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Ein Toter am Fuß der Festung Hohensalzburg. Es ist Kris Kailer, der eben ein spektakuläres Konzept für die Salzburger Burgen- und Schlösserlandschaft entwickelte. Das hat vielen nicht gepasst. Vor allem eine Gruppe renommierter Historiker ist vehement dagegen. Welche Rolle spielt die ominöse Vereinigung FFB, Freiheit für Bürger, bei dem Mord? Die selbsternannte Bürgerwehr hat schon Politikern gedroht, sie von den Zinnen der Burg zu werfen. Kommissar Merana und sein Team beginnen zu ermitteln und müssen schnell erkennen: Hinter allem steckt offenbar ein teuflischer Plan, der bald auch Merana bedroht.
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Seitenzahl: 328
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Manfred Baumann
Salzburgrache
Meranas 10. Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © Yuri Bizgaimer / AdobeStock
ISBN 978-3-8392-7380-7
und jåg ma schwåchze vegl
durch de tram …
(und jagt mir schwarze Vögel durch die Träume …)
Fritz Messner /Querschläger »wintahimme«
Heftiges Fauchen. Es schreckte ihn auf. Der angeborene Instinkt funktionierte, ließ ihn hochschnellen. Dunkelheit. Die Umgebung war ihm dennoch vertraut. Auch im Finstern. Blindlings. Ein heftiger Ruck mit den Fittichen. Zwei rasche Flügelschläge.
Er gewann an Höhe. Nochmals drei Schläge, die Schwingen gespreizt. Dann verspürte er feste Unterlage. Er landete auf der Mauer, direkt neben dem rechten Wachturm. Die Krallen ausgespreizt. Das bot ihm Halt. Konrad. So hieß er. An den Klang des Zurufs hatte er sich längst gewöhnt. Dass sein Name »der kühne Ratgeber« bedeutete, wusste er nicht. Obwohl er sonst viel wusste. Er wusste zum Beispiel genau, wie er es anstellen musste, um Geräusche nachzuahmen. Auch Stimmen. Für ihn war das alles eins. Stimmen, Geräusche, Klänge. Laute eben. Es gefiel ihm, sich die Laute anzueignen, um dann bald selbst so zu klingen. Vor drei Nächten vermochte er sogar, das Uhuweibchen zu necken. Das warnende »Krääck« hatte er bestens hinbekommen. Das Weibchen war völlig irritiert. Manchmal musste er einen Laut nur einmal hören, schon schaffte er zumindest eine gut hörbare Annäherung. Je öfter bestimmte Laute sein Ohr erreichten, desto leichter wurde es jedoch, sie nachzumachen. Das Fauchen der blöden Katze interessierte ihn allerdings nicht mehr, als er sich vom Gestein des Wachturms abstieß. Er würde es wohl auch nicht schaffen, auf Anhieb den schrillen Schrei nachzuahmen, der ihn plötzlich erreichte. Der Schrei kam von oben. Direkt über ihm. Das ließ ihn zusammenzucken. Er spähte erschrocken hinauf. Mit dem Kopf nach oben zu zucken, war seine Rettung. Er vermochte gerade noch halbwegs auszuweichen, als der Schatten auf ihn zuraste. Um ein Haar hätte ihn die dunkle Gestalt voll erwischt. So wurde er nur gestreift. Dennoch war der Anprall heftig, ließ ihn nach unten plumpsen. Er polterte neben dem schwarzen Geschöpf auf den Boden. Die Erscheinung zuckte noch, streifte an eine seiner Schwungfedern. Dann reckte Konrad panisch die Schwingen zur Seite und stob davon.
Verdammt! Er war draufgetreten. Abrupt bremste er ab. Es war tatsächlich passiert.
Nur für einen Moment unaufmerksam, und schon war es zu spät. Ein lausiges Gefühl von Übelkeit glomm in seinem Magen. Er steppte zur Seite. Kein Zweifel. Er war draufgetrampelt! Mit dem linken Fuß. Sein Blick tastete über den Boden. MARKO-FEINGOLD-STEG. Sein weißglänzender italienischer Laufschuh hatte die im Boden eingelassene Platte nicht nur gestreift, er hatte sie voll getroffen. Marko Feingold (1913 - 2019), Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, Holocaust-Überlebender und Mahner vor Antisemitismus und Faschismus.
Die Schrift war deutlich zu sehen. Die Uhr am Handgelenk piepte. Es war auf die Sekunde genau 4.30 Uhr. Es würde noch dauern, bis die Nacht endgültig wich. Immerhin schimmerte schon ein wenig Licht. Aber selbst wenn sich die Umgebung zappenduster präsentierte, dass man die Hand vor Augen nicht sah, hätte er bei gebotener Aufmerksamkeit den Fuß weit neben die Platte setzen müssen. Er schwankte, seine Hand tastete nach dem Brückengeländer. Makartsteg hatte der schmale Weg über die Salzach vormals geheißen, eine Zeit lang auch Museumssteg. Vor einiger Zeit war die Flussüberführung dann umbenannt worden, in Marko-Feingold-Steg. Er hatte sich früher nie etwas dabei gedacht. Wenn ihn bei den Runden durch die Stadt sein Lauf auch über den Steg führte, dann hatte er allenfalls zu Boden geblickt, um Unebenheiten auszumachen oder den Rhythmus seiner Schritte zu kontrollieren. Aber seit der Steg zu Ehren von Marko Feingold dessen Namen trug, hatte er von Anfang an peinlichst darauf geachtet, keinesfalls beim Laufen über den Schriftzug zu trampeln. Stets war er behutsam an der Platte vorbeigehuscht. Er hatte Marko Feingold nicht einmal persönlich gekannt. Was er wusste, stand in den Medien. Und einmal hatte er sich dann auch einen Vortrag angehört. Da hatte der bemerkenswerte Herr über sein Leben gesprochen. Marko Feingold hatte vier Konzentrationslager überlebt. Auschwitz, Neuengamme, Dachau, Buchenwald. Nach dem Krieg hatte er geholfen, Zehntausende ehemalige KZ-Gefangene über die Alpen nach Italien zu schleusen, damit sie von dort per Schiff nach Palästina gelangten. Die dramatischen Schilderungen des alten Mannes hatten Julian sehr beeindruckt. Und mehr noch dessen ruhige Ausstrahlung. Als Julian erfuhr, dass nach Feingolds Tod man den Steg über die Salzach umbenennen würde, hatte er sich gefreut. Der bisherige Namenspatron hatte ihm nie zugesagt. Den aufgeplusterten, pompigen Stil des Dekorationsmalers Hans Makart fand er immer schon fehl am Platz. Nein, Marko-Feingold-Steg würde viel besser passen. Immerhin lag der Steg an einer viel beachteten, prominenten Stelle an der Salzach. Mit einem überwältigenden Ausblick auf die linke Altstadtseite, auf Türme, Kuppeln, den Dom, den Mönchsberg und die prächtige Festung. Auch wenn Julian schon seit gut 20 Jahren in dieser Stadt lebte, faszinierte ihn ihr Anblick jedes Mal aufs Neue. Besonders von hier aus. Ein würdiger Platz. Und jetzt auch per Namensgebung versehen mit der Erinnerung an eine würdige Persönlichkeit. Auf den Namenszug dieses beeindruckenden Menschen zu trampeln, war Julian immer wie ein Sakrileg vorgekommen. Und jetzt war es passiert. Warum das? Was hatte ihn abgelenkt? Später sollte er sich noch oft fragen, ob er schon zu diesem Zeitpunkt hätte ahnen können, dass dieses unverzeihliche Missgeschick nicht das einzige Ungemach war, das ihm an diesem frühen Morgen noch bevorstand. Als ihm später auch noch die weiße Katze über den Weg lief, hätte er erkennen müssen, dass ihm an diesem frühen Morgen noch größeres Unheil drohte. Er mochte keine weißen Katzen. Nicht aus Prinzip. Er war nicht abergläubisch. Keineswegs. Er war IT-Spezialist, seine Prozessanalysen waren weltweit gefragt. Computerexperten waren klar denkende Zeitgenossen, mit nüchternem Blick auf die Gegebenheiten. Keine halluzinierenden Spinner, die Angst davor haben, unter einer Leiter durchzugehen oder an einem Freitag, dem 13., Wäsche aufzuhängen. Gut, sein Kumpel Toby war vielleicht eine Ausnahme. Der beste Mechatronik-Experte, den Julian kannte. Aber Toby hatte Angst, wenn ihm eine schwarze Katze über den Weg lief. Da musste Julian jedes Mal grinsen. Schwarze Katzen waren Julian egal. Aber weiße Katzen waren ihm ein Gräuel. Vor allem, als im vergangenen Herbst ein solches Vieh seinen Weg an der Salzach gekreuzt hatte. Das Biest war fauchend aus dem Gesträuch gehetzt. Das Untier hatte ihn erschrocken. Er war gestolpert. Umgeknickt. Bänderriss am Sprunggelenk. Distorsion hatte der Arzt im Bericht vermerkt. Drei Monate schmerzhaftes Auftreten. Erst danach war leichtes Lauftraining wieder möglich gewesen. Das alles nur wegen diesem Mistvieh, der weißen Katze. Und jetzt, an diesem frühen Dienstagmorgen, als ihm das Missgeschick beim Überqueren des Marko-Feingold-Steges passierte, war ihm keine drei Minuten später die unheilvolle Katze über den Weg gerannt. Eine weiße! Auf der anderen Salzachseite, am Ende der Griesgasse, beim Abbiegen zur Altstadt. Da hätte er es zumindest ahnen können. Besser noch. Er hätte es wissen müssen. Ihm stand noch Schreckliches bevor. Garantiert. Hätte er das von ihm entwickelte analysis program gestartet, wäre er auf einen Wahrscheinlichkeitsfaktor von über 80 Prozent gekommen. Ganz sicher. Das hätte ihm geholfen zu erkennen, worauf er zusteuerte. Aber er hatte es verabsäumt, den Mini PC an seinem Handgelenk zu befragen. Er hatte nur versucht, der Katze auszuweichen und war blindlings weitergelaufen. Panisch. Rathausplatz, Alter Markt, Residenzplatz. Ursprünglich hatte er gar nicht vorgehabt, an diesem Morgen hinaufzulaufen bis zur Festung. Wann hatte er den Vorsatz geändert? Das würde er sich später immer wieder fragen. Wann war er zu diesem folgenschweren Entschluss gekommen? Und wo? Als er den Residenzplatz erreichte? Als ihm beim Abbiegen Ende Griesgasse die verdammte Katze über den Weg lief? Oder schon auf dem Steg davor? Gut, die Festung mit anzusteuern, war nicht völlig abwegig. Aber er hatte die Burg in den vergangenen Tagen oft genug mit einbezogen. Er konnte die Festung heute getrost auslassen, hatte er gleich nach dem Aufwachen entschieden. Warum war er nicht bei diesem Vorsatz geblieben? Er hatte die Festung oft in sein Training eingebaut, da der Wahrscheinlichkeitsgrad hoch lag, dass sie mit dabei war. Eine wesentliche Station auf der Route des »Rhythm & Pleasure« Laufes. Auch die daran anschließende Strecke über den Mönchsberg würde wohl dazugehören. Ebenso der Kapuzinerberg, Teile des Gaisberges, der Weg nach Hellbrunn, die Salzachufer. Es gab für all das keine Garantie. Die präzise Streckenführung war noch nicht bekannt. Aber es passte zum Konzept des neuen »Rhythm & Pleasure« Laufes: spektakuläre Punkte der Salzburger Stadtlandschaft und der näheren Umgebung miteinander zu verbinden. So versprach es zumindest die Ausschreibung. Exakte Details, welche Punkte das genau waren, wurden noch nicht verraten. Aber auch so stand für Julian fest, dass hier viel zu erwarten war. Schwierige Streckenabschnitte, kräftezehrende Anstiege, belohnt durch spektakuläre Ausblicke. Noch blieb ihm fürs Training mehr als ein Monat Zeit. »Rhythm & Pleasure« war ein Novum in dem an Veranstaltungen und Attraktionen ohnehin bewegten Leben in der Stadt. In Salzburg passierte viel das ganze Jahr über. Nicht nur zur Festspielzeit. Seit über 20 Jahren pulsiert die Stadt im Oktober im Rausch von besonderen Klängen, Lebenslust, Spielfreude. »Jazz in the City« bietet als Festival unvergleichliche Stimmung an den unterschiedlichsten Stellen. In Bars und Cafés genauso wie in Geschäften und Handwerksstätten, auf Plätzen, in Konzertsälen oder in Kirchen. Einmalig. Und heuer würde es zum Auftakt eben noch etwas zusätzlich Ausgefallenes geben: einen besonderen Wettkampf. Einen Hindernis- und Geländelauf, unter dem Motto »Rhythm & Pleasure«. Hohe Beteiligung war zu erwarten. Internationales Flair war garantiert, so wie für das gesamte Jazzfestival. Und er, Julian, würde dabei sein. Zusammen mit seinem Kumpel Toby. Der würde dazu extra anreisen. Und für diesen Lauf trainierten sie. Toby in London. Und Julian eben hier, in seiner Heimatstadt. Seit dem Frühjahr bereitete er sich auf das Rennen vor. An mindestens vier Tagen in der Woche zog er seine Läufe durch die Stadt. Oft auch in der Nacht. Als Computerfreak war er ohnehin gewohnt, sich nächtens abzurackern, Bedeutsames zu leisten. An diesem frühen Morgen wollte er die Festung auslassen, hatte er sich vorgenommen. Und dann steuerte er sie doch an. Auf direktem Weg. Residenzplatz. Vorbei am Dom. Kapitelplatz. Hinauf zur Festungsgasse. Vor der Mittelstation der Festungsbahn abbiegen. Scharf nach links. Den Anstieg nehmen. Bis zum Eingang sollte ihn der Pflasterweg führen. Und dann? Zurückprallen! Als sei er gegen eine unsichtbare Wand gekracht. Das Erste, das ihm ins Auge stach, war der Arm. Bizarr verkrümmt. Gleich darauf bemerkte er den Kopf. Beide hingen über die hüfthohe Steinmauer. Er wusste es sofort. Dafür brauchte er kein selbst entwickeltes analysisprogram. Der groteske Anblick war schlimmer als jeder Fehltritt auf dem Feingold-Steg, schlimmer als die unheilversprechende Begegnung mit der weißen Katze. Hier lag ein Mann. Und der war tot. Zweifellos.
Das Schrillen schmerzte. Im Ohr. Im Kopf. Offenbar schrillte es schon länger. Er tastete nach dem Handy, zwängte mühsam die Augen auf. 6.44 Uhr. Das Schrillen kam nicht vom Wecker. Den hatte er auf 10 Uhr gestellt. Das wusste er genau. Das Schrillen glich auch eher einem Gedudel. Es hörte sich nur unerträglich an. Das war ein Anruf. »Otmar« leuchtete auf dem Handyscreen. Sein Zeigefinger tastete nach dem grünen Tastfeld.
»Hallo, Otmar.«
»Guten Morgen, Martin. Sorry für die frühe Störung. Aber es ging nicht anders. Wir haben einen Toten. Wir brauchen dich.« Er hörte kurz zu, versuchte, sich auf das Gesagte zu konzentrieren.
»Ich mache mich sofort auf den Weg.« Der Klang der eigenen Stimme irritierte ihn. War das tatsächlich er, der hier sprach? Er stemmte sich hoch, wälzte sich aus dem Bett. Sein Kopf glühte. Hatte er Fieber? Oder war es nur die totale Übermüdung. Er war um 3 Uhr früh zu Hause angekommen. Direkt aus Bozen. Er war sofort ins Bett gekippt. Er hatte die vergangenen zwei Tage so gut wie nicht geschlafen. Er hatte den Südtiroler Kripokollegen geholfen, drei Dealer eines Drogenringes aufzutreiben. Einer der Männer hatte zwei Wochen davor eine junge Frau in Salzburg getötet. Erstochen. Merana und die Bozener Kripo hatten sich hartnäckig in den Fall verbissen. Mehr als eine Woche lang. Und schließlich hatten sie Erfolg. Gestern, knapp vor Mitternacht, war das Trio überführt worden. Merana hatte sich danach sofort ins Auto gesetzt. Alles Weitere würden die Staatsanwälte klären. Er wollte einfach nur heim. Trotz der Müdigkeit. Die Kollegen hatten ihn noch mit Espresso vollgepumpt, damit er die Fahrt unbeschadet schaffe. Der schwarze Kaffee hatte offenbar gewirkt. Merana war problemlos daheim angekommen. Sieben Stunden Schlaf wollte er sich dann gönnen. Nun waren es nicht einmal vier geworden. Er ließ den Strahl der Dusche eiskalt auf seinen Kopf prasseln. Die bleischwere Müdigkeit begann langsam aus seinem Körper zu kriechen. Er schrubbte sich mit dem Badetuch ab, befühlte seine Stirn. Kühl, die Hitze war weg. Also doch kein Fieber. Gut so. 20 Minuten später saß er schon im Auto. Kommissar Martin Merana, Chef der Salzburger Kriminalpolizei, hätte im Präsidium anrufen können, um sich von einer Streife abholen zu lassen. Doch das wollte er nicht. Lieber fuhr er selbst. Die Fahrt in die Stadt, sich auf Verkehr und Umgebung zu konzentrieren, würde ihm gut tun. So wie immer. Der Himmel war bewölkt. Doch die Wolkendecke zeigte schon etliche Risse. Dass bereits wenig später die ersten Sonnenstrahlen die Dächer der Stadt beleckten, war fast schon kitschig. Doch Merana mochte das. Wie eine Marmorkrone aus hellem Gestein prangte die Festung über der Stadt. Diese Marmorkrone war sein Ziel. Wir haben eine Leiche, hatte sein Kollege und Freund Abteilungsinspektor Otmar Braunberger gesagt, nahe am Hauptbesuchereingang zur Burg. Merana steuerte das Nonntal an, stellte den Wagen ab. Er würde keine zehn Minuten brauchen, um über Nonnberggasse und Festungsgasse noch oben zu gelangen. Der rasche Anstieg zu Fuß würde ihm helfen, den Rest an Müdigkeit aus seinem Körper zu vertreiben.
»Wissen wir schon den Namen?«
»Der Tote hat keinen Ausweis bei sich, auch kein Handy. Wir gehen einmal davon aus, dass die Brieftasche in seiner Jacke ihm gehört. Darin befindet sich auch eine Kreditkarte. Sie lautet auf Kris Kailer.« Er blickte fragend zu Merana. Doch auch dem sagte der Name nichts. »Die Kollegen sind dran«, fuhr der Abteilungsinspektor fort. »Wir werden hoffentlich bald mehr zum möglichen Namen wissen.«
Merana blickte sich um. Doch außer der Gerichtsmedizinerin und den Kollegen von der Tatortgruppe war niemand zu sehen. »Wer hat ihn gefunden?«
»Ein Läufer.« Braunberger blickte auf sein abgewetztes Notizbuch. »Julian Beuler, 26 Jahre alt. Er wohnt in der Faberstraße. Er trainiert für einen Stadtlauf, der zur Eröffnung des Jazzfestivals im Oktober durchgeführt wird. Er stieß auf den Toten um 04.43 Uhr.«
Merana horchte auf. »So exakt? Nicht einfach 4.45 Uhr, oder zwischen 4.30 und 5 Uhr …?«
Braunberger lächelte.
»Nein, der junge Mann gab die exakte Uhrzeit an. 04.43. Er trägt eine Art Mini-Computer am Handgelenk. Er ist IT-Techniker. Ein Nerd, wie ich vermute.«
»Habt ihr ihn nach Hause geschickt?«
»Ja, die Kollegen von der Rathausstreife haben ihn begleitet. Wir haben auch das Kriseninterventions-Team des Roten Kreuzes verständigt. Der junge Mann war mit der Situation komplett überfordert.«
Gut, man erwartet auch etwas anderes, wenn man zu nahezu nächtlicher Stunde hier herauf trabt. Einen Gewinn für die eigene Kondition würde die Plackerei sicher ergeben. Merana schaute nach oben. Vielleicht ließe sich auch ein geheimnisvolles »Huhhh« vernehmen, wenn man den Sagen und Märchen Glauben schenkte, die sich rund um die Festung rankten. Damit käme man in der Fantasie wohl auch noch zurecht. Aber unversehens mit dem grausigen Fund einer Leiche konfrontiert zu werden, gehörte gewiss nicht zu den Erwartungen, die man mit einem Trainingslauf verband. Der junge Mann wohnte in der Fabergasse, überlegte Merana. Das war auf der anderen Seite der Salzach, in der Nähe des Mirabellplatzes. Es brauchte schon eine Weile, bis man von dort bis hier zur Festung gelangt. Gute Kondition vorausgesetzt. Auch Merana hatte Anfang des Sommers überlegt, an diesem neu geschaffenen »Rhythm & Pleasure« Lauf teilzunehmen. »Gut«, sagte er zu Otmar. »Wir werden den Läufer später nochmals befragen. Gut möglich, dass ihm unterwegs irgend etwas auffiel, das uns vielleicht weiterhilft.«
Der Abteilungsinspektor grinste.
»Wie wäre es mit einer weißen Katze, am Ende der Griesgasse.«
»Weiße Katze?«
Das Grinsen verstärkte sich. »Das erwähnte Julian Beuler nicht nur einmal. Eine weiße Katze querte seinen Weg. Das sei ihm nicht das erste Mal passiert. Er habe das sofort für ein bedenkliches Zeichen erachtet, aber leider zu wenig darauf geachtet.«
»Normalerweise sind es doch schwarze Katzen, vor denen man sich hüten sollte, wenn man abergläubisch ist.«
»Abergläubisch sei er keineswegs. Das betonte Herr Beuler ausdrücklich. Da unterscheide er sich gravierend von einem gewissen …«
Der Abteilungsinspektor kontrollierte das Notizbuch.«
»… von einem gewissen Toby. Der ist auch IT-Experte so wie er.«
Merana schnaubte. »Egal ob schwarz oder weiß. Ob er sich die Begegnung mit der Katze eingebildet hat oder nicht. Dass er hier auf den Toten stieß, steht wohl unzweifelhaft fest. Also Zeuge. Der einzige offenbar, den wir bisher haben.« Merana ließ sich langsam um die eigene Achse drehen. Sie befanden sich auf dem von Steinmauern begleiteten ansteigenden Fußweg. Der Eingangsbereich zur Festung mit der Kasse lag knapp 200 Meter vor ihnen. Wo sie jetzt standen, ragte ein spektakulär steiler Hang in die Höhe, bewachsen mit Bäumen und Gesträuch, Teil des Festungsberges. Darauf erhoben sich die Mauern und Türme der Burg, als wüchsen sie direkt aus dem Berg in den Himmel. Als er vor wenigen Minuten angekommen war, hatte Merana zuallererst einen Blick auf die Leiche geworfen. Er war nicht gleich herangetreten. Er hatte etwas abseits gewartet. Er brauchte immer Zeit, ehe er in den unsichtbaren Kreis treten konnte, den der Tod hinterlassen hatte. Seine Mitarbeiter wussten das. Niemand stieß sich daran. So war es auch dieses Mal. Schließlich war er herangetreten, hatte seine Augen auf dem leblosen Körper ruhen lassen. Dann hatte er Otmar gebeten, ihm Einblick zu geben, so gut es ging. Jetzt schaute er wieder hinüber. Die Gerichtsmedizinerin war immer noch bei der Arbeit. »Gut, Otmar. Danke fürs Erste.« Der Tote lag immer noch in derselben Position wie vorhin. Ein Großteil der Leiche steckte im steil aufragenden Gewirr des Pflanzenbewuchses. »Kannst du inzwischen schon mehr sagen, Eleonore?«, fragte der Kommissar beim Näherkommen. »Irgend eine Vermutung …«
Die Frau drehte sich um. Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln, was ihm offensichtlich nur miserabel gelang. »Ich weiß, du pflegst nicht zu vermuten. Du pflegst zu wissen. Und um zweifelsfrei zu wissen, musst du den Herrn zuerst auf dem Untersuchungstisch in der Gerichtsmedizin haben.«
Nun entwischte ihrer grimmig aufgesetzten Miene doch so etwas wie ein Lächeln. »So ist es, hochverehrter Ermittlungsleiter.« Merana schätzte die Medizinerin sehr. Als sie vor wenigen Jahren zu ihnen stieß, war sie mit 34 Jahren die jüngste Frau auf einem Leiterposten in der österreichischen Gerichtsmedizin. Die Stelle hatte sie nicht wegen guter Beziehungen zu einflussreichen Leuten bekommen, wie das in Österreich gelegentlich immer noch bedauernswerte Praxis ist. Man hatte Eleonore Plankowitz berufen, weil sie als Koryphäe auf dem Gebiet der Forensik galt. Was auch ausländische Kollegen immer wieder bestätigten, die Frau Doktor Plankowitz oft zu sich einluden, um ihre geschätzte Meinung zu hören. Die Ärztin streifte sich die Gummihandschuhe ab, zwickte Merana am Arm. »Und dass ich meine Wahrsagerkugel längst verschenkt habe, weißt du auch.« Der Zugriff war kräftig, um einiges stärker als man aufgrund der eher zierlichen Gestalt der Frau annehmen konnte. »Aber du gibst ohnehin keine Ruhe, Herr Kommissariatsleiter. Also zeige ich dir zumindest, was ich zwischen den Fingern des Toten fand. Eine Erklärung, was das mit dem Vorfall zu tun haben könnte, gibt es vorerst nicht. Aber schau dir das einmal an.«
Sie bückte sich zu einem ihrer Koffer, zog einen Plastikbeutel hervor und hielt ihn hoch. Der Anblick erstaunte ihn. »Das schaut aus wie eine Feder.«
»Das ist eine Feder, Herr Kommissar. Zumindest das kann mit Gewissheit bestätigt werden. Die Farbe ist schwarz. Vermutlich stammt der Teil des Gefieders von einem Vogel aus der Familie der Corvidae.«
»Rabenvögel?«
»Sehr gut, Vorzugsschüler Merana«, grinste sie. »Das gibt in jedem Fall ein Extraplus.«
Sie drehte langsam den Beutel. »Der Größe der Feder nach zu urteilen, stammt sie wohl von einer Krähe oder einem Raben, vielleicht auch von einer sehr großen Dohle. Ich werde zur genauen Bestimmung auch die Expertise eines Ornithologen einbeziehen.« Sie steckte den Beutel zurück. »Und nein, ich weiß nicht, ob die Feder auch nur in irgendeinem Zusammenhang zu den Umständen steht, die zum Tod des Mannes führten.« Sie deutete auf die Leiche.
»Die deutlich sichtbaren äußeren Verletzungen deuten stark darauf hin, dass sie von einem Sturz stammen könnten.« Sie wies mit der Hand nach oben. »Diese Annahme würde wohl auch der Zustand der Sträucher bestätigen, wie man hier an manchen Stellen sieht.«
»Ja, davon gehen auch wir eher aus.« Merana wandte den Kopf. »Hallo, Thomas.« Er war noch gar nicht dazugekommen, den Leiter der Tatortgruppe persönlich zu begrüßen. Brunner wies mit der Hand nach oben. »Auch wir nehmen an, dass der Tote irgendwo von da oben herabfiel.«
»Weil er an diesem bewaldeten Hang hinaufkletterte und dabei abstürzte?«
»Kann sein. Vielleicht war er auch ein Stück höher.«
»Du meinst, er stürzte vielleicht von der Burg?«
»Das lässt sich zum derzeitigen Zeitpunkt keineswegs sagen. Genaueres werden wir erst wissen, wenn wir mit der Untersuchung des Buschwerks, der Bäume und Sträucher, und des Untergrundes fertig sind. Auch die Burgmauer werden wir uns anschauen. Das wird noch Zeit in Anspruch nehmen. Wie man sieht, ist das Gelände verdammt abschüssig.«
Jetzt blickten alle drei in die Höhe. Ja, das Gelände war tatsächlich schroff, steil wie eine bewachsene Gebirgswand. Und aus diesem grünen Wall schoben sich die Grundmauern der Festung himmelwärts.
»Ich fühle deine nächste Frage förmlich auf meiner Wange brennen, Herr Merana. Selbst wenn du in den Himmel starrst.« Merana musste lachen. Die Gerichtsmedizinerin hatte tatsächlich seine Gedanken gelesen. Sie schmunzelte.
»Ich kann dir nicht sagen, aus welcher Höhe er gefallen sein könnte. Ich betone: könnte. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nicht einmal feststellen, ob die schweren Verletzungen tatsächlich auf einen Sturz zurückzuführen sind, oder ob sie dem Bedauernswerten auf andere Weise zugeführt wurden. Manchmal ist die richtige Antwort wie ein Indischer Blattschmetterling …«
»Man kann die Antwort noch nicht sehen. Denn sie ist vielleicht versteckt, befindet sich in der Umgebung, ist aber raffiniert getarnt.« Die Medizinerin blickte verwundert zu Thomas Brunner. Der zwinkerte ihr zu. »Beim Anblick des angesprochenen Falters fragt man sich jedenfalls oft, ist das jetzt ein Stängel, ein Blatt, also Teil einer Pflanze. Oder ist das tatsächlich der Schmetterling. Das kann man erst erkennen, wenn man genauer hinschaut, also wenn man präzise ermittelt.«
»Du sagst es, Herr Tatortgruppenleiter. Genauso ist es oft auch bei der Untersuchung von Leichen. Man kennt die richtigen Antworten erst dann, wenn man geduldig und vor allem wissenschaftlich exakt nachforscht.«
Merana klatschte in die Hände. »Gut, liebe Eleonore, dann warten wir ab, was deine Jagd nach dem Blattschmetterling am Ende ergibt.«
Die Kollegen, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, hatten sofort mit den Absperrungen begonnen. Das zog sich hin bis zum Eingangsbereich mit den Kassen. Auch der war versperrt. Zwei uniformierte Beamten waren dort postiert. Merana blickte hinüber. Wenn er sich recht erinnerte, trug das Zugangstorgebäude die Bezeichnung Keutschachbogen. Gleich dahinter war eine lang gezogene dunkle Mauer zu erkennen. Sie gehörte zu einer der vielen Befestigungsanlagen der Burg. Auch hier wusste Merana den Namen. Kuenburgbastei. Das hatte er noch in Erinnerung anlässlich seines letzten Besuches auf der Festung. Er konnte sich auch der höchst eigenwilligen Bezeichnung für die beiden kleinen Wachtürme entsinnen. Man nannte sie »Koffer«. So hatte es ihnen zumindest der Führer lächelnd erklärt. Er hatte damals zusammen mit der Großmutter an einer Führung teilgenommen. Die Großmutter liebte Salzburg. Sie wohnte weit entfernt im Oberpinzgau. Wann immer es möglich war, holte Merana sie von dort ab, damit sie ein wenig Zeit bei ihm in der Stadt verbringen konnte. Es war selten genug. Vor allem die Festung hatte es ihr angetan. Das war vor drei Jahren gewesen. Er seufzte. Er hatte die alte Frau schon lange nicht mehr gesehen, nur telefoniert hatte er mit ihr. Auch von Bozen aus. Morgen wollte er sie besuchen. Das war mit ein Grund, warum er Bozen schnell verlassen hatte. Denn morgen hatte die Oma Geburtstag. Das konnte er sich jetzt wohl abschminken. Denn jetzt hatte er einen Toten. Und noch nicht einmal den Hauch eines Schimmers, was hier passiert war. Es galt, dranzubleiben. Dringend. Also kein Besuch zur Geburtstagsfeier. Er warf einen letzten Blick zur Basteimauer. Die Koffer, also die beiden Wachtürme waren flankierend an den beiden Ecken der Mauer errichtet. Man konnte perfekt das gesamte Areal vor der Mauer übersehen. Und gegebenenfalls herunterschießen, hatte der Führer gefeixt, falls sich da wer ungebeten näherte. Merana wandte sich ab. Hatte der Tote sich auch ungebeten genähert? War er von jemandem daran gehindert worden, oder von selbst abgestürzt? Sie würden es herausfinden. Davon war Merana überzeugt. Sie hatten noch immer eine Antwort gefunden. Egal, wie lange es gedauert hatte.
Er blickte zur Gerichtsmedizinerin.
»Danke, Eleonore. Ich habe für 10 Uhr ein erstes Meeting der Ermittlergruppe angesetzt. Ich bin sicher, bis dahin hat sich zumindest die eine oder andere deiner Vermutungen in haltbares Wissen verwandelt. Blatt oder Schmetterling, du wirst es wissen.« Sie lächelte. »Davon gehe ich aus, Herr Kommissariatsleiter.«
»Ich werde alles daran setzen, um 10 Uhr bei der Besprechung dabei zu sein, Martin.« Thomas Brunner drückte ihm die Hand. Dann steuerte er auf einen seiner Mitarbeiter zu, der dabei war, einen länglichen Gegenstand aus dem Unterholz zu lösen. Merana besprach sich noch kurz mit seinem Abteilungsinspektor. Dann schlug er den Weg nach unten ein. Er war noch nicht weit gekommen, als eigenartiger Lärm an sein Ohr drang. Er kam von tief unten aus der Stadt. Es hörte sich an wie skandiertes Rufen. Dazu vernahm er Sirenen, Trommellärm, Hundegebell. Er beschleunigte seinen Schritt. Was war hier los? Das Getöse musste aus Richtung Residenzplatz, Kapitelplatz zu ihm heraufdringen. Jetzt sah er auch weit entfernt einen breiten dunklen Fleck. Das war eine Ansammlung von Menschen. Von ihnen ging das Getöse aus. Kreisendes Blaulicht nahm er ebenfalls wahr. Da fiel es ihm ein.
Er war fast zwei Wochen nicht in Salzburg gewesen. Aber kurz vor seiner Abreise hatte er noch in Bozen die wichtigsten Dienstnachrichten überflogen. Eine hatte sich am Rande auch darauf bezogen, was er jetzt tief unten in der Stadt wahrnahm. Eine Demo, ein Aufmarsch, organisiert von einer Gruppe, die sich FFB nannte. Freiheit Für Bürger. Er kannte diese Truppe, war ihnen schon bei ähnlichen sogenannten Events begegnet. Es ging immer gegen die »da oben«. Gegen die Mächtigen. Für heute Morgen war ein weiterer Aufmarsch angesagt, wie er der Mailnachricht entnommen hatte. Um 8 Uhr wollten die Chaoten losmarschieren. Quer durch die Innenstadt. Ziel war das Kaiviertel, wo auch der Chiemseehof lag, der Sitz der Landesregierung. Einige Kriminalbeamte in Zivil würden sich auch unter die Menge mischen. Das hatte der Polizeipräsident in Abstimmung mit dem Innenministerium und dem Salzburger Landtag festgelegt. Darüber hatte Hofrat Kerner Merana in dessen Abwesenheit per Mail informiert. Merana überlegte, ob er schnell Richtung Residenzplatz hinuntereilen sollte, um sich persönlich ein Bild zu machen. Kurz zögerte er. Dann entschied er sich dagegen. Die eingeteilten Kollegen würden ihm das Wesentliche mitteilen. Er hatte jetzt dringend anderes zu erledigen. Er schwenkte nach rechts, eilte zurück ins Nonntal, wo sein Auto parkte.
»Hallo Martin, schön, dass du wieder da bist.« Carola drückte ihn kurz an sich. Er erwiderte die Umarmung. Ist sie noch schlanker geworden, überlegte er. Hat sie noch mehr abgenommen? Hoffentlich passt derzeit alles so einigermaßen im Privatleben seiner Stellvertreterin. Die Chefinspektorin versuchte so etwas wie ein Lächeln. »Es war für uns alle eine große Erleichterung, als deine Nachricht hier eintraf. Gott sei Dank konntet ihr den Mörder der bedauernswerten Lina schnappen. Ich nehme an, er wird nach Salzburg überstellt, um ihm hier den Prozess zu machen, nicht in Italien.«
»Ja, davon gehe ich auch aus.«
Sie blickte ihn prüfend an. In ihrer Stimme schwang Sorge mit. »Du schaust müde aus, Martin. Erschöpft.«
»Ich bin um 3 Uhr morgens erst zurückgekommen. Ich gehe davon aus, dass du über die Leiche bei der Festung bestens informiert bist.«
»Ja, Otmar hat mich auf den aktuellen Stand gebracht. Soll ich übernehmen abzuchecken, welche Kollegen wir eventuell aus den anderen Einsatzbereichen für uns loseisen könnten?«
»Ja, danke Carola. Das wäre gut.«
Als er um 10 Uhr das große Besprechungszimmer betrat, sah er, dass es Carola in der kurzen Zeit immerhin möglich war, zwei Kollegen aus dem EB 4a ins Ermittlerteam zu holen. Die beiden waren sonst für den Bereich Vermögensabschöpfung tätig. Auch Thomas Brunner hatte es rechtzeitig geschafft, wie er feststellte. Er begrüßte das Team und die hinzugekommenen Kollegen.
»Aufnahmen vom Toten findet ihr in euren Unterlagen. Genauso die noch sehr kärglichen Infos von der Gerichtsmedizin. Der Todeszeitpunkt ist nach Angaben von Frau Doktor Plankowitz derzeit nur sehr vage einzugrenzen. Gefunden wurde er um 04.43 Uhr. Unser Zeuge Julian Beuler konnte hier den exakten Zeitpunkt angeben. Da war der Betroffene mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits tot, wenn wir unserem Zeugen glauben. Bis es keine anderen Erkenntnisse gibt, gehen wir davon aus. Irgendwann zwischen 21 Uhr gestern Abend und dem Auffinden heute Früh dürfte der Todeszeitpunkt liegen. Auf größere Eingrenzung lässt sich Frau Doktor Plankowitz derzeit nicht ein.«
»Und es gibt aktuell auch noch keine Hinweise darauf, ob es sich um einen Unfall oder einen bewusst herbeigeführten Tötungsfall handelt, also Mord oder Selbstmord?« Die Frage kam von Reiner Strug, einem der beiden hinzugekommenen Kollegen. »Aus den Untersuchungen der Gerichtsmedizin bislang nicht.« Merana schaute zu Thomas Brunner. Der schüttelte den Kopf. »Auch von unserer Seite hat sich noch nichts ergeben, das uns diesbezüglich weiterhelfen könnte.«
»Und was die vermeintliche Identität des Toten betrifft …« Es war nun der andere hinzukommende Kollege, der sich meldete. Gleichzeitig blickte er auf sein Tablet.
»… diesen Kris Kailer. Gibt es da schon …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment wurde die Tür schwungvoll geöffnet. Ja, jetzt hat sich etwas Wichtiges ergeben, fuhr es Merana durch den Kopf, als er den hereinstürmenden Abteilungsinspektor erblickte. Er kannte seinen Freund und engen Mitarbeiter gut genug, um das anzunehmen. Seinen »besten Spürhund«, wie er manchmal gerne scherzhaft bemerkte. In Otmars Augen lag ein eigenartiges Glänzen, das dem Kommissar bestens vertraut war. Der Abteilungsinspektor riss schnell ein Blatt aus seinem allseits bekannten, abgewetzten Notizbuch und drückte es Thomas Brunner in die Hand. Dann wandte er sich an die Runde: »Wir haben es eben herausgefunden. Der Name stimmt. Der Tote heißt zweifelsfrei Kris Kailer. Die aufgefundene Brieftasche gehört offenbar tatsächlich ihm, in jedem Fall die Kreditkarte. Kris Kailer ist Mitarbeiter einer großen internationalen Werbeagentur.« Er blickte zu Thomas Brunner. Der Chef der Tatortgruppe hatte den Notizzettel vor sich liegen und hämmerte auf die Tastatur des Notebooks. Gleich darauf flackerte auf dem großen Monitor des Besprechungsraumes ein Logo auf. Eine Art Lichtstrahl-Kaskade, die schwungvoll aus drei Buchstaben hervorblitzte, aus AHP. Die Grafik löste sich schnell auf. Ein dynamisch gestalteter Schriftzug formierte sich. Agentur High Point. Brunner klickte einige Icon-Menüpunkte der Seite an. Auch Team. Das sind wir. Eines der Fotos vergrößerte er. Das zerschundene Antlitz der Leiche vom Festungsberg hatte nur mehr rudimentäre Ähnlichkeit mit der glanzvollen Hightech-Porträtaufnahme des Mannes auf dieser Website, wie Merana feststellen musste. Über dem Foto ersichtlich war der Name als pulsierender Schriftzug. KRIS KAILER. Unterhalb des Bildes war zu lesen: Art Director/Creative Spouter.
»Was ist ein Spouter? Ist das nicht eine Art ›Wasserspeier‹?« Die Frage kam von Inspektorin Tamara Kelinic. Die junge Frau hatte vor einiger Zeit ein Praktikum in der Kriminalabteilung abgelegt. Merana und seine Führungskräfte waren damals von den Qualitäten der Kollegin sehr angetan gewesen und hatten sich für eine weitergehende Ausbildung stark gemacht. Inzwischen hatte Inspektorin Kelinic einen zumindest losen Fixplatz in Meranas Team.
»Ja«, erläuterte Brunner. »Aber meines Wissens ist Spouter auch die Bezeichnung für die Eruptionsbohrung bei der Ölförderung genauso wie für Springquelle und Geysir.«
»Also wenn man der Darstellung glauben darf, dann verweist das auf einen Mann, aus dem die Kreativität offenbar nur so hervorsprudelt«, bemerkte einer der beiden Kollegen von der Vermögensabschöpfung. »Pardon, hervorsprudelte muss man in diesem Fall korrekterweise sagen. Denn jetzt sprudelt nichts mehr, nicht einmal das Blut des Bedauernswerten.«
Thomas Brunner hatte weiterhin die Tastatur in Arbeit, um übers Internet an zusätzliche Informationen zu gelangen, die es wert waren, für alle auf dem großen Screen sichtbar zu machen. Bei einem Hinweis unter der Rubrik Termine, gab es plötzlich allgemeines Erstaunen. »Was? Von dieser Agentur sind gleich mehrere Leute hier in Salzburg?« Der genaue Grund für den Aufenthalt war in der Meldung nicht angegeben. Auch konnte man nicht darauf schließen, wie lange die High Point-Marketingleute sich in Salzburg aufhalten würden. Merana schaute kurz zu seiner Stellvertreterin. Carola nickte, erhob sich und verließ den Raum. Die anderen verfolgten mit steigender Wachsamkeit, was Brunners Schnellrecherche im Internet noch alles ergab. Neben Pressemeldungen und Fotos, die Mitarbeiter der Agentur im Rahmen von Präsentationen bei diversen Firmen in verschiedenen Ländern zeigten, tauchte bald ein weiterer Artikel mit Salzburgbezug auf. Auch ein Foto war dabei. Es handelte sich offenbar um eine kurze Notiz in einem Lokalblatt aus dem Lungau. Mitarbeiter der Agentur High Point würden in den nächsten Tagen Schloss Moosham besuchen, hieß es. Dem Datum nach zu schließen, war die Meldung knapp eine Woche alt. Vielleicht hatte dieser Besuch längst stattgefunden, überlegte Merana, als sein Handy aufleuchtete. Ein Anruf von Doktor Plankowitz. Er deutete Brunner, mit der Recherche fortzufahren. Dann nahm er das Gespräch an. Die Gerichtsmedizinerin hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf.
»Zumindest in einem Punkt kann ich dir inzwischen Gewissheit liefern, Martin.«
Würde sie jetzt den Todeszeitraum um einiges einschränken? Das wäre wohl ein erster wichtiger Schritt.
»Ich kann dir mehr zur Feder sagen.«
Zur Feder? Merana war im ersten Moment verwundert. Was würde das bringen?
»So viel ist gewiss: Die Feder stammt eindeutig von einem Vertreter aus der Familie der Corvidae. Und zwar von einem Kolkraben. Aller Wahrscheinlichkeit nach von einem jüngeren Tier. Es fehlt der grünliche oder bläuliche metallische Glanz, der für Altvögel typisch ist. Das bestätigte mir der Chefornithologe der österreichischen Vogelwarte. Er ist übrigens ein guter Freund von mir.«
»Danke, Eleonore, sonst noch etwas? Ist der Antwortvertreter aus der Familie der Blattschmetterlinge schon sichtbar?«
»Nein, Herr Kommissar. Wenn, dann wirst du es als Erster erfahren.«
Er legte das Handy zur Seite. Die anderen blickten ihn neugierig an.
Er teilte ihnen das eben Erfahrene mit. Dann verteilten sie die nächsten Aufgaben.
»Also dann, an die Arbeit. Bald werden wir mehr wissen, davon bin ich überzeugt.«
Die anderen auch, das las er in ihren Gesichtern. Er konnte sich an keine Untersuchung erinnern, bei der es von Anfang an leicht gewesen wäre. Aber sie waren immer zu einer Lösung gekommen. Durch Beharrlichkeit. Das würde auch dieses Mal so sein. Er beendete die Sitzung, verließ als Letzter den Raum.
Carola hatte ihm eine Notiz auf dem Schreibtisch hinterlassen.
»Die Agenturleute wohnen im Hotel Stein. Ich fahre hin. Komm bitte nach, sobald es geht.«
Es brauchte eine knappe halbe Stunde. Dann ging es. Zuvor überflog er nochmals in Ruhe, was die Homepage der Agentur hergab. Er konzentrierte sich auf Infos, die mit Kris Kailer zu tun hatten. Dann begab er sich zu Hofrat Kerner. Der Polizeipräsident hatte schon nach ihm gefragt.
»Hat ihn jemand über die Festungsmauer geschmissen, den armen Kerl?«, feixte Hofrat Kerner. »So wie der Erzbischof die armen Bauern bei den Aufständen?«
Soweit Merana wusste, hatte der Erzbischof damals von der Festung aus mit Kanonen schießen lassen. Und kein einziger der aufständischen Bauern hatte je die Festung erreicht. Aber er wollte sich vom Polizeipräsidenten jetzt in kein historisches Geplänkel ziehen lassen, was Günther Kerner leidenschaftlich gerne tat. Also ging er auf die Bemerkung nicht näher ein. »Wir wissen noch sehr wenig über die genauen Todesumstände. Vielleicht war es auch ein Unfall und die Sache betrifft uns gar nicht. Ich halte dich natürlich auf dem Laufenden, Günther.«
Der Herr Hofrat entließ ihn mit einer Handbewegung, deren gönnerhaft gnädige Gebärde besser zu einem Erzbischof der Barockzeit passen würde denn zu einem Polizeichef im 21. Jahrhundert.
Dann machte sich der Kommissar auf den Weg in die Innenstadt. Das Hotel Stein liegt direkt an der Salzach, nahe der Staatsbrücke am Giselakai. Merana kannte es gut. Er verkehrte hier manchmal als Gast, genoss vor allem die prächtige Atmosphäre des Restaurants, von dessen Dachterrasse man einen atemberaubenden Blick auf die Altstadt genießen konnte. Dafür würde er heute wohl keine Zeit haben. Er parkte das Polizeiauto in nächster Nähe zum Hotel, direkt am Platzl. Die Damen an der Rezeption waren über seine Ankunft bereits informiert. »Guten Tag, Herr Kommissar. Ihre Kollegin ist mit den Herrschaften in der ersten Etage, im kleinen Besprechungssalon gleich nach der Honeymoon Suite.«
Er stieg über die Treppe hinauf. Die Chefinspektorin öffnete ihm die Tür. Vier Personen erwarteten ihn, platziert um zwei helle Biedermeiertischchen. Sie wirkten angespannt. Bedrückte Stimmung allseits. Bei zweien wirkte die zur Schau gestellte Betroffenheit allerdings ein wenig theatralisch. Zumindest kam das Merana so vor. Sie waren von Carola Salman schon über das tragische Ereignis informiert worden. Die Chefinspektorin stellte Merana die Anwesenden vor. Der ältere der beiden Männer hieß Mauritz Rogolasch. Er war der Leiter der Gruppe. Rogolasch bekleidete einen Posten in der Chefetage des Unternehmens. Die Agentur High Point hatte ihren Hauptsitz in Berlin. Darüber hatte Merana sich ausführlich informiert. Doktor Mauritz Rogolasch fungierte als stellvertretender Direktor. Was Merana unangenehm auffiel, waren die dunklen Augen des Mannes. Sie huschten durch den Raum, wie bei einem gehetzten Tier. Auch das Gewirr der düsteren, nahezu schwarzen, Augenbrauen wirkte befremdlich auf ihn. Die dunklen Brauen standen im totalen Gegensatz zum hellen Eindruck der grauen Haare, die sich am Hinterkopf zeigten. Das Haar war schütter. Rogolasch hatte eine Halbglatze. Auch das hektische Klopfen mit beiden Zeigefingern auf die Tischplatte verstärkte den Eindruck von Gereiztheit, den der Mann vermittelte. Im Gegensatz dazu wirkte der zweite männliche Anwesende nahezu apathisch. Er hatte den Kopf nur für einen Augenblick gehoben, als der Kommissar in der Tür erschien. Nun hielt er ihn wieder tief gesenkt. Die Schultern wirkten steif, mühsam gestrafft. Es vermittelte den Anschein, als müsse der Agenturmitarbeiter sich gegen alles wehren, was hier vor sich ging. In diesem Raum. In dieser Stadt. Wo auch immer. Er wurde von Carola als Jonathan Merg vorgestellt. Der Vizedirektor mischte sich in Carolas Ausführungen ein, als gelte es, eine schlechte Schülerin abzumahnen. »Nein, Frau Chefinspektorin. Herr Merg ist nicht Project Manager, sondern bereits seit geraumer Zeit Senior Project Manager, wie ich Ihnen vorhin bereits ausführte.« Das jüngste Mitglied der Runde verdrehte bei dieser Bemerkung die Augen, schüttelte missbilligend den Kopf. Merana schätzte die junge Frau auf etwa 16. Im Gegensatz zu den beiden Männern bemühte sie sich erst gar nicht, krampfhaft betroffene Miene zur Schau zu stellen. Ihr Blick war offen, unverstellt. Das gefiel Merana. Die junge Dame wurde ihm später als Apprentice vorgestellt, als Lehrling. Sie hieß Solina Zapfberg. Bei der vierten Person hatte Merana von Anfang an das Gefühl, die Betroffenheit wirkte ehrlich, mutete nicht unnatürlich aufgesetzt an wie bei den Männern. Sie war Fotografin, auch für Design zuständig. Sie hieß Andrina Gührer. Ihr dunkles Haar fiel in geschwungenen Locken gerade einmal bis zu den schmalen Schultern. Die Lippen hielt sie fest zusammengepresst. Als könnte nichts sie zum Reden bringen, verschlossen aus Kummer. Das wahre Wissen ist stumm