Sacro Monte - Walter Henninger - E-Book

Sacro Monte E-Book

Walter Henninger

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Beschreibung

Der Sacro Monte ist ein mystischer Klosterberg am abgelegenen Lago di Orta im norditalienischen Piemont, auf dem zwanzig Kapellen voller Fresken und lebensgroßen Terrakottafiguren den Lebensweg des Heiligen Franz von Assisi darstellen. Bruder Lorenzo will hier wieder den Weg zur Wahrheit finden. Dies gestaltet sich schwierig, denn in Wirklichkeit heißt er Hans Adler, war deutscher Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg und Stabsoffizier im faschistischen Italien. Durch einen Raubmord gelangt er an ein großes Vermögen, das er als Bettelmönch verkleidet in den Bergen des Trient und der Lombardei in die Nachkriegszeit retten will. Die Liebesaffäre mit einer Soldatenhure macht jedoch alle seine Träume zunichte.

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Inhalt

Kapitel 1

Das Mönchlein hat den Kopf verloren. Die Kapelle der Demut gibt ein Rätsel auf, das niemand lösen kann.

Kapitel 2

Der angekündigte Besuch des Generalfeldmarschalls bringt einen Oberleutnant in Bedrängnis und gibt seinem Leben eine neue Richtung.

Kapitel 3

Der Oberleutnant macht sich aus dem Staub.

Kapitel 4

Rückblicke: Elisabeth. Wie die Eltern zueinander fanden.

Kapitel 5

Der junge Hans.

Kapitel 6

Katharina. Wie der junge Hans zum Fliegen kam und sich mit seinen Eltern entzweite.

Kapitel 7

Der Offizier wird zum Höhlenmensch und zum Mönch. In Lebensgefahr sucht er nach einem Gott.

Kapitel 8

Der Mönch muss seine Reisepläne ändern und wird zum Aushilfspriester.

Kapitel 9

Der Mönch erlebt ein Massaker und muss fliehen. Auf Sacro Monte findet er eine neue Zuflucht.

Kapitel 10

Sophia erfährt vom Tod ihres Ehemannes und blickt zurück auf ihre gemeinsame Zeit. Zwei Hochzeiten auf der Burg.

Kapitel 11

Die Gemeinschaft der Mönche. Bruder Lorenzo schickt Lebenszeichen.

Kapitel 12

Die zwiespältige Wiederbelebung der Albergo Orta. Wie Giuliano, Maria und Filipe dazu beitrugen.

Kapitel 13

Der Heilige spricht.

Kapitel 14

Die ungewöhnliche Weihnacht auf Burg Stein. Wie der Graf sich gegen seine Feinde zur Wehr setzt.

Kapitel 15

Tag der Befreiung. Maria und der Mönch.

Kapitel 16

Das Ende der Träume.

Kapitel 17

Thomas versucht, die Geschichte seines Großvaters zu ergründen und tappt in eine Falle.

Kapitel 18

Giulio, Maria und das Leben in der Kapelle.

Epilog

„Wir haben das Leben nicht im Griff.

Es hat uns im Griff.

Und wir können uns glücklich schätzen,

wenn unser Leben es gut mit uns meint.“

C. Lücke, Arzt

Kapitel 1

Das Mönchlein hat den Kopf verloren. Die Kapelle der Demut gibt ein Rätsel auf, das niemand lösen kann.

Aus der Luke im Portal der Kapelle kam ein Mann gekrochen. Auf Knien kramte er in seinem mächtigen Schlüsselbund, der wie Blei an der Kordel seiner Mönchskutte hing, um mit einem mittelalterlichen Schlüssel diese Luke abzuschließen.

Es kostete Pater Augustinus einige Mühe, seinen schweren Körper aufzurichten. Danach atmete er einmal bis in die Tiefen seiner Lungen durch und wandte seinen Blick nach Westen, wo sich die tiefstehende Frühlingssonne ihren Weg durch die hellen Blätter der alten Lindenallee bahnte, bevor sie sich hinter den mächtigen Bergrücken der Schweizer Alpen zur Nacht verabschiedete.

Augustinus verharrte einen Moment und lauschte den sechs Glockenschlägen aus dem Turm der Klosterkirche, die das Ende seines Arbeitstages verkündeten.

Doch es gab noch einen siebten Schlag. Dumpf und nur in der abendlichen Stille vernehmbar. Er kam aus dem Inneren der Kapelle und störte das Wohlbefinden des Mönches auf empfindliche Weise. Sollte er wieder umdrehen und nach der Ursache sehen? Eine Weile blieb er unschlüssig, dann beschloss er, dass er die ganze Mühe nicht noch einmal auf sich nehmen wollte, die Luke aufzuschließen, hineinzukriechen und das Portal von innen zu öffnen und dass es noch bis zum nächsten Morgen Zeit hatte, wenn er die Kapellen des Sacro Monte wieder für den Besuch der Gläubigen öffnete.

Gemessenen Schrittes machte er sich auf den Weg. An den Linden bog er ab in Richtung Kirche, entlang der halbhohen Mauer, die das Klosterareal zum Berghang hin abgrenzte, die leicht ansteigende Treppe zur Terrasse hinauf. Oben angelangt, blickte er ein letztes Mal auf den See hinunter, auf die Insel San Giulio, auf das Panorama der Bergwelt in der Ferne.

Er vernahm das Treiben der Stadt am Fuß des Berges, das Rattern von Autoreifen auf dem Kopfsteinpflaster, Kindergeschrei, Musik aus Lautsprechern auf dem großen Platz, bevor er sich durch eine kleine Seitentür ins Innere der Klosterwelt zurückzog.

Die XIII, die Kapelle der Demut, war von Anfang an Augustinus Lieblingskapelle, seit er vor vielen Jahren die Aufgabe der Oberaufsicht über alle 20 Kapellen des Berges übertragen bekommen hatte. Sie stellt das Gerichtsverfahren dar, das der wohlhabende Tuchhändler Pietro Bernardone gegen seinen eigenen Sohn Giovanni Battista, auch Francesco genannt, führte. Obwohl es um eine private Angelegenheit ging, fand der Prozess in aller Öffentlichkeit auf dem Domplatz von Assisi statt. Der Sohn hatte immer wieder gegen den Willen seines Vaters Geld und Waren aus dem Geschäft entnommen, um kleine Kirchen zu restaurieren und um die Armen der Stadt zu unterstützen. Sein Vater hatte nun genug von diesem geschäftsschädigenden Verhalten und wollte vor aller Augen kundtun, dass mit solchen wohltätigen Gaben in Zukunft nicht mehr zu rechnen sei. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte war, dass auch sein Sohn sich öffentlichkeitswirksam darstellen konnte. Er nutzte diese Bühne, verzichtete in einer flammenden Rede auf sein Erbe und sagte sich von seinem Vater los. Als sichtbares Zeichen seiner Wandlung entkleidete er sich vollständig und ließ sich von seinen Getreuen als Bettelmönch an ein Seil gebunden durch die Stadt ziehen.

Neben diesem spektakulären Ereignis gibt die Kapelle seinen Besuchern ein illustres Bild davon, welche dramatischen Umbrüche sich in den Städten des späten Mittelalters vollzogen und auch, was das Leben in jener Zeit für uns moderne Menschen so fern und doch so nah erscheinen lässt.

Der Gerichtsvorsitzende, Bischof Guido II sah sich konfrontiert mit der freiwilligen Armut und Demut der reinen Lehre des selbsternannten Nachfolgers Jesus Christi.

Weitere kirchliche Würdenträger zeigten sich irritiert und entsetzt von dem Geschehen. Bisher konnten sie sich auf die Autorität ihres Amtes verlassen und waren jeglicher Kritik enthoben. Dieser junge Francesco Bernardore präsentierte eine völlig neue, gegensätzliche Form christlichen Lebens. Damit wurde mit einem Schlag ihre Weltordnung in Frage gestellt und es war noch nicht absehbar, ob und in welchem Maße ihre eigene Stellung dadurch in Gefahr geriet. Erste Anhänger hatte Francesco bereits. Da waren seine Gefolgsleute, die er Brüder nannte. Es waren viele Arme und Gebrechliche erschienen, in Lumpen gehüllt. Einer von ihnen hatte sich vor den Augen Francescos niedergekniet und die Hände zum Gebet erhoben, weil er sich eine wundersame Heilung von ihm erhoffte.

Auch im weltlichen Bereich gerieten die alten Mächte zusehends in Gefahr.

Ritter in glänzenden Rüstungen hoch zu Ross kämpften gegen ihren unaufhaltsamen Bedeutungsverfall. Mit den bescheidenen Einnahmen aus ihren Landgütern waren sie in den Städten gesellschaftlich nicht mehr konkurrenzfähig und mussten sich von den immer wohlhabender werdenden, weltoffenen und weitaus besser gebildeten Kaufleuten den Rang ablaufen lassen. Diese zeigten sich ebenso statusbewusst zu Pferde, kleideten sich ihrem Stand entsprechend in lange, edle Nerzmäntel aus Nowgorod.

Die ganze Stadt war auf den Beinen, wollte sich das Spektakel dieses Gerichtsprozesses nicht entgehen lassen. Frauen in noblen Gewändern flanierten mit ihren fein herausgeputzten Kindern. Weniger noble Damen trugen aus beruflichen Gründen ihre Haut zu Markte. Unerzogene Kinder flüchteten vor streunenden Hunden, die, nachdem sie lange genug gequält worden waren, sich gegen ihre Peiniger zur Wehr setzten. Hinter dicken Säulen ratlose Blicke der Rauf- und Saufkumpane aus der Jugendzeit, die sich die Wandlung Francescos nicht erklären konnten. Aus allen Schichten der Bevölkerung waren sie gekommen, aus Neugier und Eitelkeit, um ihre Abscheu und ihre Hoffnungen zu bekunden. Ein buntes barockes Karnevalstreiben erfüllte den Kirchenraum.

Am Rande des Getümmels kniete das kleine Mönchlein. Es war in Gedanken versunken und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, so dass von seinem Gesicht nur wenig zu erkennen war. Dieses Mönchlein hatte nun offensichtlich seinen Kopf verloren. Er war ein Stück weggerollt und am Fuß eines Pferdes hängen geblieben, die Kapuze hing schlaff auf den Schultern. Das musste wohl die Ursache des gestrigen Ungemachs gewesen sein.

Mit einem seiner schweren Schlüssel öffnete Augustinus das eiserne Gitter und betrat den geistlichen Raum. Er musste durch die Menge der Terracotta Figuren hindurch, um den Schaden begutachten zu können.

Der Kopf war schwerer als er gedacht hatte. Auch andere Dinge erschienen ihm seltsam. Es waren Haare auf dem Kopf. Sie fielen aus, sobald er die Haut berührte. Und hohl war er auch nicht. Augustinus glaubte, Wirbel erkennen zu können. Und Adern. Muskeln auch. Irritiert drehte er den Kopf herum, bis er das Gesicht erkennen konnte. Die Haut war verrunzelt. Die Augen waren grünbraun, eine Iris gab es nicht. Er konnte sich nicht erinnern, etwas Derartiges schon einmal gesehen zu haben.

Und während er ungläubig in dieses seltsame Gegenüber starrte, rührte sich Leben darin. Aus der Nase kam eine Made gekrochen, irritiert darüber, dass sich ihr Nahrungsraum ständig hin und her bewegte. Eine zweite kam hinterher. Und bald darauf gab es kein Halten mehr. Aus allen Öffnungen kamen sie heraus. Nase, Mund, Ohren, selbst aus den Augenhöhlen.

Voller Schreck ließ er den Kopf fallen, und erst jetzt schoss ein Blitz in seine Gedankenwelt. Dies war ein Mensch, ein richtiger, keine Tonfigur.

Als er seine Gedanken wieder halbwegs beisammen hatte, war er bereits auf dem Weg zu Pater Francesco, um ihm von dem schockierenden Ereignis zu berichten. Aus einiger Entfernung konnte Augustinus erkennen, dass dieser sich auf der Terrasse aufhielt, zusammen mit zwei Gästen. Beim Näherkommen sah er, es handelte sich um das Ehepaar, die Besitzer des vornehmen Hotels an der Zufahrtsstraße zur Stadt. Den Namen hatte er vergessen, aber sie waren als wohlhabende Familie und als große Gönner des Klosters sehr angesehen.

Ein weiterer Gast machte sein baldiges Erscheinen durch das dröhnende Motorengeräusch seines Autos bekannt, das mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald den Berg hinauf preschte. Dann ratterte es über das Kopfsteinpflaster den Fußweg hinauf und machte erst halt, als die Treppe zur Kirche eine Weiterfahrt unterband. Ein elegant gekleideter Herr mittleren Alters stieg aus und gesellte sich zu der Gruppe auf der Terrasse. Augustinus zögerte einen Augenblick und überlegte, ob er diese Zusammenkunft mit seiner Nachricht unterbrechen sollte. Er hielt seine Angelegenheit schließlich doch für dringlich und setzte seinen Weg fort.

Der Abt, Francesco, nahm ihn erst wahr, als dieser bereits die Treppe bewältigt hatte und die Terrasse betrat. Aus den ungewöhnlich schnellen Schritten und den hektischen Armbewegungen war zu erahnen, dass Augustinus etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Dennoch entschloss er sich, seinen Gästen den Vorrang zu lassen und wies ihn mit einer abweisenden Handbewegung und einem strengen Gesichtsausdruck ab. Mit fassungslosem und ins Ratlose gehendem Blick verharrte der Mönch einen Augenblick, bevor er sich in Gehorsam ergeben wieder abwandte und sich sehr langsam und bedächtig zurück zu seinen Kapellen aufmachte.

Aus den Bruchstücken des Gesprächs auf der Terrasse konnte er ahnen, dass es um die Vorbereitungen einer Hochzeit ging. Eine derart schlechte Nachricht wie die seine hätte sicherlich die Vorfreude der Gäste zunichte gemacht und ihren Besuch vorzeitig beendet. Dies verstand Augustinus nach einer Weile des Nachdenkens.

Im Übrigen war er mit dem Umstand mehr und mehr zufrieden, dass er nicht unmittelbar in seiner Aufgeregtheit über den toten Mönch berichten musste und nun Gelegenheit hatte, seine Gedanken zu ordnen und sich vorzustellen, was ihn in dieser Sache noch erwartete. Dazu gehörte zunächst die Frage nach der Identität des Mönches. Da er ja nicht nur Tonfigur war, sondern als wirklicher Mensch gelebt hatte, musste der Tod und das Verschwinden seinen Mitmenschen doch aufgefallen sein. Normalerweise wird so ein Mensch ja vermisst und man sucht nach ihm. Aber so sehr sich Augustinus bemühte, er hatte keinerlei Kenntnis über jemanden, der vermisst wurde. Nicht innerhalb des Klosters und nicht in der Stadt. Auch die Umstände des Todes sowie die Frage, warum und wie er in die Kapelle gekommen war, erschienen sehr mysteriös. War er eines natürlichen Todes gestorben, war es eine Krankheit, ein Unfall, wurde er gar Opfer eines Verbrechens?

Warum hatte man dem Verstorbenen kein ordentliches Begräbnis zukommen lassen und ihn hier in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellt? Geschah dies alles aus einem Akt der Verzweiflung, weil man vom heiligen Franziskus ein Wunder erhoffte? Wie war es überhaupt möglich, dass ein toter Mensch so lange in einer derartigen Position verharren konnte?

Ihn in die Kapelle zu bringen und darin aufzustellen, erschien Augustinus als durchaus möglich, wenn auch mit einigem Aufwand und mit einer guten Kenntnis der Örtlichkeiten und den Gepflogenheiten auf dem Berg. Die Schlösser waren groß und alt und sehr leicht zu öffnen. Nach Einbruch der Dunkelheit und erst recht spät in der Nacht war keine Menschenseele mehr anzutreffen, es blieb genügend Zeit für eine solche Aktion. Natürlich waren die Menschen, die mit dem Kloster in Verbindung standen, genauestens mit den Tagesabläufen vertraut, aber im Grunde stand es jedem offen, diese im Vorfeld auszukundschaften.

Augustinus Gedanken bewegten sich auch um die Zukunft des Sacro Monte, falls es tatsächlich um ein Verbrechen ging. Ein solches Ereignis würde alle Zeitungen auf den Berg locken, wahrscheinlich sogar das Fernsehen. Dies würde alles verändern. Der Berg würde zum Ort der Sensationen, mit der Stille und Andacht wäre es endgültig vorbei.

Und was würde aus der Gemeinschaft der Mönche? Dem Kloster insgesamt? Natürlich würden sich Medienleute bemühen, den Mönchen eine Mitschuld zuzuschreiben, selbst wenn dies der Wahrheit nicht standhalten konnte. Vielleicht würde man sich einzelne herauspicken und zur Zielscheibe ihrer Berichterstattung machen. Vielleicht sogar Augustinus selbst. Und auch innerhalb der Gemeinschaft würden sich Missgunst, Verdächtigungen und Anfeindungen breit machen. Es wäre nicht mehr auszuschließen, dass die Gemeinschaft auseinanderbricht und damit die Existenz des Klosters in Gefahr geriete.

Ein heftiger Schreck durchfuhr seinen Körper, als er eine Hand auf seiner Schulter verspürte. Es war Francesco, der Abt. Er hatte seine Gäste verabschiedet und war nun Augustinus gefolgt. Dieser war nach seiner Schrecksekunde erleichtert, seine schweren Gedanken waren zunächst einmal verflogen und er konnte sein leidvolles Erlebnis mit einem vertrauten Menschen teilen.

In Kapelle XIII hatte das Vergängliche in der Zwischenzeit unvorhergesehenes Leben hervorgerufen. Augustinus hatte vergessen, das Portal zu schließen und den Raum damit für eine Reihe von Vögeln freigegeben, die sich zu einem Festmahl eingefunden hatten. Zunächst waren die Schwalben zu erkennen, die mit großem Vergnügen den frisch geschlüpften Fleischfliegen hinterher jagten und ihnen bereits bei ihrem Jungfernflug ein jähes Ende bereiteten. An den fleischlichen Überresten des Mönches machten sich ein paar Amseln zu schaffen. Sie hatten zunächst die frei herumrobbenden Maden verspeist und waren nun dabei, die Öffnungen im Kopf und im Körper so weit zu vergrößern, dass sie noch weitere Exemplare ihrer Leibspeise herausziehen konnten.

Bruder Francesco hatte schnell erkannt, dass die Angaben von Augustinus der Wahrheit entsprachen, fand jedoch keine Zeit für Trauer und Anteilnahme, galt es doch zuallererst, das Tote vor dem Lebendigen zu beschützen. Während der eine sich davon machte, um nach Decken für den Schutz des Toten zu suchen, versuchte der andere, die Vögel aus der Kapelle zu vertreiben. Dabei hatte er nur mäßigen Erfolg, da die Vögel nicht so ohne weiteres bereit waren, auf ihre neue Nahrungsquelle zu verzichten. Erst wenn er ihnen zu nahe kam und auf sie einschlug, ließen sie davon ab und verzogen sich in sichere Höhen, kehrten aber rasch wieder zurück, sobald sie keine unmittelbare Gefahr mehr erkennen konnten. Und so blieb den beiden nichts anderes übrig als den Leichnam so dick einzuwickeln, dass dieser zumindest für eine gewisse Zeit in Sicherheit war.

Zu ungewohnter Stunde ertönte die Glocke, die die Mönche zur Zusammenkunft rief. Und die Nachricht, die Francesco mitzuteilen hatte, versetzte sie in sprachloses Entsetzen. Es brauchte eine lange Zeit, bis die Gemeinschaft in der Lage war, Worte zu dem Geschehen zu finden. Aus der anfänglichen Stille wurde ein leises Raunen, die Stimmen wurden zahlreicher und zugleich lauter und aufgeregter.

Es waren zwei junge Mönche, die als erste die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung auf sich zogen. Wie es denn sein könne, so wandten sie sich direkt an Bruder Augustinus, dass er, der die Aufgabe hatte, sich um die Kapellen mitsamt ihrem Innenleben zu kümmern, von der Existenz einer neuen Figur über einen offensichtlich langen Zeitraum überhaupt nichts bemerkt habe. Ob er seine Aufgabe überhaupt noch gewissenhaft erfülle oder ob er sich lediglich auf das Auf- und Zuschließen beschränke. Ob er denn noch willens und in der Lage sei, sich durch die Darstellungen in den Kapellen mit den geistlichen Inhalten der franziskanischen Lehre zu befassen oder ob er nur noch geistlos die formalen Abläufe seiner Tätigkeit im Auge habe.

Mit diesen Ausführungen zogen sie den lautstarken Protest der anderen auf sich. Es sei unwürdig, einen langjährigen Bruder und Diener des Herrn auf diese Weise in seiner Ehre zu kränken. Auch werde man mit solchen Äußerungen der gerade geschilderten Situation nicht gerecht, denn es gehe ja um einen höchst bedauerlichen Todesfall und die höchst mysteriösen Umstände dabei.

Augustinus hatte bisher zu allem geschwiegen. Die Vorwürfe trafen ihn schwer, aber im Gegensatz zu den anderen hatte er bereits Gelegenheit, sich zu sammeln und so war es ihm möglich, ohne die erste, aufbrausende Gefühlswallung darauf einzugehen. „Die Demut, meine Brüder“, so begann er in einem ruhigen, sehr gefassten Ton, der alle anderen Gespräche in der Runde verstummen ließ, „ist die kostbarste aller Tugenden. Sie ist die Schwester der Weisheit, die Mutter der Gerechtigkeit, die Quelle der Freiheit und der Freude.

Sie hat mich immer geleitet auf meinem Weg zu den Kapellen. Sie sind ein Geschenk Gottes, und jedem aufmerksamen Betrachter wird es so ergehen wie es mir ergeht. Selbst nach vielen Jahren täglicher Betrachtung findet man immer wieder Neues. Sei es im Gesichtsausdruck einzelner Figuren, in der Gestik, in der Ausstrahlung. Man entdeckt, wie Figuren aufeinander eingehen, wie sie sich in ihrem Zusammenspiel ergänzen, wie sie sich in stillem Streit gegenüber stehen. Auf eine wundersame Weise erwachen sie zum Leben.

Die Kapellen in ihrer Gesamtheit sind eine Quelle andauernder menschlicher und göttlicher Mitteilungen an den, der in der Lage ist, seinen Geist zu öffnen und solche Mitteilungen wahrzunehmen.“

Während er diesen Satz in aller Sanftmut aussprach, war sein scharfer Blick direkt auf seine beiden Kritiker gerichtet. Diese konnten dem nicht standhalten, hatten nichts entgegenzusetzen. Ihre Körper fielen in sich zusammen und eine Schamesröte überzog ihr Gesicht, während ihre Blicke schuldbewusst nach unten gerichtet waren.

„Auch mit dem kleinen Mönch, der nun zu einem menschlichen Todesfall geworden ist, war es so. Es ist nun schon einige Wochen her, als ich ihn zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe. Aber das war für mich nur ein neues Wunder, ein neues Erleben einer lang bekannten Episode aus dem Leben unseres Ordensgründers. Und eben dieser Mönch hat mir neue, wahrhaft göttliche Einsichten in das turbulente Leben der Menschen gegeben. In all dem Trubel der Ereignisse, in all den Eitelkeiten und der Vorteilshascherei war er derjenige, der den Glauben, die Demut und die Nachfolge Christi und unseres Heiligen Franziskus in der reinsten Form verkörperte. Für mich wurde dieser kleine Mönch schon bald zu einer der wichtigsten Figuren in der Kapelle. Wenn er nun in Zukunft nicht mehr da sein wird, fehlt für mich ein Teil des wahren und aufrichtigen Glaubens.“

Nachdem Augustinus geendet hatte, erfüllte eine übermächtige Stille den Raum. Kein Wort, nicht einmal ein Räuspern oder das Knarren eines Stuhles war zu vernehmen und selbst der kranke und schwer atmende Bruder Domenicus mühte sich, seine Atemgeräusche so niedrig zu halten wie es eben möglich war. Es war eine Stille des Respekts vor dem Gesagten und gleichzeitig der Hochachtung vor dem Menschen, der diese Worte gesprochen hatte. Ein Mensch, der bisher eher als Mann der schweigenden Tat denn als Mann des mächtigen Wortes wahrgenommen worden war.

Bruder Francesco wagte es als erster, diese Stille zu durchbrechen. Er dankte Augustinus für seine bewegende Rede und erinnerte die Gemeinschaft daran, dass es wichtige Fragen zu diesem Fall zu besprechen galt. Und man folgte nun im Wesentlichen den Gedanken von Augustinus, nachdem er den toten Mönch gefunden hatte.

Niemand hatte die geringste Ahnung, wer dies sein könnte, niemand hatte irgendetwas von einem vermissten Mönch gehört. Und wie sollte man nun mit dem Toten umgehen? Ein Vorschlag, ihn in aller Stille zu beerdigen, um kein weiteres Aufsehen zu erregen, wurde schnell verworfen. Die Brüder waren sich einig, dass das Gebot der Nächstenliebe über den Tod hinaus Gültigkeit hatte und man auch einem Menschen ohne Namen eine würdige letzte Ehre erweisen müsse.

Stimmen des Zweifels regten sich, ob Sacro Monte mit diesem dunklen Schatten wirklich zur Ruhe kommen könne oder ob nicht ein fortwährendes Misstrauen zurück bliebe, da auch ein Verbrechen in Erwägung gezogen werden musste. Polizeiliche Ermittlungen waren unumgänglich. Diese waren allerdings mit dem Wunsch verbunden, damit so weit wie möglich nicht an die Öffentlichkeit zu gehen.

Und so erschienen bereits am Nachmittag mehrere Herren der Mailänder Kriminalpolizei. Sie begutachteten den Fundort und die Leiche und zeigten Verständnis für die schwierige Situation des Klosters. In einem längeren Gespräch mit Abt Francesco konnte man sich auf ein Verfahren einigen, das den Belangen beider Seiten Rechnung trug. So sollten die Ermittlungen unabhängig und weitgehend ohne Rücksprachen mit dem Kloster erfolgen. Es sollten alle anderen Kapellen, Gemeinschaftsräume und die Privatgemächer einbezogen werden können. Auch die Mönche sollten bei Bedarf zu Befragungen bereitstehen. Um eine sorgfältige Ermittlungsarbeit zu gewährleisten und um gleichzeitig sensationshungrige Besucher und Medien herauszuhalten, sollten einzelne Kapellen während der Untersuchungen geschlossen bleiben, eine „Untersuchung der Bausubstanz und des Zustands der Tonfiguren“ sollte als Vorwand dienen.

Bei den Ermittlungen außerhalb des Klosters sollte ebenfalls größtmögliche Diskretion gewahrt werden. Die Klostergemeinschaft sollte nach dem Ermessen der Polizei zu gegebener Zeit über den Stand der Ermittlungen informiert werden. Pater Francesco hatte darum gebeten, um den inneren Frieden der Mönchsgemeinde nicht durch unnötige und gefährliche Spekulationen und Verdächtigungen untereinander zu gefährden. Es schien, als sei selbst er nicht von der Friedfertigkeit aller seiner Untergebenen überzeugt.

Und so erschienen in den nächsten Wochen neben den Besuchern immer wieder Personen mit weißen Schutzanzügen, die jeweils eine Kapelle schlossen und darin ihre Arbeiten verrichteten. Auch der erste Zwischenbericht ließ nicht lange auf sich warten.

Bei dem Opfer handelte es sich um einen jungen Mann, etwa 25 Jahre alt. Er wurde wahrscheinlich Mitte Oktober des vergangenen Jahres mit Hilfe eines Nervengiftes getötet. Danach wurden seine Eingeweide entfernt und der Körper konserviert. Die Täter, man müsse von mehreren Personen ausgehen, verwendeten dabei klassische Methoden der Konservierung, wie sie an Universitäten üblich waren, um Körperteile oder ganze Leichen für Studienzwecke zu erhalten. Um den Körper in die gewünschte Form zu bringen, wurde er mit Epoxidharz verstärkt. Allerdings waren die technischen Möglichkeiten deutlich eingeschränkt. So war es offensichtlich nicht möglich gewesen, dem Körper genügend Gewebewasser zu entziehen und den Verwesungsprozess gänzlich zu stoppen. Die Täter mussten wissen, dass die Konservierung nur für einen begrenzten Zeitraum erhalten werden konnte und dass der Leichnam irgendwann in sich zerfallen würde.

Um diese Tat durchzuführen, brauchte es neben guten medizinischen Kenntnissen auch Kenntnisse über die Kunst der Konservierung. Es war ebenso ein Raum nötig, in dem der Tote über mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen unbemerkt gelagert und bearbeitet werden konnte.

Völlig im Unklaren blieb der Grund, warum man das Opfer nach der Ermordung nicht gleich verschwinden ließ, warum man den ganzen Aufwand betrieben hatte, um es danach in aller Öffentlichkeit aufzustellen.

Selbst langjährige und erfahrene Ermittler hatten einen solchen Fall noch nie erlebt und konnten sich keinen Reim auf die Denkweise der Täter machen.

Immerhin war es der Gerichtsmedizin möglich gewesen, ein Phantombild des Opfers zu erstellen, und dies sorgte bei den Glaubensbrüdern für Verwunderung. Übereinstimmend erkannte man darin Bruder Thomas, der im vergangenen Herbst tatsächlich für einige Tage im Kloster gewohnt hatte. Er hatte keinen Kontakt mit den anderen gepflegt und nie am gemeinsamen Gebet und an Gottesdiensten teilgenommen. Auch hatte er keine schlüssige Auskunft darüber gegeben, welchen Zweck er mit seinem Aufenthalt verfolgte. Auffällig war nur, dass er überall im Kloster herumgeschnüffelt und sich häufiger als die anderen Mönche hinunter in die Stadt begeben hatte.

In seinen Unterlagen fand Francesco ein Empfehlungsschreiben aus Deutschland. Es war von der Diözese Rottenburg ausgestellt worden und besagte, dass Bruder Thomas sich in seinen Studien dem Heiligen Franziskus widmete und aus diesem Grunde auf Sacro Monte zu verweilen wünschte. Diesem Wunsch habe man sich nicht verweigern wollen und ihn hier willkommen geheißen. Auch konnte sich Francesco an eine Unterredung mit Thomas erinnern, in der dieser seinen baldigen Abschied ankündigte. Deshalb habe es niemand verwundert, als er auf einmal verschwunden war. Im Übrigen entsprach dies voll und ganz dem gemeinschaftsverachtenden Verhalten, das Thomas während des gesamten Aufenthalts gezeigt hatte. Die Tatsache, dass er einige Kleidungsstücke und Toilettenartikel zurückgelassen hatte, schrieb man ebenso diesem Verhaltensmuster zu und entsorgte sie, ohne sich weitere Gedanken zu machen.

Nachforschungen der Polizei in dem deutschen Bistum ergaben, dass es sich bei dem Empfehlungsschreiben um eine Fälschung handelte. Das Papier und der Briefkopf stammten tatsächlich aus dem Sekretariat der Diözese, aus der Korrespondenz des Bistums gab es jedoch kein Indiz dafür, dass ein solcher Brief jemals geschrieben worden war. Auch einen Bruder Thomas hatte es dort nie gegeben.

Die vielleicht letzte Möglichkeit, mehr über den mysteriösen Mönch herauszufinden war, mit dem Phantombild an die Öffentlichkeit zu gehen. Aus Gründen der Diskretion verzichtete man dabei auf die Zeitung, stattdessen schickte man Beamte in die Stadt. Sie sollten ohne großes Aufsehen Bewohner befragen, ob sie diese Person schon einmal gesehen hatten. Auch hier kamen die Ermittlungen nicht weiter. Es gab niemanden, der sich mit ausreichender Sicherheit an das Gesicht des Opfers erinnern konnte.

Es muss hier allerdings gesagt werden, dass sich die Beamten nicht immer mit der nötigen Sorgfalt ihrer Arbeit widmeten. So befragten sie drei ältere Herrschaften, die an einem Tisch vor einem Weinlokal unmittelbar neben dem alten Rathaus saßen. Auch sie verneinten, die gesuchte Person gesehen zu haben. Hätten sich die jungen Beamten ihre Zielpersonen aber genauer angesehen, wäre ihnen vielleicht nicht entgangen, dass der älteren Dame die Tränen in den Augen und eine seltsame Art von Verzweiflung im Gesicht standen. Da sie stattdessen jedoch zwei junge Mädchen mehr im Blick hatten, die mit kurzen Röckchen, aufreizendem Gang und einladendem Kichern an ihnen vorbeizogen, blieb ihnen das Verhalten der Dame verborgen. Und damit war auch die letzte Möglichkeit dahin, Licht in das Dunkel dieses Falles zu bringen.

Kurz vor dem Abschluss der Ermittlungen fiel einem der Beamten auf, dass das Opfer auf einer Steinplatte gestanden hatte. Auffällig war dieser Umstand, weil es die einzige Steinplatte in allen Kapellen war und alle anderen Figuren auf gestampftem Lehmboden standen. Und als man diese Platte nun anhob, machte man eine Entdeckung, die den Fall noch mysteriöser machte als er ohnehin schon war.

Man entdeckte die Überreste einer weiteren Leiche. Ebenfalls ein Mönch. Und die kriminaltechnische Untersuchung brachte weitere überraschende Einzelheiten ans Licht. Auch dieser Mönch war Opfer eines Verbrechens geworden. Zum Zeitpunkt des Todes war er, genauso wie das erste Opfer, Mitte zwanzig. Er hatte einen heftigen Schlag mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf erhalten, der ihm das Genick gebrochen und die Schädeldecke zertrümmert hatte. Die Mörder hatten seine Eingeweide entnommen, den Leichnam mit Kalk behandelt, um starken Leichengeruch zu verhindern und ihn mit eingezogenen Gliedmaßen in eine kleine Grube unterhalb der Platte hineingedrückt.

Als Zeitpunkt dieses Verbrechens nahm man in etwa das Jahr 1945 an. Besonders irritierend waren allerdings zwei weitere Erkenntnisse: Das Opfer trug eine Waffe bei sich, eine Pistole vom Typ Beretta M1935. Im Magazin fehlten zwei Patronen. Und, das ergab die gentechnische Untersuchung, beide Opfer waren miteinander verwandt. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich um einen Großvater und seinen Enkel.

Die weiteren Ermittlungen in diesem zweiten Mordfall gestalteten sich noch schwieriger als bei dem ersten. Es gab keine Zeitzeugen mehr, auch in den Unterlagen des Klosters gab es keinerlei Hinweise. Niemand war auf unbekannte Weise verschwunden, es gab nichts, was auf Verwandtschaften, Streitigkeiten oder Feindschaften innerhalb der Klostergemeinschaft als mögliche Motive schließen ließ. In den Polizeiakten der Stadt, den umliegenden Ortschaften und den Zeitungsarchiven wurde nichts gefunden, was mit diesem Mordfall in Verbindung gebracht werden konnte.

Die beiden Mönche wurden in aller Stille bestattet. Die kläglichen Überreste der zweiten Leiche gab man dem angestammten Grab in der Kapelle zurück, Bruder Thomas fand in einem für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich des Klosters eine vorläufige Ruhestätte, verbunden mit der vagen Hoffnung, ihn eines Tages doch noch an Angehörige übergeben zu können.

Die Ermittlungen wurden beendet, da man keine Möglichkeit mehr erkennen konnte, den Rätseln dieser Fälle auf die Spur zu kommen.

Unter den gegebenen Verhältnissen war dies auch nicht möglich. Der Schlüssel für diese Rätsel lag in einer anderen Welt – und in einer anderen Zeit.

Kapitel 2

Der angekündigte Besuch des Generalfeldmarschalls bringt einen Oberleutnant in Bedrängnis und gibt seinem Leben eine neue Richtung.

Zum ersten Mal in diesem Jahr zeigte sich die Frühlingssonne mit ganzer Kraft über Saló, der neuen Hauptstadt der Sozialen Republik Italien. Lange hatte man darauf warten müssen. Nach einem turbulenten Herbst und einem strammen Winter, der das Alpenvorland und den gesamten See bis weit in den März im Griff hatte und das Land bis in die Täler mit Schnee bedeckte, schien sich nun der Frühling endgültig durchzusetzen. Auch die militärische Situation schien sich zu entspannen.

Vieles hatte sich verändert in den letzten Monaten. Alliierte Streitkräfte hatten Sizilien besetzt und waren auf das italienische Festland vorgedrungen. Diktator Mussolini wurde abgesetzt und inhaftiert, die neue Regierung wechselte die Fronten und trat auf Seiten der Alliierten in den Krieg gegen den bisherigen Verbündeten Deutschland ein. Daraufhin wurde Mussolini in einer spektakulären Mission aus seinem Gefängnis auf dem Monte Sasso befreit und nach Deutschland gebracht, wo er unter deutscher Obhut am Aufbau eines faschistischen italienischen Reststaats bastelte, der schließlich im September 1943 als „Soziale Republik Italien“ in München proklamiert wurde.

Als Hauptstadt bot Saló eine Reihe günstiger Voraussetzungen. Sie war nur eine Kleinstadt, aber durch ihre klimatisch vorteilhafte Lage am südwestlichen Teil des Gardasees hatten sich zahlreiche mondäne Villen und Hotels angesiedelt, die nun als standesgemäße Sitze für Ministerien und Behörden der neuen italienischen Regierung und ihrer deutschen Oberaufsicht dienen konnten.

Die „Operationszone Alpenvorland“ erstreckte sich bis an das Nordufer des Sees. Falls es Schwierigkeiten mit der neuen Regierung geben sollte, wären deutsche Verbände in kürzester Zeit zur Stelle. Nach Süden hin war die Stadt weit entfernt vom Kampfgeschehen zwischen den Deutschen und den Alliierten. Der Ort selbst lag im Schutz hoher Berge, auf denen die Luftabwehr Stellung bezogen hatte, was einen Luftangriff auf die Stadt praktisch unmöglich machte. Und selbst wenn es dazu kommen sollte, gab es ausreichend Schutz in zahlreichen Tunnels in den Bergen oder am See.

Die deutschen Stäbe, die der italienischen Regierung zur Seite gestellt wurden, hatten sich darum zu kümmern, dass die Vorgaben der deutschen Regierung durchgeführt wurden und mussten eingreifen, wo dies nicht auf zufriedenstellende Weise geschah. Im Wesentlichen ging es dabei um drei Bereiche. Die neuen, erheblich verschärften Judengesetze sollten konsequenter umgesetzt werden als bisher. Die Unterstützung der deutschen Kriegswirtschaft und der deutschen Streitkräfte musste gesichert und nach Möglichkeit ausgebaut werden. Dazu gehörte die Zwangsverpflichtung der wehr- oder arbeitsfähigen Männer zum Waffendienst oder zur Arbeit in Rüstungsbetrieben und in Bergwerken, ein Unterfangen, bei dem es den Italienern an Entschlossenheit mangelte und von deutscher Seite immer wieder nachgeholfen werden musste.

Der dritte Bereich war der Kampf gegen das zunehmende Partisanenunwesen, der von Saló aus organisiert und von italienischen profaschistischen Verbänden und der deutschen SS mit erbarmungsloser Härte durchgezogen werden sollte.

Dennoch war den deutschen Soldaten sehr wohl bewusst, dass es für sie auf der ganzen Welt keinen besseren Stationierungsort gab. Sie waren weit weg von allem Kriegsgeschehen, weit weg von der mörderischen Front in Russland, vom heimtückischen Partisanenkampf in Griechenland und dem Balkan und auch weit weg vom besetzten Frankreich, wo man mit einer baldigen Invasion der Alliierten rechnen musste.

Selbst die italienische Front war weit entfernt. Die Gustav Linie war noch ein schönes Stück südlich von Rom. Sie war seit Monaten hart umkämpft und dank aufopferungsvollem Kampf der deutschen Armee und sehr gut ausgebauten Stellungen konnte sie dem Druck der alliierten Streitkräfte bisher standhalten, die sich unter hohen Verlusten die Zähne ausbissen. Und selbst wenn diese Verteidigungslinie fiel, weitere waren vorbereitet, so dass mit einer schnellen Niederlage in Italien nicht zu rechnen war. Für diesen Optimismus sprach ein weiterer Aspekt. Auf Seiten der Alliierten wurden zunehmend „exotische“ Verbände eingesetzt, Australier, Neuseeländer, Inder. Daraus schloss man, dass sie die eigenen Truppen für eine bevorstehende Invasion in Frankreich benötigten und, das war die nächste Hoffnung, dass die Eroberung Deutschlands Vorrang hatte und der Krieg insgesamt enden würde, bevor die Deutschen in Saló noch einmal zum Kampf gezwungen waren.

Und während die deutschen Truppen an allen Fronten um ihr Überleben kämpfen mussten, gingen die Saló Leute hauptsächlich ihren Verwaltungstätigkeiten nach. Eine unmittelbare Bedrohung gab es für sie nicht. Unbehagen kam nur auf, wenn Nachrichten von Massenexekutionen an italienischen Soldaten verbreitet wurden, als Vergeltung für ihren Verrat und den Übertritt zum Feind. Dies brachte die italienische Bevölkerung gegen ihre Besatzer auf, selbst im ruhigen Saló könnte es Racheakte provozieren. Für die deutschen Soldaten galt daher die Anweisung, sich von der italienischen Bevölkerung möglichst fern zu halten.

Abgesehen davon fühlte sich das Leben in Saló für die deutsche Truppe an wie ein Dauerurlaub. Es galt, die begnadete Landschaft und das Leben zu genießen und zu hoffen, dass die Italienfront so lange hielt, bis der Krieg in Deutschland vorbei war.

Doch dann hatte sich Göring angesagt.

Obwohl er in der Bevölkerung als einer der beliebteren Nazigrößen galt, genoss der Generalfeldmarschall die größtmögliche Verachtung der Truppe. Er klopfte die größten Sprüche und hatte die größten Misserfolge. In Dünkirchen ließ er die Engländer entkommen, in Stalingrad scheiterte er mit der Versorgung der 6. Armee aus der Luft. Er wolle Meier heißen, so tönte er, wenn je ein englisches Flugzeug in den deutschen Luftraum eindringen würde. Sein einziger Erfolg, so spotteten seine Untergebenen, war die Ausweitung seines Bauchumfangs. Auch seine charakterlichen Fähigkeiten schätzte man nicht sehr hoch ein. Er galt als völlig unbeherrscht und unberechenbar, hochgradig egomanisch und arrogant. Sein Größenwahn war unersättlich, seine größte Liebe galt dem Alkohol und all den anderen Drogen, die er in die Finger bekam.

Seine Raubzüge durch die Welt der Kunst waren legendär. Kein Museum, keine Kunstausstellung, schon gar nicht private Sammlungen waren vor seinem gierigen Zugriff sicher. Den inoffiziellen Titel als „Reichskleptomane“ hatte er sich über die Jahre hinweg redlich erarbeitet, die Schatzkammer in seinem Luxusanwesen Carinhall war in gleichem Maße gewachsen.

Über die Gründe dieses Staatsbesuchs konnte man nur spekulieren. Wenn es um die Erweiterung seiner Kunstsammlung ging, lag man sicher nicht falsch.

Eine symbolische Unterstützung des neuen Staates und seines Staatsoberhaupts hatte sicherlich auch eine Rolle gespielt. Möglicherweise wollte sich die deutsche Führung der Loyalität Mussolinis versichern und ihn gleichzeitig an seine Verpflichtungen gegenüber dem Deutschen Reich erinnern. Die offiziell gepriesene unverbrüchliche Freundschaft war in Wirklichkeit fragil, in etlichen Alpenfestungen stand man sich mit großem Misstrauen gegenüber. Vielleicht war auch die angespannte Situation in Berlin ein Grund, für ein paar Tage zu entfliehen und sich den angenehmen Seiten des Lebens zu widmen.

Warum auch immer, der Besuch war angesagt und für die deutschen Offiziere war dies keine gute Nachricht. Manche sagten offen, dass sie lieber ins Gefecht gezogen wären als ihm in die Quere zu kommen. Der Grund war offensichtlich. Auch Göring kannte die privilegierte Situation der deutschen Soldaten in Saló und erwartete eine höchst privilegierte Behandlung von ihnen. Es galt, jeglichen möglichen Wunsch des Gastes zu erahnen und zu erfüllen, bevor dieser überhaupt ausgesprochen war. Jeder Fehler, alles, was ihn unzufrieden machen könnte, jedes unpassende Wort, jeder unkontrollierte Gesichtsausdruck konnte zur Abkommandierung an die Ostfront führen.

Görings Ansprüche wurden als exorbitant hoch eingeschätzt. Von allem das Beste, das war die Devise. Die teuersten Weine, die besten Köche, die hübschesten Damen als Dienstpersonal mussten gefunden und bereitgestellt werden.

Und selbstverständlich eine standesgemäße Unterkunft. Man entschloss sich, nicht auf eine der Luxussuiten in den Hotels am See zurückzugreifen, sondern ihn abseits der eigenen Dienststellen unterzubringen und eine der mondänen Villen in bester Lage am Hang mit Blick über den gesamten südlichen See zu requirieren. Die Wahl fiel auf die Villa Borgia in der Via della Arche, in unmittelbarer Nähe zum Anwesen von Gabriele d’Annunzio, dem faschistischen Nationaldichter Italiens, der während seiner Lebzeiten nicht nur den ausschweifenden Lebensstil mit Göring teilte.

Die Villa gehörte Bartholomeo Borgia, Besitzer eines Bankhauses in der Stadt. Er hatte es verstanden, durch gute Beziehungen und hohe finanzielle Zuwendungen an italienische Regierungsangehörige von den Judenverfolgungen in der neuen Republik verschont zu bleiben. Die deutschen Besatzer hatten dies bisher mit Widerwillen geduldet, aber nun gab es eine Gelegenheit, auch hier für klare Verhältnisse zu sorgen. Was nach dem Besuch Görings mit dem Bankier und seinem Anwesen geschehen sollte, blieb zunächst einmal ungeklärt.

Der Mann, der diese Villa in Beschlag nehmen sollte, war Oberleutnant Adler. Ausgerechnet Adler.

Ein Mann von stattlicher Größe und athletischem Körperbau und in dieser Hinsicht ein Modell für einen deutschen Offizier. Andererseits wirkte er durch seine pechschwarzen, leicht gekräuselten Haare und seine braungebrannte Hautfarbe eher wie ein südländischer Typ als ein nordischer Arier.

Adler hatte bereits einschlägige Erfahrung mit dem Generalfeldmarschall und bei einer weiteren Begegnung drohten schwerwiegende Folgen. Im Februar 1943 war es gewesen, kurz nach dem Fall von Stalingrad. Er war von seiner Kampffliegereinheit in den Stab versetzt worden und befand sich auf Heimaturlaub, da erhielt er eine Einladung oder auch einen Marschbefehl, das war nicht klar zu unterscheiden, nach Berlin. Die Post kam vom Reichspropagandaministerium und er sollte mit Ehefrau erscheinen. Ein paar Tage später folgte ein zweiter Brief, diesmal vom Reichsluftfahrtministerium. Da er bereits in Berlin weile, solle er an einer weiteren Veranstaltung, „zum Zweck der Steigerung der Kampfmoral“ im Luftfahrtministerium teilnehmen. Ebenfalls mit Gattin.

Die erste Veranstaltung fand im legendären Sportpalast statt, ein Ort, der schon viele herausragende sportliche und politische Höhepunkte erlebt hatte. Dort einer wie auch immer gearteten Veranstaltung beizuwohnen war für Adler ein bedeutendes Ereignis, dem er mit großer Vorfreude entgegenfieberte.

Bereits Stunden vor der Veranstaltung, einer Rede von Propagandaminister Goebbels, die im Radio übertragen und gleichzeitig gefilmt werden sollte, mussten die Geladenen erscheinen. Nach einer kurzen Erläuterung der Veranstalter über den weiteren Ablauf wurden Sekt und kleine Häppchen serviert und danach Männer und Frauen getrennt. Die Männer, fast ausschließlich Wehrmachtsoffiziere wie Adler selbst, kamen in die „Maske“, wo sie wie richtige Schauspieler bearbeitet wurden. Ihnen wurden alle möglichen Arten von Kriegsverletzungen aufgebracht. Augendeckel sollten den Verlust eines Auges darstellen, Prothesenattrappen den Verlust von Gliedmaßen. Adler bekam einen Gips am Arm verpasst und konnte diesen durch ein Gestell am Oberkörper nur waagrecht zur Seite halten. In lockerer Runde trafen die männlichen und die weiblichen Komparsen wieder zusammen. Es dauerte eine Weile, bis Adler seine Frau fand, in einer Gruppe von mindestens einem Dutzend Krankenschwestern. Bei gelöster Stimmung und allerlei Scherzen über die Verkleidungen, unterstützt von weiteren Getränken wurden sie für die Veranstaltung instruiert. Den Regieanweisungen folgen, wann wie laut Beifall geklatscht werden sollte, welche Zurufe erfolgen sollten, wie sie ihre Kriegsverletzungen zur Schau stellen und welche Mimik sie dabei wählen sollten und vieles mehr. Nichts durfte dem Zufall überlassen werden.

Sie wähnten sich in der Erwartung eines heiteren Theaterstücks auf ihrem Weg zum Veranstaltungsraum. Dort schlug ihre Stimmung schlagartig um, Beklemmung machte sich breit. Ein Saal von übermächtiger Größe, brodelnde Menschenmassen, tausende hatten bereits ihre Plätze eingenommen, noch einmal so viele strömten herein, auf das Parkett mit endlosen Stuhlreihen, auf drei Emporen zur linken und zur rechten, Hakenkreuzfahnen rundum. Hinter der Tribüne, die die gesamte Stirnseite beanspruchte, Fahnen und Standarten, das erhöhte Rednerpult in der Mitte, weiße lange Vorhänge verziert mit Kordeln und Spruchbannern. Gleißendes Licht aus unzähligen Scheinwerfern brannte sich in die Augen.

Immer wieder „Sieg Heil“ Rufe aus unterschiedlichen Richtungen, als die Würdenträger auf der Tribüne Platz nahmen, tosender Beifall auf die Ankündigung des Hauptredners.

Es war die Stimme eines Seziermessers, die Adler von Beginn an in ihren Bann zog, die jeden Anflug eines eigenen Gedankens auslöschte, der Inhalt eine Seelenmassage für geschundene Gemüter. Sie sprach vom Wiederauferstehen nach Rückschlägen, vom Kampf gegen den Bolschewismus zur Rettung des Abendlandes, den das Vaterland an vorderster Front führe, von der Niedertracht der Engländer.

Seine Fragen an das deutsche Volk brachten die Zuhörer außer Rand und Band: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Die Menge erhob sich von ihren Sitzen, ein Donnerhall aus tausenden Kehlen brüllte die Antwort.

Nicht enden wollende Sprechchöre, „Führer befiehl, wir folgen!“, Wogen von „Sieg Heil“ Rufen machten den Augenblick zu etwas Erhabenem, Furchterregendem, das den Einzelnen auslöscht, ihm zugleich als Teil eines Großen unbändige Macht verleiht. „Volk steh auf und Sturm brich los!“ Das Deutschlandlied zum Schluss.

Eine neue Sonne schien aufzugehen, eine neue Zeit zu beginnen. Adlers Mut und Siegeszuversicht kehrten zurück.

Die Zweifel jedoch auch, schon beim Ablegen der Verkleidungen. Wer sollte ihn führen, diesen Sturm? Das Volk stand mit dem Rücken an der Wand, nach mehr als drei Jahren Krieg, die Kräfte schwanden. Der Krieg noch totaler? Wenn dies überhaupt möglich war, warum nicht vor der Katastrophe von Stalingrad?

Je länger er nachdachte, umso mehr fühlte Adler sich hereingelegt. Die Führer im Rampenlicht predigten Verheißungen, die es nicht gab, stattdessen ein großes dunkles Loch, eine Falle. Schon einmal war er darauf hereingefallen, hatte sich mit den Eltern darüber entzweit. Nun hatte er sich wieder mitreißen lassen, im Sog der Massen. Vorsichtiger musste er werden, kritischer, mehr seinen eigenen Gedanken folgen. Er blieb stumm auf dem Weg zurück, grübelte die ganze Nacht hindurch in der Kaserne, die den Namen des kommenden Widersachers trug.

Während diese erste Veranstaltung aus Sicht der Propaganda durchaus Sinn ergab, blieb der Zweck der folgenden weitgehend im Dunkeln. Was sollte eine Zusammenkunft der zufällig anwesenden Luftwaffenoffiziere im Reichsluftfahrtministerium zur Stärkung der Kampfmoral beitragen? Gewiss, auch hier gab es eine Rede des Hausherrn. Er tischte das Märchen vom Endsieg auf, dank einer Wunderwaffe, die bereits in Erprobung sei und schon sehr bald eingesetzt werden könne. Auch hier gab es üppig Essen und Getränke, eine Musikkapelle spielte auf, aber das Ganze glich mehr einem unverfänglichen gesellschaftlichen Empfang ohne jegliche politische und militärische Bedeutung.

Möglicherweise, so vermuteten einige, sei dies darauf zurückzuführen, dass sich der Gastgeber, Generalfeldmarschall Hermann Göring, in einem Geltungsdrangswettbewerb mit dem Reichspropagandaminister befand, wer denn nun nach Hitler der wichtigere sei. Und dabei wollte Göring die Berliner Bühne nicht allein seinem Rivalen überlassen.

Wie dem auch sei, es sah alles nach einem angenehmen Abend mit schneidigen Herren in Uniform und eleganten Damen in vornehmer Abendgarderobe aus, bei dem man alte Bekannte wieder treffen und neue Kontakte knüpfen konnte. Nur der Gastgeber selbst schien völlig aus diesem Rahmen zu fallen. Göring war exzessiv. Er trank nicht, er soff. Überall, wo er auftauchte, riss er das Wort an sich und beanspruchte die gesamte Aufmerksamkeit der Umgebung, er machte billige Witze und forderte schallendes Gelächter ein. Adler fand das abstoßend und achtete darauf, stets einen Sicherheitsabstand zu diesen Göring Blasen zu halten, konnte sich alten Bekannten zuwenden und dem Spiel von Herrschsucht und Devotismus aus den Augenwinkeln zuschauen.

Zu vorgerückter Stunde bemerkte Adler jedoch ein verändertes Verhalten des Gastgebers, das ihn zunehmend beunruhigte. Görings Blicke blieben immer häufiger an seiner Frau hängen. Und er rief Adjutanten herbei, mit denen er sich in vertraulichem Gespräch austauschte. Es war offensichtlich, dass er nähere Informationen über die Dame in seinem Visier einholte.

Adlers Gattin, Sophia, war eine Person, die man am besten als schüchterne Schönheit beschrieb. Sie war ein wenig größer als die meisten anderen Damen, schlank, blond, mit elbenmäßigen Gesichtszügen und großen Augen. Ihr Verhalten bei gesellschaftlichen Ereignissen war von adliger Zurückhaltung geprägt. Adlers Kollegen bezeichneten sie als „das Reh“.

Und Jagdfreund Göring war auf der Pirsch. Sein Gepolter verstummte, als er sich allmählich seinem Opfer näherte. Nur ein paar kurze Bemerkungen hier und da, ein Kopfnicken, ein Handschlag. Auch Adler hatte sich auf den Weg gemacht und erreichte seine Gattin kurz vor seinem Herausforderer. Dieser hatte zwei Gläser Sekt kommen lassen und bereits bei der Begrüßung wurde deutlich, dass er sich gründlich informiert hatte. Name, Alter, Wohnort, Herkunft, alles war parat. Und so verwickelte Göring Adlers Frau in ein vermeintlich lockeres Gespräch, aus dem es jedoch kein Entrinnen gab. Dabei steigerte sich das Interesse Görings bis hin zur Aufdringlichkeit, während die Anwesenheit des Gatten völlig ignoriert wurde. Begleitet von ständiger Aufforderung zum Trinken rückte Göring immer näher an Sophia heran, seine Hand wanderte von ihrer Hand auf ihren Arm, auf ihre Schulter und schließlich den Rücken hinunter, bis sie unterhalb der Taille an ihrer Hüfte einen vorläufigen Ruheplatz fand. Sein Gesicht drückte er in intimer Vertrautheit näher und näher an sie heran.

Sophia fand keine Möglichkeit, all dem zu entkommen. Sie hatte weder das Selbstbewusstsein noch die sprachliche Eloquenz großstädtischer Damen, um solche Herren in ihre Schranken zu verweisen. Und sobald sie versuchte, den Schutz ihres Gatten zu suchen, wurde sie, kaum sichtbar, aber doch sehr bestimmend, von ihrem Verehrer zurückgehalten.

Dann auf einmal wandte sich Göring unvermittelt an Adler: „Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich ihre Gattin in meine Privatgemächer entführe?“

Jedes Gespräch im näheren Umkreis verstummte, die Blicke gingen zu Boden oder ins Nichts. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen.

Dann trat der Oberleutnant in Aktion. In aller Ruhe und großer Bestimmtheit zog er seine Frau aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Er stellte sich vor ihr in seiner ganzen Größe auf, machte den Hitlergruß und antwortete mit lauter und fester Stimme: „Herr Generalfeldmarschall, es ist die Pflicht eines deutschen Offiziers, seine Frau bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.“

David hatte Goliath herausgefordert. Alarmierende Stille breitete sich aus, die Blicke kamen zurück und hefteten sich an die beiden Kontrahenten. Auch diese hatten sich fest im Blick, während ihre Körper zur völligen Bewegungslosigkeit erstarrten. Es wurde zu einem Kampf der Augen, wer sich zuerst abwandte oder nur irgendeine Bewegung machte, hatte verloren. Und es war beiden klar, dass es nichts zu gewinnen, wohl aber viel zu verlieren gab. Bei Göring, der zu seinem deutlich größeren Gegenspieler hinaufblicken musste, stand eine Menge Reputation auf dem Spiel. Er konnte, zumindest in diesem Augenblick, vor aller Augen seinen Gegner nicht verhaften und erschießen lassen, dieser hatte ja nichts Unrechtes getan. Er konnte ihn aber auch nicht einfach gehen lassen, weil er sich ihm widersetzt hatte und bestraft werden musste.

Adler wusste, dass er als Offizier so handeln musste, nicht nur, um seine Gattin, sondern auch, um seine eigene Ehre zu retten. Er wusste aber auch, dass er damit sein eigenes Todesurteil gesprochen hatte und fürchtete, den heutigen Abend nicht zu überleben. Keiner der beiden wusste in diesem Augenblick, was zu tun war, um diesen Zustand zu beenden. Und er hätte womöglich eine Ewigkeit angedauert, wenn nicht unverhoffte Hilfe hinzugekommen wäre.

Die Hilfe kam in Form einer brünetten Dame in einem eleganten goldenen Abendkleid. Sie war wie aus dem Nichts aus der Menge aufgetaucht und wandte sich auch nicht an die Kampfhähne, sondern an Adlers Gattin: „Lassen wir diese Herren sich doch duellieren, wir vergnügen uns derweil an der Bar.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie Sophia fest an der Hand und zog sie aus der Kampfzone heraus.

Schlagartig brach die Stille und wich minutenlangem tosendem Beifall und begeisterten Zwischenrufen, handelte es sich bei dem rettenden Engel doch um niemand anderen als Emmy Göring, der Gattin des Feldmarschalls. Sie war vor ihrer Heirat eine gefeierte Schauspielerin gewesen und lieferte sich nun, in Anbetracht der Tatsache, dass Hitler nicht verheiratet war, eine ständige Auseinandersetzung mit Magda Goebbels um den Rang der ersten „Hohen Dame“ des Deutschen Reiches. Sie hatte alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, was den beiden Streithähnen erlaubte, in aller Stille abseits der öffentlichen Wahrnehmung auseinander zu gehen.

Und während die Veranstaltung allmählich wieder ihren gewohnten Gang aufnahm und die beiden Kontrahenten genau darauf achteten, sich nicht wieder in die Quere zu kommen, wurde Adler immer bewusster, in welche Situation ihn dieses Ereignis gebracht hatte. Für den Moment glaubte er sich sicher. Und vielleicht war Göring ja auch so besoffen, dass er sich an nichts mehr erinnern konnte. Daran konnte er aber nicht so richtig glauben.

Im anderen Fall stand er von nun an auf Görings Abschussliste und nach einem gewissen Zeitraum, wenn für die anderen Gras darüber gewachsen war und sich eine passende Gelegenheit bot, würde Göring zuschlagen. Es blieben ihm alle Möglichkeiten, von der einfachen Verhaftung bis zur Erschießung oder zur Versetzung in ein Himmelfahrtskommando. Adler hing am seidenen Faden.

Diesen Gedanken hing Adler nach, während er sich auf den Weg zur Villa des Bankiers machte. Fünf Mann waren für diese Aktion bereitgestellt worden, allesamt deutsche. Es sollte ein Überraschungsschlag, eine Überrumplung werden, die Eigentümer sollten nicht mehr in der Lage sein, irgendetwas zu verändern, irgendetwas aus dem Haus zu schaffen oder das Haus durch mutwillige Zerstörung unbewohnbar zu machen. Und da man sich nicht darüber im Klaren war, wie weit die Informationskanäle der Borgias in die italienische Regierung hineinreichten, war auch nur die deutsche Seite beteiligt.

Die beiden Fahrzeuge, ein Kübelwagen mit Adler und einem Feldwebel sowie ein Mannschaftswagen mit drei weiteren schwer bewaffneten Soldaten erreichten das Anwesen. Sie brachen ohne Anmeldung das eiserne Eingangstor mit einer großen Eisenstange auf und preschten mit größtmöglichem Tempo die Einfahrt zur Villa hinauf. Dort legten sie eine Vollbremsung unter wegspritzendem Schotter hin und sprangen von ihren Fahrzeugen. Adler befahl seinem Adjutanten, alles abzusichern und das Personal in Schach zu halten, während er sich selbst auf die Suche nach dem Eigentümer machen wollte. Er packte einen völlig verängstigten Angestellten am Kragen, der ihm mit Handzeichen zu verstehen gab, dass dieser sich im oberen Stockwerk aufhalten würde.

Adler stürmte die geschwungene steinerne Treppe hinauf, erreichte einen weiträumigen Flur und entdeckte eine halb geöffnete Tür. Mit gezogener und entsicherter Pistole trat er ein und fand zwei Personen vor, die er auf Grund ihres höheren Alters, ihrer feinen, exklusiven Bekleidung und ihres Verhaltens als Herr und Frau Borgia identifizierte. Sie hatten sich nebeneinander aufgestellt, die Hände erhoben, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet waren. Ihr aufrechter Blick zeigte, dass sie in aller Würde bereit waren, sich dem Diktat des Eroberers zu unterwerfen.

Adler inspizierte den Raum. Es war die Bibliothek des Hauses, mit edlen Holzvertäfelungen und zahlreichen Gemälden, schweren Tischen und Sitzmöbeln. Damit könnte Göring sich durchaus zufrieden geben. Dann entdeckte er, dass eine der Regalwände etwas heraus stand. Er konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen und als er daran zog, wurde seine Vermutung zur Gewissheit. Warum verstecken alle ihre Tresore hinter einer Bücherwand, jeder weiß doch, wo er zuerst zu suchen hat.

Dieser Tresor jedoch war mehr, es war eine Schatzkammer. Neben Geld, viel Geld, in Lira und Dollars und Gold barrenweise fand sich eine Menge Schmuck darin. Halsketten, Ringe, Stecker, Broschen und weiß Gott noch alles, kunstvoll verarbeitet und in flachen Kästchen abgelegt, so wie sie der Juwelier herauszieht, wenn man seiner Frau ein Geschenk zur Geburt des Sohnes macht.

Während sich Adler von seinem Fund ab und seinen Gefangenen wieder zuwandte, schlich sich ein Gedanke in seinen Kopf. Kaum wahrnehmbar zunächst. Wie ein winziger Wurm, der sich in einen Apfel frisst. Aber kaum ist er darin angelangt, wird er immer größer und dicker und gibt keine Ruhe, bis er sich schließlich durch den ganzen Apfel durchgefressen hat.

Warum sollte Göring das alles für sich allein bekommen? Es war doch sonnenklar, diese habgierige Krake würde alles mitnehmen. Wahrscheinlich würde man das ganze Haus nach seinem Aufenthalt nicht mehr wiedererkennen, alles, was irgendeinen Wert hatte, würde nach Carinhall verschleppt. Warum sollte nicht Adler selbst etwas davon haben?

Es war eine einmalige Gelegenheit. Er könnte sich ein sorgenfreies Leben für sich und seine Familie verschaffen. Er könnte die Familie seiner Frau unterstützen, zum Retter ihrer Burg werden. Die Anlage verschlang Unsummen, von der Familie kaum noch aufzubringen. Dies würde ihm endlich Anerkennung und Respekt seiner Schwiegereltern einbringen, wurde er doch bisher als Fremdling und des Adels unwürdig angesehen.

Er müsste sich nur von diesem Schatz bedienen und warten, bis der Krieg zu Ende war.