganz ordinären Filterkaffee. Auf dem Tisch stand ein Baumkuchen von ten Cate mit fünf Ringen. Er ragte, mit dunkler Schokolade überzogen, vom Teller hoch wie ein schwarzer Leuchtturm aus Butter, Eiern und Mehl.

Der Baumkuchen, obwohl noch nicht angeschnitten, verströmte ein Aroma, das sie jede Kalorientabelle vergessen ließ. Neben dem Kuchen auf dem Tisch lag ihre Dienstwaffe, die sie, um sich zu beruhigen, jeden Morgen auseinander- und wieder zusammenbaute. Unter dem blauen Kissen auf dem Sofa hatte sie eine zweite Waffe versteckt. Einen Double-Action-Revolver. Der kurze Colt Cobra, Kaliber .38, hatte sechs Patronen in der silbernen Trommel. Der Lauf war sehr kurz. Die Waffe wog nur 700 Gramm. Ideal, um sie zu verstecken.

Wer immer mich überraschen will, wird, wenn er meine Dienstwaffe unter seiner Kontrolle hat, kaum einen Verdacht schöpfen, wenn ich lässig eine Hand auf ein Kissen lege, dachte sie. Im Ernstfall konnte das Kissen dann auch als Schalldämpfer dienen. In diesem friedlichen, ruhigen Viertel im Norden von Norden würde ein Schuss für eine Menge Aufregung sorgen. Das wollte sie den Bewohnern ersparen. Richtige Schalldämpfer aber machten Waffen zu unhandlich und zu schwer.

Sie stellte sich vor, der aufgescheuchte Geier würde hier reinkommen, um sie ein zweites Mal zu holen und sein Werk zu vollenden. Sie würde nicht die Dienstwaffe nehmen, sondern den Colt, und sie würde das Magazin leer schießen. In seine Hände und Beine würde sie feuern.

In ihrer Phantasie sah sie ihn schon vor sich am Boden liegen, mit Wunden wie der gekreuzigte Jesus.

Aber dann klingelte nicht der Geier, sondern Rupert. Er lief die Treppe zu ihr hoch und gab dabei ganz bewusst den sportlich durchtrainierten Mann.

Sie bat ihn ins Wohnzimmer, und er nahm im Sessel Platz. Er setzte sich breitbeinig hin. Sie servierte ihm einen Kaffee. Er nahm ihn schwarz.

Sie setzte sich ihm gegenüber aufs Sofa. Zwischen ihnen auf dem Tisch der duftende Baumkuchen und die frisch gereinigte Dienstwaffe. Rupert tat, als wäre das alles ganz normal.

Er fand ihre Beine sensationell, und er liebte das Knistern ihrer Strumpfhose, wenn sie die Beine übereinanderlegte. Leider knisterten die neuen aus Mikrofaser nicht mehr so schön wie damals, als sie noch aus Nylon waren. Aber sie umgab sich immer noch mit diesem penetranten Erdbeergeruch. Rupert fand, nach ihrer Rettung aus dem Folterkeller war es noch schlimmer geworden als vorher, so als müsste sie mit diesem Erdbeergeruch irgendetwas überdecken.

»Am Ende der Straße«, sagte er, »wohnt Kommissarin Ann Kathrin Klaasen.«

Liane Brennecke nickte. »Ich weiß.«

Dies war kein rein dienstliches Gespräch. Das ahnte Rupert. Aber richtig privat war es auch nicht. Ob sie ihn verführen wollte?

Die Waffe auf dem Tisch irritierte ihn.

War der Baumkuchen ein Phallussymbol? Wollte sie jetzt mit ihm eine wilde Nummer schieben? War das ihre Art, danke zu sagen? Hatte es sie scharfgemacht, wie entschlossen er bei ihrer Befreiung vorgegangen war?

Sie breitete ihre Arme aus und legte eine Hand auf das blaue Sofakissen. »Ich bin Ihnen etwas schuldig, und ich möchte etwas von Ihnen …«, sagte sie und machte eine vielversprechende Pause.

Er bekam sofort einen trockenen Mund und nahm einen Schluck Kaffee.

Sie fuhr fort: »Sie werden von mir jede Rückendeckung bekommen, Rupert. Jede. Meine Arme reichen weit. Es gibt eine Menge hochrangiger Menschen, die mir verpflichtet sind.«

Das glaubte er ihr sofort. Er fragte sich, ob auch einige Politiker ihren Verführungskünsten erlegen waren, doch sie enttäuschte seine diesbezüglichen Phantasien mit der schnöden Aussage: »Ich weiß eine Menge Dinge über mächtige Leute, die besser nie herauskommen sollten … Die meiste Macht ist ja eh nur geliehene Macht. Das Volk kann sie jederzeit entziehen und sie jemand anderem geben, der weniger Dreck am Stecken hat. Dieses Wissen macht einige vorsichtig, ja mir gegenüber geradezu freundlich bis demütig.«

Rupert war ein bisschen enttäuscht. Eine leidenschaftliche Affäre mit einem hochrangigen Politiker wäre ihm lieber gewesen als politische Intrigen, aber er tat, als hätte er nichts anderes erwartet.

»Sie werden als Frederico Müller-Gonzáles zurückkehren, Rupert. Sie sind jetzt Vorstandsvorsitzender einer Onlinebank mit Sitz in Dortmund.« Sie ließ sich etwas Zeit, als müsste sie über den Namen der Bank erst nachdenken, als hätte sie ihn vergessen. »Kompensan!«

Rupert lachte: »Kompensan? Das klingt wie ein Abführmittel.«

Es freute Liane, dass er sich den Humor bewahrt hatte.

Rupert gefiel das. »Eine Onlinebank aus Dortmund … Meine Mutter war aus Dortmund.«

»Wir haben«, klärte sie ihn auf, »die Mehrheit der Anteile übernommen. Das wird die Bank für das organisierte Verbrechen. So kontrollieren wir dann sämtliche Geldflüsse.«

»Ich weiß«, bestätigte Rupert. »Ich soll aus schwarzem Geld weißes machen. Aus Drogengeldern werden Parfümerie- oder Bäckereiketten. Aus Waffenschmuggel Mietshäuser.«

Sie freute sich, dass er es kapiert hatte, aber ihm war klar, dass dieses Abfragen von Selbstverständlichkeiten nicht der Grund ihres Treffens war.

»Was ist«, fragte Rupert, »mit den zwölf Millionen, die ich für Sie bezahlt habe? Es war das Geld …« Er sah sie über den Rand der Tasse an.

»Der Kurdenmafia, ich weiß«, gab sie zu, wirkte dabei aber keineswegs schuldbewusst. Mit einem Gesicht, als würde sie ihm einen selbstgemachten Eierlikör anbieten, sagte sie: »Die zwölf Millionen sind kein Problem.«

Rupert schluckte. »Kein Problem? Die schneiden mir die Eier ab, wenn ich das Geld nicht bringe!«

»Niemand wird merken, dass Geld fehlt«, behauptete sie.

Rupert guckte ungläubig. Seine Ehefrau Beate merkte es schon, wenn hundert Euro in der Haushaltskasse fehlten. Da sollten zwölf Millionen nicht auffallen?

Er staunte die Leitende Kriminaldirektorin an. Sie setzte sich anders hin. Er hörte wieder das Knistern ihrer Strumpfhose. Oder bildete er sich das nur ein, um auf andere Gedanken zu kommen?

Sie klärte ihn auf: »Sehen Sie, Rupert, was ist heutzutage schon Geld?« Sie fixierte ihn, und da er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Für viele die Hauptantriebsfeder, ich weiß. Grund für Mord, Grund für Kriege und Verbrechen. Aber was ist Geld wirklich?«

»Ein Zahlungsmittel?«, riet Rupert.

Sie sprach zu ihm wie eine Lehrerin zu einem folgsamen, aber nicht sehr hellen Schüler: »Ja, das war es früher einmal. Stimmt schon. Zu einer Zeit, als man Muscheln, Perlen oder Gold gegen Waren tauschte. Aber was ist Geld heute, Rupert?«

Rupert kam sich vor wie in der mündlichen Abiturprüfung. Er zückte sein Portemonnaie und wedelte mit einem blauen Zwanzig-Euro-Schein. »Geld ist bedrucktes Papier.«

Er hoffte, damit zu punkten. Sie hatte sichtlich Spaß an seiner Antwort: »Ja, früher war das einmal so. Und damals hatte es auch einen realen Wert.«

»Damals …«, wiederholte Rupert unsicher.

»Ja, damals, als die Regierung noch jede Mark in Gold hinterlegte. Falls es nicht damals schon eine Lüge war. Damals gab es mal für jeden Schein, für jede Münze, irgendwo einen real hinterlegten Goldwert.«

Rupert schmunzelte. So weit konnte er ihr folgen.

»Die Regierung«, behauptete sie, »konnte nicht einfach drucken, so viel sie wollte. Nein, es gab immer einen realen Wert hinter jedem Geldschein. Erst als man zügellos Geld druckte, um Kriege zu finanzieren, wurde es immer weniger wert. Es gab eine Inflation.«

Um überhaupt etwas zu tun, schnitt Rupert den Baumkuchen an. Er benutzte dazu die Säge seines Leatherman. Als Polizist hatte er immer ein Schweizer Messer mit sich geführt, aber er fand, ein Gangsterboss brauche ein Leatherman. Obwohl Bosse für Arbeiten mit Werkzeugen eigentlich immer ihre Leute hatten.

Die schwarze Schokolade brach. Ein paar Splitter verteilten sich auf dem Tisch. Einer fiel auf Liane Brenneckes Dienstwaffe. Rupert pflückte die Schokolade von der Heckler & Koch wie eine Blume und aß sie auf.

Die Pistole lag da wie eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage.

Liane Brennecke sah ihn durchdringend an und wollte von ihm wissen: »Und was, lieber Rupert, ist Geld heute? Nun?«

Er überlegte. Blamier dich jetzt nicht, ermahnte er sich, das ist die Eine-Million-Euro-Frage. Leider hatte er keinen Publikumsjoker. Hoffentlich wurde das hier nicht gleich zu Alles oder nichts.

Er zuckte mit den Schultern und guckte wissbegierig. Seiner Frau Beate gefiel es manchmal, wenn er ihr das Gefühl gab, sie sei schlauer als er. Mit der Leitenden Kriminaldirektorin Brennecke, die ihn an Sharon Stone in Basic Instinct erinnerte, machte er es genauso. Es hieß ja, dass Männer auf dumme Frauen standen. Nach seiner Erfahrung war es aber genau umgekehrt. Frauen wollten Männern überlegen sein. Zumindest die Sorte Frauen, mit denen er oft leichtes Spiel hatte.

Ganz den wissbegierigen Schüler spielend, gab er ihr nun die Möglichkeit, ihre Überlegenheit zu genießen, und aß dabei noch köstlichen Baumkuchen. Er kam sich vor wie ein Kaugummi kauender Grundschüler.

»Heute«, verkündete sie mit großer Geste, »ist Geld nur noch eine Illusion.« Sie wischte mit den Armen durch die Luft wie ein Zauberer, der das weiße Kaninchen verschwinden lässt.

»Eine Illusion?«, fragte er und verschluckte sich am Baumkuchen. Er hustete.

Beate wäre jetzt aufgesprungen, hätte ihm auf den Rücken geklopft, seine Arme hochgehoben und ihn aufgefordert, ruhig zu atmen. Nicht so Liane Brennecke. Sie dozierte weiter, ignorierte seinen Erstickungsanfall: »Es sind nur noch virtuelle Zahlen auf Konten. Die Regierung muss nicht einmal mehr Geld drucken lassen. Der Gegenwert spielt überhaupt keine Rolle mehr. Er existiert gar nicht. Deshalb spricht man von einer Realwirtschaft. Die hat mit der Finanzwirtschaft überhaupt nichts mehr zu tun. Es gibt zum Beispiel die EZB. Die Europäische Zentralbank. Die ist für die Überwachung der Geldmenge in Europa zuständig.«

Das war Rupert im Grunde schon alles viel zu hoch und zu theoretisch. Ihre Beine fand er nach wie vor interessanter.

»Die EZB versucht, die Geldmenge zu regulieren, damit nicht alles völlig unkontrolliert aus dem Ruder läuft.«

»Ja, und was heißt das jetzt für mich als Bankdirektor?«, wollte Rupert wissen.

»Sie sind nicht der Bankdirektor, Rupert. Sie sind der Vorstandsvorsitzende. Sie passen nur auf, dass die anderen keinen Mist bauen.«

»Gut. Das ist gut«, freute Rupert sich. »Aber was heißt das denn nun für mich?«

Sie strahlte ihn an. »Es bedeutet, dass die zwölf Millionen keine Rolle spielen. Es sind nur Zahlen, die einer in den Computer tippt. Ihr könnt euch virtuell bei der Zentralbank fünfzig oder hundert Millionen leihen. Das wird sogar von euch erwartet. Und ihr könnt euer Geld da parken. Dafür müsst ihr allerdings Minuszinsen zahlen.«

»Minuszinsen.« Rupert tippte sich an die Stirn.

»Ja, so ist es. Aber es fährt doch heutzutage kein Lastwagen mehr durch die Gegend, voll mit Geldsäcken, und liefert die irgendwo ab. Das ist vorbei, Rupert! Es braucht nur noch Millisekunden auf einem Rechner, um Geld von hier nach da zu schieben. Mehr nicht.«

»Geld, das es eigentlich gar nicht gibt?«, fragte er.

»Ja. Virtuelles Geld. Sag ich doch.«

Er zeigte sich beeindruckt, und das war er auch.

Und warum verdiene ich dann so wenig?, fragte er sich, schämte sich aber, es auszusprechen.

»Gehen Sie zurück in das Leben des Frederico Müller-Gonzáles, mein lieber Rupert. Genießen Sie die Zeit mit Ihrer Miet-Ehefrau und bringen Sie mir diesen Geier.«

Rupert hakte nach: »Woher wissen Sie von Frauke?«

»Ach, nennt sie sich jetzt nicht mehr Chantal?« Es war Liane Brennecke gelungen, Rupert komplett zu verunsichern. Mit ihren Beinen, mit ihrem Gerede über Millionen, die keine Rolle spielten, und mit ihrem Wissen über seine Miet-Ehefrau. Die Leitende Kriminaldirektorin wohnte hier im Distelkamp, nicht weit von seinem Haus entfernt. Es waren, so schätzte er, vielleicht zweihundert Meter Luftlinie bis ins Neubauviertel. Mit diesem Wissen war sie also sehr nah bei seiner Ehefrau Beate. Das fürchtete Rupert noch mehr als die Gangsterbanden, die ihm nach dem Leben trachteten.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, ermahnte Liane Brennecke ihn: »Ein gewisser George, der eigentlich Wilhelm Klempmann heißt, hat ein Kopfgeld auf Sie ausgesetzt, Rupert. Das pfeifen die Tauben in Köln und Düsseldorf von den Denkmälern, die sie bekacken. Er ist mächtig sauer auf Sie. Er will Sie lebendig, und wie er angekündigt hat, möchte er Ihnen dann die Haut vom Leib ziehen und Sie grillen wie ein Spanferkel. Ja, ich glaube, das waren wohl die Worte von dem geizigen Hund.«

»Geiziger Hund?«

»Ja, er hat fünfhunderttausend auf Sie ausgesetzt. Das ist im Grunde doch eine Beleidigung. Nicht mal eine Million …«

Rupert verzog den Mund. Irgendwie hatte sie ihm gerade genüsslich einen Seitenhieb verpasst, fand er.

Damit er es wirklich kapierte, setzte sie noch eine Frage nach: »Was haben Sie wirklich für mich bezahlt, Rupert?«

»Zwölf Millionen«, gab er zu, und um nicht ganz so blöd dazustehen, ergänzte er: »Eigentlich wollte ich dafür ein Bild kaufen, von diesem russischen Maler, Malewitsch, oder wie der heißt. Ein schwarzes Quadrat. Sonst nix. Nur Leinwand mit schwarzer Farbe.«

Sie blickte ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Unverständnis an. »Und was haben Sie für sich abgezweigt? Ich meine, mir können Sie es doch sagen. Sie werden doch ein, zwei Millionen für sich beiseitegelegt haben, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Wahrscheinlich war das dämlich von mir, oder?«

Sie zwinkerte ihm zu. »Hauptsache, wir wissen beide, wie viel wir wert sind«, raunte sie komplizenhaft.

Rupert spürte, dass sie ihm nicht glaubte. Er kam sich fast ein bisschen dämlich dabei vor, nichts auf die Seite gebracht zu haben. Waren nur Idioten ehrlich?, fragte er sich.

Sie stand auf. Rupert erhob sich ebenfalls. Das Gespräch war für sie wohl beendet, folgerte er. Aber er zögerte noch. Er hatte noch etwas auf dem Herzen. Es war nur so schwer auszusprechen.

Sie bemerkte sein Zaudern und fand es irgendwie süß. »Raus mit der Sprache«, ermunterte sie ihn. »Was kann ich für Sie tun, Rupert?«

Er druckste weiter herum. Er hatte plötzlich zu viel Speichel im Mund und konnte gar nicht so schnell schlucken, wie sich neuer bildete. Am liebsten hätte er ausgespuckt wie ein Stürmer auf dem Fußballplatz, bevor er den entscheidenden Elfmeter verschießt.

Sie drehte sich zu ihm und machte eine einladende Handbewegung. »Genieren Sie sich nicht. Sagen Sie es mir einfach frei heraus. Wenn ich etwas für Sie tun kann, dann …«

Ein Außenstehender hätte das auch so interpretieren können, als böte sie ihm gerade Freuden an, die sie mit ihrem Körper spendieren wollte. Sie leckte sich dabei auch noch über die Lippen, was es Rupert nicht leicht machte, bei dem zu bleiben, was er vorbringen wollte. Sexuell war er durch Frauke, Beate und seine Nachbarin ja eigentlich gut versorgt. Darum ging es ihm nicht, auch wenn Liane Brennecke ihn ganz schön anmachte.

Er ging vorsichtshalber einen Schritt zurück und versuchte es: »Also, es gibt da etwas, das mich schon lange umtreibt … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist mein geheimster Wunsch … Bitte lachen Sie mich nicht aus …«

»Nur raus damit. Ich bin Spezialistin für geheime Wünsche, das können Sie mir glauben.« Sie sagte das wie eins dieser leichtbekleideten Cam-Girls, die nachts im Fernsehen versprachen: »Ich habe Sachen drauf, die würde deine Frau sich nie trauen …« Dann wurde immer die Telefonnummer eingeblendet, die man anrufen sollte.

Rupert trat von einem Bein aufs andere. Seine Nervosität wuchs. »Also, es ist nämlich so … Ich habe da ein Problem … Also, eigentlich ist es gar kein richtiges Problem … Ich habe auch noch nie mit jemandem darüber gesprochen …«

Sie setzte sich wieder und deutete ihm an, er solle doch auch wieder Platz nehmen. Sie schlug die Beine übereinander und sah ihn erwartungsvoll an. Das hier war der Auftakt für ein längeres Gespräch, so vermutete sie. Sie freute sich, dass er bereit war, sich ihr gegenüber zu öffnen, ja sich ihr anzuvertrauen.

»Ich glaube, ich brauche erst dringend Alkohol«, sagte er. Sie deutete an, das sei kein Problem. Er befürchtete schon, jetzt ein Likörchen oder einen Prosecco angeboten zu bekommen, aber stattdessen rief Liane Brennecke unten bei Rita Grendel an und fragte, ob sie ihr mit einem Drink für einen Freund aushelfen könne.

Ja, sie sagte Freund, das registrierte Rupert wohl. Allerdings hatte er überhaupt kein Interesse daran, jetzt Rita Grendel zu begegnen.

Schon wenige Augenblicke später stand Rita in der Tür und bot ihren selbstgemachten Eierlikör an oder einen eisgekühlten Klaren. Großzügig wie sie war, ließ sie beide Flaschen da.

Rupert nahm beides. Erst einen Eierlikör, den er gemeinsam mit Liane trank, dann goss er zum Nachspülen zwei Klare hinterher. Er schüttelte sich wie ein nasser Pudel.

Nachdem Liane Brennecke sich wieder gesetzt hatte, fragte Rupert sie: »Was hat Rita Ihnen beim Abschied zugeflüstert?«

»Vorsicht, das ist ein Windhund«, lachte Liane.

Der Schnaps brannte noch in der Speiseröhre, kam aber schon wärmend im Magen an. Rupert war bereit, jetzt auszupacken. Er drückte die Finger zusammen, wie die Kanzlerin es gerne tat, und begann: »Ich gelte ja überall als ostfriesisches Urgestein.«

Liane nickte. »Das kann man wohl sagen.«

»Und ich bin auch echt stolz darauf, ein Ostfriese zu sein.«

»Ja. Gut. Und wo ist jetzt das Problem?«

»Ich lebe und arbeite da, wo andere Urlaub machen.«

Sie bestätigte das. »Ja. Wie schön für Sie. Das ist wirklich beneidenswert.«

»Ja, aber …«

»Aber was? Raus mit der Sprache, Rupert!«

Er sah auf seine Füße und sprach es leise aus: »Ich bin kein echter Ostfriese.«

Sie konnte seine Not spüren. Er ertrank ja fast in Peinlichkeit. »Sondern?«, fragte sie.

Rupert erklärte händeringend: »Meine Mutter … das war eine ganz wunderbare Frau … ein Dortmunder Mädchen … Sie hat mir viel von ihrer Lebenseinstellung mitgegeben … Also, als die meinen Vater kennenlernte, da war das Liebe auf den ersten Blick. Mein Vater war Ostfriese aus Emden-Uphusen. Gemeinsam sind sie nach Norden gezogen, in eine Doppelhaushälfte.«

Liane Brennecke befürchtete, jetzt eine langatmige Lebensbeichte zu hören. Sie schaltete innerlich schon auf Durchzug, machte dabei aber ein hochinteressiertes Gesicht. Das hatte sie bei endlosen Konferenzen und Dienstbesprechungen gelernt. Sie konnte abschalten, ja meditieren, dabei aber Aufmerksamkeit heucheln, ja sogar durch Nicken oder Grunzlaute ihre Zustimmung bekunden.

Doch Rupert kam jetzt rasch auf den Punkt: »Als meine Mutter hochschwanger war, ist sie noch mal mit meinem Vater in ihrem VW-Käfer ins Ruhrgebiet gefahren. Meine Oma – also ihre Mutter – wurde nämlich fünfzig. Sie hat sogar noch eine Torte gebacken und mitgenommen. Ja, und dann ist es passiert …« Rupert schwieg und bog sich durch, als hätte er sich völlig verspannt.

»Ja, was denn?«, ermunterte Liane Brennecke ihn, weiterzureden.

Bisher war es für Rupert leichter gewesen, als er gedacht hatte. Aber den Rest bekam er kaum heraus. Er seufzte: »Ich kam«, flüsterte er kaum hörbar, »drei Wochen zu früh.«

Na und?, wollte Liane Brennecke schon sagen, aber dann verstand sie. »Sie sind ein Dortmunder, Rupert!«

Er legte den Zeigefinger über seine Lippen. »Pssst!«

Rita Grendel sollte das auf gar keinen Fall hören. Vielleicht war sie im Garten. Ein Fenster war nur gekippt, und hier in der Siedlung war es bis auf ein paar Vogelstimmen um diese Zeit sehr ruhig.

»Ich habe«, gab Rupert zu, als wäre es ein Verbrechen, »die ersten drei Tage meines Lebens in Dortmund verbracht. Dann sind wir zurück nach Norden. Dort bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen. Außerdem …«

»Ja, und wo ist jetzt das Problem?«, wollte die Leitende Kriminaldirektorin wissen.

Rupert machte eine Bewegung, als müsste er einen schweren Gegenstand von sich wegschieben. Er sah aus wie ein Mann, der sich von einer unsichtbaren Last befreite. »In meiner Geburtsurkunde steht Dortmund.«

»Na und?«

Rupert staunte. Er hatte mehr Einfühlungsvermögen von Frau Brennecke erwartet. »Wissen Sie überhaupt, was das heißt? Können Sie sich vorstellen, wie peinlich mir das ist? In meinem Ausweis steht: Geburtsort Dortmund!« Er machte eine lange Pause und atmete schwer.

Rita Grendel hatte zum Glück die Flaschen dagelassen. Rupert nahm noch einen, allein schon gegen Liane Brenneckes Erdbeergeruch. Er war überaus froh, dass Rita, die geradezu ein Denkmal für eine echte Ostfriesin war, die Ferienwohnung verlassen hatte. Sie wäre die Letzte gewesen, der er jetzt, in der Stunde dieser Niederlage, hätte begegnen wollen.

»Das«, staunte Liane Brennecke, »sind also die Probleme des Mannes, der mich gerettet hat und nun für ein Gangstersyndikat mit falscher Identität als Vorstandsvorsitzender einer Bank arbeitet, um internationale Drogengelder zu waschen?« Als müsse sie ihn zur Besinnung bringen, trompetete sie es geradezu heraus: »Eine Menge Leute wollen Sie lieber tot als lebendig sehen, Rupert!«

»Ja«, gestand Rupert, »weiß ich doch. Aber ich wäre so gerne in Ostfriesland geboren worden. Kann man das denn nicht irgendwie hinkriegen?«

»Hinkriegen? Wie soll man denn so etwas nachträglich hinkriegen?«

Jetzt, da raus war, was ihn seit Jahrzehnten quälte, spielte der Rest schon keine Rolle mehr. »Ich habe alles getan, um es ändern zu lassen. Man kann heutzutage alles ändern. Du kannst deinen Namen ändern. Deinen Wohnort. Deine Religion. Deinen Familienstand. Deine Steuerklasse. Alles überhaupt kein Problem. Ich könnte mich statt Rupert auch Leckt-mich-doch-alle-am-Arsch-Kaiser-Wilhelm nennen, aber seinen Geburtsort, den kann man nicht ändern. Ich war noch sooo klein, ich habe die Stadt praktisch nie gesehen, aber ich werde den Stallgeruch nicht los.«

»Aber«, fragte Liane, »kann man denn nicht stolz darauf sein, ein Dortmunder Kind zu sein?«

»Klar«, machte Rupert deutlich, »besonders, wenn man in Dortmund wohnt. In Gelsenkirchen kann es aber schon zum Problem werden. Als Düsseldorfer ist man in Köln auch nicht gut angesehen …«

Sie seufzte. »Ja, was soll denn dann erst jemand sagen, der aus einem anderen Land oder einem ganz anderen Kulturkreis kommt?«

Rupert klopfte auf die Sessellehne. »Dortmund ist ein anderer Kulturkreis!«

»Was«, fragte Liane Brennecke, »erhoffen Sie sich nun von mir, Rupert?«

Er setzte sich anders hin. Er wirkte auf sie wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat und kurz vor dem Sprung ist. »Was glauben Sie, was ich alles angestellt habe … Ich habe im Einwohnermeldeamt Frauen flachgelegt wie ein Gigolo auf Speed. Sie waren bereit, ihre Männer für mich zu verlassen, ihre Bausparverträge zu kündigen, ihre Kinder in Heime abzuschieben, um mit mir nach Ostfriesland durchzubrennen. Aber glauben Sie ja nicht, auch nur eine sei bereit gewesen, meine Geburtsurkunde zu ändern!«

Sie begriff immer noch nicht, warum das für ihn so wichtig war. »Meine Mutter war aus Altenessen«, sagte sie, »und mein Vater …«

Rupert machte eine schneidende Geste: »Können Sie das für mich tun, Frau Brennecke?«

»Was?«

»Na, einen waschechten Ostfriesen aus mir machen! Man kann mir doch nicht ewig vorwerfen, dass ich drei Tage in Dortmund …«

»Ich soll ernsthaft meine Beziehungen einsetzen, um Ihre Geburtsurkunde und damit letztendlich Ihren Personalausweis zu fälschen?«

Endlich fühlte Rupert sich richtig verstanden. Er breitete die Arme aus, als wollte er sie an sich drücken, blieb aber dabei sitzen. Sie bewegte sich auch nicht in seine Richtung.

»Liebe Frau Brennecke, Sie haben aus mir einen Vorturner bei der Sparkasse gemacht …«

Sie unterbrach ihn und korrigierte: »Vorstandsvorsitzender einer Internetbank. Um Himmels willen, nicht Sparkasse!«

»Ja, meine ich ja. Und Sie haben mich, den ostfriesischen Hauptkommissar Rupert, zum Gangsterboss Frederico Müller-Gonzáles gemacht. Ich habe einen neuen Lebenslauf bekommen, teure Autos und Klamotten, eine Kreditkarte, einen neuen Führerschein, eine neue Ehefrau … Das alles haben Sie praktisch im Handumdrehen hingekriegt …«

Sie wiegte den Kopf hin und her, als sei es ganz so einfach, wie er dachte, wohl doch nicht gewesen.

»Und jetzt erzählen Sie mir nicht«, rief Rupert mit erhobenem Zeigefinger, »dass es so schwer sein kann, aus mir einen Ostfriesen zu machen!«

Dieser Mann verblüffte sie immer wieder aufs Neue. Er hätte von ihr eine Finca auf Mallorca, mit Orangen- und Olivenhain fordern können, eine Liebesnacht oder eine Beförderung im Polizeidienst. Alles wäre für ihn drin gewesen. Aber er kam mit solchen Kinkerlitzchen.

Sie stand auf und ging vor zur Tür. »Ich will sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte sie.

Das hörte sich für Rupert nach einer Zusage an. »Ich auch«, versprach er.

Karl-Heinz Kleebowski war als Alexander von Bergen im Savoy abgestiegen. Er liebte dieses Kölner Hotel. Hier fühlte er sich nicht wie ein gesuchter Zuhälter unter Bankräubern, sondern wie ein Adliger unter Filmstars.

Er bewohnte eine Suite mit Blick auf den Dom und hatte einen Whirlpool im Wohnbereich. Täglich genoss er ein orientalisches Pflegezeremoniell im Rasulbad und eine spezielle ayurvedische Fuß- und Beinmassage mit anschließender Entspannungsmassage. Dabei sollten jeder Stress und jede Art von Verkrampfung gelöst werden, ja von ihm abfallen. Doch trotz der täglichen Anwendung und obwohl sich verschiedene bestens ausgebildete und hochmotivierte Masseurinnen viel Mühe mit ihm gaben, wollte sich keine Tiefenentspannung bei ihm einstellen.

Immer wieder dachte er über die Schießerei im Norddeicher Yachthafen nach. Er war sonst nicht so zimperlich. Er konnte einen Gegner mitleidlos töten. Er hatte sich immer eingebildet, das sei so, wie eine lästige Wespe zu erschlagen, bevor sie zusticht. Er machte sich doch, wenn er ein Filetsteak aß, auch keine Gedanken darüber, wie das Rind gestorben war.

Aber Frauke, dieses zierliche Wesen, hatte die beiden Schergen von George so kaltblütig ausgeknipst, dass es ihm fast Angst machte. Sie war eine Kampfmaschine, getarnt als Edelhure. Nein, nicht einmal das. Sie wirkte, als sei sie echt in Frederico verliebt. Klar bekam sie als Miet-Ehefrau eine Stange Geld dafür, aber sie war auch verdammt gut. Er kannte keine bessere. Und welche richtige Ehefrau legte für ihren Typen schon zwei Kerle um?

Frauke war auf Nummer sicher gegangen und hatte erst Heiner und dann Carl mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe erledigt. Sie wollte damit auch ein Signal an alle schicken: Wir nehmen keine Gefangenen, und wir fackeln nicht lange. Wer sich mit uns anlegt, ist tot.

Er kannte eine Menge Miet-Ehefrauen und leistete sich selbst ständig eine oder zwei. Einige waren auch als Bodyguards oder Fahrerinnen sehr gut, aber diese Frauke hatte echte Killerinstinkte. Er persönlich schätzte an Frauen ja andere Qualitäten, aber bitte, Frederico musste ja wissen, wen er da zu seiner Lebensabschnittsbegleiterin gemacht hatte. Auf jeden Fall war auf sie Verlass.

Sie wohnte ebenfalls im Savoy. Nicht in einer Suite, aber in einem sehr komfortablen Doppelzimmer. Sie wartete hier auf ihren Frederico. Er würde kommen, daran glaubte sie genauso fest wie Kleebowski.

Zweimal hatten sie gemeinsam auf der Dachterrasse gegessen. Sie sprachen wenig. Sie beobachtete die Leute, und er hätte einen Tausend-Euro-Chip darauf gewettet, dass sie unterscheiden konnte, ob die Beule in der Jacke von einer Brieftasche kam, einer Brille oder einer Zimmerflak. Er gestand es sich ein: Diese Frau faszinierte ihn und machte ihm gleichzeitig Angst.

Natürlich konnte er nicht die Miet-Ehefrau seines Chefs übernehmen. Das wäre eine unverzeihliche Ehrverletzung gewesen.

In den verschiedenen Verbrecherorganisationen, die er kannte, gab es überall starke, ja mächtige Frauen. Fredericos Mutter war so eine. Sie herrschte unumstritten. Sie entschied nicht nur über Karrieren, sondern auch über Leben oder Tod. Sie verfügte über gewaltige finanzielle Mittel. Aber sie hätte sich nie im Leben selbst die Hände schmutzig gemacht. Undenkbar, dass es eine Waffe mit ihrem Fingerabdruck darauf gab. Sie tötete, indem sie bei Nennung eines Namens den Mund verzog oder den Blick senkte. Weitere Details interessierten sie nicht.

Oder Mai-Li, die alterslose Kettenraucherin, und Charlotte, dieses gefährliche Vollweib … Jemand hatte sie mal die beiden Omis genannt. Es war ihm nicht gut bekommen. Er wurde im Altonaer Volkspark am Eingang des Dahliengartens mit chinesischen Essstäbchen in den Nasenlöchern gefunden. Jemand hatte sie ihm bis ins Gehirn geschoben. Es waren edle Stäbchen aus Elfenbein, je 27 Zentimeter lang. Das sprach sich rasch herum, und niemand nannte die Damen mehr Omis.

Aber auch, wenn die Essstäbchen vermutlich eine Art Verbeugung vor Mai-Li waren, so war doch jedem klar, dass sie es nicht selbst getan hatte. Sie war zu der Zeit nicht einmal in Hamburg gewesen, sondern hatte mit ihrer Freundin Charlotte in Baden-Baden beim Pferderennen ein kleines Vermögen gesetzt. Also, für sie war es klein. Für andere Menschen war es eine Summe, die ihre Risikolebensversicherung locker überstieg.

Frauke, da gab es gar kein Vertun, hätte es selbst gemacht. War das die neue Frauengeneration? Ein Ergebnis der Emanzipation?

Ihn hatte in letzter Zeit immer öfter das Gefühl beschlichen, die Zeit der Männerherrschaft sei vorbei. Frauke war so etwas wie die fleischgewordene Theorie vom Ende einer großen Zeit.

Wir Männer sind nur so lange die Herrscher der Welt, wie diese überlegenen Wesen uns lassen, dachte er. Oder waren wir es vielleicht nie? Haben sie es uns nur vorgegaukelt und sich dabei über unsere Blödheit kaputtgelacht?

Wo steckte Frederico? Bekir, dieser Kurde, hatte nach ihm gefragt. Das verhieß im Moment nichts Gutes. Bekir galt als einer, der einen guten Draht zu bewaffneten kurdischen Freiheitskämpfern hatte, ja, ihnen Waffen und Geld beschaffte. Vielleicht war das aber auch nur das Image, mit dem der Geschäftsmann sich gern schmückte. Fast jeder in Kleebowskis Branche pflegte eine offizielle, nach außen hin gut darzustellende Tätigkeit. Einige waren Geschäftsführer von GmbHs, die im In- und Export arbeiteten, besaßen kleine Geschäfte, Diskotheken oder Kneipen. Geld verdiente man anders. Ganz anders. Sie förderten mit ihrem Vermögen Sportvereine oder Parteien, traten als Kunstmäzene auf und spendeten für wohltätige Zwecke.

Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Frederico einem der Clans in die Hände gefallen und wurde gerade gefoltert, bis er auch das letzte Geheimnis verraten hatte, oder er lag längst aufgeschlitzt in irgendeiner alten Industrieanlage.

Frauke wusste das genauso gut wie Kleebowski. Aber keiner von beiden wollte es aussprechen. Sie warteten hier auf Frederico, als könnte er jeden Moment quietschfidel in der Bar erscheinen, sich einen Drink bestellen und fragen: »Na, wie ist es bei euch denn so gelaufen? Ich war zum Skifahren in Ischgl … Hust, hust, hahaha …«

Für Kleebowski gab es nur einen Grund, warum Frauke in einem Doppelzimmer statt in einer Suite lebte: Sie war sparsam geworden, weil sie, wenn Frederico nicht zurückkam, das Zimmer selbst zahlen musste. Vorbei das süße Leben. Sie verdiente zwar als Miet-Ehefrau ganz gut, aber eben nicht gut genug, um das Leben zu führen, das sie an Fredericos Seite gewohnt war.

Kleebowski stellte sich vor, wie der tote Frederico gefunden wurde. Er müsste dann die Nachricht dessen Eltern überbringen. Der Mutter, der er geschworen hatte, auf ihren Sohn aufzupassen. Es waren gruselige Gedanken. Sie führten bei ihm zu Muskelverkrampfungen, Kopfschmerzen und Durchfall. Aber was am schlimmsten war – er verlor jede sexuelle Lust. Er hatte einfach kein Interesse mehr daran. So kannte er sich gar nicht. Normalerweise hätten sich in seinem Whirlpool eine, vermutlich gar zwei Schönheiten befunden, die die Suite mit ihm teilten.

In seinen Heldenträumen befreite er Frederico aus einem dunklen Verließ. Gemeinsam schossen sie sich den Weg frei. Rücken an Rücken kämpften sie siegreich gegen eine Übermacht und lagen sich dann triumphierend in den Armen.

All seine Gedanken, all seine Phantasien drehten sich um Frederico. Er spielte alle möglichen Szenarien durch: Was, wenn George ihn hatte? Was, wenn er den Tschetschenen in die Hände gefallen war, den Düsseldorfern, den Kölschen Jungs oder den Clans, die im Ruhrgebiet um die Vorherrschaft kämpften? Nur auf eins wäre er nie gekommen: dass Frederico in der ältesten ostfriesischen Stadt, Norden, mit seiner richtigen Ehefrau, mit der er kirchlich und standesamtlich verheiratet war, in seinem Einfamilienhaus saß und die Buttercremetorte seiner Schwiegermutter aß.

Beide Frauen hingen an Ruperts Lippen, denn er tischte ihnen eine seiner Lügengeschichten auf. Vermutlich wussten beide, dass er log, denn zum einen kannten sie ihn, zum anderen waren sie nicht blöd genug, jeden Unfug zu glauben. Doch sie freuten sich, dass er gesund wieder aufgetaucht war.

Die letzte Zeit hatte er angeblich damit verbracht, eine wichtige Zeugin in einer anonymisierten Wohnung in Wilhelmshaven zu bewachen. Eine Dame von zweiundachtzig Jahren. Sie sei ihm so dankbar, dass sie ihn als Erben einsetzen wolle, und ihr Vermögen sei beträchtlich. Damit wollte Rupert vorbereiten, dass er in nächster Zeit zu Geld kommen würde, denn er hatte durchaus vor, ein paar Euro abzuzweigen, um diesen Neubau hier, für den er sich auf dreißig Jahre bei der Sparkasse Aurich-Norden verschuldet hatte, abzubezahlen.

Nein, er war als Polizist nie bestechlich gewesen. Aber als Gangsterboss Frederico Müller-Gonzáles unterlag er anderen Regeln. Das konnte man überhaupt nicht vergleichen. Es ging eh jeder davon aus, dass er von den zwölf Millionen, mit denen er Liane Brennecke freigekauft hatte, ein hübsches Sümmchen für sich abgezweigt hatte. Doch da hatte er noch als ehrlicher ostfriesischer Polizist gehandelt. Als Frederico Müller-Gonzáles lachte er über so etwas. Dieses ständige Herumknapsen kurz vor dem Ersten hätte endlich ein Ende. Er brauchte nur eine plausible Geschichte, wie er zu dem Geld gekommen war. Eine Erbschaft schien ihm da seriös.

Die Grillsaison stand bevor, und er wollte nicht ständig mit diesem billigen Holzkohlekugelgrill herummachen. Er wünschte sich einen Gasgrill. So etwas wie eine Outdoorküche, komplett aus Edelstahl, mit Infrarot-Backburner. Der hatte sogar einen beleuchteten Innenraum. Da warf man nicht einfach ein Würstchen auf den Rost, da wurde das Grillen zur Kunst. Fast tausend Euro kostete das Teil, und Beate war ausgerastet, als er damit geliebäugelt hatte.

Außerdem brauchte er ein neues Auto. Die alte Schrottkiste wurde nur noch von Lack und Rost zusammengehalten. Sie hatte 250000 Kilometer drauf, und der Motor musste kurz nach dem Mauerfall gebaut worden sein. Jedenfalls hörte er sich an wie ein kaputter Lada, war aber nicht aus Russland, sondern aus Frankreich.

Beate und ihre Mutter waren froh, dass Rupert mit der Schießerei im Yachthafen nichts zu tun hatte. Immer noch war sie das Gesprächsthema Nummer eins in Ostfriesland.

Er kündigte ihnen jetzt an, er werde wieder für einige Zeit von der Bildfläche verschwinden. Er müsse als verdeckter Zielfahnder einem Gangsterboss folgen. Möglicherweise sogar ins Ausland.

Beate wollte ihm gleich noch ein paar Brote schmieren und für ihn Wäsche einpacken, aber seine Schwiegermutter funkte dazwischen: »Wie naiv bist du eigentlich, Töchterchen? Der macht sich ein paar schöne Tage ohne uns. Das ist alles. Immer wenn er hier gebraucht wird, ist er nicht da. Als die schlimme Sache im Norddeicher Hafen passierte, wo war er da? In Wilhelmshaven in der Altenbetreuung! Angeblich! Falls sie wirklich zweiundachtzig ist!«

Rupert stöhnte. Er wünschte ihr die Pest an den Hals, aber obwohl sie voll zur Risikogruppe gehörte, hatte sie Corona natürlich problemlos überlebt. Nicht mal einen leichten Husten hatte sie bekommen.

Heute Nacht würde er noch bleiben. Beate hatte ihn darum mit einem Blick gebeten, der ihm die Liebesnacht seines Lebens versprach. Morgen würde er dann aufbrechen. Neue Abenteuer warteten auf ihn und seine Miet-Ehefrau Frauke. Er hoffte, dass sie nicht inzwischen von jemand anderem gemietet worden war, denn er hatte sich echt in sie verguckt, was aber an seinen Gefühlen für Beate nichts änderte. Ein Mann wie er, mit zwei Identitäten, konnte eben auch zwei Ehefrauen haben und sie beide lieben.

Geier hatte einen langen Spaziergang gemacht und den Vogelstimmen gelauscht. Es war, als würden sie ihm ihre Geheimnisse erzählen. Er war an der Emscher entlanggelaufen, bis dahin, wo sie in den Rhein mündete. Hier stand er manchmal stundenlang und vergaß die Zeit.

Jetzt, da er für Liane Brennecke genug Geld bekommen hatte, um für immer irgendwo ein zufriedenes Leben zu führen, wollte er hier nicht mehr weg. Er hatte begriffen, dass er sich hier in Dinslaken-Eppinghoven am wohlsten fühlte. Es war nicht die faszinierende Auenlandschaft, nicht der Rotbachsee, sondern sein Keller, der ihm wahres Glück spendete.

Er hatte sich die Gegend erwandert, kannte hier jeden Baum, hatte in jedem Biergarten der Umgebung gesessen. Aber sein Keller war der Mittelpunkt – wie die Sonne, um die die Planeten kreisten. Eine dunkle, eine versteckte Sonne.

Einer wie er brauchte keine Gesellschaft. Er war ein einsamer Wanderer, der Gruppen mied und niemals einem Verein beitreten würde. Wenn er das schon hörte: Wanderverein. Kegelverein. Fußballverein. Schützenverein. Karnevalsverein …

Er mochte Menschen nicht. Schon mal gar nicht, wenn sie in Rudeln auftraten.

Er besaß jetzt mehr Geld, als er im Rest seines Lebens ausgeben konnte. Genug für eine fürstliche Villa, ja, um ein kleines Schloss zu kaufen. Doch der schönste Ort auf Erden für ihn war hier. Er brauchte die Nähe der Gewässer. Die Flüsse zogen ihn an. Er konnte am Ufer im Schatten der Bäume sitzen und dem Fluss beim Fließen zusehen. Nein, das war ganz und gar nicht langweilig. Es war vielleicht seine Art, zu meditieren. Andere hockten an der Theke und glotzten der Wirtin beim Bierzapfen auf den Busen, während ihre Frauen zu Hause auf sie warteten. Er saß am Fluss und sah aufs Wasser, während in seinem Keller eine Frau, an den Zahnarztstuhl gefesselt, darauf wartete, dass er zurückkam und ihr Schmerzen zufügte.

Wie sehr sich die Situationen glichen, dachte er und grinste. Er schnitt besonders gern Polizistinnen in Stücke. Das gab ihm am meisten. Er hatte es auch mit anderen Frauen versucht. Mit Stricherinnen, einer Stripteasetänzerin, Studentinnen und Hausfrauen. Mit denen war es auch ganz nett, aber Polizistinnen waren doch immer noch am besten. Nie wieder würde er sich eine Drogensüchtige vom Straßenstrich holen. Nach denen suchte zwar niemand, aber sie waren als Opfer für ihn einfach uninteressant. Sie waren sofort auf Entzug. Er betrieb hier doch keine Nasenbleiche!

Obwohl es ihn finanziell unabhängig gemacht hatte, die Kriminaldirektorin Liane Brennecke zu verkaufen, bedauerte er, es getan zu haben. Es war nicht einmal halb so schön, hier spazieren zu gehen oder am Fluss zu sitzen, wenn kein heulendes Stück Fleisch im Keller auf ihn wartete.

Ja, er gestand es sich ein: Er brauchte das. Es war mehr als ein Broterwerb. Mehr als ein Hobby. Es war seine eigentliche Bestimmung.

So wie jeder Bauer den Feiertag mit der Familie genoss, wissend, dass im Stall gutgenährte Schweine darauf warteten, geschlachtet zu werden und seinen Geldbeutel zu füllen, so war für ihn alles, was er tat, umso schöner, wenn er wusste, dass er eine Polizistin gefangen hielt. In seinem Hobbyraum.

Es war gut, dass sie ihm Geld brachten, aber es war nicht das Eigentliche. Er konnte dadurch, dass ihn jemand dafür bezahlte, alles so schön professionalisieren. Kam sich dann geistig gesund vor. Er wusste, dass er verrückt war, aber er wollte es nicht sein. Manchmal tat es gut, wenn er sich selbst vorgaukeln konnte, es sei sein Beruf.

Jetzt merkte er schmerzlich, wie sehr er das alles brauchte. Er war trotz der Millionen unzufrieden. Ja, verdammt, das Geld bedeutete ihm nichts. Was sollte er mit Koffern voller Geldscheine anfangen? Er brauchte Geld zum Essen, zum Trinken und zum Tanken. Das Haus hier war längst bezahlt.

Um vor sich selbst besser dazustehen, war ein Auftraggeber wichtig. Dann kam er sich weniger verrückt vor. Insofern machte das viele Geld ihn nicht frei, sondern sogar unfrei. Jetzt, da er bis ans Ende seines Lebens tun und lassen konnte, was er wollte, wurde ihm klar, wer er wirklich war. Er konnte es vor sich selbst nicht mehr verstecken. Es gab Phasen, da brauchte er eine Rechtfertigung vor sich selbst. Nicht immer, aber manchmal.

Vielleicht, dachte er, sollte ich sie mir noch einmal holen und es dann zu Ende bringen.

Er hatte sie an Charlie übergeben, und der hatte ihm die vielen schönen Scheine von diesem Frederico Müller-Gonzáles überreicht. Das Geschäft war gelaufen. Aber was immer Frederico mit ihr angestellt hatte, sie lebte. Ja, diese Brennecke war wieder frei.

Er hatte das Interview mit ihr gelesen. Holger Bloem hatte das Gespräch mit ihr geführt. Darin bezeichnete sie ihn einmal als schwer gestörten Geisteskranken, zweimal als übles Monster und dreimal als sadistischen Mörder. Aber immer nannte sie ihn hochgefährlich.

Sie konnte nicht ahnen, wie sehr ihm dieses Interview in der Szene genutzt hatte, ja, zu welchem Ruhm sie ihm damit verholfen hatte. Jeder wollte jetzt mit ihm arbeiten. Die Summen, die ihm geboten wurden, erinnerten ihn an Markenklamotten. Man zahlte mehr für den Namen als für die Ware. Jeder Clan wollte ihn als Mitarbeiter haben. Die Drohung: »Dann schicke ich euch eben den Geier«, erschreckte jeden Gegner.

In der Branche war er ohnehin eine Legende, aber der gute Ruf konnte auch schnell zur Falle werden. Als Berufskiller gab man keine Autogramme. Der beste Hitman war immer noch der, der unerkannt blieb. Ein Gespenst aus einem Horrorfilm. Eine unfassbare Bedrohung.

Aber er war nicht einfach ein Auftragskiller. Er war einer, der Menschen zum Sprechen brachte. Bei manchen reichte es, seinen Namen zu nennen, und sie redeten schon wie ein Wasserfall. Ja, er war dafür bekannt, jede Information aus jedem herausholen zu können.

Charlie versuchte, ihn zu erreichen. Charlie, auch Der Notar genannt. Er vermittelte Geschäfte. Alle kannten Charlie. Es gab das Gerücht, er sei früher mal ein richtiger Rechtsanwalt gewesen, dem man aber die Zulassung entzogen habe. Andere erzählten, er habe sogar ein Richteramt bekleidet, sei aber damit aufgeflogen, Freisprüche für viel Geld verkauft zu haben. Der Geier hatte auch mal gehört, Charlie sei einmal Staatsanwalt gewesen … Jedenfalls galt er heute als seriöser Vermittler krimineller Geschäfte. Er war unabhängig. Er stielte große Deals ein. Es hätte Geier nicht gewundert, wenn Charlie in der Lage gewesen wäre, neben einem Rembrandt und einem Zentner Heroin auch noch eine Atombombe zu beschaffen.

Wenn Charlie anrief, ging es um viel Geld. Doch Geld hatte für den Geier jeden Reiz verloren. Ja, es wurde immer klarer für ihn: Er wollte nicht irgendeine Frau. Er wollte diese Brennecke.

Je länger er darüber nachdachte, gab es nur noch eine, die ihn genauso reizte: diese berühmte ostfriesische Kommissarin, diese Ann Kathrin Klaasen. Er hatte sie in Norden beobachtet, während er auf eine Gelegenheit wartete, sich Liane Brennecke zu schnappen. Diese Klaasen hatte so etwas an sich, das er gern zerbrechen sah: weiblichen Stolz. Für ihn hatte das immer auch etwas Hochmütiges an sich. Er fühlte sich dann klein und dumm und ausgegrenzt, und er bekam Lust, mit seinem Messer an solchen Frauen herumzuschneiden. Er sah gern Tieren zu, die an ihnen knabberten, und er hörte sie gern schreien und um Gnade betteln.

Für morgen war ein Treffen der Führungsebene angesagt, und Karl-Heinz Kleebowski hatte keine Ahnung, wo sich sein Boss Frederico Müller-Gonzáles befand. Er war so nervös, dass er sich am Haustelefon, als ein Anruf von der Rezeption kam, mit »Kleebowski« gemeldet hatte statt mit »Alexander von Bergen«.

Es war ein Paket für ihn abgegeben worden. Als er es öffnete, erwartete er, einen Finger von Frederico zu finden, vielleicht gar die ganze Hand. Aber darin war ein selbstgebackener Kuchen seiner letzten Miet-Ehefrau. Sie hatte echt ein paar hausfrauliche Fähigkeiten. Sie nannte sich Uschi und sprach den Namen, wenn sie allein waren, gern so aus, als würde er am Anfang mit M geschrieben. Sie hatte ihn eine Weile begleitet.

Sie war so gar keine Frau für das Leben in Hotels, für große Gesellschaften oder Empfänge. Nein. Sie war eher die, mit der man sich für ein paar Wochen vor der Polizei in einer Berghütte versteckte. Sie machte jeden Raum wohnlich. Streit und Stress waren so gar nicht ihr Ding.

Sie wartete immer noch auf ihn und wünschte sich Kinder von ihm. Ja, wenn er eine wirklich geheiratet hätte, um sich zur Ruhe zu setzen, dann vermutlich sie. Doch die Verhältnisse waren nicht so.

Die Suite im Savoy duftete jetzt nach ihrem saftigen Kokos-Mandel-Kuchen im Schokomantel. Er wollte jetzt nicht probieren. Ihm war nicht danach.

Er ging runter an die Bar. Er musste unter Menschen und wollte gleichzeitig allein sein. Dafür war eine gut sortierte Theke mit einem geschulten Barkeeper genau der richtige Ort. In der Divas-Bar hatte er so manchen Triumph gefeiert und so manche Niederlage mit harten Drinks weggespült. Hier hatte er mit Schauspielerinnen und Gangsterbossen gefeiert.

Als er gerade unten aus dem Fahrstuhl stieg, kam Frederico zur Tür herein. Er sah gut gelaunt aus, trug einen leichten Sommeranzug und war unverletzt. Ja, Kleebowski hatte einen Blick dafür. Sein Boss besaß noch alle Gliedmaßen.

Freundlich, mit ausgebreiteten Armen, begrüßte er Kleebowski ganz selbstverständlich, hatte aber überhaupt keine Zeit für ihn. Nein, er wollte gleich zu Frauke, und obwohl er behauptete, einen Mordshunger zu haben, hatte er keine Lust auf die Sky Lounge. Er wollte sich lieber später ein Drei-Gänge-Menü, Currywurst mit Pommes und Mayonnaise, auf die Suite bestellen. Ja, es gab hier nicht nur Schickimicki-Essen für Sushi-Lutscher, sondern auch genau das, was Rupert gerne aß. Unverschämt teuer, aber auch unverschämt gut.

Kleebowski hatte sich wohl noch nicht ganz daran gewöhnt, dass sich sein Chef vom Vegetarier mit Hang zum Veganen plötzlich zum Fleischfresser gewandelt hatte, aber das war im Moment sein geringstes Problem. Schwieriger zu händeln war die Tatsache, dass es keine freie Suite mehr gab und Frauke in einem Doppelzimmer wohnte. Das ging natürlich gar nicht.

Frederico fixierte den Rezeptionisten, als suchte er die beste Stelle, um ihm ein Messer in die Brust zu stechen. Frederico beugte sich vor und raunte: »Können Sie das noch mal wiederholen? Es ist keine Suite für mich frei?!«

Kleebowski mischte sich ein und bot seine Suite an. Er könne ja ins Doppelzimmer gehen, er sei doch sowieso alleine. Er würde gern tauschen.

Er in der Suite mit Domblick und Whirlpool und der Boss im einfachen Doppelzimmer – nein! Das wäre undenkbar gewesen.

Frauke hätte es wohl nichts ausgemacht. Sie freute sich irre, Frederico zu sehen, sprang an ihm hoch, schlug die Beine um ihn, ließ sich von ihm durchs Zimmer tragen und rief dabei immer wieder: »Ich wusste, dass du lebst! Ich wusste es!«

Kleebowski sah den beiden zu. Er lief dann schnell zu sich rüber, packte seine Sachen und räumte die Suite für das knutschende Pärchen.

Frederico trug Frauke über den Flur ins andere Zimmer. Aber es gab da noch eine Kleinigkeit. Kleebowski wollte Frederico die Laune nicht verderben, aber er musste es ihm eigentlich sagen.

Frauke hatte das Hotel nur zweimal verlassen. Natürlich ließ Kleebowski sie beschatten. Zu ihrer und zu seiner Sicherheit gab es drei Bodyguards. Einer beobachtete den Eingang des Hotels. Einer den Flur, auf dem ihre Zimmer waren, und ein anderer übernahm unauffällig den Personenschutz, wenn sie oder er sich aus dem Hotel wegbewegten. Das war das Mindeste an Sicherheit.

Einmal war sie spazieren gegangen. Im Zoo hatte sie einen Typen getroffen und exakt zwölf Minuten und einunddreißig Sekunden mit ihm geredet, während sie einen großen Ameisenbären beobachteten, bis sie zur Tapir-Anlage weitergingen.

Überhaupt, so stand im Bericht, habe sie sich auffällig lange im Südamerika-Bereich des Zoos aufgehalten, so als hätte sie dort noch auf jemanden gewartet.

Denselben Mann traf sie einen Tag später zum zweiten Mal. Sie war ins Café Reichard geschlendert, hatte sich vorher noch den Dom angesehen, aber Zufall sei das auf keinen Fall gewesen. Sie hätten sogar einen Kaffee miteinander getrunken und gemeinsam an einem Tisch gesessen. Später seien sie dann zum Wallraf-Richartz-Museum gegangen, aber am Eingang habe es wohl Streit gegeben. Der Mann sei dann wutentbrannt in Richtung Hohe Straße gelaufen. Sie habe sich die Sammlung