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In "Saat der Hoffnung" erzählt Ernst die Geschiche einer Familie im Harz. Nachdem das von ihnen betriebene Bergwerk unrentabel geworden ist werden die Probleme täglich mehr. Bis es zu einem Aufstand der Arbeiter kommt ...
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Seitenzahl: 355
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Saat auf Hoffnung
Paul Ernst
Inhalt:
Paul Ernst – Biografie und Bibliografie
Saat auf Hoffnung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Deutscher Schriftsteller, geboren am 7. März 1866 in Elbingerode (Harz), verstorben am 13. Mai 1933 in Sankt Georgen an der Stiefing in Österreich. Der Sohn des Grubenaufsehers Johann Christian Friedrich Wilhelm Ernst und dessen Frau Emma Auguste Henriette Dittmann studierte nach seinem Schulabschluss Theologie und Philosophie in Göttingen und Tübingen, später dann Literatur und Geschichte in Berlin. 1892 erfolgte die Promotion. Schon in jungen Jahren schloss er sich der Arbeiterbewegung an und war kurze Zeit Mitglied der SPD. Nach einem Aufenthalt in Weimar, wo viele seiner Werke entstanden, war er Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus tätig.
Wichtige Werke:
·Ariadne auf Naxos
·Brunhild
·Canossa
·Childerich
·Chriemhild
·Der schmale Weg zum Glück
·Das Glück von Lautenthal
·Demetrios
·Der Schatz im Morgenbrotstal
·Der Tod des Cosimo
·Die Hochzeit
·Die selige Insel und andere Erzählungen aus dem Süden
·Komödianten- und Spitzbubengeschichten
·Preußengeist
·Saat auf Hoffnung
Saat auf Hoffnung, Paul Ernst
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster
Germany
ISBN: 9783849611897
www.jazzybee-verlag.de
Der Ort Miltenberg liegt in einer angenehmen Landschaft Mitteldeutschlands; in seiner jetzigen Gestalt ist er erst seit Mitte der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts entstanden.
Das mit Buchen und Fichten bewachsene kleine Gebirge läuft hier in eine weite fruchtbare Ebene aus. Das Gebirge erhebt sich fast rund; der höchste Gipfel, welcher ziemlich in der Mitte liegt, wird durch Basalt gebildet; an ihn schließt sich Granit, und die Ausläufer bestehen aus Sedimentgesteinen, Kalk und Sandstein. Man kann sich nach der Entstehung vorstellen, daß im Innern des Gebirges schroffe Abhänge sind, welche dann durch das Abfallen der Sedimente gegen den Granit, das Abfallen des Granits gegen den Basalt gebildet wurden; und daß die äußersten Berge nur eine geringe Neigung haben. Da, wo zwei dieser äußersten Berge zusammenstoßen und ein nach innen spitzes, nach außen in die Ebene übergehendes Tal bilden, liegt unsere Ortschaft. Ein kleiner Fluß zieht sich langsam in anmutigen Windungen durch das Tal und vereinigt sich in der Ferne mit dem großen Strom, der die weite Ebene durchfließt. Von alters her lagen in diesem Tal zwei Güter mit zusammen etwa viertausend Morgen, von denen etwa achthundert Ackerboden waren. Das obere Gut besaß eine Familie Steinbeißer, das untere eine Familie von Medem. Die Wälder, welche sich zu beiden Seiten fast von der Sohle des Tales die Berge hochzogen, gehörten den beiden Gütern und dem Staat.
Anfang der achtziger Jahre waren die Besitzer des oberen Gutes zwei Brüder, Kurt und Heinrich; die des unteren ein altes Ehepaar, die eine einzige Tochter namens Angelika hatten. Kurt Steinbeißer vermählte sich damals mit Angelika von Medem, kurze Zeit nach der Hochzeit starben die alten Herrschaften, und so kamen denn die beiden Güter zusammen.
Mitte der fünfziger Jahre hatte man auf dem linken der beiden Berge, dem Kohlberg, Manganerz gefunden, auf dem Steinbeißerschen Gebiet. Schon seit lange wurde hier in flachen Tagebauen Eisenstein von Eigenlöhnern gefördert, welche an die Grundbesitzer den Zehnten entrichten mußten; seit den großen wirtschaftlichen Veränderungen aber, welche den Preis des Eisens stark drückten, arbeiteten diese Betriebe zu teuer; die Bergleute verarmten, manche von ihnen wanderten aus; und als nun das Manganerzlager aufgefunden war, ließen sich nach und nach die Zurückbleibenden auf der Steinbeißerschen Braunsteingrube annehmen.
Das Erz kam nesterweise vor, und der Vater der damaligen Besitzer hatte deshalb keinen großen Wert auf die Grube gelegt und sich auch wenig um den Betrieb gekümmert. Ein angestellter Direktor, den man später im Verdacht der Unredlichkeit hatte, konnte nach Gutdünken wirtschaften; und vor allem wirtschaftete er jedenfalls zu ungunsten der armen Bergleute, welche bei übermäßig langen Schichten sehr niedrige Löhne verdienten, so daß die Miltenbergischen Knappen in der ganzen Gegend bekannt waren als ein bedrücktes, kränkliches, diebisches und aufsässiges Volk und von den Gutsarbeitern als eine Art von tief unter ihnen stehenden Menschen betrachtet wurden.
Heinrich Steinbeißer hatte durch Studieren an Hochschulen und Reisen im Ausland sich eine gründliche Kenntnis der bergmännischen Verhältnisse erworben; nach dem Tode seines Vaters schürfte er noch an anderen Stellen; es fand sich, daß die Nester durch den ganzen Berg verstreut waren und bei verständigem Betrieb einen guten Ertrag versprachen; so teilten nach der Heirat des älteren Bruders die Geschwister das Erbe dergestalt, daß Kurt das Gut übernahm und Heinrich die Grube.
Aus der Ehe der jungen Leute entsproß ein Sohn, welcher auf den Namen seines Vaters getauft wurde, dann sechs Jahre später eine Tochter, welche man Angelika nannte. Als diese einige Monate alt war, wurde Kurt Steinbeißer erschossen im Walde auf dem Anstand aufgefunden. Nach Jahresfrist verheiratete sich die Witwe mit dem jüngeren Bruder Heinrich, welcher dergestalt nun den ganzen Besitz in die Hand bekam, diese Ehe blieb kinderlos.
Heinrich Steinbeißer hatte bei seinen Reisen und Studien weitherzigere Gesinnungen in bezug auf die Arbeiter gefaßt. Er beschloß, sich ganz dem Betrieb des Bergwerkes zu widmen und die Äcker an die Bergleute und sonstigen Arbeiter dergestalt aufzuteilen, daß jede Familie drei oder vier Morgen Land erhielt, in dessen Mitte sie sich ein Häuschen baute mit einem Stall für zwei Schweine und zwei Ziegen, in ähnlicher Weise wie von alters her die Landarbeiter gewirtschaftet hatten, nur, daß diese im Dorf zusammengedrängt wohnten.
Unsere Erzählung beginnt gegen Ende des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts.
Wer Miltenberg jetzt aus der Vogelperspektive gesehen hätte, dem wäre vor allem die Unzahl kleiner Häuser aufgefallen, die inmitten von Gemüsegärten und Kartoffeläckern lagen, unter Obstbäumen, welche freundlich ihre Äste neigend die Früchte darboten, mit kleinen Blumenbeeten vor den Türen, mit freundlichen Fenstern, durch saubere weiße Gardinen geziert. Unübersehbar viele schmale Wege waren zwischen den Häusern, Gärten und Äckern und mündeten auf der linken Seite alle endlich auf die Landstraße, welche geradlinig sich durch das Tal zog, in der Richtung wie die geschlängelte Linie des Flusses; ihr zur Seite liefen die Gleise der Bahn; auf der rechten Seite des Flusses lag das alte Dorf, in dessen Mitte sich die Kirche befand und das Medemsche Gutshaus; dieses Gutshaus war in eine Schule verwandelt; die kleinen Wege zwischen den neuen Häuschen und Gärten hatten auf dieser Seite nicht eine so klare Richtung wie auf der anderen; sie schienen zum Teil auf das Dorf zu führen, zum Teil auf eine Art Triftweg zu laufen, der das Tal hinaufging, wo das Steinbeißersche Gutshaus lag und einige hundert Schritte davon der Bahnhof. Beim Dorf wie beim oberen Gutshaus führten stattliche steinerne Brücken über den Fluß. Aus den Buchenwipfeln des Kohlbergs ragten an mehreren Stellen die Dächer der Gaipel, der Gebäude über den Schächten; ein hohes eisernes Gerüst mit zwei entgegengesetzt laufenden Rädern war über den Förderschacht gebaut, um die Tonnen des geförderten Manganerzes auf einem Drahtseil durch die Luft in das Tal zu bringen, wo am Bahnhof die Wagen untergeschoben wurden, welche beladen dann nachher die Landstraße entlang, an den Häuschen und Gärten vorbei in die Ebene hineinfuhren zu fernen Fabriken.
Und wer auf der Landstraße, dem Triftweg, im Dorf oder auf den engen netzartig verflochtenen Wegen gegangen wäre, zwischen den Gärten mit vollen Kohlköpfen, Kartoffelstauden, weiß- und rotblühenden Bohnen an hohen Stangen, wo alles sauber gepflegt war, gehackt, gejätet und gedüngt, wo selbst der Misthaufen an der Hinterwand des Schuppens erfreulich und ordentlich sich darbot, der hätte fast nur breitschultrige ruhige Menschen gesehen mit langsamem Gang und selbstbewußten Gesichtern. Hätte er dann gefragt, so hätten ihm die Leute erzählt von dem Aufschwung der Gegend durch die Gruben, wie Herr Steinbeißer höhere Löhne zahlen mußte, wie er sein Kapital aus dem Gute zog, indem er das Land aufteilte und an kleine Leute verkaufte, und wie in früheren Zeiten, wo man die Arbeiter noch in der Dummheit hinhalten konnte, alles ganz anders war wie heute.
Schon die alten Eisensteiner waren zu einer Knappschaft vereinigt gewesen; die Ordnung war geblieben und nur den neueren Gesetzen entsprechend umgebildet. Herr Steinbeißer wollte die alten Sitten möglichst erhalten, um eine herzliche Verbindung mit den Leuten zu haben; so hatte er denn auch beibehalten, daß alle vier Jahre ein Knappschaftsfest gefeiert wurde.
Am Tage vorher schon hatten die Frauen Kuchenteig gemengt, Zwetschen und Äpfel geschnitten und alles andere vorbereitet; am frühen Morgen, kurz nach drei Uhr zogen sie, das Notwendige in Leinentücher und Schüsseln gepackt in sauberen Kiepen auf dem Rücken, alle die kleinen Wege nach dem Dorf zu, wo die Bäcker wohnten; da drängten sie sich schwatzend und lachend in den heißen Backstuben, breiteten ihren Teig auf die Bleche, legten zierlich die Obstschnitzel darauf, gossen aus Töpfen den Solf aus Sahne und Eiern darüber; die nacktarmigen Bäckergesellen in ihren schlürfenden Pantoffeln ergriffen die Bleche, schwangen sie hoch und trugen sie zum Ofen, mit den jungen Frauen und Mädchen ihre derben Witze machend; die mitgebrachten Kinder steckten begierig den Zeigefinger in die ausgegossenen Töpfe und leckten aus, was etwa noch zurückgeblieben war. Die Frauen lachten und quiekten, liefen mit den leeren Kiepen nach Hause und holten die Kuchenbretter; nach einer Weile schwangen die Gesellen die Bleche aus dem Ofen und schoben den Frauen die dampfenden Kuchen auf die Bretter; die nahmen dann die Bretter auf den Kopf oder unter die beiden gespreizten Arme und gingen nach Hause, untereinander sich besprechend, daß der eine Kuchen etwas zu scharf gebacken war, der andere aber war gerade richtig, und daß dieser Geselle immer zu viel Bleche in den Ofen schob und jener die Kuchen immer nicht ausbuk, wenn man nicht aufpaßte; und zu Hause brummten dann die Männer, daß für die Weiber das Kuchenbacken die Hauptsache sei, und daß kein Kaffee auf dem Tisch stehe, dann aßen sie selber aber am meisten von dem Kuchen und lobten ihn auch mit Kennerschaft, indem sie beteuerten, wie sie wohl gemerkt hätten, daß in der letzten Zeit die Milch immer so mager gewesen sei.
Nun zogen sich alle zum Kirchgang an. Die Frauen holten das frisch gestärkte Hemd vor, den Feiertagskittel, den guten Schachthut, welcher sorgfältig in ein Taschentuch eingeschlagen unten im Kleiderschrank lag; die Männer rieben das Hinterleder blank und polierten die messingene Gürtelschnalle, die mit Schlägel und Eisen verziert war; dann putzten die Frauen sich selber unter eifrigem Hin- und Herlaufen; von der Unruhe im Haus angesteckt, meckerten im Stall die Ziegen, die Schweine suchten grunzend den Rüssel durch die Koberklappe zu zwängen; die kleinen Mädchen bewunderten das gute schwarze Wollkleid der Mutter, strichen hier eine Falte glatt, freuten sich über die Weichheit des Stoffes, halfen der Mutter beim Zuschnüren des Leibchens; die Jungen sahen verstohlen auf Schachthut und Hinterleder und hätten sich so gern mit beidem geschmückt; im Garten flogen die Meisen zwischen den Kohlpflanzen, ein Fink setzte sich auf einen Ast vor den Fenstern und schmetterte, trotzdem es schon Herbst war, aufgeregt durch die allgemeine Unruhe, laut sein Liedchen; der Hund lief unruhig und neugierig herum, schnupperte an Kleidungsstücken, die auf dem Stuhl lagen, stieß leise mit der Nase den Mann ans Bein und sah ihn erwartungsvoll an; die Frau setzte in der Küche das Fleisch an zur Sonntagssuppe und sprach sorgenvoll darüber, ob auch die Predigt nicht zu lange dauern werde. Dann klangen aus dem Dorf die Glocken der alten Kirche, die Gesangbücher wurden vorgeholt, und aus allen Häusern kamen nun die Leute, Ehepaare und Unverheiratete, alte Leute, welche noch das bunte Taschentuch in der linken Hand trugen; alle gingen auf den verschlungenen Wegen zwischen den Kartoffelstücken und eingezäunten Gärten; sie zogen sich niederwärts auf die Landstraße, fanden sich truppweise zusammen mit stummem Händedruck, gingen über die Brücke, an schreienden und im Wasser flatternden Gänsen vorüber in das Dorf und in die Kirche.
Herr Steinbeißer und seine Gattin, ihre Tochter Angelika und der junge Landrat des Kreises, der Freier Angelikas, welcher am Fest teilnehmen wollte, saßen in ihrem alten Kirchenstuhl, der von den Vorfahren auf sie vererbt war. Herr Steinbeißer war ein kleiner gebückter Mann mit kurzgeschnittenem schneeweißem Schnurrbart; er saß still in seiner Ecke, den Kopf in die Hand gestützt. Der Landrat wollte Angelika das Gesangbuch aufschlagen, sie riß es ihm mit einer fast ungezogenen Gebärde aus der Hand; die Mutter sah das und seufzte.
Im Schiff sammelten sich die Frauen und Mädchen, auf der Empore die Männer; der Kantor begann das Vorspiel auf der Orgel, dann ertönte der Choral und die ganze Gemeinde sang.
Der Pastor sprach von der Arbeit und dem Segen der Arbeit; Herr Steinbeißer vergrub sein Gesicht in die Hände, seine Gemahlin blickte starr geradeaus, aufrecht sitzend und die Hände im Schoß liegend. Der Pastor war ein alter Mann, der noch die früheren Zeiten gekannt hatte; er sprach von den großen Veränderungen, von dem Geist der Opferwilligkeit und Nächstenliebe, der durch den Bergherrn in die Gemeinde gekommen war, von der selbstlosen und aufreibenden Arbeit, durch welche er die Gruben in die Höhe gebracht, von dem treuen Gehorsam der Bergleute, von der Zufriedenheit und dem Glück im kleinen Besitz, den sie ihm verdankten.
Als die Predigt zu Ende war, sagte der Landrat leise zu Angelika: »Sie können stolz sein auf Ihre Eltern.« Sie erwiderte nichts.
Nun wurde noch das Schlußlied gesungen, dann erhoben sich die Herrschaften und gingen grüßend als die Ersten aus der Kirche, ihnen folgten die andern. Die Frauen eilten voraus, um in ihre Küche zu kommen, die Männer folgten langsam, sich über allerlei beredend, über die Ferkelpreise, über die neuen Mutungen im Staatsforst, über den Krieg in Afrika, über die Predigt, und daß der Pastor bei Herrn Steinbeißer zu Mittag geladen war, wo es gewiß Sekt geben werde wegen der Verlobung.
Um ein Uhr war der festliche Aufzug. Die Männer hatten sich am untern Ende des Tales bei den letzten Häusern gesammelt und traten nun zum Zuge an. Voran ging die Bergmusikkapelle, welche die alten Märsche blies; in dem Zwischenraum zwischen den Musikern und dem eigentlichen Zug sprang, wie das seit undenklichen Zeiten Sitte war, der Bajazzo in buntscheckiger Tracht und mit der Pritsche in der Hand, welcher den Frauen und Mädchen, die am Straßenrande standen, Witze zurief, einmal ein altes Mütterchen erschreckte, indem er ihr mit der Pritsche auf die Schulter schlug, ein andermal ein hübsches Mädchen küßte, das sich lachend sträubte, dann einen schreienden Jungen aufgriff, übers Knie legte und auf strammgezogenen Hosen mit seiner Pritsche verprügelte; dann schritten in gleichmäßigem Tritt hinter der schwarzen Fahne, welche in Gold gestickt Schlägel und Eisen trug, die düstern Reihen der Bergleute in ihren schwarzen Kitteln, dunkelgrünen Schachthüten und blitzenden gewichsten Hinterledern; zuweilen nickte ein Mann freundlich seiner Frau zu, die mit den Kindern am Straßenrande stand, oder ein Bräutigam seiner Braut. Als die Kapelle das alte Bergmannslied anstimmte, fielen die Hunderte von Männerstimmen ein:
Wohlauf, ihr Bergleut jung und alt, Seid frisch und wohlgemut; Erhebet eure Hände bald, Es wird noch werden gut. Gott hat uns all'n die Gnad gegeben, Daß wir vom edlen Bergwerk leben, So ruft mit uns der ganze Hauf: Glückauf, Glückauf, Glückauf!
Da war der Zug auch schon vor dem Hause des Bergherrn angekommen. Alle ordneten sich, Herr Steinbeißer trat auf die Freitreppe, seine Angehörigen mit dem Landrat standen hinter ihm, er dankte allen mit wenigen kurzen Worten und sagte ihnen, daß im Wald bei dem Förderschacht die Tanzbühne und das Bierzelt aufgeschlagen seien. Alle riefen hoch und nahmen die Hüte ab, Herr Steinbeißer machte eine kurze Handbewegung und ging mit den Seinen ins Haus zurück. Inzwischen waren auch die Frauen und Kinder gekommen, es fand sich alles nach der Zusammengehörigkeit, und in kleinen Abteilungen zog die Menschenmasse durch den Wald nach dem Festplatz.
Auf der Halde vor dem Förderschacht war aus Brettern das lange Zelt aufgeschlagen; im Innern gingen an den beiden Wänden zwei Reihen Bänke entlang und zwischen diesen auf eingerammten Pfählen die langen Tische; das obere Ende des Zeltes war für die Herrschaften bestimmt; da standen Rohrstühle und ein polierter Tisch mit weiß-rot gewirkter Decke. Die Wände waren mit Fichtenhecke beschlagen, der Fußboden mit trockenen Fichtennadeln bestreut. Hier reihten sich nun auf den Bänken die Familien und Freunde; bei den diensteifrigen Kellnern wurde Kaffee bestellt, mitgebrachte Päckchen wurden geöffnet, denen der frische Kuchen entnommen wurde; auf großen Brettern, welche die Kellner auf dem Kopf trugen, kamen die schweren gefüllten Kaffeekannen, die getürmten Tassen, die gefüllten Milchtöpfe; die Frauen verteilten klappernd die Tassen und gossen ein; der Kuchen wurde gegessen und gerühmt, befreundete Familien boten eine der andern Kuchenstreifen an, damit auch der andere schmecke, wie das Gebäck geraten war; nach dem ersten Ansturm zogen die Frauen ihre Strickzeuge hervor und strickten, sich eifrig unterhaltend über das Aussehen von Fräulein Angelika, den Landrat, die Milcherträge ihrer Ziegen; Kinder bettelten um mehr Kuchen, es wurde ihnen der Mund und die Finger abgewischt, sie krochen unter die Tische und Bänke und spielten Verstecken und Haschen; ältere Jungen tollten draußen, jagten sich am Haldenabhang zwischen den rollenden Steinen, suchten in den Gaipel zu dringen, beschlossen die Masten zu erklettern, welche das Förderseil leiteten; die Mädchen gingen in langen Reihen nebeneinander, untergefaßt, singend, sich durch Kichern, Tuscheln unter Zusammenstecken der Köpfe unterbrechend.
Der Tanzboden war dem Bierzelt gegenüber auf der anderen Seite der Halde errichtet; man hatte feste Pfosten in die Erde gerammt, Balken auf sie gelegt und auf diese die Bohlen. In der Mitte erhöht befand sich das Gerüst für die Musiker, und das Ganze war mit Brettern umgeben; dieser Zaun, sowie das Gerüst für die Musiker, waren festlich mit Fichtenhecke beschlagen, gleich dem Innern des Bierzeltes; an den Ecken ragten hohe Masten mit bunten Wimpeln auf.
Die jungen Burschen standen vor dem Tanzboden, besprachen die Stärke der Bohlen, das Gerüst, die Größe der ganzen Anlage, es rief wohl einmal einer den Mädchen zu: kommt her; sie antworteten: kommt ihr doch, dann lachten beide Teile.
Der Bergherr kam mit seinen Angehörigen und ging mit ihnen grüßend in das Zelt; die Mädchen tuschelten und bewunderten die Kleider der Damen, die Burschen waren still und verlegen; im Zelt erhob sich alles, Herr Steinbeißer winkte ab; die Kellner rückten der Familie schnell und sorgfältig die Stühle zurecht, nahmen Hüte und Röcke der Herren, es wurde eine Flasche Wein gebracht; Herr Steinbeißer sprach mit einem alten Mann, der in seiner Nähe saß, aber es war, als sei alle Heiterkeit in der Versammlung nun plötzlich erloschen. Vielleicht sagte leise ein Mann zum andern: »Das Geld allein macht doch auch nicht glücklich.«
Draußen begann die Musik zum Tanz zu spielen; der Obersteiger führte Frau Steinbeißer, Herr Steinbeißer führte die Frau des Obersteigers, der Landrat ging mit Angelika, dann folgten andere, Junge und Alte, langsam und ungeschickt entwickelte sich die Polonäse in der dichten Menge; am Schluß brachte Herr Steinbeißer seine Dame zu ihrer Stelle zurück, wo sie zwischen den übrigen Beamtenfamilien saß; seine Angehörigen fanden sich zu ihm; erst als die Herrschaften den Festplatz verlassen hatten, entwickelte sich wieder die Fröhlichkeit.
Der Landrat ging mit Angelika allein. »Ich wußte, daß Sie mir etwas sagen wollten,« erklärte sie ihm offen, »deshalb habe ich es eingerichtet, daß uns niemand stört. Aber nun sprechen Sie, sprechen Sie.«
»Wie kann ich zu Ihnen sprechen, wenn Sie mich in einem solchen Tone auffordern,« erwiderte er.
Sie zuckte die Schultern, und die beiden schritten eine Weile stumm nebeneinander.
Endlich begann der Landrat mit stockender Stimme: »Vielleicht muß ich mich vor einem Verdacht rechtfertigen. Sie haben einmal ein Millionenvermögen zu erwarten, und ich bin ein armer Teufel ...«
Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: »Es ist doch ein Zufall, daß in unserem Boden die Reichtümer gefunden sind ... Sie sehen doch, wie einfach die Eltern leben ... sie betrachten die Millionen nicht als ihr Eigentum.«
Er fuhr fort: »Ich kann nicht anders sprechen. Ich wünsche mir ein Haus und Sie als Gattin; Kinder, und Sie als Mutter. Ich will meine Frau liebhaben, meine Kinder erziehen, wie ich es vermag, daß sie einmal tüchtige Menschen werden, und meine Kraft will ich nach Möglichkeit so anwenden, daß ich den Leuten nütze.«
Sie wendete das Gesicht ab und nahm das Taschentuch vor ihr Gesicht. »Sie weinen!« rief er aus und ergriff ihre freie Hand; »lassen Sie mich, um Gottes willen, lassen Sie mich; ich darf nicht!« erwiderte sie und entzog ihm die Hand mit einer hastigen Bewegung.
Eine Weile gingen sie wieder stumm nebeneinander. Sie sprach: »Meine Eltern billigen ja Ihre Werbung und denken sich, daß wir miteinander sprechen werden. Es macht nichts, wenn wir auch etwas später nach Hause kommen.« Damit führte sie ihn auf einen Seitenweg, der den Berg hinaufging. Schon stand die Sonne tief, ein roter Schein leuchtete durch die Buchenstämme. Der Weg führte zu einer verlassenen Eisensteingrube. In einem alten Schuppen, den sie sich für ihre rohen Bedürfnisse eingerichtet, wohnten hier zwei Männer, über die wir jetzt Näheres sagen müssen.
Ein Gutstagelöhner namens Maurer hatte ungefähr um die Zeit geheiratet, wo Kurt Steinbeißer, der Bruder des jetzigen Herrn, ermordet war. Der Mann war früher heiter, arbeitsam, mäßig und ordentlich gewesen; dann waren aber in der jungen Ehe schnell aufeinander viele Kinder gekommen, er begann zu trinken; es wurde erzählt, daß er seine Frau schlage und die Kinder mißhandle; als die Frau das achte Kind bekommen sollte, hatte er lange in der Dorfwirtschaft gesessen unter allerhand wirren Reden vom Gewissenswurm, daß ein armer Mann seine Frau so gut für sich allein haben wolle wie ein reicher, daß er seinen Kindern keine Schuhe zu kaufen vermöge, früher seien alle Kinder barfuß gelaufen, daß er nicht mehr könne, wie sich abschinden den Tag über bis er umfalle; dann war er betrunken nach Hause gestolpert, hier hatte er die Hebamme gefunden, die Frau im Bett und neben ihr ein Neugeborenes; die Kinder hatten sich unter dem Tisch, dem Bett und den Stühlen verkrochen, die Hebamme war ihm entgegengetreten, die Arme in die Hüften gestemmt, um ihm Vorwürfe zu machen, er aber hatte sie beiseite geschoben, war zum Bett getreten, und wie er das kleine Wesen neben seiner Frau erblickt, hatte er es aus dem Bett gerissen, an den Füßen gepackt und mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert.
Er wurde zu längerem Gefängnis verurteilt; als er seine Strafe abgebüßt, kam er nach Miltenberg zurück, aber er ging nicht zu seiner Familie, sondern zog in den Wald, in den verlassenen Schuppen; man ließ ihn dort, und er ernährte sich, so gut es ging, durch allerhand verachtete Arbeiten, wie das Abfangen der Mäuse und Maulwürfe und das Abdecken und Einscharren des gestürzten Viehs. Das Trinken hatte er aufgegeben. Nach einiger Zelt zog ein anderer Mensch zu ihm, ein harmloser Narr namens Bötticher; dieser war während seiner Dienstzeit in den Verdacht geraten, daß er in der Kaserne einem Kameraden den Kasten aufgebrochen und Geld gestohlen; man hatte ihn zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt, er kam geistig gestört nach Miltenberg zurück und wurde hier von den Kindern verfolgt, die ihm nachriefen: »Du hast gestohlen, Bötticher«, worauf er denn sich umdrehte, die Hand aufs Herz legte und sagte: »Ich habe nicht gestohlen, bei Gott, ich habe nicht gestohlen«; dann ging er, indessen die Kinder ihn schreiend verfolgten, schwankend und mit den Armen fuchtelnd durch die Straßen, indem er immer vor sich hin beteuerte: »Ich habe nicht gestohlen, die Herren haben mir unrecht getan, sie haben ein himmelschreiendes Unrecht an mir getan.« Dieser Bötticher zog nach kurzer Zeit mit dem finstern und verschlossenen Maurer zusammen; er verdiente einiges durch Schnitzen von Holzlöffeln, Quirlen, Schinkenbrettern und ähnlichem Gerät, und in der gemeinsamen Wirtschaft, welche er mit dem anderen führte, besorgte er den Haushalt.
Zu diesen beiden Männern führte Angelika den Landrat. Sie fanden sie, indem Bötticher, auf einem Baumstumpf sitzend, eine alte Ziehharmonika spielte, während Maurer, vor ihm auf dem Bauche liegend und finster ins Gras starrend, still zuhörte. Wie die Herrschaften kamen, standen sie auf; Maurer grüßte verdrossen und Bötticher schwenkte mit einer Art Begeisterung sein zerrissenes Hütchen, indem er schrie: »Ich habe es nicht gestohlen, Bötticher zwei ist ein ehrlicher Mann, Bötticher zwei hat es nicht gestohlen.«
Maurer sagte stumpf: »Ich soll wohl vor dem Herrn Landrat mein Geständnis wiederholen. Meinetwegen, dann bin ich es los. Aber es hilft ja auch nichts. Es bleibt ja doch so.«
Der Landrat sah verwundert auf seine schweigende Begleiterin. Diese setzte sich auf den Baumstumpf, den der Irrsinnige verlassen, barg ihr Gesicht in beide Hände, und Tränen liefen zwischen ihren Fingern durch über den Handrücken. Der Irre war in den Schuppen gelaufen und brachte einen Stuhl; er wischte ihn beständig mit dem zerlumpten Rockschoß ab und bot ihn dem Landrat, indem er rief: »Herr Landrat, Herr Landrat, es kommt an den Tag, es kommt an den Tag,« dabei liefen auch ihm die Tränen aus den Augen. Maurer schrie ihn an: »Schweig, deinetwegen ist er nicht gekommen, meinetwegen ist er gekommen.« Dann sagte er zu dem Landrat: »Aber ich kann ja auch gleich mitgehen, wenn der Herr Landrat es verlangen; ich brauche nicht gefesselt zu werden, ich gehe von selber mit.«
Angelika rang die Hände und flehte ihn an: »Um Himmels willen, gesteht es, Maurer, Ihr habt zweimal geschossen. Wenn Ihr das andere gestanden habt, dann könnt Ihr das doch auch gestehen.« Störrisch erwiderte der Mann: »Nicht mehr wie recht ist, einmal habe ich geschossen.« »Nun, so helfe mir Gott,« rief verzweifelt Angelika und stürzte fort; der Landrat eilte hinter ihr her, er schrie in seiner Angst: »Sie fallen, Sie fallen über die Baumwurzeln, es wird schon dunkel im Wald.« Sie lief über die Lichtung zurück, den Weg hinab; wie sie ein paar Schritte tief im Walde war, stürzte sie wirklich; der Landrat war schon bei ihr, er suchte sie zu erheben, der Fuß war ihr gebrochen. Er wollte sie tragen; verzweifelt stemmte sie ihre Arme gegen seine Brust und flehte ihn an, sie niederzulegen und Träger zu holen. Er mußte ihr gehorchen; aus zusammengerollten Blättern vom vorigen Jahre machte er ein Lager, breitete seinen Sommerüberzieher darüber und verließ sie, eilig nach unten gehend. Die Tanzmusik vom Bergfest klang ihm entgegen; er wendete sich rechts, in einem dunklen Trieb, daß die Leute auf dem Fest nichts erfahren sollten; da lag unter ihm schon das Haus, Angelikas Eltern traten gerade in die Tür, mit fliegenden Worten berichtete er das Geschehene. Auf dem Bahnhof wurde eine Tragbahre aufbewahrt; man nahm zwei Streckenarbeiter mit, kehrte zu Angelika zurück und brachte sie ins Haus.
Sie wollte den Landrat nicht mehr sehen, sie ließ ihn bitten, daß er sie lassen möge. Mit bekümmertem Herzen nahm er Abschied von den Eltern. Herr Steinbeißer sah ihm scharf in die Augen und fragte nach ihren Gesprächen; er antwortete stockend und in wunderlicher Weise befangen, daß er nichts verstanden habe von dem, was sie gesagt. »Sie sind bei Maurer mit ihr gewesen?« fragte Steinbeißer, und wie der Landrat bejahte, da fuhr er mit stillem und gequältem Lächeln fort: »So ist denn immer noch nicht genug geopfert.«
Der Landrat ging. Unterwegs auf der Landstraße traf er gehende und kommende Bergmannsfamilien; es war um die Abendbrotzeit, viele waren nach Hause gegangen, um zu essen, und kehrten nun zurück zum Festplatz, viele gingen erst jetzt. Alle begrüßten ihn freundlich, traulich erklang von den Männern das Glückauf; als er über die Brücke schritt zum Dorf, wo er im Wirtshaus seinen Wagen gelassen, lief flügelschlagend eine verspätete Gans vor ihm her; aus einigen Schornsteinen kräuselte sich leiser Rauch in die stille Luft.
»Ist es denn immer so, daß der Reichtum die Leute elend macht?« sagte er unbewußt halblaut vor sich hin; er wunderte sich über seine Stimme.
Sein Kutscher hatte ihn gesehen und ging über den Hof zu den Pferden; der alte Mann war ihm vertraut, er hatte gedacht, daß heute die Verlobung sein müsse; so schaute er denn mit schlauem und vergnügtem Gesichtsausdruck zu ihm hin; als er aber die schwermütige Miene seines Herrn sah, da blickte er gleich fort zur Stalltür und pfiff scheinbar unbeteiligt ein Liedchen.
Am andern Morgen kam Maurer auf das Amtszimmer des Landrates, stand vor dem langen aktenbelegten Tisch und erzählte, seine Mütze in der Hand drehend.
Er sagte, nun sei alles über neunzehn Jahre her, und es sei ihm ganz recht, daß er nun gestehen müsse.
Der Gerichtsschreiber war in das Zimmer geholt und saß an der Ecke des Tisches; Maurer wußte selber, wo der Gerichtsschreiber aufnehmen mußte, sprach dann langsam und machte Pausen, damit der Mann nachkommen konnte.
Er begann damit, daß seine Eltern ordentliche Leute gewesen seien; er habe sich als Junge abends nicht herumtreiben dürfen, und wie er schon ein Bursche von zwanzig Jahren gewesen, da habe ihm sein Vater den letzten Schlag gegeben. Dann sei er mit seiner späteren Frau gegangen, mit dem Einverständnis seiner Eltern, weil sie gleichfalls von ordentlichen Leuten abstammte. Dann hätten ihn die anderen mit einem Male gehänselt; vom Kohlberg her habe einmal ein Kuckuck geschrien, da habe einer lachend zu ihm gesagt: »Da schreit der Kuckuck, der meint dich.« Ein anderer habe ihm zugerufen, wenn er heirate, so werde er ja wohl bald Hofmeister werden, ein anderer habe gestichelt, eine Kuh werde ihm der Herr doch wohl zur Hochzeit schenken; »aber eine kalbende«, habe ein anderer dazwischen geschrien, dann haben sie alle gelacht.
Nun habe er alles seinem Vater erzählt und vor ihm geweint und gesprochen: »Ich sage den Kauf ab,« sein Vater aber sei zornig geworden und habe geantwortet, wenn er das erste Wort gesagt, so müsse er das zweite auch sagen; denn sein Vater habe nichts geglaubt von dem Gerede, weil sich keiner getraut, ihm mit so etwas zu kommen. Da sei es ihm gewesen, als wenn inwendig in ihm ein Riegel zurückgestoßen sei. Er habe wohl immer Lust zum Wildern gehabt, aber er habe gewußt, daß das verboten ist; nun aber habe er sich gefragt: »Was ist denn verboten?« Da sei er einmal geschickt, mit im Gutshaus zu helfen, weil das Dach ausgebessert werden mußte, da habe er in den Dachstuben ausräumen müssen. Unter dem alten Gerümpel habe er ein Gewehr gefunden, einen Doppelläufer, das dort vergessen war, es war noch ein gutes Gewehr, nur sehr verrostet. Er habe es auseinandergeschraubt, in ein Paket gewickelt und aus dem Fenster geworfen in die Brennesseln, die da hinten am Hause standen; dann habe er sich Pulver und Blei gekauft und sei losgegangen. Und wenn das einen erst mal hat, so läßt es ihn nicht wieder.
Einmal sei er dem Herrn begegnet, der gleichfalls das Gewehr bei sich gehabt habe. Zuerst sei er erschrocken gewesen und habe das Gewehr fortwerfen und weglaufen wollen; aber da habe der Herr geschrien und auf ihn angelegt; und indem sei ihm der Gedanke gekommen: »Ich bin auch ein Mensch wie du, ich will meine Frau auch allein haben«; da habe er auch schon losgedrückt, ob er gezielt, das wisse er nicht, der Herr aber sei vornüber gestürzt, habe mit den Füßen gezappelt und mit den Händen im Moos gekratzt. Das sei ein so grausiger Anblick gewesen, besonders die Füße, denn er habe an ein Schwein denken müssen, das geschlachtet wird, dies aber war ein Mensch. Da habe er sein Gewehr fortgeworfen und sei gelaufen, bis er nicht mehr gekonnt und in einen Schlehdorn gestürzt sei, der ihn ganz zerkratzt habe.
Ja, und nun, fuhr der Mann fort, habe man den Herrn nachher tot gefunden, aber er habe noch einen zweiten Schuß gehabt, und das Gewehr habe man auch bei ihm gefunden, das er fortgeworfen, aber auch der zweite Lauf sei abgeschossen gewesen. Aber er wisse genau, daß er nur einmal geschossen habe.
Der Landrat fragte, um die Antwort in das Protokoll setzen zu lassen, aus welchem Grunde er sich jetzt angebe, ob er Reue fühle. Maurer antwortete, ihm sei alles nun gleich, weshalb solle er wohl Reue haben? Sein Leben sei verspielt, ein Hund lebe ja besser. Das Trinken habe er nur angefangen, weil ihm alles gleich gewesen sei. Und dann habe seine Frau jedes Jahr ein Kind bekommen, und er habe alles verdienen müssen. Er habe nun einmal kein Glück im Leben gehabt.
Der Landrat sprach von Gott und dem göttlichen Gebot; Maurer sagte, ja, der Mord sei verboten, das lerne man schon in der Schule: du sollst nicht morden. Das wisse er wohl. Aber er habe nun einmal kein Glück im Leben gehabt. Mancher halte jetzt ein paar Schweine auf der Mast, der früher für sich selber nicht genug Kartoffeln gehabt habe.
Der Mann stand da, den Blick düster zur Erde gerichtet, die Mütze in der Hand drehend.
Der Landrat schwieg eine lange Weile; er dachte: »Mein Gott, ich bin ja schuld an dem Mann! – Wie? Ich habe ihn bis gestern nicht gesehen, ich kenne ihn ja nicht. – Mein Gott, ich bin schuld an dem Mann.«
Der Mann wurde abgeführt. Der Gerichtsschreiber packte seine Schreibereien zusammen; wie er aus dem Zimmer ging, sprach er, um etwas zu sagen: »Das Gewissen läßt den Verbrecher doch nicht ruhen.« Dieser Gerichtsschreiber war ein braver Mann, der seinen Sohn aufs Gymnasium schickte und ihm jeden Sonntag eine lange Ermahnungsrede hielt des Inhalts, daß er es einmal weiter bringen könne wie er, der Vater, und einmal Landrat werden könne. »Dieser Mensch ist geistig tot,« dachte der Landrat, als er in das gutmütige und leere Gesicht des Mannes blickte.
Wie der Gerichtsschreiber aus dem Zimmer gegangen war, trat der Landrat ans Fenster; im Hof unten führte der Wachtmeister den Mörder in das Gefängnis; der Wachtmeister ging mit Schritten, wie ein früherer Unteroffizier geht; vor ihm, bald zögernd und bald laufend, mit gebücktem Kopf, der Verbrecher. »Auch der Wachtmeister weiß nichts,« dachte der Landrat. Unwillkürlich faltete er die Hände und flüsterte: »Ich danke dir, Gott, daß ich nicht Richter bin, ich könnte ihn nicht richten.« Dann lächelte er; er mußte an das Geschwätz des Pastors gestern denken. »Ja, wie denn? Wie kann ich denn zu Gott beten?« fiel ihm plötzlich ein. Er war nicht offen ungläubig, weil man in seiner Stellung das doch nicht zu sein pflegt; er hatte aber eigentlich nie daran gedacht, was das ist: Gott und Glaube, außer als ganz junger Student, wo er alle Religion verneint hatte. Und nun dachte er weiter daran, daß es ja doch eins war, ob er nun als Richter den Mann richten mußte oder nicht: es war ein Unrecht, daß er selber im Stuhl saß und geehrt wurde, und der Mann stand vor ihm und war ein Verbrecher: das war ein Unrecht.
Plötzlich fiel ihm furchtbar auf das Herz der Gedanke: der Ermordete war ja Angelikas rechter Vater. Aber nicht das war der Zusammenhang zwischen Angelika und dem Morde; es war da noch etwas anderes, etwas Geheimnisvolles.
Er ließ anspannen, um am Nachmittag zu Herrn Steinbeißer zu fahren.
Wie er hinter dem alten Kutscher saß, da fiel ihm ein: was wußte er eigentlich von diesem Mann? Der kannte ihn, als er noch Junge war; er war schon bei seinem Vater gewesen; plötzlich erinnerte er sich, wie oft er als Kind in den Stall gelaufen, sich von Franz hatte Geschichten erzählen lassen, sein Vesperbrot geteilt, wie er dann selber sein Vesperbrot gegessen hatte wie Franz, mit dem Messer langsam Stücke abschneidend und in den Mund schiebend. Franz mußte doch wohl eine Art väterliche Liebe zu ihm haben; aber er hatte nie anders an ihn gedacht, wie an den Kutscher, der nun eben da war und nun anfing, nicht mehr ganz rüstig zu sein. Welches Recht hatte er eigentlich auf diesen Menschen? Und weshalb war Franz denn nicht ein Maurer?
Er fragte ihn nach dem Verbrecher. Franz schüttelte bedächtig den Kopf und sagte dann: »Ja, wenn der Mensch die Direktion verliert, das ist schlimm.«
Das also war die Auffassung von Franz: wenn der Mensch die Direktion verliert. Ob das nicht vielleicht die richtige Auffassung war? Denn war es nicht möglich, daß er selber, der Mann, welcher noch eben im Stuhl gesessen, einmal ebenso dastehen konnte vor seinem Richter? Und war das vielleicht der Grund des Gefühls »Ich bin schuld an dem Mann«?
Er wurde in Herrn Steinbeißers Arbeitszimmer geführt. Das war ein großer kahler Raum mit Aktenständern an den Wänden, einem großen Tisch für das Ausbreiten der Zeichnungen, einem kahlen Schreibtisch und drei Stühlen; alle Möbel waren aus gewöhnlichem weichen Holz, unpoliert, durch den langen Gebrauch gebräunt und geglättet. Im Hintergrund, hinter einem Vorhang, sah man das Ende eines gewöhnlichen eisernen Feldbetts, wie man es oft für Dienstboten hat. In diesem Raum verbrachte Herr Steinbeißer sein Leben; er verließ ihn nur für die beiden Hauptmahlzeiten und wenn er draußen auf den Gruben etwas zu besorgen hatte.
Herr Steinbeißer ging seinem Besuch mit schnellen Schritten entgegen, reichte ihm mit rascher Bewegung die Hand, zog sie dann aber plötzlich scheu wieder zurück; diese Art schien charakteristisch für ihn zu sein. »Auch er trägt den Kopf beständig gesenkt,« dachte der Landrat.
Herr Steinbeißer sagte ihm, er wisse, daß er komme, um von Maurer zu berichten. »Haben Sie denn gewußt, daß er der Mörder Ihres Bruders war?« fragte ihn unwillkürlich der Landrat; Herr Steinbeißer nickte schweigend und sagte nach einer Weile: »Nun, wenn er selber das Bedürfnis hat, sich anzuzeigen, so mag er; ich habe wohl eine andere Meinung über die irdische Gerechtigkeit wie Sie.« Er schwieg wieder eine Weile und schloß dann mit den seltsamen Worten: »Mag denn nun alles seinen Lauf gehen.«
Der Landrat erzählte, daß der Verbrecher darauf bestehe, nur einmal geschossen zu haben, und den zweiten Schuß abstreite; ihm schien das psychologisch merkwürdig zu sein, daß er alles gestand, und sogar freiwillig, und dann den einen Punkt gerade ableugnete. »Ja, psychologisch,« erwiderte Herr Steinbeißer mit schwermütigem Lächeln.
Dann erzählte Herr Steinbeißer von dem ermordeten Bruder. Er sagte, daß er selber ihn damals wohl nicht richtig verstanden habe, er selber sei zu jener Zeit ein Puritaner gewesen, eine Art Asket – der Landrat sah sich im Zimmer um, und er fügte lächelnd hinzu: »Ja, in gewissem Sinne bin ich es noch,« – sein Bruder aber sei der heiterste, sonnigste Mensch gewesen, den er je gekannt, alle hätten ihn geliebt – »mich liebt keiner,« fügte er hinzu, und seine Lippen bebten einen kurzen Augenblick –; trotzdem er eine ganz egoistische Natur gewesen sei – »oder vielleicht war er nur sorglos? Ich war nie sorglos« – unterbrach sich der Erzähler. »Kurz, er war ein Lumpenhund, der seine Frau betrog, der kein Weib in Ruhe lassen konnte, ein Spieler, ein Trinker ...« schloß er plötzlich, ohne Grund in heftige Erregung verfallend, und ein alter Haß leuchtete in seinen Augen auf.
Maurers Verlobte war damals Stubenmädchen im Gutshaus gewesen. Das skandalöse Verhältnis war im ganzen Dorf bekannt; das Mädchen weinte viel. Frau Steinbeißer hatte von nichts gewußt; aber als sie nach der Geburt Angelikas lag, merkte sie an dem Mädchen eine auffällige Erregung; sie fragte nach, erhielt keine Antwort, irgendwie kam ihr ein Verdacht, fieberhaft drang sie in das Mädchen ein, da sagte die: »Mein Kind kann ich nicht einmal auf Stroh legen, wenn es kommt, und dieses Kind hat zwei Menschen zur Bedienung.« »Nun, wie so Leute sind,« schloß Herr Steinbeißer.
Der Gatte kam zurück; kniete am Bett, küßte seiner Frau die Hand und weinte; sie weinte gleichfalls; er versprach ihr Besserung, »wie ein großer Junge«, da lächelte sie, er küßte sie und sie sprach: »Ach, ich bin schwach dir gegenüber.« »Alle waren schwach ihm gegenüber,« schloß Herr Steinbeißer.
Maurer hatte nicht erzählt, daß der Herr ihn gern hatte, daß er selber am Herrn hing. Einen Abend, er wußte schon alles, kam der Herr nicht nach Hause; es hatte Frühschnee gegeben und der Herr war auf die Jagd gegangen. Gegen elf nimmt Maurer den Hund und geht in den Wald; er findet den Herrn, wie er abgestürzt ist in eine verlassene Eisensteingrube, in der unten sich Wasser gesammelt hatte, so daß er bis über die Brust im Wasser stand. Wenn Maurer nicht gekommen wäre, so war er verloren.
»Weshalb hat ihn denn der Mann gerettet, er wußte doch, was er ihm zugefügt hatte!« sprach Herr Steinbeißer fast für sich. »Ich begreife nicht, welche Macht er über die Menschen ausübte! Noch jetzt sprechen die Leute von ihm, und er hat nichts für sie getan, mir aber verdanken sie alles! Es ist merkwürdig, sehr merkwürdig.«
Der schweigsame Mann sprach außergewöhnlich viel; der Landrat, welcher gern eine Aufklärung über Angelikas sonderbares Verhalten gehabt hätte, fragte ihn nach der Familie Maurers.
Herr Steinbeißer hatte für die Frau und die Kinder gesorgt, in seiner Art, indem er ihnen behilflich war, sich selber in die Höhe zu bringen. Einige der Kinder waren frühzeitig gestorben, vier waren noch am Leben, es waren vier Töchter. Herr Steinbeißer hatte ihnen die Bergschenke in Pacht gegeben, und die Mutter mit den Töchtern besorgte die Wirtschaft fleißig und ordentlich. Der Landrat erinnerte sich, er war selber in der Schenke gewesen und dachte gern an die friedlichen und stillen Frauen zurück.
»Aber Sie wollen wegen Angelika fragen?« sagte plötzlich unvermutet Steinbeißer. Der Landrat wurde rot und versuchte stotternd einen Scherz zu machen über den seelischen Scharfblick des anderen. Dieser sah ihn traurig an und erwiderte: »Ein Mensch in meiner Lage bekommt schon Scharfblick.« Der Landrat erschrak über den Ton dieser Worte, es wurde ihm klar, daß er vorhin schon einmal erschrocken war – als er eintrat und den gebückten Kopf Steinbeißers gesehen hatte.
»Angelika ist ein sehr stolzes Mädchen,« sagte der alte Herr; »ich glaube, daß sie Sie schätzt. Von mir wissen Sie, daß ich Sie gern als meinen Nachfolger hier sähe; Sie haben davon gehört, daß ich auf meinen Stiefsohn nicht rechnen kann.« Als er von dem Stiefsohn sprach, kam wieder ein merkwürdiger Haß zum Vorschein.