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+++ Mit exklusivem Bonuskapitel +++ Willkommen in einer Welt voll Verrat, dunklen Machenschaften und tödlicher Begierde Gone Girl trifft auf Twisted Love in der dunklen, sexy Mafia-Romance von TikTok-Sensation J.T. Geissinger Vor fünf Jahren verschwand Natalie Petersons Verlobter. Er ließ sie mit einem Hochzeitskleid zurück, das sie nie tragen würde, und mit der Art von Narben, die nicht geheilt werden können. Der Mann, auf den sie ihre Zukunft aufgebaut hatte, verschwand wie ein Geist. Alles, was blieb, waren ihr gebrochenes Herz und eine Million unbeantworteter Fragen. Bis ein mysteriöser Fremder in der Stadt auftaucht. Groß, dunkel und gefährlich steckt Kage genauso voller Geheimnisse, wie er Sexappeal hat. Obwohl Natalie weiß, dass er etwas verbirgt, fühlt sie sich zu ihm hingezogen wie eine Motte zum Licht. Bei jedem Blick knistert es zwischen ihnen und schon bald entflammt das Verlangen zur Leidenschaft. Aber dann entdeckt Natalie sein düsteres Geheimnis: Kage wurde geschickt, um eine unbezahlte Schuld ihres verschwundenen Verlobten einzutreiben … und diese Schuld ist sie. Dich erwarten diese Tropes: - Touch her and die - Morally Grey Characters - High Spice - He falls First and Harder - Bad Boy - Hidden Identity - Forbidden Love - Anti hero gets the girl - He hates everyone but herTauche ein in J. T. Geissingers spicy, dark Mafia-Romance aus der Queens and Monsters-Reihe: - Ruthless Creatures - Carnal UrgesAlle Bände sind auch unabhängig voneinander als Standalones lesbar! Für alle Fans von D. C. Odesza, J. S. Wonda und Alessia Gold
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Seitenzahl: 531
Veröffentlichungsjahr: 2025
J. T. Geissinger
Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Lipp und Nadine Mutz
Knaur eBooks
Vor fünf Jahren verschwand Natalie Petersons Verlobter. Er ließ sie mit einem Hochzeitskleid zurück, das sie nie tragen würde, und mit der Art von Narben, die nicht geheilt werden können. Der Mann, auf den sie ihre Zukunft aufgebaut hatte, verschwand wie ein Geist. Alles, was blieb, waren ihr gebrochenes Herz und eine Million unbeantworteter Fragen. Bis ein mysteriöser Fremder in der Stadt auftaucht.
Groß, dunkel und gefährlich steckt Kage genauso voller Geheimnisse, wie er Sexappeal hat. Obwohl Natalie weiß, dass er etwas verbirgt, fühlt sie sich zu ihm hingezogen wie eine Motte zum Licht. Bei jedem Blick knistert es zwischen ihnen und schon bald entflammt das Verlangen zur Leidenschaft.
Aber dann entdeckt Natalie sein düsteres Geheimnis: Kage wurde geschickt, um eine unbezahlte Schuld ihres verschwundenen Verlobten einzutreiben … und diese Schuld ist sie.
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Wichtige Information
Widmung
Zitat
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
Epilog
Bonuskapitel
Playlist
Dank
Liste sensibler Inhalte / Content Notes
Bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit sensiblen Inhalten.
Für Jay, mein bevorzugtes Gift
Liebe ist Gift. Ein süßes Gift, gewiss, aber umbringen wird es dich trotzdem.
– George R. R. Martin
Nat
Tut mir leid, aber ich kann nicht mehr. Und wenn wir mal ehrlich sind, bin ich eh der Einzige in dieser Beziehung, der sich Mühe gibt.«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt ernst. Chris hat recht. Und ich weiß, dass es ihm wirklich leidtut, dass es mit uns nicht funktioniert. Aber ich bin nicht überrascht, ich wusste, dass es so kommen würde. Nur habe ich gerade so wenig Energie übrig, dass es mir nichts ausmacht.
Wenn es mir etwas ausmachen würde, wären wir ja auch nicht an diesem Punkt.
»Okay, verstehe. Na dann, man sieht sich.«
Es folgt eine kurze Pause, dann klingt seine Stimme nicht mehr bedauernd, sondern verärgert. »Das war’s?! Das ist alles, was dir dazu einfällt? Wir sind seit zwei Monaten zusammen, und alles, was du zu sagen hast, ist ›Man sieht sich‹?«
Er will, dass ich traurig bin, aber eigentlich bin ich erleichtert. Was ich ihm natürlich nicht sagen kann.
Ich stehe an der Spüle und schaue durchs offene Fenster auf den kleinen, eingezäunten Hof. Draußen ist es sonnig und hell, aber die Luft riecht schon ein bisschen nach Herbst. Es ist ein typischer Septembertag in Lake Tahoe.
Die perfekte Jahreszeit, um zu heiraten.
Ich schiebe den unwillkommenen Gedanken beiseite und konzentriere mich wieder auf das Gespräch. »Ich weiß nicht, was du hören willst. Du bist doch derjenige, der mit mir Schluss macht.«
»Ja, und ich hätte mir eine andere Reaktion gewünscht.« Sein Ton ist jetzt trocken. »Aber ich hätte es mir denken können.«
Chris ist kein schlechter Typ. Er ist nicht so jähzornig wie der, den ich davor gedatet habe, und auch kein weinerlicher Klammeraffe wie der davor. Im Grunde ist er super.
Weswegen ich auch versuchen werde, ihn mit meiner Freundin Marybeth zu verkuppeln. Die beiden wären ein süßes Paar.
»Ich habe viel um die Ohren. Der Job und so, das ist alles. Ich habe keine Zeit für eine Beziehung. Ich weiß, dass du das verstehen kannst.«
Er schweigt wieder, diesmal länger. »Du bringst Sechstklässlern bei, mit ihren Fingern zu malen.«
»Ich unterrichte Kunst!«, erwidere ich empört.
»Ja. Du unterrichtest einen Haufen Zwölfjähriger. Ich will dich nicht beleidigen, aber du hast keinen besonders stressigen Job.«
Ich habe nicht die Kraft, mit ihm zu streiten, also sage ich nichts weiter.
Blöderweise sieht er das als Einladung, den Frontalangriff fortzusetzen. »Meine Freunde haben mich vor dir gewarnt. Sie haben gesagt, jemanden mit deiner Vorgeschichte sollte ich lieber nicht daten.«
Meine »Vorgeschichte«. Nett ausgedrückt.
Ich bin die Frau mit dem verschwundenen Verlobten. Vor fünf Jahren, am Tag vor der großen kirchlichen Hochzeit, ist er einfach verschwunden. Ich trage also nicht nur ein kleines Päckchen mit mir herum, nein, ich schleppe einen riesigen Rucksack mit Wackersteinen darin durch die Gegend. Der, der es mit mir aufnimmt, muss ein großes Selbstvertrauen haben.
»Ich hoffe, wir bleiben Freunde, Chris. Ich weiß, ich bin nicht perfekt, aber …«
»Du musst weiterleben, Nat. Es tut mir leid, aber ich muss dir das sagen. Du lebst in der Vergangenheit. Jeder weiß das.«
Ich weiß, dass jeder es weiß. Ich sehe die Blicke.
King’s Beach ist ein kleines, verschlafenes Städtchen am Nordufer des Lake Tahoe und hat etwa viertausend Einwohner. Selbst nach fünf Jahren kommt es mir manchmal so vor, als würde jeder Einwohner nachts für mich beten.
Als ich nicht reagiere, atmet Chris laut aus. »Das ist jetzt falsch rübergekommen. Ich wollte nicht …«
»Doch, wolltest du. Ist schon gut. Hör zu, wenn es für dich okay ist, würde ich jetzt gerne auflegen. Ich habe es ernst gemeint, als ich gesagt habe, dass ich gerne mit dir befreundet wäre. Du bist ein guter Kerl. Nichts für ungut, okay?«
»Klar«, sagt er schließlich nach einer Weile. »Nichts für ungut. Keinerlei Gefühle, ich weiß, das ist nicht dein Ding. Pass auf dich auf, Nat.«
Dann legt er auf, und ich höre das Freizeichen.
Seufzend schließe ich die Augen.
Er irrt sich, wenn er sagt, dass ich keine Gefühle habe. Ich habe ganz viele verschiedene Gefühle: Ich habe Angst, bin müde, fühle mich leicht depressiv, dauermelancholisch und leicht verzweifelt. Das sind ja wohl eine ganze Menge Gefühle und der Beweis dafür, dass ich kein emotionsloser Eisberg bin.
Kaum hänge ich den Telefonhörer in die Halterung an der Wand, klingelt es wieder.
Ich zögere, weil ich nicht weiß, ob ich rangehen oder lieber anfangen soll, Alkohol in mich reinzuschütten, wie ich es jedes Jahr an diesem Tag um diese Uhrzeit mache, aber ich beschließe, dass ich noch etwa zehn Minuten Zeit habe, bevor ich mit dem alljährlichen Ritual beginne.
»Hallo?«
»Wusstest du, dass Schizophrenieerkrankungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark zugenommen haben? Und gleichzeitig auch die Anzahl von Katzenbesitzern?«
Sloane, meine beste Freundin. Sie findet es absolut uninteressant, ein Gespräch »normal« zu beginnen, und das ist nur einer von den vielen Gründen, warum ich sie so mag.
»Was hast du eigentlich gegen Katzen? Das ist doch krankhaft.«
»Katzen sind pelzige kleine Serienkiller. Über ihren Kot können sie Hirnhautentzündungen verbreiten, aber das ist jetzt nicht so wichtig.«
»Was dann?«
»Ich denke darüber nach, mir einen Hund anzuschaffen.«
Bei dem Versuch, mir die freiheitsliebende Sloane mit einem Hund vorzustellen, werfe ich einen Blick auf Mojo, der auf dem Boden im Wohnzimmer in der Sonne schlummert. Er ist ein schwarz-hellbrauner Schäferhund-Mix, fünfundvierzig Kilo Liebe in einem Zottelfell und ausgestattet mit einem Bauscheschwanz, der ständig wedelt.
David und ich haben ihn adoptiert, als er erst ein paar Monate alt war. Jetzt ist er sieben, aber er benimmt sich, als wäre er siebzig. Ich habe noch nie einen Hund so viel schlafen sehen und bin davon überzeugt, dass er eigentlich ein Faultier-Mix ist.
»Du weißt, dass du jeden Tag seine Kacke aufsammeln musst, oder? Und mit ihm spazieren gehen musst? Und ihn baden musst? Es ist, als hätte man ein Kind.«
»Genau. Das ist eine gute Übung, für die Zeit, wenn ich dann Kinder habe.«
»Seit wann willst du denn Kinder? Du kannst dich ja nicht mal um eine Pflanze kümmern.«
»Seit ich heute Morgen diesen unfassbar heißen Typen im Supermarkt gesehen habe. Meine biologische Uhr hat angefangen zu ticken wie Big Ben. Er ist groß, dunkel, gut aussehend … und du weißt, dass ich eine Schwäche für Dreitagebärte habe.« Sie seufzt. »Seiner war episch.«
Ich lächle bei der Vorstellung, wie sie einen Typen im Supermarkt anglotzt. Normalerweise ist es genau andersherum. In den Yogakursen, die sie unterrichtet, sitzen immer hoffnungsvolle Single-Männer.
»Ein epischer Dreitagebart – das würde ich gerne mal sehen!«
»Das ist wie ein Fünf-Uhr-Schatten auf Steroiden. Er hatte so einen piratigen Touch. Weißt du, was ich meine? So was Gefährliches, Gesetzloses. Ein echt heißer Typ! Rrrrrr…«
»Ein heißer Typ? Hört sich nicht so an, als ob er von hier ist. Das muss ein Touri sein.«
Sloane stöhnt. »Ich hätte ihn fragen sollen, ob er jemanden braucht, der ihm die Sehenswürdigkeiten zeigt!«
Ich lache. »Die Sehenswürdigkeiten? Ist das dein aktuelles Pseudonym für deine Brüste?«
»Mach dich nicht über mich lustig. Es gibt einen Grund, warum man sie Vorzüge nennt. Ich bin durch meine Mädels schon an viele Freigetränke gekommen.« Sie hält einen Moment inne. »Apropos Getränke, lass uns heute Abend ins Downrigger’s gehen.«
»Ich kann nicht, tut mir leid. Ich hab schon was vor.«
»Tsss, als ob ich nicht wüsste, wie deine Pläne aussehen. Es ist an der Zeit, etwas zu ändern und eine neue Tradition zu etablieren.«
»Ausgehen und sich betrinken, statt zu Hause zu bleiben?«
»Genau.«
»Nein, danke. Ich bin kein großer Fan davon, in der Öffentlichkeit zu kotzen.«
»Ich weiß ganz genau, dass du noch nie in deinem Leben gekotzt hast«, erwidert sie und lacht laut. »Du hast keinen Würgereflex.«
»Das ist eine sehr merkwürdige Sache, die du über mich weißt.«
»Süße, es gibt keine Geheimnisse zwischen uns. Wir waren schon beste Freundinnen, bevor wir Schamhaare hatten.«
»Wie rührend«, sage ich trocken. »Ich hab schon die passende Postkarte dazu vor Augen.«
Sie ignoriert mich. »Außerdem lade ich dich ein. Das sollte den Geizhals in dir besänftigen.«
»Willst du etwa sagen, dass ich geizig bin?«
»Beweis Nummer eins: Letztes Jahr zu Weihnachten hast du mir einen Zwanzig-Dollar-Gutschein für ein Outback Steakhouse geschenkt.«
»Das war ein Scherz!«
»Hmm.« Sie klingt nicht überzeugt.
»Du solltest ihn weiterverschenken, das habe ich dir doch gesagt. Das ist so ’n Kettending. Und lustig.«
»Ja, wenn dein Frontallappen bei einem schlimmen Autounfall beschädigt wurde, dann ist das lustig. Für den Rest von uns, die funktionierende Gehirne haben, ist es nicht lustig.«
Ich seufze übertrieben dramatisch. »Na schön. Dieses Jahr kaufe ich dir einen Kaschmirpulli. Zufrieden?«
»Ich hol dich in einer Viertelstunde ab.«
»Nein. Heute Abend gehe ich nicht aus.«
»Ich lasse dich nicht zu Hause sitzen«, wirft sie entschieden ein, »damit du dich an dem Jahrestag deines nie stattgefundenen Hochzeitsprobeessens mit dem Champagner betrinkst, den es beim Hochzeitsempfang hätte geben sollen.«
Den Rest lässt sie ungesagt, aber er hängt trotzdem schwer in der Luft.
Heute ist es fünf Jahre her, dass David verschwunden ist. Wenn eine Person im Staat Kalifornien fünf Jahre lang vermisst wird, gilt sie juristisch als tot. Selbst wenn sie noch irgendwo da draußen rumläuft, ist sie im Grunde genommen ein Meter achtzig unter der Erde.
Es ist eine Wegmarke, vor der ich mich gefürchtet habe.
Ich wende mich vom Fenster und der schönen, sonnigen Szenerie ab und denke einen Moment lang an Chris, rufe mir ins Gedächtnis, wie bitter seine Stimme geklungen hat, als er gesagt hat, dass ich in der Vergangenheit lebe … und dass jeder es weiß.
Jeder, inbegriffen mich selbst.
»Okay«, sage ich schließlich leise. »Hol mich in einer Viertelstunde ab.«
Sloane quiekt vor Begeisterung.
Bevor ich es mir anders überlegen kann, lege ich auf und gehe mir ein Kleid anziehen.
Wenn ich mich schon in der Öffentlichkeit betrinke, dann will ich dabei wenigstens gut aussehen.
Das Downrigger’s ist ein lässiges Lokal direkt am See, mit einer umlaufenden Terrasse und einem spektakulären Blick auf die Sierras auf der einen und den Lake Tahoe auf der anderen Seite. Der Sonnenuntergang wird heute Abend wunderschön, das habe ich im Gefühl. Schon jetzt glüht die Sonne orange und hängt tief am Horizont.
Sloane und ich setzen uns rein, ans Fenster, von wo aus wir sowohl das Wasser als auch die Bar im Blick haben können. Es ist schon ziemlich voll, wobei ich die meisten Leute hier kenne. Schließlich habe ich mein ganzes Leben an diesem Ort verbracht.
Kaum haben wir uns hingesetzt, lehnt sich Sloane über den Tisch zu mir rüber und zischt: »Sieh mal, da ist er!«
Ich sehe mich verwirrt um. »Wer?«
»Der Pirat! Er sitzt am Ende der Bar!«
»Der Typ mit dem epischen Dreitagebart?« Ich drehe mich um und gehe die Leute reihum durch. »Welcher ist es denn?«
Aber kaum habe ich das gefragt, entdecke ich ihn. Er nimmt nicht gerade wenig Platz an der Bar ein, der Hocker, auf dem er sitzt, wirkt im Vergleich geradezu winzig.
Eingehend mustere ich ihn.
Breite Schultern. Zerzaustes dunkles Haar. Eine kantige Kieferpartie, die seit Wochen kein Rasiermesser mehr gesehen hat. Eine schwarze Lederjacke zu schwarzen Jeans und Springerstiefeln. Alles sieht irgendwie teuer und gleichzeitig abgenutzt aus, als wäre er nachlässig damit umgegangen. Klobige Silberringe zieren den Daumen und den Mittelfinger seiner rechten Hand. Einer ist eine Art Siegelring, der andere ein Totenkopfring. Die Augen sind von einer Sonnenbrille verdeckt.
Seltsam, dass er in geschlossenen Räumen eine Sonnenbrille trägt. Es wirkt automatisch so, als hätte er etwas zu verbergen.
»Also ich bin da eher bei Rockstar als bei Pirat. Oder bei Anführer einer Motorradgang. Er sieht aus, als ob er direkt vom Filmset von Sons of Anarchy kommt. Ich wette zehn Dollar, dass er ein Drogendealer ist.«
»Na und?«, flüstert Sloane und starrt ihn an. »Er könnte Jack the Ripper sein, und ich würde ihn trotzdem an meine Titten lassen.«
»Flittchen …«, sage ich liebevoll.
Sie winkt ab. »Ich mag nun mal gefährliche Alphamänner mit Big-Dick-Energie.«
»Na dann, zieh Leine und versuch dein Glück. Ich bestelle mir einen Drink und passe auf, dass er kein Messer zieht.«
Ich gebe dem Kellner ein Zeichen. Er nickt und bedeutet mir lächelnd, dass er so schnell wie möglich kommen wird.
»Nein, das würde zu verzweifelt wirken«, sagt Sloane. »Ich laufe keinen Männern hinterher, egal wie heiß sie sind. Das wäre total würdelos.«
»Es sei denn, du bist ein Cockerspaniel. Mal ehrlich, Sloane, die Art, wie du hechelst und dich aufplusterst, ist extrem würdelos. Jetzt geh schon, fang den Hengst ein, Cowgirl. Ich muss mal aufs Klo.«
Ich stehe auf und gehe zur Damentoilette, während Sloane unschlüssig auf ihrer Unterlippe kaut. Vielleicht tut sie es aber auch aus Lust.
Ich lasse mir Zeit, wasche mir langsam die Hände und überprüfe meinen Lippensjpgt. Es ist ein Scharlachrot namens Sweet Poison. Ich bin mir nicht sicher, warum ich ihn aufgetragen habe, da ich fast nie Make-up trage, aber es kommt auch nicht alle Tage vor, dass mein vermisster Verlobter für tot erklärt wird. Also, was soll’s.
Ach, David, was ist dir bloß zugestoßen?
Plötzlich überrollt mich eine Welle der Verzweiflung, und ich stütze mich auf dem Waschbeckenrand ab, schließe die Augen und atme langsam und zittrig aus.
Es ist schon lange her, dass mich eine so starke Trauer überkommen hat. Normalerweise trage ich dieses konstante Gefühl der Unruhe in mir, das ich zu ignorieren gelernt habe. Es ist ein dumpfer Schmerz hinter dem Brustbein und ein Brummen im Schädel, das ich leiser stellen kann, bis es fast verstummt.
Fast, aber nie ganz.
Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, aber das ist Bullshit. Wunden wie meine heilen nicht. Ich habe nur gelernt, wie ich die Blutung kontrollieren kann.
Ich streiche mir übers Haar, atme mehrmals tief ein und aus, bis ich mich besser unter Kontrolle habe, und spreche mir kurz Mut zu. Dann zaubere ich mir ein Lächeln ins Gesicht, reiße die Tür auf und gehe hinaus.
Und stoße sofort mit einem riesigen, unbeweglichen Etwas zusammen.
Ich stolpere zurück und verliere das Gleichgewicht. Doch bevor ich hinfalle, greift eine große Hand nach meinem Oberarm und hält mich fest.
»Vorsicht.«
Die Stimme ähnelt einem angenehmen, heiseren Grollen. Ich blicke auf und sehe mein eigenes Spiegelbild in einer Sonnenbrille.
Es ist der Pirat. Der Drogendealer. Der Big-Dick-Energie-Typ mit dem epischen Dreitagebart.
Ein Knistern wie eine elektrische Ladung läuft mir den Rücken runter.
Seine Schultern sind massiv. Er ist massiv. Im Sitzen sah er schon groß aus, aber aufrecht stehend ist er ein Riese. Er muss mindestens ein Meter neunzig sein. Oder zwei Meter. Oder noch größer, keine Ahnung, aber er ist wahnsinnig groß. Ein Wikinger.
Ich selbst bin nicht gerade klein, aber neben diesem Typen wirke ich geradezu zierlich.
Sein Geruch ähnelt den Verkostungsnotizen eines teuren Cabernet: Leder, Zigarrenrauch und ein Hauch von Waldboden.
Ich bin mir sicher, dass mein Herz nur so heftig schlägt, weil ich beinahe hingefallen wäre.
»Tut mir leid. Ich hab nicht aufgepasst.«
Warum entschuldige ich mich eigentlich?! Er ist doch derjenige, der vor der verdammten Toilettentür stand.
Er antwortet nicht, lässt meinen Arm aber auch nicht los. Er lächelt nicht. Schweigend stehen wir da, keiner von uns beiden bewegt sich. Bis klar ist, dass er nicht die Absicht hat, mir aus dem Weg zu gehen.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Entschuldige bitte.«
Er neigt den Kopf zur Seite. Auch wenn ich seine Augen nicht sehen kann, erkenne ich, wie genau er mich mustert.
Kurz bevor es richtig unheimlich zu werden droht, nimmt er seine Hand von meinem Arm und verschwindet ohne ein weiteres Wort durch die andere Tür in der Herrentoilette.
Stirnrunzelnd bleibe ich einen Moment vor der geschlossenen Tür stehen, bevor ich zu Sloane zurückkehre. Sie hat ein Glas Weißwein in der Hand, ein weiteres Glas wartet auf mich.
»Dein Pirat ist gerade auf der Toilette«, sage ich und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. »Wenn du schnell bist, kannst du ihn noch für einen Quickie in einer dunklen Ecke des Flurs erwischen, bevor er dich zur Black Pearl schleppt, um dich weiter zu vernaschen.«
Sie nimmt einen großen Schluck Wein. »Du meinst schänden. Aber er ist nicht an mir interessiert.«
»Woher willst du das wissen?«
Sie schürzt die Lippen. »Er hat es mir ins Gesicht gesagt.«
Schockiert starre ich sie an. So etwas ist noch nie passiert. »Nein!«
»Doch. Ich hab mich mit meiner besten Jessica-Rabbit-Masche an ihn herangeschlichen, habe ihm meine Freundinnen unter die Nase gehalten und ihn gefragt, ob er mich auf einen Drink einlädt. Seine Antwort? ›Kein Interesse.‹ Und er hat mich dabei gar nicht angeguckt!«
Ich schüttle den Kopf und nehme einen Schluck Wein. »Dann ist alles klar. Er ist schwul.«
»Mein Schwulenradar sagt, dass er hetero ist, aber danke für die Anteilnahme.«
»Also verheiratet.«
»Pfft! Auf gar keinen Fall. Der ist vollkommen ungezähmt.«
Ich denke daran, wie er gerochen hat, als ich vor der Toilette mit ihm zusammengestoßen bin. Das war der reinste Pheromone-Moschusgeruch, der in Wellen von ihm ausgegangen ist, also hat sie wahrscheinlich recht.
Ein Löwe, der durch die Serengeti streift, hat keine Frau. Er ist zu sehr damit beschäftigt, etwas zu jagen, in das er seine Reißzähne versenken kann.
Der Kellner kommt, um zu fragen, ob wir alles haben, was wir brauchen. Als er geht, plänkeln Sloane und ich ein wenig über Unwichtiges, bis sie mich fragt, wie es mit Chris läuft.
»Oh. Der. Ähm …«
Sie wirft mir einen missbilligenden Blick zu. »Das hast du nicht getan.«
»Bevor du mich beschuldigst – er hat mit mir Schluss gemacht.«
»Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber ein Mann erwartet, dass er irgendwann mal Sex mit der Frau hat, die er datet.«
»Behalt deinen Sarkasmus für dich. Ich kann nichts dafür, dass mein Laden geschlossen hat.«
»Wenn du nicht bald einen Schwanz reinlässt, wächst deine Pussy für immer zu. Du wirst nie wieder Sex haben können.«
Damit habe ich kein Problem. Meine Lust auf Sex ist zusammen mit meinem Verlobten verschüttgegangen. Aber ich muss Sloane ablenken, bevor dieses Gespräch zu einer Therapiesitzung mutiert.
»Es hätte sowieso nicht funktioniert. Er denkt, Katzen sind so schlau wie Menschen.«
Völlig entsetzt sieht sie mich an. »Gut, dass wir ihn los sind.«
Ich lächle, da ich wusste, dass diese Info ihre Meinung ändern würde. »Ich hab überlegt, ihn mit Marybeth zu verkuppeln.«
»Deine Kollegin? Die, die sich wie eine Amish anzieht?«
»Sie ist nicht Amish. Sie ist Lehrerin.«
»Unterrichtet sie auch Butterstampfen und die Wartung von Kinderwagen?«
»Nein, Naturwissenschaften. Aber sie näht gerne Quilts. Außerdem hat sie fünf Katzen.«
Schaudernd erhebt Sloane ihr Glas zu einem Toast. »Das ist ein perfekter Match.«
Wir stoßen an. »Mögen sie eine lange gemeinsame Zukunft voller Haarbälle haben.«
Wir trinken.
Als ich das leere Glas auf den Tisch stelle und dem Kellner ein Zeichen für eine weitere Runde gebe, seufzt Sloane, greift über den Tisch und drückt meine Hand. »Ich hab dich lieb, das weißt du.«
Ich weiß, worauf das hinausläuft, und schaue aus dem Fenster, auf den See. »Ich glaube, der viele Grünkohl, den du isst, hat dein Gehirn vernebelt.«
»Ich mache mir Sorgen.«
»Das musst du nicht. Mir geht es gut.«
»Dir geht’s nicht gut. Du bist im Überlebensmodus. Das ist ein großer Unterschied.«
Genau deshalb hätte ich zu Hause bleiben sollen.
»Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich wieder Auto fahren konnte, ohne zu denken: ›Was, wenn ich bei dieser Kurve nicht abbremse, sondern direkt in die Mauer fahre?‹«, erwidere ich ruhig. »Danach hat es noch ein weiteres Jahr gedauert, bis ich aufgehört habe, nach ›möglichst schmerzfreie Selbstmordarten‹ zu googeln, und ein weiteres, bis ich nicht mehr jederzeit aus dem Nichts in Tränen ausgebrochen bin. Erst seit ein paar Monaten kann ich einen Raum betreten, ohne ihn automatisch nach seinem Gesicht abzuscannen. Ich lebe mit dem Geist eines Mannes, von dem ich gedacht habe, ich würde mit ihm alt werden. Ich lebe mit einer erdrückenden Last von Fragen, auf die es nie eine Antwort geben wird, und mit einem riesigen Schuldgefühl, weil das Letzte, was ich zu ihm gesagt habe, war: ›Wenn du zu spät kommst, bringe ich dich um.‹« Ich drehe mich vom Fenster weg und sehe sie an. »Alles in allem ist der Überlebensmodus ein Fortschritt.«
»Oh, Süße …«, murmelt Sloane mit Tränen in den Augen.
Ich schlucke gegen den Kloß in meinem Hals an.
Sie drückt wieder meine Hand. »Weißt du, was wir jetzt brauchen?«
»Eine Elektroschocktherapie?«
Sie lässt meine Hand los, lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schüttelt den Kopf. »Du und dein schwarzer Humor. Ich wollte gerade Guacamole sagen.«
»Bezahlst du? Denn die Guacamole hier kostet zehn Dollar für zwei Esslöffel, und mir ist zu Ohren gekommen, dass ich geizig bin.«
Liebevoll lächelt sie mich an. »Das ist eine deiner vielen Schwächen, aber perfekte Menschen sind eh langweilig.«
»Okay, aber ich warne dich, ich hab seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«
»Süße, ich kenne dich gut genug, um meine Hände in sicherer Entfernung zu halten, wenn du isst. Erinnerst du dich an das eine Mal, als wir uns eine Schüssel Popcorn geteilt haben, während wir Wie ein einziger Tag geguckt haben? Ich hätte fast einen Finger verloren.«
»Ich kann es kaum erwarten, bis wir alt sind und du dement wirst. Dein genaues Gedächtnis ist der absolute Horror!«
»Warum soll ich diejenige sein, die dement wird? Du bist doch diejenige, die sich weigert, Gemüse zu essen!«
»Ich werde gleich ein paar zerdrückte Avocados essen. Zählt das nicht?«
»Eine Avocado ist eine Frucht, Schlaukopf.«
»Sie ist grün, oder nicht?«
»Ja.«
»Dann ist sie ein Gemüse.«
Sloane schüttelt den Kopf. »Du bist ein hoffnungsloser Fall.«
»Stimmt.«
Wir lächeln. In diesem Moment werfe ich zufällig einen Blick auf die gegenüberliegende Seite des Lokals.
Der Fremde, mit dem ich vor der Toilette zusammengestoßen bin, sitzt allein an einem Tisch, mit dem Rücken zum Fenster. Er hält ein Bier in der Hand und starrt mich an.
Da er seine dunkle Sonnenbrille abgenommen hat, kann ich nun nicht nur seine strengen Augenbrauen, sondern auch seine Augen sehen. Sie haben das tiefe, satte Braun von Guinness Stout und sind von dichten schwarzen Wimpern umrahmt. Und genau diese Augen starren mich mit einer alarmierenden Intensität an. Sie bewegen sich nicht und blinzeln nicht.
Aber wie dunkel sie brennen!
Nat
Erde an Natalie. Natalie kommen.«
Ich reiße meinen Blick los – die Augen des Fremden haben den seltsamen Sog einer mächtigen Falle – und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Sloane, die mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansieht. »Was? ’tschuldige, ich hab nicht gehört, was du gesagt hast.«
»Ja, ich weiß, weil du zu sehr damit beschäftigt warst, mit der schönen Bestie, die das Ego deiner besten Freundin zermalmt hat, einen Augenfick zu veranstalten.«
Ich schnaufe verärgert. »Es gibt keinen Mann auf der Welt, der dein Ego zermalmen könnte. Es ist aus dem gleichen Material, das die NASA für ihre Raumschiffe verwendet, damit sie beim Wiedereintritt in die Atmosphäre nicht verglühen.«
Sie zwirbelt eine Locke ihres dunklen Haars und lächelt. »Hehe, das stimmt! Übrigens starrt er dich immer noch an.«
Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Warum meine Ohren heiß werden, weiß ich nicht. Ich bin nicht der Typ, der sich von einem gut aussehenden Gesicht verunsichern lässt.
»Vielleicht erinnere ich ihn an jemanden, den er nicht mag.«
»Oder vielleicht bist du bescheuert.«
Das bin ich nicht. Sein Blick war nicht lustvoll. Er hat mir eher den Eindruck vermittelt, als würde ich ihm Geld schulden.
Der Kellner bringt uns eine weitere Runde, und Sloane bestellt Guacamole und Chips. Sobald er außer Hörweite ist, seufzt sie. »O nein. Diane Myers hält genau auf uns zu.«
Diane ist das Klatschmaul der Stadt. Wahrscheinlich hält sie den Weltrekord im Niemals-die-Klappe-Halten.
Ein Gespräch mit ihr ist wie eine Wasserfolter: Es tropft ständig und schmerzlich immer weiter, bis man schließlich zusammenbricht und den Verstand verliert.
Ohne sich die Mühe zu machen, Hallo zu sagen, zieht sie einen Stuhl vom Tisch hinter uns heran, setzt sich neben mich, lehnt sich zu mir und umhüllt mich mit ihrem Lavendel- und Mottenkugelduft.
»Sein Name ist Kage«, erklärt sie mit gedämpfter Stimme. »Ist das nicht strange? Wie Käfig auf Englisch, aber mit einem K. Keine Ahnung, ich finde, das ist ein sehr seltsamer Name. Es sei denn, er spielt in einer Band. Oder ist so was wie ein Untergrundkämpfer. Egal, zu meiner Zeit hatte ein Mann einen respektablen Namen wie Robert, William oder Eugene …«
»Um wen geht’s?«, unterbricht Sloane sie.
Diane versucht, lässig zu wirken, und macht mehrere Kopfbewegungen in Richtung des Fremden. Ihre grauen Locken wippen. »Aquaman«, flüstert sie.
»Wer?«
»Der Mann am Fenster, der aussieht wie der Schauspieler aus dem Film Aquaman. Wie heißt der noch mal? Dieses große Tier, das mit einer der Töchter aus der Cosby Show verheiratet ist.«
Ich frage mich, was sie tun würde, wenn ich mein Weinglas über ihre grauenvolle Dauerwelle kippen würde. Wahrscheinlich kreischen wie ein aufgeschreckter Zwergspitz.
Diese Vorstellung ist seltsam befriedigend.
»… sehr, sehr seltsam, dass er in bar bezahlt hat«, redet sie weiter. »Menschen, die so viel Bargeld bei sich haben, führen nichts Gutes im Schilde. Sie wollen nicht, dass die Regierung weiß, wo sie sich aufhalten und so. Wie nennen sie es gleich? Ein Leben außerhalb des Systems? Ja, ich glaube, das ist der Ausdruck. Ist er auf der Flucht, oder lebt er nur abgeschieden? Oder versteckt er sich vor allen? So oder so müssen wir diesen Kage genau im Auge behalten. Sehr genau im Auge behalten, vor allem, weil er direkt neben dir wohnt, liebe Natalie. Achte darauf, dass alles fest verschlossen und die Jalousien zugezogen sind. Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Ich richte mich im Stuhl auf. »Warte, was? Er wohnt nebenan?«
Sie starrt mich an, als wäre ich schwer von Begriff. »Hast du nicht zugehört? Er hat das Haus neben deinem gekauft.«
»Ich wusste nicht, dass das Haus zu verkaufen war.«
»War es auch nicht. Den Sullivans zufolge hat dieser Kage-Typ eines Tages an ihre Tür geklopft und ihnen ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnten. Er hatte einen Aktenkoffer voller Geld dabei.«
Überrascht sehe ich Sloane an. »Wer bezahlt ein Haus mit einem Aktenkoffer voller Geld?«
Diane gackert. »Siehst du? Das ist doch alles überaus seltsam.«
»Wann sind sie denn ausgezogen? Ich habe nicht mal mitbekommen, dass sie weg sind!«
Diane schürzt die Lippen, als sie mich ansieht. »Versteh mich nicht falsch, meine Liebe, aber du lebst in einer Art Blase. Man kann dir natürlich nicht vorwerfen, dass du abgelenkt bist, bei dem, was du durchgemacht hast.«
Mitleid. Es gibt nichts Schlimmeres.
Wütend funkle ich sie an, doch bevor ich mit einer schlauen Bemerkung über das, was ich ihrer hässlichen Dauerwelle antun werde, zurückschlagen kann, unterbricht uns Sloane.
»Der heiße, reiche Fremde wird also nebenan wohnen. Glück muss man haben!«
Diane zuckt zusammen. »O nein, ich würde da nicht von Glück sprechen. Er sieht aus wie ein Verbrecher, das kann man nicht leugnen, und wenn jemand ein guter Menschenkenner ist, dann bin ich das. Ihr werdet mir sicher zustimmen. Ihr erinnert euch sicher, dass ich es war, die …«
»Verzeihung, meine Damen.«
Der Kellner unterbricht sie. Gott sei Dank! Er stellt die Schüssel mit der Guacamole und einen Korb mit Tortilla-Chips auf den Tisch und lächelt. »Sollen es heute Abend nur Drinks und Vorspeisen sein, oder soll ich die Speisekarte bringen?«
»Ich trinke mein Abendessen, vielen Dank.«
Sloane wirft mir einen säuerlichen Blick zu, dann sagt sie zum Kellner: »Wir hätten gerne die Speisekarte, bitte.«
»Und noch eine Runde«, füge ich hinzu.
»Klar. Kommt gleich.«
Sobald er sich wegdreht, legt Diane wieder los und wendet sich eifrig an mich. »Soll ich den Polizeichef anrufen, damit er nachts einen Streifenwagen vorbeischickt, um nach dir zu sehen? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du ganz allein und verletzlich in diesem Haus bist. Es ist so tragisch, was dir passiert ist, du armes Ding.«
Sie tätschelt meine Hand.
Ich möchte ihr an die Gurgel gehen.
»Und jetzt, wo dieses widerwärtige Element in die Nachbarschaft zieht, sollte man sich wirklich um dich kümmern. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Deine Eltern waren liebe, gute Freunde, bevor sie, der Gesundheit deines Vaters zuliebe, nach Arizona gezogen sind. Die Höhenluft in unserem kleinen Fleckchen Erde kann schwierig sein, wenn wir älter werden. Tausendachthundert Meter über dem Meeresspiegel sind nichts für schwache Nerven, und weiß Gott, es ist knochentrocken …«
»Nein, Diane, ich will nicht, dass du die Polizei rufst, damit sie auf mich aufpasst.«
Sie guckt beleidigt, weil mein Ton so harsch ist. »Es gibt keinen Grund, unfreundlich zu werden, meine Liebe, ich versuche nur …«
»Dich in meine Angelegenheiten einzumischen. Ja, ich weiß. Danke.«
Sie wendet sich an Sloane, um Unterstützung zu bekommen, bleibt aber erfolglos. »Nat hat einen großen Hund und ein noch größeres Gewehr. Sie kommt klar.«
Diane wendet sich empört wieder an mich. »Du hast eine Waffe im Haus? Meine Güte, was ist, wenn du dich aus Versehen selbst erschießt?«
»Keine Sorge, so viel Glück hab ich nicht«, erwidere ich trocken.
»Wenn du schon mal hier bist, Diane«, lenkt Sloane ein, »könntest du vielleicht zur Diskussion beitragen, die Nat und ich geführt haben, bevor du dich zu uns gesetzt hast. Wir würden uns freuen, deine Meinung zu dem Thema zu hören.«
Diane streicht sich übers Haar. »Sehr gerne! Wie ihr wisst, verfüge ich über ein breit gefächertes Wissen zu den verschiedensten Themen. Fragt ruhig.«
Das wird lustig. Ich nippe an meinem Wein und versuche, nicht zu lächeln.
»Anal«, haut Sloane mit ernstem Gesicht raus. »Ja oder nein?«
Kurz sagt niemand von uns etwas, dann zwitschert Diane: »Oh, seht nur, da ist Margie Howland. Ich habe sie ewig nicht gesehen. Ich sollte mal kurz rübergehen und Hallo sagen.« Dann steht sie auf und eilt mit einem atemlosen »Tschüss!« davon.
»Dir ist schon klar, dass die ganze Stadt spätestens morgen denken wird, dass wir hier gesessen sind und uns über das Für und Wider von Analsex unterhalten haben, oder?«, sage ich trocken, während ich Diane hinterhersehe.
»Niemand hört dieser mürrischen alten Schachtel zu.«
»Sie ist die beste Freundin des Schulverwalters.«
»Na und? Die werden dich ja wohl kaum wegen Sittenlosigkeit feuern. Du lebst wie eine Nonne.«
»Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?«
»Nein. Du hattest in den letzten fünf Jahren drei Dates, und mit keinem von ihnen hattest du Sex. Wenn du eine Nonne wärst, hättest du wenigstens Sex mit Jesus.«
»Ich glaube nicht, dass das so funktioniert. Außerdem habe ich viel Sex. Mit mir selbst. Und meinen batteriebetriebenen Freunden. Beziehungen sind einfach zu kompliziert.«
»Ich glaube kaum, dass man deine kurzen sex- und gefühllosen Techtelmechtel Beziehungen nennen kann. Man muss den Typen schon ficken, um diesen Status zu erlangen. Und vielleicht auch etwas für ihn empfinden.«
Ich zucke mit den Achseln. »Wenn ich einen finden würde, der mir gefällt, würde ich mich darauf einlassen.«
Sie sieht mich an und weiß, dass mein Problem mit Männern weniger damit zu tun hat, dass ich niemanden treffe, zu dem ich mich verbunden fühle, sondern eher damit, dass ich zu niemandem eine Verbindung aufbauen kann.
Aber sie unterbricht mich und fährt fort: »Apropos ficken, dein neuer Nachbar steht da drüben und schaut dich an, als wärst du seine nächste Mahlzeit.«
»Buchstäblich. Und nicht auf die gute Art. Daneben sehen Weiße Haie geradezu freundlich aus.«
»Sei nicht so negativ. Er ist verdammt heiß. Findest du nicht?«
Ich widerstehe dem überraschend starken Drang, mich umzudrehen und in seine Richtung zu schauen, und nehme stattdessen einen weiteren Schluck Wein. »Er ist nicht mein Typ.«
»Süße, dieser Mann ist der Typ einer jeden Frau. Versuch nicht, mich anzulügen und mir zu erzählen, dass du deine Eierstöcke nicht stöhnen hörst.«
»Gib mir eine Minute zum Durchatmen. Ich wurde erst vor einer halben Stunde abserviert.«
Sie schnaubt. »Ja, und du scheinst ziemlich fertig deswegen zu sein. Nächste Ausrede?«
»Sag mir noch mal, warum du meine beste Freundin bist?«
»Weil ich ganz offensichtlich toll bin.«
»Hmm. Die Jury ist sich noch nicht einig.«
»Hör mal, warum bist du nicht einfach eine gute Nachbarin und gehst rüber und stellst dich vor? Und dann lädst du ihn ein, um ihm dein Haus zu zeigen. Speziell dein Schlafzimmer, wo wir drei unsere sexuellen Fantasien ausleben werden, während wir uns mit Astroglide einschmieren und Lenny Kravitz im Hintergrund Let Love Rule singt.«
»Wirst du jetzt bi – extra für mich?«
»Nicht für dich, Schwachkopf. Für ihn.«
»Ich brauche noch viel mehr Wein, bevor ich mit dem Gedanken an einen Dreier spielen kann.«
»Na ja, denk mal schön drüber nach. Und wenn es klappt, könnten wir es auf Dauer machen und eine Dreierbeziehung führen.«
»Eine Dreierbeziehung?!«
»Ja, wir sind dann ein Paar, nur eben zu dritt.«
Ich starre sie an. »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«
Sloane lächelt und schaufelt Guacamole auf einen Tortilla-Chip. »Natürlich, aber dein Gesichtsausdruck ist fast so göttlich wie der von Diane.«
Der Kellner kommt mit den Speisekarten und noch mehr Chardonnay zurück. Eine Stunde später haben wir zwei Shrimps-Enchilada-Platten und zwei Flaschen Wein intus.
Sloane rülpst diskret hinter ihrer hochgehaltenen Hand. »Süße, ich denke, wir sollten ein Taxi nehmen. Ich bin zu betrunken, um zu fahren.«
»Einverstanden.«
»Übrigens, ich bleibe über Nacht.«
»Du warst nicht eingeladen.«
»Ich lasse dich morgen nicht allein aufwachen.«
»Ich werde nicht allein sein. Mojo ist da.«
Sie deutet auf den Kellner, der die Rechnung bringt. »Solange du nicht deinen heißen neuen Nachbarn mitnimmst, hast du mich an der Backe, Schwesterherz.«
Es war eine beiläufige Bemerkung, weil sie offensichtlich weiß, dass ich nicht die Absicht habe, mit dem mysteriösen und vage feindseligen Kage mitzugehen, aber der Gedanke, dass Sloane morgen den ganzen Tag über mich wacht, um sicherzugehen, dass ich mir am Jahrestag meiner Nichthochzeit nicht die Pulsadern aufschneide, ist so deprimierend, dass ich mich fühle, als hätte sie mir einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.
Ich schaue zu seinem Tisch. Er telefoniert, wobei er kein einziges Wort sagt. Er hört nur zu und nickt ab und zu. Plötzlich blickt er auf und fängt meinen Blick auf.
Mein Herz macht einen Sprung. Eine seltsame und ungewohnte Kombination aus Aufregung, Anspannung und Angst lässt meinen Nacken ganz heiß werden.
Sloane hat recht. Du solltest freundlich sein. Ihr werdet Nachbarn sein. Was auch immer sein Problem ist, es kann nichts mit dir zu tun haben. Nimm nicht alles so persönlich. Der arme Kerl hatte wahrscheinlich nur einen schlechten Tag.
Er sieht mich immer noch an, murmelt etwas ins Handy und legt auf.
»Bin gleich wieder da«, sage ich zu Sloane. Dann stehe ich auf, durchquere das Restaurant und gehe direkt auf seinen Tisch zu. »Hi. Ich bin Natalie. Darf ich mich zu dir setzen?«
Ich warte seine Antwort gar nicht erst ab, sondern setze mich einfach zu ihm.
Schweigend schaut er mich mit diesen dunklen, geheimnisvollen Augen an.
»Meine Freundin und ich haben etwas zu viel Wein getrunken und können nicht mehr Auto fahren. Normalerweise wäre das kein Problem. Wir würden ein Taxi nehmen und morgen ihr Auto abholen. Aber sie hat mir gerade gesagt, dass sie die Nacht bei mir verbringt, wenn ich nicht mit dir wegfahre. Es ist eine lange Geschichte, warum ich nicht will, dass sie bei mir schläft, aber ich will dich nicht mit Details langweilen. Und bevor du fragst, nein, normalerweise frage ich keine völlig Fremden, ob ich bei ihnen mitfahren kann. Aber ich hab gehört, dass du das Haus neben meinem in Steelhead gekauft hast, also hab ich gedacht, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe und bitte dich um den Gefallen, mich nach Hause zu fahren, da es kein Umweg für dich ist.«
Er schaut auf meinen Mund. Ein Muskel in seiner Kieferpartie spannt sich an. Er sagt nichts.
O nein. Er denkt, dass ich ihn anmache.
»Das ist keine Anmache, versprochen«, füge ich – mittlerweile schrecklich verunsichert – hinzu. »Ich suche wirklich nur nach einer Mitfahrgelegenheit. Und außerdem, ähm … willkommen in der Stadt!«
Ich merke, dass er kurz innerlich mit sich selbst ringt, während ich ihn mit klopfendem Herzen beobachte und weiß, dass ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe.
Als er schließlich spricht, ist seine Stimme tief und rau. »Tut mir leid, Prinzessin. Wenn du nach einem Ritter in glänzender Rüstung suchst, bist du bei mir an der falschen Adresse.«
Dann steht er abrupt auf, stößt gegen den Tisch und geht davon.
Und ich sitze mit der brennenden Demütigung allein da.
Na gut. Ich schätze, dann werde ich in Zukunft nicht bei ihm klingeln, um mir eine Tasse Zucker zu leihen.
Mit heißen Wangen gehe ich zurück zu unserem Tisch.
Sloane starrt mich ungläubig an. »Was war das gerade?«
»Ich hab ihn gefragt, ob er mich nach Hause fährt.«
Sie blinzelt, nur einmal und ganz langsam. »Und?«, fragt sie, als sie sich ganz offensichtlich von dem Schock erholt hat.
»Er hat mir klargemacht, dass er es vorzieht, sich seinen Schwanz in einer Autotür einzuklemmen. Gehen wir?«
Kopfschüttelnd steht sie auf und nimmt ihre Handtasche von der Stuhllehne. »Wow. Er hat uns beide abblitzen lassen. Vielleicht hast du ja doch recht, und er ist wirklich verheiratet.« Als wir zur Tür gehen, fügt sie nachdenklich hinzu: »Oder er ist einfach nur schüchtern.«
Oder er entpuppt sich als Serienmörder und erlöst mich von meinem Elend.
Aber wahrscheinlich eher nicht. So viel Glück habe ich nicht.
Kage
Es sollte mir nichts ausmachen, dass sie umwerfend ist, aber das tut es. Sie ist so extravagant schön, dass ich fast laut gelacht hätte, als ich sie gesehen habe.
Ich war auf alles vorbereitet, nur nicht auf das. Es hat mich überrascht. Und ich hasse Überraschungen. Wenn ich überrascht werde, führt das normalerweise dazu, dass Blut fließt.
Aber jetzt weiß ich es ja. Das nächste Mal, wenn ich sie sehe, werde ich vorbereitet sein. Ich werde mich nicht von diesem Gesicht, diesen Beinen oder diesen unglaublichen Augen davon ablenken lassen, wofür ich hergekommen bin.
Und von diesem Haar auch nicht. Ich habe noch nie so glänzendes, schwarzes Haar gesehen. Es ist wie aus einem Märchen entsprungen. Ich wollte meine Hände in diese dicken, glänzenden Wellen tauchen und ihren Kopf nach hinten ziehen und …
Verdammt.
Geschäft und Vergnügen halte ich immer strikt getrennt, vermische sie nie miteinander. Ich muss mich einfach auf das konzentrieren, was ich hier zu erledigen habe.
Wenn sie nur nicht so verdammt schön wäre.
Schöne Dinge mache ich ungern kaputt.
Nat
Am nächsten Morgen wache ich mit pochenden Kopfschmerzen und einem mir ins Gesicht schnarchenden Mojo auf.
»Verdammt noch mal, Hund«, murmle ich und tätschle seine pelzige Brust. »Könntest du leiser sein? Mommy ist verkatert.«
Als Antwort grummelt er, vergräbt sich noch tiefer ins Kissen und lässt einen Furz los, der die Macht hat, die Farbe von den Wänden abblättern zu lassen.
Ich drehe mich auf den Rücken und seufze. Habe ich in einem früheren Leben irgendetwas Schlimmes getan? Manchmal denke ich, das wäre die einzige logische Erklärung für die Shitshow, die sich mein Leben nennt.
Als mein Handy klingelt, taste ich immer noch verschlafen auf dem Nachttisch herum, bis ich es finde. Dann nehme ich das Gespräch an, aber bevor ich überhaupt »Hallo« sagen kann, plappert Sloane schon los.
»Ich habe es herausgefunden. Er ist Witwer.«
»Was? Wer?«
»Stell dich nicht dumm. Du weißt, wer. Der Hengst, der die beiden heißesten Babes der Westküste abgewiesen hat, weil …« Sie macht eine Pause, um einen dramatischen Effekt zu erzeugen. »Er ist in Trauer!«
In Sloanes Welt gibt es nur ein paar wenige legitime Gründe, warum ein Typ nicht an ihr interessiert ist: Er ist schwul, verheiratet, hat einen Hirnschaden, oder seine Frau ist vor Kurzem gestorben. Vor sehr Kurzem. Also vor ungefähr einer Woche. Aber ich glaube, dass sie insgeheim glaubt, dass ein Mann auch in einer solchen Situation Interesse zeigt, wenn er nur lange genug ihren Reizen ausgesetzt ist.
Ich wünschte, ich hätte auch ein solches Selbstvertrauen.
Mit der Zunge fahre ich mir über meine pelzigen Zähne und bete, dass eine gute Fee mir jetzt Wasser und Aspirin bringt. Und Bier. »Warum rufst du mich so früh an, du herzlose Hexe?«
Sie lacht. »Es ist nicht früh, es ist zehn Uhr. Ich hab bereits zwei Yogastunden gegeben, gefrühstückt und meinen Kleiderschrank aufgeräumt. Und du hast versprochen, mich anzurufen, schon vergessen?«
Irgendwie schon, aber das liegt wahrscheinlich an dem ganzen Weißwein im Restaurant … und dem ganzen Rotwein anschließend zu Hause. Zum Glück habe ich den Bourbon nicht angefasst.
Noch nicht. Ich habe noch den ganzen Tag vor mir.
»Warum wollte ich dich anrufen?«
Es entsteht eine lange Pause. »Wir bringen dein Kleid zu Second Wind.«
O Gott.
Wimmernd lege ich einen Arm übers Gesicht und schließe die Augen, als ob ich mich so verstecken könnte.
Aber Sloane ist entschlossen. »Denk nicht mal daran, dir eine Ausrede einfallen zu lassen. Wir geben dein Hochzeitskleid heute ab, damit sie es für dich verkaufen können, Nat. Heute noch. Du musst das Ding aus dem Haus schaffen. Es hat lange genug darin gespukt.«
Ich würde ja gerne sagen, dass sie übertreibt, aber »spuken« ist das richtige Wort. Das verdammte Ding erscheint in meinen Träumen, rasselt mit Ketten und stöhnt. Ich kann nicht an dem Schrank vorbeigehen, in dem es hängt, ohne dass es mich fröstelt. Es hat eine jenseitige Präsenz angenommen, und keine besonders freundliche.
»Okay«, sage ich leise. »Aber … aber was ist, wenn …«
»Bitte sag es nicht.«
Wir schweigen eine Weile, bis sie einlenkt. »Wenn David jemals zurückkommt, kaufst du ein anderes Kleid.«
Ich beiße mir fest auf die Unterlippe. Eine Freundin zu haben, die mich so gut kennt, ist sowohl ein Segen als auch ein verdammter Fluch.
Wieder schweige ich und merke, wie sie nervös wird. »Schau mal. Das Kleid, das du jetzt hast, hat ein schlechtes Karma. Es ist mit zu viel negativer Energie aufgeladen. Zu viele schmerzhafte Erinnerungen. Wenn du in Zukunft ein anderes Kleid brauchst, kaufst du ein neues. Du behältst nicht das, das dich jedes Mal zum Weinen bringt, wenn du es ansiehst. Einverstanden?« Als ich zögere, wiederholt sie lauter: »Einverstanden?«
Ich atme schwer aus, so schwer, dass meine Lippen flattern. »Gut. Ja. Du hast recht.«
»Natürlich hab ich recht. Jetzt geh duschen, zieh dich an, und iss was. Ich bin in einer Stunde bei dir.«
»Ja, Mama«, murmle ich.
»Werd nicht frech, junge Dame, sonst bekommst du Hausarrest.«
»Haha.«
»Und ich konfisziere alle deine elektronischen Geräte.« Sie kichert. »Vor allem die vibrierenden.«
»Du bist eine schreckliche Freundin«, platze ich heraus.
»Du wirst mir später dankbar sein. Du kannst wahrscheinlich nicht mal mehr einen Orgasmus mit einem echten Schwanz kriegen, weil du dir all dieses Elektrozeug in die Vagina hämmerst. Deine Pussy ist die reinste Baustelle.«
»Ich leg jetzt auf.«
»Vergiss nicht, was zu essen!«
Ich lege auf, ohne darauf zu antworten. Wir wissen beide, dass ich heute Morgen nur eine Sache zu mir nehmen werde.
Fünf Jahre. Wie ich so lange überlebt habe, weiß ich nicht.
Ich schleppe mich aus dem Bett, dusche und ziehe mich an. Als ich in die Küche komme, liegt Mojo wie ein großer zotteliger Teppich vor dem Kühlschrank und lächelt in meine Richtung.
»Musst du vor dem Frühstück noch mal pieseln, Kumpel?«
Er hechelt und klopft mit dem Schwanz, bewegt sich aber nicht von der Stelle, was mir zeigt, dass er etwas anderes lieber möchte.
Der Hund hat eine Blase, die so groß ist wie ein Pool. Wenn er nicht so groß wäre, würde ich denken, dass er ein oder zwei hohle Beine hat, in denen er sein ganzes Pipi aufbewahrt.
»Dann also Frühstück.«
Nachdem ich ihn gefüttert habe und mit ihm in den Garten gegangen bin, damit er pinkeln und an den Büschen entlang herumtoben und Eichhörnchen jagen kann, gehen wir wieder ins Haus. Er nimmt seinen üblichen Platz auf dem Wohnzimmerteppich ein und schläft sofort ein, während ich mir einen Mimosa mache.
Ohne Alkohol kann ich nicht tun, was ich gleich tun werde.
Die Idee ist mir gekommen, als ich im Garten war und Mojo dabei beobachtet habe, wie er an einen Strauch gepisst hat. Es ist dumm, ich weiß, aber wenn heute der letzte Tag ist, an dem ich mein Hochzeitskleid habe, muss ich es ein letztes Mal anziehen. Zum Abschied und als symbolischer Schritt in die Zukunft.
Ich hoffe fast, dass es mir nicht mehr passt. Geister aus ihren Gräbern zu erwecken, kann gefährlich sein.
Meine Hände beginnen erst zu zittern, als ich vor der geschlossenen Schranktür im Gästezimmer stehe.
»Okay, Nat. Steh deinen Mann oder deine Frau oder was auch immer. Pass einfach auf, dass …« Ich atme tief ein. »Reiß dich zusammen. Du musst ruhig sein, wenn Sloane kommt, sonst flippt sie aus.«
Ich ignoriere, wie seltsam es ist, dass ich laut mit mir selbst rede, nehme einen großen Schluck von dem Mimosa, stelle die Sektflöte auf die Kommode und öffne vorsichtig die Schranktür.
Und da ist er. Der bauschige schwarze Kleidersack, die Gedenkstätte meiner verlorenen Träume. Es ist ein Sarkophag, ein Nylongrab mit Reißverschluss, und darin befindet sich mein Leichentuch.
Wow, wie morbide. Trink aus, Debbie Downer.
Ich kippe den Rest des Cocktails und brauche noch ein paar Minuten, in denen ich auf und ab gehe und mit den Händen herumfuchtele, bevor ich den Mut aufbringe und den Reißverschluss öffne.
Mit einem Rascheln quillt der Inhalt heraus.
Ich betrachte es. Tränen steigen mir in die Augen.
Es ist wunderschön, dieses dumme, verfluchte Kleid. Es ist eine prächtige, maßgeschneiderte Wolke aus Seide, Spitze und Perlen, das teuerste Kleidungsstück, das ich je besessen habe.
Das am meisten geliebte und gehasste.
Ich ziehe mich schnell bis auf den Slip aus, nehme das Kleid vom Bügel und steige hinein. Ich ziehe den Rock über die Hüften und versuche zu ignorieren, wie schnell mein Herz klopft. Dann streife ich mir den Neckholder über und ziehe den Reißverschluss im Rücken hoch.
Langsam gehe ich zu dem bodenlangen Spiegel auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und betrachte mich.
Das Kleid ist ein ärmelloses Neckholder-Kleid mit tiefem Ausschnitt, offenem Rücken und zusammengeschnürter Taille. Es ist mit Spitze überzogen und mit winzigen Perlen und Kristallen verziert. Der Prinzessinnen-Rock hat eine Schleppe, die ebenfalls verziert ist. Der lange Schleier hängt noch in seiner eigenen Tasche im Schrank. Ich bin nicht mutig genug, das ganze Outfit zusammenzustellen. Allein das Kleid anzuziehen, ist schon heftig genug.
Ebenso wie die erschütternde Tatsache, dass es nicht passt.
Stirnrunzelnd kneife ich ein paar Zentimeter des losen Stoffes um die Taille zusammen. Ich habe abgenommen, seit ich es zwei Wochen vor der Hochzeit bei der letzten Anprobe anhatte. Ich war noch nie kurvig, aber erst jetzt merke ich, dass ich zu dünn bin.
David hätte dieser Körper nicht gefallen. Er hat mich immer ermutigt, mehr zu essen und mehr zu trainieren, damit ich mehr wie Sloane aussehe.
Ich habe vergessen, wie sehr mich das verletzt hat.
Langsam drehe ich mich nach links und rechts, versunken in Erinnerungen und fasziniert davon, wie die Kristalle das Licht einfangen und funkeln, bis mich das Klingeln an der Tür aus meiner Benommenheit reißt.
Es ist Sloane. Sie ist zu früh dran.
Mein erster Instinkt ist, mir das Kleid vom Leib zu reißen und es schuldbewusst zurück in den Schrank zu stopfen. Aber wenn sie mich darin sieht und bemerkt, dass ich ganz ruhig bin, wird sie wissen, dass es mir gut geht. Dass sie nicht so streng über mich wachen muss.
Ich meine, wenn ich damit klarkomme, komme ich wahrscheinlich mit allem klar, oder?
»Komm rein!«, rufe ich Richtung Haustür. Dann stehe ich ganz ruhig vor dem Spiegel und warte.
Die Eingangstür öffnet und schließt sich. Schritte hallen durchs Wohnzimmer und halten dann an.
»Ich bin hier hinten!«
Wieder höre ich Schritte. Sloane muss Stiefel tragen, denn es hört sich an, als würde ein Elch durchs Haus trampeln.
Ich streiche mit den Händen über das Mieder des Kleides und erwarte, Sloanes Kopf hinter der Tür aufblitzen zu sehen. Aber der Kopf, der erscheint, ist nicht ihrer.
Keuchend wirble ich herum und starre Kage entsetzt an.
Er überragt den Türrahmen, ist wieder ganz in Schwarz gekleidet, Leder und Jeans, dazu passende Springerstiefel. In seinen großen Händen hält er ein Paket, das mit Klebeband zugeklebt ist.
Sein Gesichtsausdruck zeigt offenes Erstaunen. Mit leicht geöffneten Lippen starrt er mich an. Sein erhitzter Blick fährt an meinem Körper auf und ab, und er atmet hörbar aus.
Ich fühle mich, als hätte man mich beim Masturbieren mit gespreizten Beinen auf dem Küchenboden erwischt. Ich schlinge meine Arme um die Brust.
»Was zur Hölle machst du hier?«, schreie ich.
»Du hast gesagt, ich soll reinkommen.«
Gott, diese Stimme. Dieser volle, heisere Bariton. Wenn ich nicht so entsetzt wäre, fände ich sie heiß.
»Ich hab gedacht, du bist jemand anders!«
Er schaut mich wieder, ohne zu blinzeln, von Kopf bis Fuß an. Sein Blick ist so konzentriert und intensiv wie ein Laserstrahl. Er befeuchtet seine Lippen, und aus irgendeinem Grund finde ich diese einfache Geste sowohl sexy als auch bedrohlich.
»Heiratest du?«, brummt er.
Es könnte daran liegen, dass ich verlegen bin oder überrascht, oder daran, dass dieser Mann gestern Abend so unhöflich zu mir war – so oder so bin ich auf einmal wütend. Meine Stimme zittert, und mein Gesicht ist rot, als ich einen Schritt auf ihn zumache. »Das geht dich einen Scheiß an. Was machst du hier?«
Aus irgendeinem Grund amüsiert ihn meine Wut. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, verschwindet aber schnell wieder. Er gestikuliert mit dem Paket in den Händen. »UPS hat das Paket auf meiner Veranda hinterlassen. Es ist an dich adressiert.«
»Oh.«
Jetzt bin ich noch verwirrter. Er ist ein freundlicher Nachbar. Nach seinem Verhalten von gestern Abend zu urteilen, hätte ich erwartet, dass er das Paket anzündet und über den Zaun wirft, statt es persönlich abzuliefern.
Meine Wut zerfällt augenblicklich in ihre Einzelteile.
»Okay. Danke. Stell es einfach auf der Kommode ab.«
Als er sich nicht bewegt und nur dasteht und mich anstarrt, verschränke ich die Arme vor der Brust und starre zurück.
Nach einem Moment der Verlegenheit macht Kage eine abweisende Handbewegung in Richtung meines Kleides. »Es steht dir nicht.«
Ich spüre, wie meine Augen größer werden, aber es ist mir egal. »Wie bitte?«
»Zu überladen.«
Er hat Glück, dass ich den Schleier nicht trage, denn das wäre der Moment, in dem ich ihn ihm um den Hals wickeln und ihn damit erdrosseln würde.
»Kleiner Tipp für die Zukunft: Wenn du eine Frau siehst, die ein Hochzeitskleid trägt, ist das einzig Akzeptable, was du ihr sagen kannst, dass sie schön aussieht.«
»Du bist schön«, kontert er. »Aber das hat nichts mit diesem pompös peinlichen Kleid zu tun.«
Daraufhin schließt er schnell den Mund. Ich habe das deutliche Gefühl, dass er seine Worte bereut.
Wortlos stapft er zur Kommode, wirft das Paket darauf, geht aus dem Zimmer und lässt mich mit offenem Mund und pochendem Herzen zurück.
Als die Haustür zuschlägt, stehe ich immer noch da und versuche herauszufinden, was zur Hölle da gerade passiert ist.
Ein paar Augenblicke später höre ich etwas Seltsames. Ein sich wiederholendes Geräusch, ein gedämpftes Wumm-wumm-wumm, als würde jemand einen schmutzigen Teppich ausklopfen. Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus, um herauszufinden, woher das Geräusch kommt.
Da entdecke ich ihn.
Die Straße, in der ich wohne, ist abschüssig und steigt von einem Grundstück zum nächsten um ein paar Meter an. Die Steigung erlaubt einen Blick in den Nachbargarten, sodass ich von dort, wo ich stehe, über den Zaun das Haus nebenan problemlos sehen kann. Außerdem habe ich einen freien Blick auf die Fenster des Wohnzimmers.
Normalerweise sind die Vorhänge zugezogen, aber jetzt nicht.
In der Mitte des Raums hängt ein Boxsack an einem schweren Metallrahmen, wie ihn Boxer zum Training benutzen. Er scheint das einzige Möbelstück zu sein.
Mit bloßen Fäusten prügelt Kage auf den Sandsack ein.
Er hat sein T-Shirt ausgezogen, und ich stehe wie angewurzelt auf der Stelle und beobachte ihn, wie er den Sandsack immer wieder trifft, wie er stößt und tanzt, wie sich alle Muskeln seines Oberkörpers kräuseln. Beobachte, wie sich seine Tattoos bei jedem Schlag bewegen.
Er hat überall Tattoos, auf Brust und Rücken und an beiden Armen. Nur seine Bauchmuskeln sind frei von Tinte, wofür ich dankbar bin, denn so habe ich einen freien Blick auf seinen straffen, muskulösen Bauch.
Es ist offensichtlich, dass er sehr fleißig trainiert. Seine körperliche Verfassung ist unglaublich. Ebenfalls offensichtlich ist, dass er wegen irgendetwas wütend ist und es an diesem armen Gerät auslässt.
Wenn in den sechzig Sekunden, seit er aus meiner Tür gegangen ist, nichts weiter passiert ist, dann muss das, worüber er wütend ist, mit mir zu tun haben.
Er verpasst dem Sandsack einen letzten Schlag, tritt dann zurück und brüllt seinen Frust heraus. Dann steht er einfach nur da, seine Brust hebt und senkt sich, und er ballt immer wieder seine Hände zu Fäusten. Dann – plötzlich – dreht er sich um und schaut zu meinem Fenster.
Unsere Blicke treffen sich.
Noch nie habe ich so etwas gesehen. Da ist so viel Dunkelheit in seinen Augen, dass es beängstigend wirkt.
Ich atme tief ein und mache unwillkürlich einen Schritt zurück. Meine Hand wandert zu meinem Hals. Wir bleiben so stehen – reglos – und fixieren uns, bis er den Bann bricht, indem er zum Fenster geht und die Vorhänge zuzieht.
Als Sloane zwanzig Minuten später eintrifft, stehe ich immer noch wie angewurzelt an derselben Stelle, starre auf Kages Wohnzimmerfenster und lausche dem Wumm-wumm-wumm seiner strafenden Fäuste.
Nat
Ich hab dir doch gesagt, dass er Witwer ist. Das ist die einzige logische Erklärung.«
Sloane und ich sind beim Mittagessen. Das Kleid haben wir bereits weggebracht. Jetzt sitzen wir über unsere Salate gebeugt und sprechen noch einmal im Detail über meine heutige Begegnung mit Kage.
»Du glaubst also, er hat mich in dem Kleid gesehen und …«
»Er ist ausgeflippt«, beendet sie meinen Satz und nickt. »Es hat ihn an seine tote Frau erinnert. Scheiße, das muss erst kürzlich passiert sein.« Sie mampft einen Bissen Salat und überlegt. »Wahrscheinlich ist er deshalb in die Stadt gezogen. Sein bisheriges Zuhause hat ihn zu sehr an sie erinnert. Gott, ich frage mich, wie sie gestorben ist?«
»Wahrscheinlich war es ein Unfall. Er ist jung – was denkst du? Anfang dreißig?«
»Höchstens Mitte dreißig. Sie waren vielleicht noch nicht lange verheiratet.« Sie seufzt. »Armer Kerl. Es sieht nicht so aus, als würde er es gut verkraften.«
Sofort fühle ich mich schlecht, dass ich ihn heute Morgen so mies behandelt habe. Es war mir einfach peinlich, in meinem Hochzeitskleid erwischt zu werden, und ich war so überrascht, ihn anstelle von Sloane zu sehen, dass ich mich ziemlich daneben verhalten habe, fürchte ich.
»Was war denn in dem Paket, das er dir vorbeigebracht hat?«
»Malereibedarf. Öle und Pinsel. Das Seltsame ist, dass ich mich überhaupt nicht daran erinnern kann, das Zeug bestellt zu haben.«
Sloane sieht mich mit einer Mischung aus Mitleid und Hoffnung an. »Heißt das, du arbeitest an einem neuen Werk?«
Ich weiche ihrem suchenden Blick aus und stochere in meinem Salat herum. »Ich möchte nicht darüber reden, das bringt nur Unglück.«
Eigentlich will ich nicht lügen, aber wenn ich ihr sage, dass ich immer noch nicht male, mir aber Malutensilien bestellt habe, ohne mich daran zu erinnern, fährt sie mich nach dem Mittagessen direkt in eine psychotherapeutische Praxis.
Vielleicht hatte Diane Myers recht: Ich lebe in einer Blase. Eine große unscharfe Blase der Verleugnung, die mich von der Welt abgeschnitten hat. Ich verliere langsam, aber sicher den Kontakt zum wahren Leben.
»Oh, Süße, ich bin so froh!«, ruft Sloane begeistert und mit strahlenden Augen. »Das ist ein großer Fortschritt!«
Jetzt fühle ich mich wie ein Arschloch. Wenn ich nach Hause komme, werde ich etwas Farbe auf eine leere Leinwand klatschen müssen, nur damit ich nicht von Schuldgefühlen zerfressen werde.
»Und du hast dich vorhin im Laden mit dem Hochzeitskleid auch so gut geschlagen. Keine einzige Träne. Ich bin sehr stolz auf dich.«
»Heißt das, ich kann noch ein Glas Wein bestellen?«
»Du bist ein großes Mädchen. Du kannst tun und lassen, was du willst.«
»Gut, denn es ist immer noch ›der Tag, der nicht erwähnt wird‹, und ich hoffe, dass ich bis vier Uhr einen Blackout habe.«
Das ist die Uhrzeit, zu der ich vor fünf Jahren zum Altar schreiten sollte.
Zum Glück ist heute Samstag, sonst hätte ich eine Menge zu erklären, wenn ich mitten im Unterricht, nach Alkohol müffelnd, umgekippt wäre.
Sloane kommt nicht dazu zu sagen, dass sie nicht einverstanden ist, weil ihr Handy piept. Eine Nachricht. Sie kramt es aus der Tasche, schaut aufs Display und grinst. »Oh, ja, du bist ein großer Junge.«
Dann sieht sie zu mir und verzieht das Gesicht. Kopfschüttelnd beginnt sie zu tippen. »Ich werde ihm sagen, dass wir es verschieben.«
»Wem? Was verschieben?«
»Stavros. Wir wollten heute Abend ausgehen. Hab ich völlig vergessen.«
»Stavros? Du datest einen griechischen Reederei-Tycoon?«
Sie hört auf zu tippen und rollt mit den Augen. »Nein, Süße, er ist der heiße Typ, von dem ich dir erzählt hab.«
Ausdruckslos starre ich sie an.
»Der, der in meiner Yogastunde in einer engen grauen Jogginghose ohne Unterwäsche aufgetaucht ist, sodass wir alle den ganz genauen Umriss seines Schwanzes sehen konnten«, erklärt sie nachdrücklich.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch, weil ich mir sicher bin, dass ich mich an eine solche Geschichte erinnern würde.
»Ach, komm schon. Ich habe dir doch alles über ihn erzählt. Er hat ein Haus direkt am See. Fast hundert Meter Privatstrand. Der Tech-Typ. Klingelt’s jetzt?«
Absolut nicht, aber ich nicke trotzdem. »Richtig. Stavros. Graue Jogginghose. Ich erinnere mich.«
Sie seufzt. »Das tust du so was von gar nicht.«
Über den Tisch hinweg starren wir uns an.
»Wie früh setzt Alzheimer ein?«, frage ich schließlich.
»Nicht so früh. Du bist noch nicht mal dreißig.«
»Vielleicht ist es ein Hirntumor.«
»Es ist kein Hirntumor. Du bist nur irgendwie …« Sie zuckt zusammen, will ganz offensichtlich meine Gefühle nicht verletzen. »Nicht anwesend.«
Diane, das Plappermaul, hatte also recht. Stöhnend stütze ich meine Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände. »Es tut mir leid.«
»Es gibt nichts, was dir leidtun müsste. Du hast ein schweres Trauma erlitten. Du bist immer noch dabei, es zu verarbeiten. Trauer hat keinen Zeitplan.«
Wenn es eine Leiche gäbe, könnte ich weitermachen.