Russland-Kontainer - Alexander Kluge - E-Book

Russland-Kontainer E-Book

Alexander Kluge

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Beschreibung

Nicht nur über eine derzeit umstrittene Pipeline, sondern auch über Jahrhunderte des Austauschs wie der Abstoßung waren und sind Rußland und Deutschland einander so fern wie verbunden. Die politische Gegenwart scheint kritisch, die Zeichen stehen auf Konflikt und Polarität.

In dieser Lage macht Alexander Kluge Rußland zum ausschließlichen Thema eines neuen Großbandes. In dezidiert poetischer Weise, nicht mit dem herrischen Willen zur Synthese, nähert er sich dem unermeßlichen Terrain des größten Landes der Erde und der Mehrzahl seiner Seelen. Ihm geht es um den »ungeknechteten« Stoff, der dem Leser und den Materialien »die Freiheit lässt zu atmen«. Diese Freiheit realisiert sich in polymorpher Darstellung: Aus dem historisch geprägten Blickwinkel deutscher Patrioten wie Humboldt und Kleist ebenso wie aus der erzählerischen Sicht eines Franz Kafka und eines Heiner Müller, aus der Perspektive der Bismarckschen Rückversicherungspolitik, aus der Faszination eines revolutionären Erneuerungsversuchs, aus den utopischen und heterotopischen Erwartungen des 20. und 21. Jahrhunderts, aber auch – und möglicherweise vor allem – aus der dezidiert weiblichen Empathie einer Swetlana Alexijewitsch und der Rußlandliebe seiner Schwester Alexandra: »In ihrem Auftrag schreibe ich dieses Buch.«

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Seitenzahl: 389

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Alexander Kluge

Russland-Kontainer

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Abb. 1:Der Autor, während er am Kontainer arbeitet.

Abb. 2:Mit der 35 Millimeter Kamera Arriflex S120 Blimp.

1

»Alle Seelen Rußlands weisen mit ihren Wurzeln zum Himmel«

»ES WACHSEN AUCH DIE SEELEN DER GEFÄLLTEN BÄUME / UND AUCH DER MOND UND SEINE LIEBLINGSSTERNE«

Abb. 3.

Abb. 4.

Tod der tausend Seelen

Bis in seine letzten Tage vermochte Modest Mussorgski noch Noten zu schreiben und seine schweren Hände auf dem Klavier zu bewegen. Er war zu mancher Tageszeit betrunken. Seine Vertrauten, die ihn versorgten, verloren die Achtung vor dem Genie. In diesem Zustand komponierte der Meister den letzten Akt seiner Oper Chowanschtschina. Noch klafften gewaltige Lücken in den Notaten der anderen Akte. Alles Skizzierte war bis dahin nur für Klavier gesetzt. Dann versank er in den Tod, ertrank in einer in Worten nicht mitteilbaren Verzweiflung.

In der Skizze zum fünften Akt geht es um die Selbstverbrennung einer altorthodoxen Sekte in Rußland in der wirren Zeit des Machtantritts von Peter dem Großen. Der religiösen Gruppierung, die als fanatisch galt, ging es um eine Frage des Ritus, den sie auf keinen Fall verändert wissen wollte. Ein religiöser Führer veranlaßte dieses gemeinsame Selbstopfer. Eine Vertrauensperson war sein Medium. Sie besaß das Vertrauen aller, war in der Lage, sie zu der Tat aufzurufen. Sie war eine frühere Zauberin und die weggeworfene Geliebte eines Bandenführers (des Bruders des Anführers der »Chowanschtschina«). Diesen Ausbeuter liebte sie, und ihn hatte sie (als die religiöse Sekte ihn gefangennahm) bis zum Fluchtort der Gemeinde, einem Waldstück, als seine Retterin unversehrt durchgebracht. Bäume wurden gefällt, Scheite geschichtet. Es ist viel trockenes Reisig und anderer spontan brennbarer Stoff nötig für das Autodafé. Ein russischer Wald mit seinen frischen Säften ist wenig geeignet für eine Selbstverbrennung.

Der Zar hatte den altorthodoxen Ritus verboten. Die Sekte blieb eigensinnig. Soll Rußland je dem Westen angenähert werden, urteilen der Zar und seine Berater, muß ein Beispiel statuiert werden. Glaube und Ritus müssen in Rußland zentral vereinheitlicht und zur Verständlichkeit für westliche Besucher vereinfacht werden. Das OBEN, das in den Fortschritt führt, muß ins Volksherz eingemeißelt sein. Ein solches »Herz« (aus vielen tausend Seelen und nirgends genau in den Körpern situiert und vielleicht auch lediglich ALS GEIST ZWISCHEN ALLEN MENSCHEN existent) läßt sich jedoch nicht mit Zwang bearbeiten. Das Werkzeug dafür ist nicht erfunden (Stein taugt dazu nicht, Hammer nicht, Stößel nicht, Schmelzofen nicht).

Die Truppe des Zaren hatte den Waldbezirk umstellt. Kundschafter der Eingeschlossenen meldeten den Heranritt der zaristischen Reiterei. Da gibt die Vertraute des Sektenführers (das Medium) das Zeichen. Die mit brennbarer Masse bewehrten Stangen werden aus den Lagerfeuern gerissen und entzünden den Wald. Die Altgläubigen ersticken eher, als daß sie verbrennen. Tot sind sie alle. Als die auf Parade und auf militärische Ordnung gedrillten Soldaten des Zaren das Stück Natur durchforschen, zeigen sie sich verwirrt.

Reaktion eines modernen Publikums

Strawinsky hat diesen Teil der Oper aus den Klaviernotaten Mussorgskis in drastische Chor- und Orchesterakkorde übersetzt. Obwohl in der deutschen Stadt, in welcher die Aufführung stattfindet, nichts Vergleichbares geschehen ist (auch nicht in geschichtlich früherer Zeit), zeigen sich die Zuschauer in Stuttgart erschüttert. Es muß, schreibt der Kritiker Wolfgang Schreiber, »etwas Erinnerbares geben, das nicht bloß im fernen Rußland seinen Ort hat und das der Musik diese Kraft verleiht«. Für mehr als drei Stunden kann keiner der an der Aufführung Beteiligten etwas essen, auch wenn es spät in der Nacht geworden ist.

Alchemie der Macht

In den Gängen des Opernhauses bereiten sich die Choristen auf ihren Auftritt im letzten Aufzug von Mussorgskis Oper Chowanschtschina vor. Es handelt sich um drei verschiedene Chöre. Den Chor der Strelitzen (einer Söldnertruppe des Zaren Iwan), den Chor des Volkes und den Chor der Altgläubigen. Sie werden Raskolniki genannt. Sie sterben lieber, als ihren angestammten Glauben zu ändern.

Die Opern Mussorgskis (Boris Godunow, Chowanschtschina) ziehen Geschehnisse zusammen, die mehr als drei Generationen auseinanderliegen: eine Zeit ohne feste Herrschaft (1), den Machtantritt des Zaren Iwan (2), die Zeit des falschen Demetrius, die zur polnischen Besetzung Moskaus führte (3), die Machtergreifung Peters des Großen (4).

Nachricht an Außerirdische

In der Dokumentation, die im Auftrag der Russischen Akademie der Wissenschaften einer Weltraumsonde beigegeben wurde, von der wir annehmen, daß sie nach Erfüllung ihrer kundschafterlichen Aufgabe in den Weiten des Weltraums verschwinden wird, heißt es in kyrillischer und lateinischer Schrift:

Abb. 5:Der Zar Iwan, gefangen im Gehäuse der Orthodoxie (»Buch«). Er gilt als gestorben. Man sieht, wie er aus seinem Kerker herausäugt. Im Triptychonbild links unten erschlägt das Volk die Söldnertruppe des Zaren, die sogenannten Strelitzen.

»Diese Botschaft kommt von Menschen aus Rußland – Homo homo –, gehörend zur Gattung der Primaten, zur Klasse der Altweltaffen, zur Unterklasse der Trockennasenaffen, von denen die Trennung vor fünf Millionen Jahren erfolgte. Wir stammen von einer kleinen Gruppe in Afrika, die sich im Denisova-Menschen vollständig erhielt. Unsere Sprache wurde geprägt durch Alexander Puschkin, den Nachfahren eines nordafrikanischen Sklaven.«

87 Unterschriften von Akademiemitgliedern.

Sturz in den Abgrund der Sterne

Der Blick zum Himmel auf der Südhälfte des Erdballs, in der Atacama-Wüste in Südamerika, aus den Sternwarten Südafrikas und Australiens, ergibt für die Großen Teleskope, aber auch für den Rundblick der wachen, geschulten Augen der russischen Astronomin Karina Sedowa, ein reicheres Panorama an Leuchtkraft, als es je Beobachtungsorte in Rußlands Norden bieten können. Die Elevin Sedowa hatte ihre Anfangsjahre in den Observatorien des Kaukasus absolviert und fand ihre Überstellung an ein Großes Teleskop in der Republik Südafrika zunehmend attraktiv. Hier blickt die Sternenforscherin »hinunter«, unmittelbar auf das Zentrum der Milchstraße. Einerseits nach »innen« (vom System aus gesehen, das uns galaktisch beherbergt), zugleich aber nach außen: in einen »Abgrund«, wenn man die Tiefe des Fernblicks und die Tatsache veranschlagt, daß wir Erdbewohner nicht nach oben in den Kosmos blicken, sondern von der Erdoberfläche hinunter in die Weiten des Himmels, die mit keiner der Dimensionen in den Weiten Rußlands vergleichbar sind. Man würde Jahrtausende fallen, fiele man vom Ort eines der Großen Teleskope in Richtung Zentrum der Milchstraße. Man wäre dann immer noch nicht bis an den Rand der Staubwolken gelangt, welche die Sternenströme, die das Zentrum der Milchstraße rasant umkreisen, für unser Auge verdecken. So etwa äußerte sich Karina Sedowa.

Eine grauenhafte Vorstellung: Noch während der Perestroika war ein russischer Kosmonaut in den freien Raum abgestürzt. Er hatte Reparaturarbeiten an einer der robusten Raumkapseln russischer Bauart, die unseren Planeten umkreisen, durchgeführt. Beim Sturz vom Arbeitsgerüst waren die Halteseile, die den Kosmonauten mit dem Raumkörper wie eine Nabelschnur verbanden, gerissen. Und so war er blind in Richtung der nächstbesten (kombinierten und noch schwachen) Anziehungskraft gefallen. Den verheißungsvollen Orion und die beiden Bären mag er, so Karina Sedowa, noch eine Weile gesehen haben. Verhungert, verdurstet. Kein Funk, kein Rettungsfahrzeug, das ihn hätte leiten oder heimbringen können. Dieses »Wrack eines Arbeiters« gelangte, bald von einer Umrundung der Sonne beschleunigt, zu dem BESONDEREN GRABEN, der unser Sonnensystem von der benachbarten Drei-Sterne-Konstellation trennt. Zuletzt, meint die erfahrene Astronomin, die sich auf ihren Urlaub in Murmansk freut, auf das warme winterliche Quartier dort, wird sich der Verunglückte mitsamt seiner »astronautischen Rüstung« in Partikel aufgelöst haben. Das bewirkt die kosmische Strahlung. Die Elemente, der Staub: ehemals ein Kosmonaut. Der Verunglückte wird nunmehr von einem neuen Attraktor, dem Centaurus-System, beschleunigt. Im mathematischen Sinne, aber nicht für unsere an festen Boden gewöhnte Orientierung, ginge es jetzt »aufwärts«. Bis der »nach oben fallende Rest«, nicht einmal von der Masse eines Fingerabdrucks, einen der drei Nachbarsterne (zu dritt bilden sie das Centaurus-System) umrundet, werden weitere Jahrtausende vergehen. Die schwach leuchtende Kleinsonne dort, ein roter Zwerg, steht von allen Sternen Rußland am nächsten.

Karina Sedowa und der schnellste Stern unserer Milchstraße

Ich führte schon das dritte Gespräch mit Karina Sedowa für mein Kulturmagazin. Ihr deutsches Vokabular war begrenzt. Gern reihte sie Hauptwörter aneinander, eine Methode, die Ausdrucksstärke besitzt. Die Verben werden aus den Sätzen weggesprengt und flottieren frei im Raum. Dazwischen Fachbegriffe in englischer und in russischer Sprache. Ich schätze solche Gespräche, die an der Grenze des Unverständlichen geführt werden und höchst prägnante Messungen darüber mitteilen, wie fern uns die Erfahrungswelt bleibt, von der die Rede ist. So etwas ist im Fernsehen unüblich, gerade deshalb wirkt es attraktiv auf junge TV-Nutzer (und wird von ihnen zu so später Stunde und unter dem Vorwand eines Kulturmagazins gern erlaubt, ja, geschätzt, sobald einer sich daran gewöhnt hat). Es geht um eine sogenannte »Zapperfalle«. Wenn ich das überall Gleiche, das sich dem Verständnis vollständig öffnet, satthabe und hineinschalte zu etwas, das mir fremd ist, hält ein »Restgeheimnis« mich fest. In dieser Hinsicht schien mir die Redeweise von Frau Sedowa »absolut poetisch«.

Sie sprach über ein besonderes Sternenschicksal, über dessen Deutung sie am Computer forschte. Ein Doppelsternsystem hatte sich im Sternbild des Schildes zwischen einem HELIUMSTERN, einem sogenannten heißen Überzwerg (Сверхкарлик), einem sehr alten Geschöpf, das seinen Wasserstoffvorrat aufgebraucht hatte, und einem Weißen Zwerg (Белыйкарлик) gebildet, einem noch älteren Sternentyp, in dem die Materie so eng gepackt ist, daß die Masse unserer Sonne die Größe der Erdkugel annähme. Die beiden Himmelskörper umrundeten einander auf engen Bahnen mit hoher Beschleunigung. Dadurch floß eine Flut von Helium auf den gravitativ starken Weißen Zwerg hinüber. Inzwischen waren diese MERKWÜRDIG LIEBENDEN (страннолюбящиеся) ihren ursprünglichen Gleichgewichten so entfremdet, der eine überflutet von der Materie des anderen, daß der seiner Ausdehnung nach kleinere, der Masse nach massivere Weiße Zwerg explodierte. Er verschwand (исчез). Sein Gefährte, der Heliumstern, aber übernahm Drehimpuls und Beschleunigung des untergegangenen Sterns (исчезнувшаязвезда). Er wurde zum schnellsten Läufer in unserer Milchstraße. Es wird einsam werden um den Schnellen (»беглянка«), wenn er nach draußen (наружу) gelangt. Er ist nämlich, fügte Karina Sedowa hinzu, so geschwind, daß er die Galaxie verlassen muß. Wird er die Magellanschen Wolken erreichen oder von einer anderen Milchstraße eingefangen? Unwahrscheinlich (невероятно), antwortete die Sternenforscherin.

»IM GRUND GENOMMEN IST EIN STERN EIN

UNGEHEURES ENERGIERESERVOIR, DAS,

SO SCHNELL ES SEINE MASSE ERLAUBT,

VERSCHWINDEN WIRD …

MAN WIRD NICHT ZULASSEN, DASS DIE STERNE

SO WEITERMACHEN; VIELMEHR WIRD MAN

SIE IN EFFIZIENTE WÄRMEMASCHINEN

VERWANDELN …«

HEINER MÜLLER

Politische Ökonomie der Sterne

Daß der Dramatiker Heiner Müller auf dem Schriftstellerkongreß in Bitterfeld jungen Sternen im Weltall verschwenderischen Energieverbrauch vorwarf, erweckte böses Blut. War das Anspielung? War es Spott? Politkader hielten die Ausführung für eine Verballhornung des sozialistischen Ansatzes. Ihnen antworteten aber Astrophysiker von der Akademie der Wissenschaften in Moskau, die an einer Parallelveranstaltung in einer Nachbarstadt teilgenommen hatten und rasch einmal zur Abschlußdiskussion der Dichterkonferenz herübergekommen waren: Ja, es treffe zu, daß die Sterne ökonomisch unausgeglichene Masseverluste produzierten; quasi wie ein Feudalherrscher, der sich um keine Budgets schert; ja, ein solcher Herrscher oder römischer Kaiser befestige durch öffentliche Herausstellung von Luxus, Willkür und Verschwendung seine Macht. Es gehöre nämlich zum Bild des Herrschers, daß er sich durch Verschwendung legitimiert, ergänzten die Historiker. Auch sie waren aus einer Nachbarveranstaltung gekommen.[1] 

Die Ingenieure aus Bitterfeld, denen die Tagung der Poeten zuarbeiten sollte, beharrten darauf, es sei keineswegs ausgeschlossen, auch angesichts der Erfolge der beispielgebenden Sowjetunion auf den Gebieten der Raumfahrt, daß die maschinelle Beherrschung von Sonnen, Planeten und letztlich der Milchstraße ein Ziel sei, das der industrialisierten Menschheit nicht verschlossen wäre.

Einige der anwesenden Politkader wußten aus ihrer Schwarzlektüre (Samisdat), daß Trotzki etwas Ähnliches im Jahre 1922 geschrieben hatte. Er hatte erklärt: Anstelle des Sozialismus im eigenen Land, der auf etwas Unmögliches gerichtet sei, nehme die Perspektive des Internationalismus nicht bloß die Beherrschung der Erde in den Blick, sondern auch die der Sterne, deren momentane Unwirtlichkeit dem menschlichen Bedürfnis angepaßt und politisch ökonomisiert werden müsse.

Das war 1922 ein ähnlicher Kongreß gewesen wie jetzt in Bitterfeld, besucht von Psychoanalytikern, Geologen und Astrologen, zu denen sich mehrere Dichter verirrt hatten. Die Politkader in Bitterfeld, an sich vom überraschenden Verlauf der Nachmittagsdiskussion animiert, machten sich aus Furcht vor Problemen mit dem Parteiapparat, sofern man sich auf unpassierbares Gelände zubewegte, an eine Vollbremsung der Diskussion. Für mehr als fünf Jahre hatte Heiner Müller, was Sonderwünsche betraf, keinen Spielraum mehr.

Katzen im Weltraum

Es war in der Zeit, als die Raumfahrt begann. In einem der Forschungsinstitute des »Sternenstädtchens« bei Moskau, datschenumsäumt, klinikversorgt, eine der modernsten Wissenschaftsstädte der Welt, waren in den Labors Gehirne von Katzen untersucht worden. Verglichen mit den Hirnen von Hunden, Vögeln oder Krokodilen (letztere das Verbindungsglied zwischen Vögeln und Sauriern), waren, was Navigation betrifft, die Schaltzentralen der Katzen, vor allem die eines wilden sibirischen Stammes, diesen weit überlegen. Gleichgewichtsgefühl in schwerelosem Raum: erstklassig. Raschheit bei der Betätigung der Tasten eines Steuermechanismus (entsprechend der Zuschlagsgeschwindigkeit bei der Jagd nach Kleingetier): überragend. Daher war geplant, die Hunde, die in den Raumkapseln oft träge reagierten und denen Fehler unterliefen, in den Missionen im Orbit durch Katzen zu ersetzen.

Abb. 6.

Abb. 7.

Abb. 8:Fernsprecher aus Eisen. Für die Kommunikation innerhalb des Kosmodroms. Wird beim geplanten Umzug des Kosmodroms von Baikonur ins Amur-Gebiet durch filigranes Digitalgerät ersetzt.

Abb. 9.

Abb. 10:Entwurf von Galina Balaschowa für einen Raum in der kosmonautischen Kapsel. Das Loch im Boden führt in die Zentrale. Das Sofa verwurzelt Moskauer Gemütlichkeit mit dem Himmel. Der Stuhl links ist aufklappbar und hat dann die Funktion einer Toilette. Wegen gravitativer Tücken ist zwischen Anus und »Aufbewahrungsbehälter« eine feste schlauchartige Verbindung erforderlich.

Abb. 11.

Dann aber die Enttäuschung! Bei den Anlernversuchen im Cockpitmodell der Raumkapsel waren diese Eigenbrötler für keinen geordneten Einsatz ihrer Fähigkeiten zu gewinnen. Weder auf direkte Belohnungen noch auf Signale (durch bedingten Reflex an Belohnung gebunden) antworteten sie. Menschenfremd, ohne Erinnerung an Dankespflicht für vorherige Wohltaten, stets an der aktuellen Situation orientiert, lungerten sie mit Zeichen der Ungeduld in ihrer Kammer. Offenkundiger Wunsch nach Ortswechsel. Die Beobachter, alles Wissenschaftler der Spitzenklasse, wußten, daß es diesen Katzen an Fähigkeit und besonderem Verstand nicht mangelte. Gänzlich fehlte ihnen der Wille. Nahm man sie aus ihrem Gefängnis heraus, umschmeichelten sie Hals und Schultern des ihnen vertrauten Betreuers, erheischten Streicheleinheiten und Leckereien (ohne sich verdient gemacht zu haben, sozusagen um der Sache selbst willen).

Sollte man es mit anderen Exemplaren der Gattung versuchen? Vielleicht doch mit Hauskatzen, deren navigatorische Fähigkeiten und deren Reaktionsvermögen bei der Betätigung von Tastaturen nach den Laborergebnissen denen der Wildkatzen nachstand? Auch Tempelkatzen und die seltenen im Wachdienst des Werkschutzes in den USA bewährten Warnkatzen, die jeden Saboteur oder Terroristen rasch zu entdecken verstanden, wurden erprobt, waren aber sowenig wie ihre Vorgänger folgebereit, sobald sie in ein technisches Gerät eingekerkert wurden.

Wjatscheslaw N. Schilin, einer der Forscher und Betreuer, der seine Katzen sehr liebte, riet von der weiteren Verfolgung dieser Linie in der Raumfahrt ab. Nicht einmal einen Start werde man mit diesen FREIHEITSDURSTIGEN zustande bringen. Von einem längeren Aufenthalt auf dem Mars zu schweigen. Der Mann galt im »Sternenstädtchen« (ЗвёздныхГородкак) als Frauenverführer. Er habe erlebt, berichtete er, daß er einer jungen Frau Zuwendung entgegengebracht und sie sich ihm hingegeben habe, was aber längst nicht bedeutete, daß sie ihn wiedergeliebt hätte. Sie sei nur so lange bei ihm geblieben, wie es ihr paßte. Ähnlich empfinde er die »Herzlichkeit einer wilden Katze«. Eine davon schmiegte sich gerade wie ein Pelz um seinen Nacken, Pfoten auf seinen Schultern, schnurrend, während er das Fell liebkoste. Täglich, sagte er, fordert sie ihre Ladung an Zärtlichkeit, kleinen Aufmerksamkeiten, Geschenken. Nie aber hätte das Tier ihn abgeschleckt, wie es seine Hunde täten. Liebe sei für die Katze eine Einbahnstraße: zu ihr hin, aber nie zurück. Dabei schienen die Tiere nicht gleichgültig zu sein. Sie hätten vielmehr ein genaues Unterscheidungsvermögen, was ihnen gefällt und was nicht. Daß dieses Urteilsvermögen je die Bezeichnungen »Gehorsam« oder »Einsatzbereitschaft« verdiene, bezweifle er. Jedenfalls löse nichts, was er tue, bei ihnen Dankbarkeit aus. Es bleibe bei ihrem unsäglichen Freiheitsdrang (стремлениексвободе).

»Lieber sterben als emotional lügen.« Das habe Geltung, wenn man bei Wildkatzen von Emotion sprechen wolle und nicht von einer grundlegenden Fremdheit (Distanz zum Menschen). Schilin führte das auf eine außerplanetarische Herkunft seiner Katzen zurück (von denen er in seinen Laboratorien 64 untersucht hatte). Sie stammten von ägyptischen Tempelkatzen ab, die nach Weggang der Götter und Verödung der Tempel ins Freie ausgewildert worden waren. Alle Wildkatzen, die bis Sibirien gelangten, behauptete Schilin, sind ehemalige Tempelkatzen. Als Außerirdische sind sie für die Raumfahrt prädestiniert, werden aber die unbeholfenen Versuche der Menschen, einen Platz im Weltraum zu ergattern, von sich aus nicht fördern.

Schlechtes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Hund und Mensch

Laika war den Forschern zugelaufen. Eine lange Zeit der Entwicklung ist vergangen seit jenem Zeitpunkt im ausgehenden Pleistozän, als sich die ersten Hunde den Standquartieren der Menschenhorde näherten. Inzwischen waren dreitausend Menschengenerationen oder achtzehntausend Hundegenerationen vergangen. Ein Straßenhund in Moskau hat eine aus Kuibyschew hergelaufene Hündin geschwängert und den pfeilohrigen Mischling, den das wissenschaftliche Personal im STERNENSTÄDTCHEN (ЗвёздныйГородок) Laika nannte, hervorgebracht, den Liebling der Planer und Praktiker. Es war vorgesehen, den Hund und die Raumkapsel nach der Umrundung des Planeten auf die Erde zurückzuholen. Laika sollte dann ein gutes Leben haben. Jede Zelle in ihrem robusten Körper sollte genau auf die Folgen des Weltraumabenteuers hin untersucht werden. Anatolij W. Kordelijew, der Skeptiker unter den Planern, bestand darauf, daß im Inneren des Gehäuses des Raumfahrzeugs, der Kapsel in der Kapsel, in welcher Laika saß oder lag, eine Giftspritze eingebaut würde, die dem Tier, wäre es verloren, unter die Haut führe und es augenblicklich umbrächte. Der Mechanismus funktionierte dann aber überhaupt nicht. Nichts im Inneren der Kapsel antwortete auf die Funkbefehle der Bodenstation, als es darauf ankam. Längere Zeit registrierten Meßgeräte, quälend für das Bewußtsein der vielen Zeugen in der Bodenstation, wie der zuverlässige Begleiter des Menschengeschlechts dort oben unerträglich nach Luft schnappte, Quälerei erlitt, bestehend aus Hunger, Durst und Orientierungslosigkeit. VERRAT AM HUND. Hätten Laikas Vorfahren, die den Bund mit den Menschen schlossen, von diesem Schicksal gewußt, hätten sie einen weiten Bogen um die frühen Höhlen und Holzunterkünfte gemacht, und Laika selbst hätte STERNENSTÄDTCHEN nie freiwillig betreten. Andererseits hätte kein Hundefänger diesen erfahrenen Straßenhund gegen dessen Willen je fangen können.

Im Weltraum gelangt die Erde nie zweimal an denselben Punkt

Das Engelskonzert der Raumkörper, die das Sonnengestirn durch den Kosmos mit sich schleppt, kartographierte E. ‌F. Schubalow in einem tausendjährigen Turm im Kaukasus, in den sein modernes Teleskop im Schutz einer verglasten Terrasse eingebaut war. Kalt war dieser Beobachtungsstand. Vier Öfchen reichten nicht aus, dem Astronomen die Knie zu wärmen. Neben dem Gestell waren vier Tische aufgereiht, von Papieren mit Sterndaten bedeckt. Schubalow hatte seine Aufzeichnungen über die Gesamtbewegung des Sonnensystems um den Kern der Milchstraße im Jahr 1937 fertiggestellt, bevor ihn die Häscher verhafteten und nach kurzer Dunkelhaft ohne Verhör erschossen, so willkürlich und fahrlässig, wie Sterne sich nicht bewegen können, ohne zu entgleisen.

Die Erde, geführt von der Sonne und den Geschwisterplaneten, durchfurcht die Milchstraße und gelangt dabei, obwohl sie das Zentrum schon 21mal umkreiste, nie zweimal an denselben Punkt. Einmal näherte sie sich einer ihrer früheren Bahnen um drei Parsec. Ein unsichtbarer Begleiter folgt ihr in gewisser Ferne, ein sogenannter BRAUNER ZWERG, eine unentfaltete, weil massearme Sonnenschwester, die aber fähig ist, so wie Zeus Blitze schleudert, den Pulk von Kometen, die in der Oortschen Wolke auf ihren Einsatz warten, in Aufregung zu versetzen. Der gravitative Schock des dunklen Begleiters läßt sie in Richtung Sonne fallen, und einige der Impakte, Katastrophen und Einschläge, welche die Erde trafen, folgen aus der Periode, in der sich diese ZWEITE SONNE unserem System näherte.

Eigenschwingung großer Seen

Die Grundschwingung des Baikalsees, schreibt Dr. Lermontow, beträgt 54 Minuten, sie wird, wie ein musikalischer Akkord durch Obertöne, durch Wellen von 36 und 19 Minuten Länge überlagert. Bis zu drei Metern aber stürzt die Seeoberfläche in den Himmel bei Ankunft einer der rasanten Wetterfronten von Süden.

Dieser größte Süßwassersee des Planeten archiviert in einer Tiefe von 1600 Metern noch die Eigenbewegung von 1917 (in Form einer Grundwelle), deren Rhythmus der Schüler des großen Schostakowitsch, der freche Simonow, in seiner FUGE FÜR ZWEI WELLENLÄNGEN UND ZWÖLF OBERTONFOLGEN op. 182b festhielt. Der Bezug auf das Jahr 1917 wurde von der Kritik übelgenommen. Die Eigenbewegung des Baikalsees sei ein System, wurde gesagt, das System sei einige Millionen Jahre alt, und insofern sei der starke Tiefdruckblock von 1917 eine bloße Momentaufnahme. Das sei dem elektronischen Machwerk Simonows anzuhören. Messiaen dagegen komponierte einen »Wasserberg«, die Wölbung des Pazifiks um vier Meter in der Nähe der Insel Niue im Jahre 1928, nur nach seismischen Richtwerten.

Das war wohl nicht viel wert?

Es war nichts Genaues. Es war ein Vorwand für die Einfälle des großen Komponisten.

Die er auch ohne solchen Vorwand gehabt hätte?

Vielleicht nicht. Er stellte sich »Erhebung der See« plastisch vor und griff dann zu Zahlen der Seismographen, die ja nicht nur Erdstöße, sondern auch Wasserstöße messen.

In ihrer Freizeit?

Ja, zum Spaß.

Wie es sich für gute Musik ziemt.

Für eine qualifizierte.

Und diese Qualifikation sprechen Sie dem frechen Simonow ab?

Nicht seinem Opus 182b.

Wieso?

Es klingt wie ein Brausen.

Und was stellt es dar?

Einen mächtigen Wasserfall weit unterhalb der Meeresoberfläche in der Enge zwischen Grönland und Island. Das Wasser schießt hier mit hohem Gewicht tausend Meter in die Tiefe, der gewaltigste Wasserfall der Erde.

Ein U-Boot, das sich dort befände, wo dieser Wasserfall aufprallt, würde zerschmettert?

Todsicher.

Und diese Möglichkeit macht die Musik Simonows dramatisch?

So wird es empfunden. Als ob eine wilde Jagd den Orchestersaal durchzöge. Es ist eine »zugige Musik«.

Die Zuschauer frösteln?

Irgendeine Geisterschar bewegte sich elektronisch durch den Raum. Es gefiel niemandem, aber es machte Eindruck.

Es befand sich aber doch nie ein U-Boot am Sockel jenes unterseeischen Wasserfalls?

Nein, die Kapitäne sind gewarnt.

Schlägt die Wassermasse auf dem Meeresboden auf und schafft dort eine Kuhle?

Nein, sie wird durch eine wärmere Strömung weit unten aufgehalten. Die Beule, die das macht, ist bis zur Neufundlandbank zu messen.

Und wie will Simonows Ohr oder das Gehirn, mit dem er komponiert, davon einen konkreten Eindruck haben?

Durch Einbildung.

Ist das genug?

Für Musik ja.

Hat das Musikwerk irgendetwas mit der Eigenschwingung der See zu tun?

Überhaupt nichts.

Untauglichkeit von Gorillas für Zirkus und Dressur

Juri Eduardowitsch, einer der Dompteure aus der Zirkusfamilie Durow, dem Rußland so zahlreiche Sensationen verdankt, hat 1925 versucht, einen auf dem Weltmarkt angekauften Gorilla für eine Zirkusnummer zu dressieren. Das Tier, das sich trotz seiner Größe wegen seiner eingeknickten Haltung lediglich in Augenhöhe mit dem Zirkusmann befand, schien in nichts imposant. Zudem blickte das Tier weg, wenn Durow seine »Augen zu fesseln« suchte, von Pupille zu Pupille, weil er es gewohnt war, hypnotische Ströme auf Hunde und Löwen zu übertragen – das war seine Spezialität. Auch sonst fehlte dem Geschöpf das Verständnis für den AUSSTELLUNGSWERT. Ein Tier muß etwas machen, was das Publikum überrascht. Der Primat saß im feinen Holzmehl der Manege und rührte sich nicht bis zur nächsten Mahlzeit. Nicht einmal, daß er sich in dem attraktiven, weichen Bodenbelag gesuhlt hätte.

Durow prüfte, ob man den Großaffen mit Ketten an einer Säule befestigen könnte, um dem Publikum zu suggerieren, daß von diesem Tier eine Gefahr ausginge. Dafür aber hätte es wenigstens die Zähne fletschen müssen. Es saß bräsig da und wirkte nur auf dem Plakat, das Durow hatte vorbereiten lassen, bißkräftig und groß genug, um für ein tausendköpfiges Publikum eine Sensation darzustellen. Durows Schwester versuchte es mit einer Pferdenummer. Sie war eine erfahrene Eisbärjägerin und gastierte sonst mit einer Nummer von sechzehn weißen Bären. Der Affe ließ sich auf den Rücken des stabilen Schimmels hieven, klammerte sich aber in einer verunglückten Haltung an dessen Hals. So ließ er sich im Kreise durch die Manege treiben. Eine Nummer ergab das nicht. Das war auch durch Tuschsignale der Zirkuskapelle keinem Höhepunkt zuzuführen. Das Tier war für einen hohen Devisenbetrag eingekauft worden. Das Budget war in der Fünf-Jahres-Planung für das sowjetische Zirkuswesen aufgeführt; es mußte etwas geschehen, das einen volkswirtschaftlichen Gegenwert für die Kosten der Anschaffung erbrachte.

Längst waren Bilderbogen (лубки) in Umlauf gebracht, die Episoden aus dem Leben von Gorillas im Urwald und bei Berührung mit Menschen dramatisierten. Dem real existierenden Lebewesen in Moskau war keine markante Aktion dieser Art zu entlocken. Wenn das Tier eine Karotte aß, ging das in einem Zeitmaß vor sich, das die Geduld eines jeden Publikums überfordert hätte. So saß der Gorilla schließlich neben dem Eingang zur Kasse, neben ihm plaziert ein Braunbär an der Kette. Man mußte darauf achten, daß der Affe nicht in der Zugluft saß. In jedem Eingang eines öffentlichen Gebäudes in Moskau, also auch im Zirkus, gibt es Zugluft, weil es an Doppel- und Drehtüren fehlt. Die Tiere aus Afrika bekommen leicht Lungenentzündung, hieß es. Die Veterinärärzte der Armee, die der Zirkus um Rat fragte, kannten sich mit Affen nur wenig aus.

Rat eines Dompteurs vom russischen Staatszirkus

Ich rate dringend ab von jedem Versuch, Hyänen für eine Zirkusnummer auszubilden. Sehen Sie hier mein verkürztes Bein. Ich bin ein erfahrener Mann.

Das sagte der Dompteur des russischen Staatszirkus mit Sitz in der Zweigniederlassung Odessa, Kuljakow, der als einer der erfahrensten Kenner aller Zirkusraubtiere galt.

Zwar ist nicht zu leugnen, daß diese Tiere gelehrig sind, ja, sie können den äußeren Anzeichen ihrer Intelligenz nach mit einem durchschnittlichen Menschen mithalten. Ihnen fehlt jedoch die Beißhemmung. Sie müssen als Dompteur die ganze Zeit die Kiefer der Tiere im Auge behalten. Mit schneidender Wirkung beißen sie zu. Ich glaube nicht, daß die Geschöpfe es böse meinen. Sie haben lediglich ihren »Verstand« im Kiefer sitzen, und ein Verstand will »spielen«, gerade dann, wenn er an Erkenntnis nicht arbeitet.

In der Evolution sind diese schnellfüßigen Tiere darauf spezialisiert worden, erst zu schnappen und dann zu prüfen, ob das Abgebissene nahrhaft ist. Sie haben, sagen die Eingeborenen, einen Magen aus Feuer. Darin eine chemische Dickflüssigkeit. Sie verdaut praktisch alles. Nach unseren Feststellungen auch Eisen.

So ist jede Lockung, mit welcher der Dompteur den guten Willen der Tiergruppe »zähmt«, eine vorübergehende Faszination für das Tier. Gleich darauf beißen sie dem Wohltäter die Hand ab.

Ich sehe den Beißwillen durch eine winzige Zuckung im Nacken wenige Sekunden zuvor, d. ‌h., während der Kiefer sich vorbereitet. Möglicherweise »weiß« die Hyäne noch nicht, daß sie beißen wird. Es ist aber unmöglich, die Kiefer von 24 Hyänen (und so viele brauchen Sie, um im Sichtfeld des Zuschauers eine beachtliche Gruppe vorzuführen) im selben Augenblick zu beobachten. Der Dompteur muß also Abstand halten, und wenn er Abstand hält, reagieren die Tiere kaum. Es sind gesellige Tiere.

Unbeliebtheit mordender Tiere im Zirkus, Beliebtheit satter Tiger

Ich kenne keine Raubtiere, außer dem Marder und dem Hermelin, die »auf Vorrat töten«, also ihre Beute umbringen, ohne daß sie hungrig sind. Die unablässigen Töter sind eine Rarität.

Sie sind daher, fuhr der Dompteur des Moskauer Zirkus fort, ein Phänomen, welches das Zirkuspublikum überraschen würde. Obwohl es schrecklich ist, dem Morden zuzusehen.

Sie sind wohl auch zu klein. Schon von den Logensitzen aus, die an die Manege grenzen, wären sie, auch wegen der Raschheit ihrer Taten, kaum zu sehen.

Was man sieht, ist das Blut. Die aufgewirbelten Federn, wenn es sich um Federvieh handelt, das sie morden, oder die vergebens davonrennende, ebenfalls kleinwüchsige Beute.

Legen sich diese Töter auch mit größeren Tieren an?

Mit Füchsen. Trotzdem wären Zweikämpfe immer noch ein zu geringfügiges Objekt für eine wirksame Darbietung im Zirkus.

Sie bezweifeln den Unterhaltungswert?

Man sieht ein sich rasch vollziehendes Chaos. Etwas Genaues sieht man nicht. Außerdem ist es extrem aufregend und grausam.

Von Dressur kann keine Rede sein?

Dressuren von Tötern sind unmöglich.

Dagegen sind Übungen mit satten Tigern immer wieder interessant. Die mächtigen Körper zeigen, auch mit vollem Bauch, hohe Stufen der Eleganz. Sie sind nicht nur bereit, durch Feuerreifen zu springen, sondern – dies ein besonderer Erfolg unserer Dressur – sie sind auch bereit, sich in ein durchsichtiges Bassin fallen zu lassen und das Wasser anschließend aus ihrem Fell herauszuschütteln. Danach machen sie »Gruppe«. Es gibt nichts Gutmütigeres als hungerentwöhnte Tiger.

Traditionelle Darbietung: Wolfsgruppe jagt Reitergruppe. Oder besser: Die Wölfe (волки) jagen eine Troika mit Frau und Kindern. Voraussetzung der Nummer, daß die Wölfe satt sind und daß man die Leitwölfin vorher aussondert.

Massensterben von Zirkusunternehmen

Die Wende von 1989 in der DDR traf zunächst nur die Zirkusunternehmen dieser Republik und die Gastaufenthalte der öffentlich geförderten Zirkusveranstalter in Polen, Ungarn, die gewohnheitsmäßig, wie die Zugvögel, in die zahlende Republik kamen, die jetzt darniederging. Nur zwei Jahre später ereilte die Katastrophe die großen Zirkusunternehmen der Sowjetunion. Sie konnten sich, losgelöst von den Zuwendungen des Staates, nicht erhalten. Ein Zirkus, der Tiere zu versorgen hat, der ein Konzentrat der Leistungsstärke des Gemeinwesens geworden ist, also ein Großzirkus, und der sich nicht in seine Einzelteile, kleine partisanenähnliche, aus dem Land sich ernährende Einheiten, so rasch verwandeln kann, gerät an sein Ende, ehe drei Monate vergangen sind.

Trauerstimmung im Winterzirkus von Moskau. Keine Institution fühlt sich mehr zuständig für die Förderung. Madame Jussupow rettete ihre Eisbärengruppe nach Finnland, von dort in den Westen. Wieso sind die Zollbehörden so großzügig bei diesem Transfer? Sie sind Zirkusliebhaber. Eine der großen Kräfte, welche die Sowjetunion zusammenhielt, wird unterschätzt: die Zuneigung zum Zirkus. Warum haben die Betreiber von Glasnost diese Ressource nicht genutzt? Sich aus der Idee des Zirkus revitalisiert? Sie waren verspannt, durch Gegnerschaft, auf die sie trafen, geschockt. Sie hatten kein Zirkusgefühl.

Zwölf große Zirkusunternehmen des Ostblocks lösten sich auf. Die Tiere starben. Die Künstler suchten sich andere Berufe. 24 Unternehmen suchten mit Teilkräften den Weg in den Westen. Alle scheiterten.

Abb. 12:In der Glanzzeit des russischen Zirkus. Die »Schöne« ist soeben aus der Kanone emporgeschossen und tanzt jetzt auf deren Mündung.

Mut der Artisten – eine heilige Sache

Auf einer Tour durch Kleinstädte in Weißrußland wurde der Zirkus »Sieg des Proletariats« (ПобедаПролетариата) am 22. Juni 1941 vom Einbruch der deutschen Panzerkräfte überrascht. Der Roten Armee erschien es unmöglich, die Invasoren zurückzutreiben. Nichts aber ist unmöglich für einen Zirkus. In den Stäben der Grenzarmeen, in diesen Tagen von Sorge übermannt, saßen Zirkusfreunde. Sie sorgten für Eisenbahntransportraum. Die lange Kolonne der Zirkusgruppe gelangte bis weit hinter Moskau in Sicherheit. Die Waggons transportierten die Elefanten, Gnus, Clowns, Artisten und Gerätschaften (darunter eine zerlegte Katapultkanone, welche die Künstler, wenn sie funktionierte, an die Zirkusdecke warf, wo sie ein Seil zu fassen bekamen, an dem sie bis zum Boden der Manege taumelten). Hier rettete sich nicht nur ein Stück Lieblingsunterhaltung, sondern ein festes Stück Selbstbewußtsein der Werktätigen des Hinterlandes. Hoffnung auf den Sieg über die Okkupatoren in Form von Artisten, Tieren und Dompteuren wurde exportiert aus dem Sumpf der Verzweiflung, die sich im Westen der Sowjetunion für eine gewisse Zeit breitmachte. Heuvorrat, Karotten für die Elefanten. Tonnenweise Wasser war an der Bahnstrecke logistisch perfekt disponiert. Die eigene Haut hätten die Verantwortlichen, die das ermöglichten, auf solche Weise nicht retten können. Sie wären erschossen worden, hätten sie sich nicht korrekt und standhaft überflügeln, einkesseln und vernichten lassen.

Warum ich in den Zirkus als Thema meiner Filme vernarrt bin, wenn ich doch heute eine der Zirkusvorstellungen, wie sie zwischen den Weihnachtstagen und Silvester als Gala angeboten werden, nicht eine halbe Stunde lang aushalte

Ich war viereinhalb Jahre alt. Auf dem Burchardi-Anger: Herbstzirkus. In die Manege wird auf Rädern ein riesenhaftes Aquarium hereingefahren. Vor unseren Augen wird der durchsichtige Behälter mit Wasser gefüllt. Aus Bodenklappen tauchen im Unterwasserbassin Robben auf, durchschwimmen den Pool. Eine Dompteuse, mit Blinklicht auf der Stirn und einer Art Taschenlampe in der Hand (statt einer Peitsche, die unter Wasser nicht zu gebrauchen wäre). Sie ordnet die Robben zu einer Reihe, ähnlich einer Formation von Flugzeugen, die eine Übung am Himmel durchführen. Himmel, Wasser, Manege – die Elemente verwirren sich. Ich kann mich für die korrekte Zeugenschaft meiner viereinhalbjährigen Augen nicht verbürgen. Ich habe das alles »mit den Ohren gesehen«: das Geräusch des Schwappwassers, das Quieken der Tiere, wenn sie Oberwasser hatten und wenn sie nach den Fischen schnappten, welche die edle Schwimmlehrerin der Robben in ihren Händen hielt.