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Es ist geschafft: Silke und Maja haben einander wieder. Lagen in den letzten Monaten noch Hunderte Kilometer zwischen den besten Freundinnen, so leben sie nun in derselben Stadt, ja sogar in denselben vier Wänden. Das Einzige, das die Stimmung in ihrer gemütlichen Frauen-WG trübt, ist der Liebeskummer, der einfach nicht weggehen will. Denn der Umzug nach Krefeld hat Maja und Silke zwar wieder vereint, sie aber von ihren Liebsten Zoran und Oliver getrennt. So schlagen sich die beiden Frauen nun mit quälender Sehnsucht herum. Und nicht nur ihre Beziehungen stellen die Freundinnen vor eine Herausforderung. Auch dass Silke plötzlich schwanger ist, erweist sich als großes Problem. Denn ein biederes Familienleben entspricht so gar nicht ihrer Vorstellung vom Glück. Da hilft es auch nicht, dass Oliver ankündigt, mit seiner pubertierenden Tochter zu ihr zu ziehen. Während Silke meint, in einem schlechten Traum gefangen zu sein, blickt Maja etwas neidisch darauf, wie schnell sich das Leben ihrer Freundin ändert. Insgeheim wünscht sie sich nämlich all das, was Silke gerade in den Schoß zu fallen scheint. Mit Salat muss durchs Kaninchen bringen Ulrike Renk und Silke Porath ihre sympathischen Heldinnen Silke und Maja zurück, die trotz Fernbeziehungssorgen und schwangerschaftsbedingten Gefühlsschwankungen nichts von ihrem Charme verlieren. Ein rasanter Roman, der zum Mitleiden und Mitlachen einlädt - und auch unabhängig von Schokolade ist auch nur Gemüse gelesen werden kann.
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Seitenzahl: 355
Ulrike Renk & Silke Porath
1. Kapitel
Der perfekte Abend geht irgendwie anders. Okay, ich habe zwei Tafeln Milka und eine Flasche meines Lieblingsweißweins. Im Ofen brutzelt Lasagne und duftet köstlich. Aus der Videothek habe ich mir zwei DVDs mitgebracht. Filme, die ich schon lange sehen wollte. Die Zutaten für einen perfekten Abend sind also vorhanden. Ich habe auch die Ruhe dazu, denn ich bin allein. Fast jedenfalls. Seit einem halben Jahr teile ich mir eine wunderschöne Altbauwohnung in einem wunderschönen Jugendstilhaus mit Maja, meiner besten Freundin.
Sie arbeitet bei der hippen Frauenzeitschrift Evelyne als Lebensberaterin und moderne Kummerkastentante. Ich bin Redakteurin der Kochzeitschrift EatArt und habe, genau wie Maja, ein Büro im Düsseldorfer Medienhafen. Die Jobs in Düsseldorf haben wir ebenso lange wie die tolle Wohnung in Krefeld.
Wie gesagt, es könnte der perfekte Freitagabend sein, ist es aber nicht. Das liegt nicht einmal zwingend an Carlchen, der zu meinen Füßen liegt und schnarcht.
Carl vom Stutenhof hat eine Ahnenreihe, die sich vermutlich bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen lässt. Dabei ist Carl nicht groß, sondern eher klein. Und er schnarcht, nach allerbester Dackelmanier. Pupsen kann er auch in sämtlichen ekeligen Geruchsrichtungen. Benehmen ist ein Fremdwort für ihn, und das, obwohl wir seit einem halben Jahr jede Woche sehr tapfer mit ihm zur Hundeschule gehen. Doch Carlchen hat einen Dickkopf und will sich nicht benehmen. Jedenfalls nicht so, wie wir es gern hätten. Er war Teil des Mietvertrages und wir mussten ihn quasi als Inventar der Wohnung übernehmen und auch behalten, ansonsten wäre er schon längst im Tierheim gelandet.
Doch nun liegt er zu meinen Füßen und schnarcht selig. Wie gesagt, die Zutaten für einen perfekten Abend habe ich beisammen, aber trotzdem will sich keine Freude einstellen.
Ein perfekter Freitagabend mit perfekter Lasagne, Weißwein und Filmen braucht eine weitere Zutat – jemand, mit dem man das teilen kann. Und Maja ist in Hamburg, bei Zoran, ihrem aktuellen Lover.
Mein aktueller Lover Oliver ist in Berlin. Eigentlich wollte er dieses Wochenende runterkommen, doch heute Morgen ist Saskia, seine 14-jährige Gruseltochter, beim Ladendiebstahl erwischt worden. Mich hat das nicht sonderlich gewundert, denn das Kind hat ebenso viele Probleme wie Piercings (sie wäre ein wunderbarer Lieferant für jeden Altmetallsammler). Seit sich Oliver von seiner Frau getrennt hat, wird es immer schlimmer mit ihr. Die Familientherapeutin hat zu Anfang gute Erfolge erzielt, doch anscheinend lässt die Wirkung jetzt nach. Oliver vermutet, dass Saskia um Aufmerksamkeit buhlt und eifersüchtig auf mich ist, deshalb hat er beschlossen, das Wochenende lieber ihr als mir zu widmen.
Einerseits kann ich das verstehen, andererseits bin ich enttäuscht. Und fühle mich einsam. Kinder sind eine Plage, denke ich und schenke mir das zweite Glas Wein ein. Wie gut, dass ich keine habe, denn ich eigne mich wirklich nicht als Mutter, mir fehlen die entsprechenden Gene.
Der Ofen piepst, die Lasagne ist fertig. Ich hole sie in unser traumhaftes Wohnzimmer, stelle sie auf den schnuckeligen Couchtisch und lümmele mich auf die kuschelige rote Wohnlandschaft in Herzform, die Maja und ich uns von unserem ersten Gehalt geleistet haben. Dann nehme ich die Fernbedienung und zappe durch die Programme. Der Geruch der Lasagne hat Carlchen geweckt und er sitzt neben mir, schaut mich mit seinen Dackelaugen fordernd an.
»Ist noch zu heiß«, murmele ich und tätschele seinen Kopf. »Wir müssen noch warten. «
Irgendwie bin ich froh, dass ich die Lasagne teilen kann, und sei es auch nur mit einem Hund.
»Maja, du fehlst mir«, flüstere ich und ziehe die Nase hoch. Für einen kurzen, ganz kurzen Moment überlege ich, ob ich ihr eine SMS schicke und ihr mein Leid klage, aber dann verwerfe ich den Gedanken. Sie führt mit Zoran, genauso wie ich mit Oliver, eine Fernbeziehung und sehnt jedes Wochenende herbei, das die beiden gemeinsam verbringen können.
Zu zweit sind sie allerdings auch nicht und ein Eckchen Schadenfreude schleicht sich in meine Gedanken, wofür ich mich sofort schäme. Zoran hat einen fünfjährigen Sohn, den er allein erzieht, seit die Mutter sämtliche Rechte und Pflichten abgegeben hat. Marten, so heißt Zorans Erzeugnis eines One-Night-Stands, ist ein wahrer Satansbraten. Aber Maja, die deutlich mehr Muttergene hat als ich, hat ihn in ihr Herz geschlossen.
Ich teste vorsichtig die Lasagne, doch trotz aller Obacht verbrenne ich mir die Lippe und muss mit Weißwein kühlen.
»Immer noch zu heiß«, erkläre ich Carlchen. Wir beide schauen uns seufzend an, dann stehen wir auf, gleichzeitig. Die Terrassentür führt auf eine kleine Veranda, die im Winkel des L-förmigen Hauses liegt und überdacht ist. Von dort geht die Treppe mit dem wundervoll geschwungenen Eisengeländer zehn Stufen nach unten in den kleinen Garten, der von hohen Ligusterhecken begrenzt wird. Auf dem Treppenabsatz stehen einige Kräutertöpfe. Darunter auch unser Basilikumtopf. Hinter dem Topf liegt eine Notfallschachtel Zigaretten. Carlchen stürmt die Treppe hinunter und inspiziert den Garten, während ich mir eine Zigarette gönne.
»Ach Maja, du fehlst mir«, seufze ich wieder. Auch Notfallzigaretten schmecken gemeinsam besser als einsam.
»Du bist doof und Papa ist doof und alles ist doof. « Wenn man fünf Jahre alt ist, ist manchmal alles doof. Besonders um acht Uhr abends.
»Ich bin nicht müde!« Marten stampft mit den Füßen auf den Boden und verschränkt die Arme vor der Kinderbrust. Dazu reckt er das Kinn nach oben und schaut Zoran und mich sehr, sehr wütend an.
Mein Liebster seufzt und stellt sein Weinglas auf den Papierstapel, der auf dem Couchtisch liegt. Eigentlich wollte er mir aus der Druckfahne seines Thrillers vorlesen, der demnächst erscheint. Ich bin ja eher ein Angsthase, aber wenn Zoran von verspritztem Gehirn, abgezogener Menschenhaut oder lebendig begrabenen Großmüttern erzählt, wird mir jedes Mal warm ums Herz. Seine Stimme ist so verdammt sexy und …
»Ich will noch fernsehen!«, mault Marten. Er sieht genauso aus wie sein Vater, nur ein paar Nummern kleiner. Vielleicht wickelt er mich deswegen immer um den Finger?
»Marten, mein Schatz, die Maja und ich wollten jetzt mal allein sein«, versucht es Zoran. »Weißt du, wir sehen uns doch so selten und …« Weiter kommt er nicht, denn Marten ist mit einem Satz auf der Couch, kuschelt sich an mich und drückt mich ganz, ganz fest. Manchmal ist er so. Manchmal.
»Du hast die Maja die ganze Nacht«, protestiert er.
Du auch, denke ich, sage aber nichts. Marten scheint nämlich einen eingebauten Magneten zu haben. Das Gegenstück steckt entweder in Zoran oder in mir, das erforsche ich noch. Jedenfalls wird dieser Magnet Nacht für Nacht zwischen zwei und vier Uhr aktiviert und das Kind magisch in unser Bett gezogen. In die Mitte, wo Marten schlafend einen Propeller macht und seine Ellbogen und Knie wahlweise in mein Gesicht, meinen Bauch oder meine Brüste rammt.
»Die Maja kommt aber nur so selten. « Zorans Stimme wird ein bisschen lauter und ich ahne, dass das Ende des väterlichen Geduldsfadens bald erreicht ist. Ich halte mich da besser raus, als Wochenend-Mutter habe ich kein wirkliches Stimmrecht. Und außerdem bin ich gar keine echte Wochenend-Mama. Höchstens eine Monats-Mama. Seit ich von Hamburg nach Krefeld gezogen bin (in Düsseldorf ist die Redaktion der Evelyne, für die ich die Ratgeberseiten betreue … was ich immer noch nicht ganz glauben kann), findet unsere Beziehung per Internet und Telefon statt. Was nicht gerade befriedigend ist, körperlich schon gar nicht. Und das wird es übrigens heute auch nicht, weil sich pünktlich zu diesem lang ersehnten Wochenende meine verfluchte Menstruation eingestellt hat. Immerhin hat Silke, meine liebe beste Freundin, mich mit starken Tabletten ausgestattet, ehe ich mich heute Mittag mit meinem Cinquecento auf den Weg nach Berlin gemacht habe. So komme ich wenigstens ohne Bauchkrämpfe durch die Tage.
Was sie wohl gerade macht? So ganz allein in Krefeld … na ja, fast, sie hat Carlchen. Der ist auch ein Mann, irgendwie, wenn auch ziemlich klein und mit vier Beinen. Aber ein Dackel ist besser als gar niemand und wenn sie Glück hat, kann sie sich mit Alice Weißer im Treppenhaus unterhalten. Über rechtsdrehendes Bohnerwachs, ökologisch total wertvolle Waschnüsse oder sonstigen Haushaltskram, den unsere Obermieterin gern verbreitet. Alice spricht sich übrigens »Alitze«. Klingt nach »Haubitze« und das entspricht exakt ihrem Charmequotienten.
»Entschuldigt mich mal eben«, sage ich, schiebe Marten beiseite und verschwinde auf den Balkon. Zoran hat zwar keinen Basilikumtopf, aber trotzdem eine Notpackung Zigaretten. Ich zünde mir eine Kippe an, lasse den Blick schweifen, stelle mir vor, dass hinter den Häusern der Hafen ist, und schicke eine SMS an Silke: Tausche anhänglichen Marten gegen News von Alitze! Dann puste ich den Rauch in den Hamburger Nachthimmel und warte auf eine Antwort. Es kommt keine. Vielleicht ist sie doch unterwegs? Oder sie chattet mit Oliver, ihrem Kollegen und aktuellen Lieblingsmann. Ich würde ihr wünschen, dass sie just in diesem Moment spontan auf dem Weg nach Berlin ist.
Bevor ich ins Wohnzimmer zurückgehe, mache ich einen Abstecher in die Küche und nehme drei Schokoriegel aus der geheimen Geheimschublade. Vielleicht kann ich Marten damit bestechen und er verzieht sich ins Bett? In sein Bett.
»Ach nee. « Im Wohnzimmer herrscht Stille. Zorans Kopf ist nach hinten gekippt und er schnarcht mit halb geöffnetem Mund. Marten liegt quer über seinem Schoß. Auch sein Mund steht halb offen, aber er schläft lautlos. Ich schleiche zum Tisch, nehme mir die ersten Seiten von Zorans Manuskript und verschwinde ins Schlafzimmer. Immerhin habe ich jetzt drei Kissen und drei Decken für mich ganz allein. Und drei Schokoriegel. Ich baue mir ein Nest, reiße die Packung des ersten Riegels auf und beginne zu lesen.
Das Manuskript des Satans – Thriller – von Zoran Juhasz. Noch ist das nur schwarze Schrift auf weißem Grund, aber ich habe den Coverentwurf gesehen. Zoran hat ihn mir vor zwei Wochen gemailt. Ein schwarzer Hintergrund, sehr viel Nebel, eine Burgruine und die Umrisse eines Skeletts, das eine Schriftrolle in der knöchernen Hand hält. Sieht richtig gut aus. Ich blättere um und mein Herz bleibt für einen Moment stehen:
»Für M. & M. – in Liebe«
M. Marten. M. Maja.
Ich muss ein Tränchen verdrücken, als ich wieder und wieder die Widmung lese. Erst zwei Schokoriegel später schaffe ich es, umzublättern. Mein Herz klopft wie wild, obwohl ich noch keinem einzigen Toten begegnet bin. Ich bin so verdammt glücklich in diesem Moment! Ich kuschele mich tiefer in die Kissenburg und freue mich, dass ich noch zwei ganze Tage Zoran vor mir habe.
Im Fernsehen kommt nichts, aber so gar nichts. Ein Familienfilm, ein alter Krimi und zwei blöde Quizshows. Ist ja klar, freitagabends haben die Leute etwas Besseres zu tun, als vor der Glotze zu hängen. Alle, nur ich nicht. Die Lasagne ist inzwischen auf essbare Temperatur abgekühlt und ich teile sie schwesterlich mit Carlchen. Dabei weiß ich genau, dass es sich spätestens um zwei Uhr heute Nacht rächen wird. Käse verträgt er nicht so gut und ich habe eine ganze Packung Gouda in die Auflaufform gerieben. Wenn er Käse isst, bläht der Hund. Aber das stört mich nicht, denn er schläft mit Vorliebe in Majas Zimmer.
Nachdem ich das zweite Mal alle 42 Programme durchgezappt habe, nehme ich mir die DVDs vor. Den Actionfilm, ich hatte ihn extra für Oliver besorgt, lege ich sofort zur Seite. Allein mag ich mir so was nicht anschauen. Den anderen Film aber auch nicht – es ist eine schöne Liebesgeschichte, was fürs Herz. Aber ohne einen Oliver, an den man sich kuscheln kann, oder eine Maja, die an exakt den gleichen Stellen lacht oder zum Taschentuch greift, ist das kein Vergnügen.
Soll ich den Laptop hochfahren und mal nachsehen, was es auf Facebook gibt? Aber es ist Freitagabend und alle meine Freunde sind unterwegs oder machen einen auf Familie. Auf Facebook tummeln sich jetzt nur die Verzweifelten oder die einsamen Herzen.
Einsam fühle ich mich auch. Und ein wenig wütend. Aber warum habe ich mir auch einen Mann ausgesucht, der einen derartig dicken Rucksack mit sich herumschleppt? Alleinerziehender Vater einer Pubertierenden. Saskia ist vor einem Jahr zu ihm gezogen. Vorher wohnte sie bei ihrer Mutter und hat Oliver nur alle 14 Tage besucht. Damit hätte ich problemlos leben können. Aber eine schwarz gekleidete und totenblass geschminkte Göre, die mehr Metall an sich trägt als R2-D2 und die jetzt auch noch aus emotionalen Gründen klaut, das ist ein wenig zu viel für mich. Ich spüre, dass Tränen in mir hochsteigen.
Nein, ein Liebesfilm ist jetzt definitiv nicht die richtige Wahl. Ich stehe auf und gehe zur Regalwand, schaue unsere DVD-Sammlung an. Carlchen rülpst laut. Wenigstens einer war heute Abend hier glücklich, denke ich und kichere leise. So langsam löst sich meine Traurigkeit. Früher habe ich doch auch nicht heulend auf dem Sofa gesessen, nur weil niemand meine Hand hielt.
Ich ziehe die DVD von Jamie Oliver aus dem Schrank, die mir mein Liebster zu Weihnachten geschenkt hat. Rezepte und Kochen, zwei Dinge, die mich wirklich glücklich machen und in denen ich auch allein schwelgen kann.
An die ersten zehn Minuten und das erste Rezept kann ich mich noch erinnern, als ich wieder aufwache, danach muss ich eingeschlummert sein. Carlchen sitzt an der Terrassentür und winselt leise. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. In der letzten Zeit bin ich immer müde. Ist das noch Winterschlaf oder schon Frühjahrsmüdigkeit?
Ich nehme meine Jacke, schlüpfe in die Stiefel und pfeife leise. Carlchen kommt begeistert angerannt. Da es schon nach Mitternacht ist, lasse ich ihn ohne Leine laufen.
Wir wohnen in der Hohenzollernstraße. Eigentlich ist sie eine Allee – der Grünstreifen in der Mitte ist parkähnlich und hohe Bäume beschatten im Sommer die Straße. Ideal, um mit einem kleinen Hund Gassi zu gehen.
Ich gehe über die Straße zu der bezaubernden kleinen Statue. Sie stellt ein Pärchen dar, einen Jungen und ein Mädchen. Maja sagt immer kichernd: »Das sind Saskia und Marten. « Sonst schenke ich den beiden ein Lächeln, doch heute Abend ist mir nicht danach. Während Carlchen schnüffelnd im Gebüsch verschwindet, ziehe ich mein Handy aus der Jackentasche. Vielleicht hat Oliver ja angerufen? Doch der verdammte Akku ist mal wieder leer und das Display bleibt schwarz. Ich frage mich düster, ob diese Beziehung überhaupt eine Zukunft hat.
Ganz in Gedanken versunken, drehe ich meine Runde. Als ich die Haustür aufschließe, fahre ich erschrocken zusammen. Auf der Treppe, die geschwungen nach oben führt, sitzt jemand und schnarcht leise. Dann schnuppere ich und hole erleichtert Luft. Es stinkt nach Mottenpulver, also kann das nur Alice Weißer, die Obermieterin, sein. Was macht sie dort bloß auf der Treppe? Na, eigentlich kann mir das egal sein. So leise wie möglich will ich mich an ihr vorbeischleichen, denn Alice ist die letzte Frau vor der Autobahn, mit der ich reden will.
Doch Carlchen macht mir natürlich einen Strich durch die Rechnung. Er stürmt auf sie zu und leckt ihr über das Gesicht. Das Schnarchen hört auf und ein lauter Schrei gellt durchs Treppenhaus.
»Tschuldigung«, murmele ich und packe mir Carl unter den Arm.
»Wieso ist der nicht angeleint?« Alice schaut mich missbilligend an. »In der Stadt ist Leinenpflicht. «
»Aber nicht im Haus«, sage ich und schiebe den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür.
»Du, Silke, ich wollte mal mit dir reden«, sagt Alice und klingt plötzlich weinerlich.
»Es ist zwölf durch«, sage ich und spüre Entsetzen.
»Morgen ist doch Samstag und du bist ganz allein. «
Woher weiß sie das denn schon wieder? Offensichtlich gibt es nichts, was sie nicht weiß. Vielleicht hört sie ja unsere Wohnung ab oder so.
»Ich bin nicht allein«, lüge ich. Wirklich gelogen ist es ja auch nicht, denke ich und streichele über Carlchens Kopf. Er pupst und der Geruch von verfaulten Eiern breitet sich aus.
»Aber Maja ist heute Mittag weggefahren und dein Oliver ist nicht angekommen. Das hätte ich nämlich gesehen. Und gehört – seine Tochter ist ja nicht zu überhören. «
»Hm«, mache ich und drücke die Tür auf. Jetzt schnell »Gute Nacht« rufen, die Tür schließen und ich bin ihr entkommen.
Doch ich habe die Rechnung ohne Alice gemacht. Mit Überschallgeschwindigkeit springt sie auf und hechtet mir hinterher. Schneller als ich reagieren kann, ist sie an mir vorbei in die Wohnung gehuscht und nimmt schnurstracks den Weg in die Küche. Bevor ich meinen Mantel aufgehängt und die Stiefel ausgezogen habe, höre ich schon, wie sie den Kühlschrank öffnet.
»Maja, warum hast du mich bloß allein gelassen?«, stöhne ich. Maja kann wunderbar mit Alice umgehen, sie hätte sie in null Komma nix wieder hinauskomplimentiert. Ich stöpsele das Ladegerät ins Handy und folge unserer Nachbarin in die Küche. Es muss einen Grund geben, warum sie hier aufgetaucht ist.
»Das kitzelt!« Ich kichere ins Kissen. »Ich will noch ein bisschen schlafen, bitte!« Meine Augen wollen nicht aufgehen. Kein Wunder, sie haben gestern gelesen, über vierzig Seiten. Bis sie brannten und die Angst vor dem Thriller in bleierne Müdigkeit umschlug. Und jetzt knuspelt Zoran an meinem Ohr …
»Bitte«, stöhne ich. Aber das Knubbeln hört nicht auf. Dabei weiß er doch, dass er keine Chance hat, weil die kleine Maja hormonbedingt gesperrt ist!
»Was ist das und was macht man damit und kann man das auch in die Nase stecken und warum schläfst du noch, das Toastbrot habe ich mir heute allein geschmiert und die Nutella ist leer und der Papa duscht gerade und mir ist langweilig«, knattert Marten los wie ein Maschinengewehr. Ich reiße die Augen auf und versuche, das Bild scharf zu stellen: Da sitzt ein Fünfjähriger neben mir im Bett. An seinen Ohren baumelt etwas und dasselbe Etwas will er eben in meiner Nase versenken. Blitzschnell drehe ich den Kopf zur Seite.
»Was machst du mit meinen Tampons?« Und wie kommt der Zwerg an meinen Kosmetikkoffer? Ich habe ihn doch extra aufs Regal im Bad gestellt, nachdem er bei meinem vorletzten Besuch mit meiner sündhaft teuren parfümierten Bodylotion den Duschvorleger eingecremt hatte.
»Guck mal, ich hab Ohrringe!«, freut sich Marten und schüttelt den Kopf. Die Tampons baumeln an den blauen Fäden, die er sich über die Ohrmuscheln gezogen hat. Ich schnappe links und rechts neben seinen Kopf und konfisziere die Damenhygieneartikel.
»Wo hast du die her?«, versuche ich es noch mal.
»Wieso sind die eingepackt? Ich musste erst alle auspacken«, beschwert sich das Kind.
»Marten, das sind keine Ohrringe, das … also … das …« Herrjeh. Wie erklärt man einem Fünfjährigen, wozu es Tampons gibt? Bienchen, Blümchen, dieser Mist? Nein, auf keinen Fall, aber ich weiß auch nicht, wie weit Vater und Sohn in der sexuellen Aufklärung schon sind, und ich will mich keinesfalls einmischen. Ob Marten schon weiß, wo die Babys herkommen?
»Die sehen sowieso doof aus«, beschließt er und hopst vom Bett. »Ich muss mal!«
»Dann geh bitte. Jetzt!« In mir steigen längst verdrängte Erinnerungen auf – es gab eine Zeit, in der Marten nur Kacka machen konnte, wenn jemand dazu sang. Das ist zum Glück seit einigen Wochen vorbei, aber mit dem Abwischen oder zielgerichteten Pinkeln hat er es noch nicht so. Tatsächlich verschwindet der Zwerg wortlos und ich sinke stöhnend in die Kissen zurück. Eigentlich ist er ja ganz süß. Süßer jedenfalls als Saskia. Die Tochter von Silkes Liebstem ist so was von pubertär, dass man die Hormone quasi greifen kann. Das Mädchen ist unberechenbar und man weiß nie, wie sie am nächsten Tag aussehen wird. Im Moment hat sie ihre schwarze Phase, was ihr eigentlich ganz gut steht. Ich denke jedenfalls, dass sie noch auf alles Dunkle steht. Wissen kann man das bei der Göre wie gesagt nie. Na, in zwei Wochen werden wir das sehen. Silke und ich haben beschlossen, unsere Liebsten zum Frühlingsbeginn nach Krefeld einzuladen. Mit viel Glück können wir dann schon nachmittags auf der Terrasse sitzen. Auf jeden Fall aber kann Silke sich mal wieder austoben und ein großes Menü kochen. Sie ist im Augenblick auf Koch-Entzug, denn für uns zwei und Carlchen reichen einfache Hausfrauengerichte.
Ich rolle mich auf die Seite und schließe die Augen. Zorans Bett ist sehr komfortabel, wenn kein rotierendes Kind darin liegt. Dort, wo sonst Marten schlummert und um sich tritt, liegt ein Kissen. Ich knautsche es zusammen, nehme es in den Arm und stelle mir vor, dass es grüne Augen und blonde Haare hat. Zoran-Augen. Zoran-Haare. Ich wünsche mir ein Zoran-Maja-Mädchen. Ich habe mir auch schon Namen ausgedacht. Marie und Sophie sind meine Favoriten. Entscheiden kann ich mich noch nicht. Nur der Zweitname steht seit meiner Kindergartenzeit fest: Silke.
Was der Vater in spe dazu sagt, weiß ich nicht. Ich habe noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden, um mit ihm darüber zu reden. Ich denke, dass er Kinder mag. Mit Marten jedenfalls geht er toll um und ich zolle ihm meine Hochachtung, wie er als alleinerziehender Vater alles so gut hinbekommt. Bei ihm und der Kindsmutter sind die klassischen Rollen vertauscht: Martens Brüterin jobbt mal hier, mal da auf dieser Welt als Investmentberaterin und hat an Marten höchstens in den Ferien Interesse. Dafür schreibt sie etwa alle 14 Tage eine Postkarte und zahlt den Jungs einen strammen Unterhalt. Der allerdings an manchen Tagen schwer verdient ist. Tampons zu Ohrringen ummodeln ist harmlos gegen die Ideen, die Marten sonst so hat.
Ich kuschele mich an meine Kissentochter und lausche auf die Geräusche in der Wohnung. In der Küche klappert es, im Wohnzimmer scheinen Comicfiguren über den Bildschirm zu flitzen. Zoran hat Marten vor der Kiste geparkt, damit er … Richtig!
»Schläfst du noch?«, flüstert er und balanciert ein Tablett ins Zimmer herein.
»Ja«, gaukle ich ihm vor. Er stellt das Tablett auf den Boden und krabbelt zu mir ins Bett. Seine Haare sind noch feucht vom Duschen und er riecht frisch und einfach – lecker. Zu dumm, dass ich blockiert bin. Aber laut meiner Rechnung habe ich in 14 Tagen meinen Eisprung … und dann …
»Schau mal, wie süß«, sage ich und zeige auf das Kissen-Baby.
»Allerdings, du bist süß, wenn du so zerknittert bist. «
Sofort fühle ich mich schlecht. Ich ahne, dass ich einen dicken Kissenfaltenabdruck auf der rechten Wange habe, mit Sicherheit verquollene Augen und den lästigen Morgen-Mundgeruch.
»Ich hab dir Kaffee gemacht«, sagt Zoran und angelt nach der Tasse. Ich setze mich auf, trinke einen Schluck und versuche, unauffällig zu gurgeln, um so viel Mundgeruch wie möglich mit dem Milchkaffee wegzuspülen.
»Du, ich würde gern mal mit dir reden«, fasse ich mir ein Herz. »Ich …«
Zorans Blick fällt auf das Manuskript. »Ja? Gefällt es dir?«
»Äh. Ja. Ja und wie. Das ist … also, spannend ist gar kein Ausdruck, aber …«
»Oh!« Mein Schatz sieht sehr erleichtert aus. So selbstbewusst er in seinem Job ist (er importiert ungarische Lebensmittel), so unsicher ist er, was sein schriftstellerisches Talent betrifft. Ich habe von Literatur keine große Ahnung, aber was ich von Zoran gelesen habe, ist ganz großes Kino. Das sage ich ihm auch und er strahlt mich an.
»Maja, ich muss dir noch etwas beichten«, sagt er, nachdem er einen Teller mit zwei Scheiben Buttertoast auf meinen Schenkeln platziert hat.
»Ja?« Ich beiße genussvoll in den noch warmen Toast.
»Für Marten und mich wird sich einiges ändern. Oder alles, irgendwie. «
Alice nimmt die Weinflasche aus dem Kühlschrank, ein Glas aus der Anrichte (einem alten Büroschrank, den wir aufgepeppt haben) und gießt sich ein.
Sie wringt die Flasche förmlich aus – aber es kommt nur noch ein halber Schluck heraus. Ein verzweifelter Blick aus verweinten und verschlafenen Alice-Augen trifft mich.
»Mehr?«
»Hmm«, mache ich und gehe in den Keller. Natürlich haben wir immer Wein vorrätig, man weiß ja nie, wer kommt. Aber Alice muss es ja nun wirklich nicht sein. Ich wähle den Kochwein – Soave von Aldi – und gehe wieder nach oben.
»Ist nur kellerkalt«, sage ich und versuche, bedauernd zu klingen.
»Ist egal«, sagt sie und versucht erst gar nicht, ihre Gier zu verbergen. Nanu? Ist sie unter die Alkoholiker gegangen? Das passt so gar nicht zu ihr. Alice ist Grundschullehrerin. Ihr Brot verdient sie mit den armen Kindern, die sie unterrichtet, aber die Zeit nach dem Unterricht verbringt sie am Schreibtisch oder auf dem Balkon. Dort züchtet sie nicht Basilikum, so wie wir, sondern streng ökologisch angebautes Gemüse. In Plastiktüten.
»In den Tüten halten sich die Flüssigkeit und die Nährstoffe«, hat sie mir erklärt. »Und die Wärme. Wie in einem kleinen Treibhaus. Magst du mal kosten?« Das war, als wir einzogen. Da hatte sie gerade Kartoffeln geerntet. Ansonsten baut sie unter anderem Tomaten, Pastinaken und Spinat an. Ihr Balkon ist eine Art Parcours – man muss sich zwischen den Tüten mit Anzuchterde hindurchschlängeln.
Jedenfalls stürzt sie jetzt in null Komma nix den Wein hinunter, schüttet nach, stürzt wieder. Dann schwankt sie ins Wohnzimmer zu unserem herzförmigen Sofa und lässt sich mit einem herzerweichenden Seufzer fallen.
»Isch kann nischt mehr«, seufzt sie.
Glaube ich sofort.
»Wasnlos?«, murmele ich und frage mich, ob ich das wirklich wissen will.
»Na, da war dieser Typ, weißte?« Sie sieht mich mit einem Blick an, der Carlchens in keiner Weise nachsteht. Volldackel.
»Ne, weiß ich nicht. Welcher Typ?«
»Na, der Typ halt. Hab ich bei Ehearts kennengelernt. «
»Ehearts?« Ein großes Fragezeichen schmückt mein Gesicht.
»Partnership online. Ehearts – das größte Partnerportal. Kennste nich?«, nuschelt sie. »Ausse Werbung?« Und dann schläft sie ein. Sie schnarcht lauter als Carlchen.
Nö, kenne ich nicht, denke ich. Brauche ich auch nicht. Oder vielleicht doch? Demnächst? Mein Handy piepst. Gerade passend. Das ist sicher Maja. Ich schaue auf die Uhr. Es ist fast halb zwei. Na klar. Marten krabbelt gerade bei denen ins Bett und mimt den Propeller. Und Maja krabbelt aus dem Bett und sucht das Sofa. Hatten wir schon mindestens zwanzig Mal. Zumal sie ja auch die rote Pest hat und Zoran nicht zum Zuge kommen kann. Mich stört das ja nicht. Oliver auch nicht. Oder? Ich denke nach. Wann hatte ich das letzte Mal meine Periode? Meine Tage? Die rote Pest? Hmmm. Letzte Woche. Jawohl. Und zwar nur für läppische eineinhalb Tage. Fast gar nicht also, aber immerhin genug, um mir die Wäsche zu versauen. Und wie immer mitten in der Woche. Das macht mein Körper wenigstens gut. Er stört mich nicht an romantischen Wochenenden. Wobei es eben Oliver auch nichts ausmacht – wir legen ein Handtuch unter und gut ist es. Handtücher schickt ihm immer seine Mama. Zwei Pakete pro Jahr. Sie behauptet, die wären von Tchibo, aber ich glaube, sie hat sie aus der Altkleidersammlung. Seine Mutter – noch kenne ich sie nur flüchtig (Weihnachten in Berlin: Eine halbe Stunde und nur zwei Schlucke Kaffee dauerte das Treffen, dann musste ich gehen), aber sie ist Schwäbin durch und durch. Und so wenig ich verstehe, was sie sagt (»Mai, schee isch des hiar«), so wenig will ich eigentlich von ihr wissen.
Ich nehme mein Handy. Jawoll, eine SMS, aber nicht von Maja, sondern von Oliver. Ruf mich an. Bitte. Jetzt. Gesendet vor 57 Sekunden.
Ich schlucke. Schlucke wieder. Er will mit mir reden? Jetzt? Um diese nachtschlafende Uhrzeit? Soll ich auf schlafende Silke machen und einfach nicht anrufen? Ein Anruf um diese Zeit bedeutet … ja, was bedeutet das? Er macht Schluss. Er hat es sich überlegt und denkt, wir passen nicht zusammen. Es geht einfach nicht. Das Kind (Saskia als Kind zu bezeichnen bedeutet viel, viel Wohlwollen), die Entfernung. Alles.
Vor einer Stunde noch habe ich darüber nachgedacht, ihn abzusägen. Vor 89 Sekunden habe ich eine Partnervermittlung im Internet ganz entfernt in Erwägung gezogen und nun hängt mir das Herz auf Kniehöhe. Da gehört es nicht hin, zumal es heftig pocht.
Oliver.
Oliver mit seinen roten Locken.
Oliver mit den strahlend blauen Augen.
Oliver mit den Sommersprossen, die sich über seinen ganzen Körper verteilen. Sommersprossen, die aussehen wie Sternbilder. Wenn er lacht, sehe ich die Kassiopeia. Ist er traurig, ist auf seiner Wange der Große Wagen zu sehen, und wenn er wütend ist, dann erscheint dort der Orion oder der Perseus.
Gerade jetzt stelle ich mir die Kassiopeia vor. Und seine Nase und Lippen. Lippen, die ich küssen möchte. Er schmeckt sooo gut. Sosososo gut. Silke, sage ich mir, willst du diesen Mann wirklich aufgeben? Wirklichwirklich?
Nein. Ich liebe ihn.
Trotz der Entfernung.
Trotz Perseus.
Trotz … Saskia.
Trotz Saskia? Ich seufze. Der Wein ist leer. Ach nein, die gute Flasche habe ich ja mit rausgenommen zum Basilikum und zu den Zigaretten. Ich schleiche mich auf den Treppenvorsprung, dabei brauche ich nicht zu schleichen. Alice und Carl liegen auf der Couch und schnarchen im Duett.
Ich drücke auf die Kurzwahl, schenke mir ein Glas ein und schüttele eine Zigarette aus der Schachtel.
»Hi«, sage ich zaghaft, als er sich meldet.
»Silke?«
Ähm? Kennt er meine Nummer noch immer nicht? Meine Stimme? Wer sonst würde ihn um diese nachtschlafende Zeit anrufen?
»Japp, it’s me. Wer sonst?« Ich räuspere mich.
»Oh, gut, dass du anrufst. « Seine Stimme zittert. Kenn ich gar nicht von ihm.
»Ist was passiert?«, frage ich nach.
»Mein Vater ist gestorben. Und ich brauche deine Hilfe. «
Und jetzt?, denke ich. Hilfe! Maja, wo bist du?
Sein Vater? Wo kommt der denn plötzlich her? Angeblich hat ihn die Mutter allein großgezogen. Die sparsame schwäbische Mutter.
»Meine Hil … Hilfe?«, stammele ich. Oh Gott, Silke, sein Vater ist gestorben. »Mein Beileid, Oliver …«
»Jajaja, danke. Ich habe ihn nicht gekannt. Er hat uns verlassen, da war ich drei oder so. Er hat sich nie gekümmert. « Oliver stockt. »Ich fand, er war ein schlechter Vater. «
Plötzlich verstehe ich so einiges. Warum er sich so für Saskia einsetzt, den metallenen Kotzbeutel. Er hat ein schlechtes Gewissen und will die Fehler seines Vaters nicht wiederholen. Gut so.
»Mein Vater wohnte in Düsseldorf«, sagt er nun.
»Oh«, sage ich.
»Da ist er auch gestorben. «
Ich sage nichts. Was sagt man auch zu so was?
»Meine Mutter … sie will sich um die Beerdigung und alles kümmern. «
»Ja«, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.
»Sie kommt morgen an. Um 11:37 Uhr. Flugnummer 1354. Aus Stuttgart. Wir kommen erst zwei Stunden später an. Hab halt nichts anderes gekriegt. « Er seufzt. »Das ist doch okay für dich?«
»Klar«, sage ich und weiß nicht, was er meint. Ist mir doch egal, wann seine Mutter in Düsseldorf landet.
»Echt?« Oliver klingt erleichtert.
»Was echt?«, frage ich und weiß, dass ich ein wenig blöd klinge.
»Echt? Das ist okay für dich?«
»Na … klar. Öhm?«
»Du holst meine Mutter ab? Und wir können alle bei dir wohnen, bis alles geklärt ist? Supersupersuper. Danke. «
»Bitte?« Ich schlucke. Gerade ist ein großer Teil des Informationsflusses an mir vorbeigelaufen. Ich soll … WAS?
»Silke, ich LIEBE dich. «
Ja, Oliver, ich dich auch, aber … HALLO?
In zwei Sätzen fasst er sein Anliegen noch mal zusammen. Fünf Minuten später weiß ich, dass seine Mutter morgen – nein, heute kommt. Und er. Mit Saskia. Und alle brauchen einen Schlafplatz, frische Bettwäsche und etwas zu essen. Und Beistand.
Den brauche ich jetzt auch. Ich schicke eine SMS an Maja: Need you. Emergency! Und dann gehe ich zurück in die Wohnung und überlege, wie ich die schnarchende Alice vom Sofa entfernen kann, bevor die Trauergäste eintreffen.
2. Kapitel
Silk, I need you! Notfall!, hacke ich ins Handy. Als ich die SMS losschicken will, piepst mein eigener Apparat. Eingehende Kurznachricht von Silke. Gesendet mitten in der Nacht. SOS. Mist, ich hatte das Handy ausgestellt, um in Ruhe alles über aus Menschenhaut gefertigte Lampenschirme und Kellerverliese zu lesen. Ich verwerfe meine SMS, gehe auf den Balkon und zünde mir eine Zigarette an. Zoran und Marten sind seit zehn Minuten unterwegs. Sie sind schwimmen gegangen. Kann ich ja nicht, mit der roten Lola im Schlepptau.
»Was ist passiert?«, frage ich, als Silke nach dem zweiten Bimmeln rangeht. »Und wo BIST du überhaupt?« Im Hintergrund höre ich Menschen reden und eine Lautsprecherdurchsage.
»Am Flughafen«, knurrt meine Freundin.
»Fliegst du weg?« Sie ist ja spontan. Vielleicht hat sie einen Last-Minute-Trip auf die Azoren gebucht?
»Würde ich gern. Nein, ich hole jemanden ab. « Begeisterung klingt anders. Das hier klingt nach ekligem Auftrag vom Chef oder Schwiegermutterbesuch.
»Kommt Oliver? Hoffentlich ohne sein Blechspielzeug!« Ob Saskia mit all den Piercings überhaupt durch die Sicherheitskontrolle kommt?
»Auch. Die kommen auch. Später. Waltraud ist im Anflug. «
»Ach du Scheiße!« Tatsächlich – das schwäbische Schwiegermonster.
»Die ist hoffentlich nur auf Durchreise?«
»Leider nicht. « Silke klingt weinerlich, als sie mir die Lage schildert. Mist, von hier aus kann ich ihr nicht helfen. Ich komme erst morgen Abend wieder.
»Sie kann doch auf dem Sofa …«, schlage ich vor. Saskia wird sich wohl kaum mit der Großmutter das Gästezimmer teilen! Obwohl das Sofa bestimmt noch tagelang nach Waschnuss riechen wird. Alice ist so was von ökologisch korrekt, dass sie niemals mehr als Kernseife oder diese komischen Waschnüsse an sich und ihre Wäsche lässt. Was man riecht, irgendwie. So eine Prise Lenor ist eben doch kein Fehler.
»Bloß nicht, dann sehe ich die dauernd«, stöhnt Silke.
Auch wieder wahr. Ich denke nach, dann schlage ich Silke vor, das zweite Gästezimmer, das wir eigentlich für Marten vorgesehen haben, zu aktivieren. Dann sehen wir weder Waltraud noch den Blecheimer.
Silke atmet auf. Eigentlich wollte ich ihr mein Herz ausschütten, aber das schaffe ich nicht mehr. Im Hintergrund höre ich eine leicht schrille Stimme: »Hallöle, des isch aber saunett, dass du mich abholsch, gell! Heimadsogga, der Pilot ka au id flieaga, des häd grugglt wia uff dr Bugglpischde!«
»Ich muss Schluss machen«, sagt Silke tonlos. Dann ist die Leitung tot. Mist. Wenn die Mischpoke bei Silke einfällt, heißt das, wir haben morgen Abend auch keine Zeit zum Plaudern. Mir bleibt sicher nur Carlchen. Der kann zwar prima zuhören, gibt aber eher selten guten Rat. Und genau den bräuchte ich jetzt, denn Zoran hat das alleinige Sorgerecht für Marten bekommen, weil die Kindsmutter einen Zwei-Jahres-Vertrag bei einem Londoner Finanzhaus unterzeichnet hat. Damit steigt sie endgültig auf in den Club der Großverdiener – und als Erziehungsberechtigte steigt sie aus. »Sie ist eben kein Muttertyp«, hat Zoran sie entschuldigt. Nein, ist sie nicht. Marten war nie gewollt, er ist einfach so passiert. Mitten im Karrierehoch seiner Mutter. Klar, sie mag ihren Sohn. Aus der Ferne und in den Ferien zumindest. Aber ihren Job liebt sie. Durch ihre Adern fließen Zahlen und ich wette, ihr EKG würde aussehen wie die DAX-Kurve.
Eigentlich würde das alles nichts ändern, da Marten sowieso bei seinem Vater wohnt. In Hamburg. Nicht in Krefeld. Nicht mal in der Nähe davon! Ich dachte ja, dass sich das vielleicht ändern lässt, zumal Zoran durch die kräftige Apanage (oder das Schmerzensgeld, je nachdem), das die Kindsmutter von nun an monatlich zahlt, finanziell so gut wie unabhängig wird. Sein ungarischer Lebensmittelimport dümpelt sowieso nur noch vor sich hin und ich dachte, er wolle mehr Zeit zum Schreiben haben. Das kann er ja überall – und in meinen Gedanken habe ich ihm schon eins der Schlösschen am Stadtrand eingerichtet. So eine alte Seidenfabrikanten-Villa würde ihm gut stehen und Marten könnte sich im Garten austoben. Dann und wann habe ich auch mich und einen Kinderwagen in das Bild projiziert, allerdings blieb das immer unscharf. In Technicolor träume ich nur von Carlchen, dem roten Sofa und Silke.
Tja. Und nun hat Zoran seinen Sohn in der Schule angemeldet. Marten ist drei viertel sechs, sagt er selbst. Und soll nach den Sommerferien seine Laufbahn als Lehrerschreck beginnen. In Hamburg. Montessorischule Bergedorf. »Du kannst nach den Sternen greifen« lautet das Motto der Penne. Ich würde Marten am liebsten auf den Mond schießen – wäre er ein normales Kind, könnte er locker eine ganz normale Grundschule in einer ganz normalen Stadt wie Krefeld besuchen. Und mal ehrlich, die 200 Euro Schulgeld pro Monat plus Kosten für den Hort könnte Zoran auch anders investieren. Wütend drücke ich die Kippe im Aschenbecher aus und zünde mir sofort die nächste an. Sie schmeckt nicht und ich schnippe sie über das Geländer.
Ich brauche jetzt eine lange, lange Dusche. Die Herren sind noch mindestens zwei Stunden unterwegs. Eigentlich wollte ich ein bisschen bummeln gehen oder eine Rundfahrt auf der Alster machen. Ich liebe das – im Boot sitzen, einen Milchkaffee trinken und an den Villen der superreichen Kaffeeröster vorbeischippern. Aber auf andere Menschen habe ich jetzt keine Lust mehr.
»Scheiße!« Im Bad ist Marten ausgebrochen. Irgendwie hat er es geschafft, in den fünf Minuten, die Zoran zum Packen der Schwimmtasche brauchte, sämtliche Klopapierrollen abzurollen. Ein hellblau geblümter Papierberg türmt sich auf dem Boden. Ich trete gegen das Klopapier und schiebe mir mit den Füßen einen Weg zum Waschbecken frei.
»Igitt!« Das Becken ist mit einer braunen Brühe gefüllt … und die Dose mit meiner sündhaft teuren ägyptischen Erde, die den schönsten Teint der Welt zaubert, schwimmt kopfunter im Wasser. Der Pinsel steckt im Zahnputzbecher. Ich mache auf den Hacken kehrt und werfe mich im Wohnzimmer auf das Sofa. Das blaue Kissen riecht nach Zoran. Ich nehme es in den Arm, schnappe mir das Manuskript und verstehe, warum Zoran manchmal töten muss. Und sei es auch nur auf dem Papier.
Ich habe die beiden Gästezimmer fertig gemacht, noch letzte Nacht. Das eine Zimmer im Souterrain war bisher für Saskia gedacht, aber in der letzten Zeit ist sie nicht mehr hier gewesen und deshalb haben wir es als Rumpelkammer benutzt. Ich habe den Rumpel ausgeräumt, das Bett bezogen, gelüftet, gesaugt und sogar ein wenig Staub gewischt. Das andere Gästezimmer bekommt sonst immer Marten. Jedenfalls so lange, bis wir das zweite Zimmer im Souterrain bezugsfähig haben.
Diese Wohnung ist einfach großartig – und vor allem groß. Die Zimmer im Keller haben sowohl Fenster als auch eine Heizung. Der Garten liegt etwa zwei Meter tiefer als die Straße – also hat man nach vorne raus Keller und hinten eben Souterrain. Saskia fand ihr Zimmer, das man nur über eine steile Stiege erreicht, zunächst cool. Aber dann hat sie beschlossen, alles ätzend zu finden – mich, Krefeld, das Zimmer, Carlchen, Maja, Zoran und vor allem Marten.
»Was soll das werden?«, schrie sie, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Das muss jetzt sechs Wochen her sein. »Eine Kommune? Nicht mit mir! Ihr habt doch alle einen Knall. «
Vielleicht hat sie ja recht, denke ich und ziehe die Nase hoch. Ein fieser Schnupfen scheint sich anzubahnen. Vielleicht ist das auch alles nur Übermüdung. Es war 1:34 Uhr, als Alice auf meinem Sofa wegschlummerte und mich Olivers Anruf erreichte.
Danach habe ich erst das Kellerzimmer für Saskia fertig gemacht, dann das Zimmer für Waltraud hergerichtet. Martens Zeug habe ich in einen großen Karton verfrachtet und in den richtigen Keller gestellt. Bett bezogen, gesaugt, Staub gewischt. Das Bad habe ich auch schnell noch mal geputzt. Und dann habe ich eine halbe Stunde damit verbracht, Alice zu wecken. So richtig ist mir das nicht geglückt, aber irgendwann hatte ich sie da, wo sie vorher auch schlief – im Treppenhaus. Meine Geduld hatte an der untersten Stufe ihr finales Ende – ich ließ sie dort fallen. Der Wein tat ganze Wirkung und sie schlief einfach weiter.
Als ich ein paar Stunden später aus der Wohnung kam, war sie verschwunden. Hoffentlich hat sie den Weg in ihre Wohnung und ihr Bett gefunden – aber wenn nicht, ist es auch nicht mein Problem.
»Unser Gästezimmer«, präsentiere ich Waltraud den Raum und schaue verstohlen auf die Uhr.
»Des isch aer a scheene Wohnung, gell?«, ruft Waltraud aus. »Und i be so zfrieada, das i han komma dirfa!« Sie nimmt mich in den Arm und küsst mich feucht auf die Wange. Innerlich schüttelt es mich. Ich kenne diese Frau doch gar nicht. Und ich verstehe sie auch nicht. Dazu braucht es einen Übersetzer. Oliver. Wieder schaue ich auf die Uhr, diesmal nicht heimlich.
»Muss wieder los«, murmele ich. »Fühl … en … Sie sich wie zu Hause. « Sie hat mich geduzt, glaube ich, bin mir aber nicht sicher. Ich weiß nicht so recht, wie ich sie ansprechen und behandeln soll. »Da sind Handtücher, Bademantel und so. « Ich weise auf das Bett, wo ich in bester Hotelmanier alles platziert habe. »Das Bad ist gegenüber. In der Küche ist der Kaffeeautomat. Dort sind auch Obst und Brot. « Ich räuspere mich. Sie sieht mich aus ihren Mauseäuglein strahlend an.
»Isch des schee. «
»Ich muss los – Oliver und Saskia abholen. «
»Gang no, Mädle, i han älles, was i brauch. «
Carlchen hat seine Morgen- und seine Mittagsrunde verpasst, ich bin plötzlich im Flughafendienst und kann keine Hunderunde einlegen. Also lasse ich ihn in den Garten und bete, dass er diesmal kein weiteres Loch im Zaun findet. Zwei hat er schon entdeckt und ich habe sie mühsam gestopft.
Ich schwinge mich wieder auf die Autobahn und rase zum Flughafen nach Düsseldorf. Es hilft alles nichts, ich muss im teuren Parkhaus parken, wo eigentlich die Plätze vergoldet sein sollten, wenn man sich die Preise anschaut. Aber Olivers Flieger ist schon längst gelandet. Ich habe Waltraud gefragt, ob wir nicht auf ihn und Saskia warten könnten, doch sie mimte einen Schwächeanfall und wollte sofort in ihre Unterkunft. Nun ja.
»Da bist du ja endlich«, begrüßt mich Oliver sichtlich genervt und drückt mir eine Tasche in die Hand.
Danke, denke ich und – klar, ich bin auch noch Kofferkuli. Aber dann fällt mir ein, was er gerade durchmacht – Verlust des Vaters und so. Ich habe mal gelesen, dass das bei Männern ein Trauma auslösen kann. Einen traumatisierten Oliver plus schwäbischer Waltraud plus blecherner Saskia kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Wo ist eigentlich Saskia? Ich schaue mich suchend um.
»Wir müssen noch zum Zoll«, seufzt Oliver, bevor ich eine Frage stellen kann. »Meine Tochter abholen. «
»Meine Tochter« – das klingt ernst. Ich weiß, sie mag mich nicht, sie will unsere Beziehung nicht, will nicht hier sein und all das. Wie schwer wiegt das? Das weiß ich nicht.
»Papa!«, gellt es uns entgegen. »Ich soll alle Piercings entfernen. «
Oh Gott, denke ich, dann sind wir noch morgen hier. Was macht in der Zeit Waltraud und was ist mit Carlchen?
»Das ist doch Schwachsinn«, sagt Oliver und klingt müde. Der Zollbeamte zwinkert ihm zu, aber mein Liebster sieht es gar nicht.
»Ihre Tochter taugt hervorragend zum Altmetallsammler«, sagt der Zöllner und lässt sie gehen.
»Unverschämtheit«, sagt Oliver.
Recht hat der Zöllner, denke ich, sage aber nichts.
»Ich habe Hunger«, mault Saskia.
»Hast du etwas gekocht?«, fragt Oliver.
»Deine Mutter wartet schon«, seufze ich und muss lachen. Wir reden alle aneinander vorbei. Lustig ist das eigentlich nicht, aber wirklich tragisch ist nur der Tod von Olivers Vater. Ich drehe mich zu meinem Liebsten um, schlinge meine Arme um ihn und küsse ihn.
»Schön, dass du da bist«, seufze ich. »Auch wenn der Anlass es nicht ist. «
Mein Handy piepst, als ich die horrende Parkgebühr gezahlt habe. »Ich habe gerade ein Parkhaus gekauft«, murmele ich und schaue auf das Display.
Maja hat geschrieben: Auto kaputt. Komme mit dem Flieger. Lande um 19:15. Düsseldorf. Brauche Trost.
Oh nein.
»Maja?« Nanu? Zoran ist doch gerade erst ins Schwimmbad aufgebrochen!