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**Die E-Box zur Bestseller-Serie »Die Elite«!** Die kurz vor ihrer Volljährigkeit zutage tretende Gabe des Feuers katapultiert die bislang unscheinbare Malia direkt in die High Society des Landes. Sie ist nun Teil der ELITE und alle Augen ruhen auf ihr. Doch während andere ihr ganzes Leben lang auf diese Chance hoffen, geht für Malia ein Albtraum in Erfüllung. Denn im Gegensatz zum Rest der Welt steht sie dem streng elitären Gesellschaftssystem schon lange kritisch gegenüber und das nicht ohne Grund. Dass sie dann auch noch dem bislang unerreichbaren High Society Boy Christopher Collins als Schülerin zugewiesen wird, scheint ihr Untergang zu werden. Denn obwohl ihr Herz schon lange für ihn schlägt, weiß sie, dass sie gerade ihm am wenigsten vertrauen sollte… //Die E-Box enthält alle Bände der Bestseller-Serie »Die Elite«: -- Spark (Die Elite 1) -- Fire (Die Elite 2) -- Blaze (Die Elite 3) -- Dust (Die Elite 4)//
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Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2017 Text © Vivien Summer, 2017 Coverbild: shutterstock.com / © Gabriel Georgescu / © Jag_cz / Covergestaltung: formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck / Derya Yildirim Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60376-7 www.carlsen.de
Vivien Summer
Spark (Die Elite 1)
**Willkommen in den obersten Rängen der Gesellschaft …** Kurz vor ihrer Volljährigkeit stellt sich heraus, dass Malia zu den Glücklichen der Gesellschaft gehört – den Menschen, denen eine außerordentliche Gabe zuteilgeworden ist. Von einem Tag auf den anderen zählt sie zur High Society des Landes: der ELITE. Aber für die verschlossene, immerzu unsichtbar bleibende Malia geht damit ein Albtraum in Erfüllung. Nicht nur richten sich plötzlich sämtliche Augen der Nation auf sie, auch muss sie sich als Trägerin eines übernatürlichen Elements ausgerechnet von dem bislang unerreichbaren High Society Boy Christopher Collins ausbilden lassen. Dem Jungen, in den sie seit Jahren heimlich verliebt ist und in dessen Augen das gleiche Feuer lodert wie in ihren …
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Vita
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© privat
Vivien Summer wurde 1994 in einer Kleinstadt im Süden Niedersachsens geboren. Lange wollte sie mit Büchern nichts am Hut haben, doch schließlich entdeckte auch sie ihre Liebe dafür und verfasste während eines Freiwilligen Sozialen Jahres ihre erste Trilogie. Für die Ausbildung zog sie schließlich nach Hannover, nahm ihre vielen Ideen aber mit und arbeitet nun jede freie Minute daran, ihr Kopfkino zu Papier zu bringen.
Du kannst nicht aufwachen.
Das hier ist kein Traum.
Oder dachtest du, dass sich jeder an die Regeln hält?
Hat dir niemand gesagt, dass wir diejenigen sind,
die die Monster hereinlassen?
Jahr 2636
Maxwell Longfellow stand am Fenster seines privaten Arbeitszimmers und betrachtete die wütende Menge, die sich hinter dem Tor seines Anwesens versammelt hatte, mit einem müden Lächeln. Eines, das fast schon ein bisschen siegessicher war, denn er wusste, dass sie ihm nichts konnten.
Hätte er das Fenster geöffnet, hätte er ihre singenden Chöre gehört, die die Abschaffung der Gentherapien forderten. Aber heute hätte nicht mal das sein Hochgefühl zerstören können. So beobachtete er nur, wie die Menschen – viele hatten Kleinkinder auf dem Arm – mit erhobenen Fäusten die Lippen bewegten und versuchten sich an seinen Wachmännern vorbeizudrängen und das Anwesen zu stürmen.
Ein leises Lachen entwich ihm, ehe er die Vorhänge zufallen ließ und sich wieder seinem Computer zuwandte, auf dem er immer noch die Mail des leitenden Arztes geöffnet hatte. Schon seit Jahren arbeiteten sie an einer Verbesserung des Serums, das in wenigen Wochen seinen fünfzehnten Jahrestag feiern würde, und nun endlich – nach acht Jahren harter, intensiver Arbeit – hatten sie es geschafft.
Longfellow konnte es immer noch nicht fassen. Er, der Präsident New Americas, würde die Gentherapien auf ein ganz neues Level bringen und die Soldaten und ihre Fähigkeiten perfektionieren, so dass es nur noch ein oder zwei Jahrzehnte dauern würde, bis er seinen Plan in die Tat umsetzen könnte.
Dann würde er New America zur einzigen Weltmacht küren, die die Menschen brauchen und kennen würden.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.
»Herein«, sagte er automatisch, blickte aber nach wie vor auf seinen Bildschirm, als befürchtete er, die frohe Botschaft könne sich in Luft auflösen.
Die Tür öffnete sich – normalerweise hätten es nur seine Frau oder seine Tochter sein können, aber er war überrascht, als Julienne McCann hereintrat, gefolgt von einem kleinen, dunkelhaarigen Jungen, den er unter Tausenden ausgemacht hätte.
Sein Goldstück. Sein Erfolg. Sein Soldat, der der Schlüssel zu allem sein würde.
Sofort war die Mail vergessen; stattdessen erhob sich der Präsident von seinem Stuhl, strich sich das Jackett glatt, als hätte er es mit einem ebenbürtigen Gegenüber zu tun, und ging auf seine Gäste zu.
Julienne strahlte ihn an. »Maxwell, wir dachten, es ist an der Zeit, dass du ihn persönlich kennenlernst.«
»Dem kann ich nur zustimmen«, erwiderte er ebenfalls lächelnd und beugte sich leicht zu dem Zehnjährigen hinunter, nachdem er bei ihm angekommen war.
Er erkannte sofort an den Gesichtszügen, dass das Kind sich nicht entscheiden konnte, es die ausgestreckte Hand des Präsidenten trotzig ignorieren oder freudig ergreifen sollte. Bei diesem Gedanken wurde das Lächeln auf seinen Lippen nur noch breiter – es würde noch lernen gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Schließlich ergriff der Kleine die Hand, ließ Longfellow dabei aber keine Sekunde aus den Augen.
»Hallo«, grüßte er.
»Hallo, Kind«, entgegnete er und schämte sich keine Sekunde dafür, dass er seinen Namen nicht kannte. Das war etwas, das ihn nicht interessierte und für ihn auch keine Relevanz hatte.
Für ihn war das Kind nur eine Mischung aus Buchstaben und Zahlen. X05212626CCH26XX. Kurz: 26C.
Longfellow ließ seine Hand wieder los und richtete sie stattdessen einladend auf die kleine Sitzgruppe bei den geschlossenen Fenstern. »Willst du dich setzen?«
»Ja.« Ohne zu zögern, ging der Junge auf die schwarze Ledercouch zu und ließ sich darauf fallen. »Du bist der Präsident«, sagte er bestimmt.
»Richtig. Und du, mein Freund, darfst mich Maxwell nennen«, bot er ihm an und setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel; Julienne nahm neben dem Jungen Platz.
Der Kleine wirkte skeptisch. »Wir sind keine Freunde.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass wir es werden«, schlug er dem Kind vor.
»Vielleicht«, erwiderte der Junge wenig begeistert, hielt mit ihm jedoch weiterhin direkten Blickkontakt.
Das überraschte Longfellow. Er hatte immer geglaubt, Kinder wären unkonzentriert und einfach zu beeinflussen.
Dann erinnerte er sich an die Untersuchungsergebnisse. In ihnen hatte er ja gelesen, dass 26C kein normales Kind war.
Nun – wie es aussah, stimmte das.
»Was soll ich hier?«, fragte der Junge geradewegs heraus und ließ sich dann mit dem Rücken gegen die Sofalehne fallen.
Julienne rutschte etwas unbehaglich zurück, als müsste sie ihn unter ständiger Beobachtung halten. Als hätte sie Angst vor ihm.
»So ein junger Mann wie du will doch bestimmt Soldat werden, oder?«, fragte der Präsident stattdessen und beobachtete, wie etwas in den Augen des Kindes aufblitzte.
»Klar!«, erwiderte es wie selbstverständlich. »Aber die da draußen nicht.«
Longfellow nickte. »Das stimmt. Leider gibt es Menschen, die keine Soldaten werden wollen.«
»Verstehe ich nicht«, antwortete es prompt.
»Ich auch nicht.« Longfellow seufzte demonstrativ. »Aber wenn es mehr Kinder wie dich gäbe, könnte sich das vielleicht ändern.«
»Vielleicht«, sagte der Junge mit dem sachlichen Ton eines Erwachsenen.
Gespielt nachdenklich lehnte sich der Präsident im Sessel zurück und überschlug die Beine. Ihm war bewusst, dass das lange Schweigen den Jungen nervös machte und ungeduldig werden ließ, aber das gefiel ihm.
Er wollte zu gern mit eigenen Augen sehen, dass seine Experimente Erfolg zeigten.
Nach einem Räuspern sagte er: »Ich glaube, da könnte ich deine Hilfe gebrauchen. Würdest du mir helfen?«
»Und was springt für mich dabei raus?« Das Kind rührte keine Miene – und Longfellow konnte sich das Grinsen nur mit Mühe verkneifen.
»Was möchtest du denn?«
»Eine Waffe halten.«
»Du meinst, eine Pistole?«
Das Kind nickte.
»Nun, ich wüsste nichts, was dagegenspricht«, stimmte Longfellow zu, woraufhin Julienne einen Moment lang blinzelte, als hätte dieser Vorschlag sie irritiert.
Natürlich vergaß Longfellow nicht, dass sein zukünftiger Soldat noch ein Kind war. Aber eigentlich konnte man nicht früh genug damit anfangen die Menschen für das Thema Krieg und Verteidigung des eigenen Landes zu sensibilisieren.
»Aber nicht heute«, lenkte er schnell ab und bemühte sich um einen mitleidigen Blick. »Erst, wenn du deine Aufgabe erfüllt und mir geholfen hast.«
»Als Belohnung?«, wollte der Junge wissen.
»Sozusagen.«
»Okay. Was muss ich tun?«
Eine selige Zufriedenheit breitete sich in seiner Magengegend aus – er konnte sein Glück immer noch nicht fassen.
»Man sagte mir, dass du dich in der Schule sehr anstrengst und hervorragende Leistungen erzielst. Wollen andere Kinder so sein wie du?«, gab er sich neugierig.
»Ein paar schon. Aber ich bin besser«, antwortete der Junge.
»Und so soll es auch bleiben«, stimmte er ihm zu. »Wenn wir nur noch mehr Kinder hätten, die auch Soldaten werden wollen, wären die Menschen vielleicht nicht mehr so böse … du müsstest nur ein bisschen Werbung machen.«
»Werbung?« Das Kind hob fragend eine Augenbraue.
»Ganz genau. Du sagst deinen Mitschülern nur, was du daran toll findest, ein Soldat zu sein, und wieso du einer werden möchtest.«
26C legte den Kopf schief. »Und wenn ich das mache, darf ich eine Waffe anfassen?«
»Darauf hast du mein Wort«, antwortete Longfellow dem Kind aus seinem schmallippigen Mund.
Als der Präsident erkannte, wie sich die Mundwinkel des Jungen hoben, spürte er, dass seine es ihm nachtaten. Er hatte ihn und erzielte damit einen höheren Gewinn, als er erwartet hatte. Der Junge war im wahrsten Sinne des Wortes die Lösung all seiner Probleme.
Auf der einen Seite würde er das Serum perfektionieren, auf der anderen die lästigen Demonstranten nach und nach ausradieren – angefangen in seinem Heimatort.
Nachdem Julienne das Kind wieder mitgenommen hatte, erfüllte ihn ein seltsames Glücksgefühl. Er war so beflügelt von dem positiven Ergebnis seiner jahrelangen Arbeit, dass er sich mehr als sicher war: Seine Zeit war genau jetzt gekommen.
Bestimmt würden sich auch die anderen Forschungsteams bald melden und ihren Erfolg verkünden – dann würde 26C Gesellschaft bekommen.
***
Mein Herz raste.
Das tat es schon, seitdem ich heute Morgen aufgestanden war und mich mit dem Gedanken hatte anfreunden müssen, dass heute ein Tag war, den ich nicht einfach überspringen konnte, obwohl ich es gern gewollt hätte. Und so ging es mir jedes Mal, wenn ich einen Untersuchungstermin hatte, der mein Leben komplett auf den Kopf stellen konnte: Würde ich noch mal mit einem blauen Auge davonkommen oder würde ich meine Freiheit verlieren?
Auf diese Frage eine Antwort zu bekommen machte mir immer wieder Angst, obwohl ich ab heute wieder ein halbes Jahr Zeit haben würde, mich seelisch auf den nächsten Termin vorzubereiten – was nie funktionierte.
Es war nicht das erste Mal, dass ich wie ein Wrack im Wartezimmer saß und weder still sitzen noch meinen Puls beruhigen konnte, indem ich mich abzulenken versuchte.
Da war einerseits das Aquarium in der Ecke, das nie lange dieselben Bewohner hatte, und andererseits waren da die Patienten, die ebenso wie ich auf ein Ergebnis warteten. Die meisten hofften auf ein positives, ich nicht. Ich wollte es einfach nur hinter mich bringen.
Wenn mir wenigstens die Zeit keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte! Es war schon schlimm genug, dass meine Ärztin ständig auf sich warten ließ, aber die Uhr über mir machte mich schier wahnsinnig. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich für meinen Wunsch auslachte, ich könnte diesen Tag einfach vorspulen oder wenigstens die Zeit anhalten.
Nervös spielte ich mit dem Ring an meinem Finger und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, der dank der leise brummenden Klimaanlage die Hitze von draußen aussperrte und meine rasenden Gedanken ein bisschen abkühlte.
Meine Augen blieben an dem Muskelprotz hängen, ein paar Stühle von meinem entfernt, der sich seit seiner Ankunft kaum bewegt hatte. Neben ihm saß ein schlankes Mädchen mit dunkelbraunen Strähnen in den blonden Haaren; sie feilte sich gelangweilt die pink lackierten Fingernägel und kaute noch gelangweilter ihr Kaugummi.
Der Mann war einer ihrer Bodyguards; jeder Rekrut der High Society bekam mindestens einen zugeteilt. Sie hatten die Aufgabe, ihre Schützlinge in einem viel zu großen, fast schon protzigen Wagen herumzukutschieren und zu beschützen. Vor allem, wenn sie zum Ziel einer Demonstration geworden waren, obwohl die Anzahl solcher in den letzten Jahren rapide abgenommen hatte.
Für mich waren die Bodyguards Normalität, immerhin war ich mit ihnen aufgewachsen. Auch wenn viele von ihnen eine gewisse grimmige Ausstrahlung besaßen, hatte ich mich nie vor ihnen gefürchtet.
»Miss Lawrence?« Die dünne Stimme eines Mädchens, das im Türrahmen aufgetaucht war, riss mich aus meinen Gedanken und mir das Herz zeitgleich nahezu in den Tod.
Sie trug einen weißen Kittel, in dem sie nicht viel größer zu sein schien als ich; ihre Füße steckten in rosa-blau gestreiften Gummischuhen, die mich an die Gartenschuhe meiner Mom erinnerten.
Weil sie mich mit großen, erwartungsvollen Augen ansah, zwang ich mich zum Aufstehen und folgte ihr auf wackeligen Beinen in eines der Untersuchungszimmer.
Trotz meiner halbjährlichen Termine spürte ich jedes Mal dasselbe ungute Gefühl im Bauch, wenn ich mich auf die Behandlungsliege setzte, meine Turnschuhe abstreifte und mich hinlegte.
»Dr. Martin kommt gleich zu Ihnen. Bitte versuchen Sie sich ein bisschen zu entspannen«, sagte das Mädchen freundlich und lächelte mir zu. Ehe ich antworten konnte, hatte sie den Raum schon wieder verlassen.
Als die Tür sanft ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert aus. Mir blieben noch ein paar Minuten; wertvolle Minuten, in denen ich die Augen zumachte und mich zwang an etwas anderes als die Untersuchung zu denken. Was nicht so leicht war. Der Geruch nach Desinfektionsmittel hatte längst den ganzen Raum verpestet.
Nur zu gern hätte ich die Hände jetzt in die Strickjacke gekrallt, die ich üblicherweise mit dabeihatte, aber die Hitze draußen war heute kaum zu ertragen. Es war absolut unmöglich, selbst mit einer leichten Jacke die Straße zu betreten, ohne so angestarrt zu werden, als hätte man sich in der Jahreszeit geirrt. Also konnte ich nur noch hoffen, dass es in etwa die gleiche Wirkung haben würde, wenn ich die Hände einfach ineinander klammerte.
Schneller, als ich gehofft hatte, waren meine Minuten gezählt – die Tür öffnete sich und eine blonde, schlanke Frau betrat das Untersuchungszimmer.
»Guten Morgen, Malia«, begrüßte mich die Ärztin, während sie die Tür geschickt mit dem Fuß schloss.
Dr. Martin hatte die Angewohnheit, jeden ihrer Patienten mit einem strahlenden Lächeln zu entwaffnen. Deshalb glaubte ich, für einen kurzen Augenblick würde meine Anspannung einfach von mir abfallen.
»Wie geht es dir heute?«, fragte sie.
Die innere Ruhe hielt aber nur ein paar Herzschläge lang an, bis die Nervosität wieder vollkommen Besitz von mir ergriffen hatte.
»Super«, erwiderte ich tapfer, auch wenn die Lüge in diesem einzigen Wort nicht zu überhören war.
»Du siehst aus, als hättest du Schmerzen«, sagte sie geradewegs heraus und zeigte sich unbeeindruckt. Sie kam einen Schritt auf mich zu. Ihr weißer Kittel, in dessen Taschen sie die Hände vergraben hatte, reichte ihr fast bis zu den Knien. »Wenn es dir nicht gut geht, können wir den Termin gerne verschieben.«
Eine Zustimmung lag mir schon auf der Zunge, aber meine Lippen weigerten sich zu sprechen. Was gut war – selbst nach einem Aufschub von einer Woche hätte ich wieder wie ein Häufchen Elend hier gelegen und darum gebettelt, dass das Testergebnis negativ ausfallen würde. Also musste ich es einfach durchziehen. Je schneller und schmerzloser, desto eher hätte ich wieder meine Ruhe.
»Nein, mir geht's gut«, antwortete ich leise. »Nur die übliche Nervosität.«
Dr. Martin schmunzelte, wobei ihr eine blonde Locke ins Gesicht fiel. Während sie zu einem der Schränke ging, strich sie das widerspenstige Haar hinters Ohr und richtete ihren lockeren Dutt. In der Schranktür befand sich etwa auf Augenhöhe ein Computerbildschirm, den sie mit einem scheinbar zufälligen Fingertipp startete. Ich beobachtete sie dabei, wie sie meine Akte öffnete und sich ihre schwarze Brille zurechtschob.
»Ich werde dir heute etwas mehr Blut abnehmen müssen, aber davon solltest du hinterher nichts spüren. Letzte Woche haben wir ganz hervorragende Medikamente gegen Schwindel bekommen«, informierte sie mich immer noch lächelnd und studierte mit gewissenhaftem Blick das, was auf dem Bildschirm zu lesen war.
Ich nickte bloß, obwohl sie es vermutlich nicht mal mitbekam, und schluckte. Meine Kehle war plötzlich staubtrocken, weshalb ich einen Hustenreiz unterdrücken musste.
Während ich ihr dabei zuhörte, wie sie sich ihre Utensilien aus dem Schrank sowie ein Paar Einweghandschuhe nahm, starrte ich an die weiße Decke. Kurz darauf rollte sie mit ihrem Hocker zu mir herüber und legte alles auf einen kleinen Tisch neben der Behandlungsliege ab.
»Ich bin mir sicher, dass es eine Erleichterung für dich sein wird, wenn du Gewissheit hast.« Im Augenwinkel sah ich sie immer noch aufmunternd lächeln.
Sie hatte gut reden. Sie war schließlich nicht diejenige, die keine Ahnung hatte, ob sie nach der heutigen Untersuchung immer noch dieselbe sein würde.
Immerhin hatte sie das Glück gehabt, von einem positiven Testergebnis verschont geblieben zu sein, denn die serumsbedingten Mutationen konnten nur im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren ausbrechen.
Anders als Dr. Martin hatte ich, selbst wenn das heutige Testergebnis negativ ausfallen würde, noch drei Jahre vor mir, in denen sich das jederzeit ändern konnte.
Nachdem sie meinen Arm für die Behandlung in eine günstige Position gerückt hatte, nahm sie das Desinfektionsspray und benetzte damit eine willkürliche Stelle meiner Armbeuge. Mittlerweile grenzte es an Körperverletzung – so oft, wie bereits in meine Arme hineingestochen worden war.
Aus Gewohnheit schloss ich die Augen.
»Das wird jetzt kurz wehtun und auch eine Weile dauern«, warnte sie mich vor. »Währenddessen würde ich gern den Schnelltest machen.«
»Okay.«
Ich versuchte mich an einem kleinen Lächeln, biss mir aber auf die Lippe, als sie mir ein Stauband um den rechten Oberarm legte und es festzog.
Früher hatte ich einmal dabei zugesehen, wie sie mir eine Braunüle unter die Haut geschoben hatte – und das war auch das letzte Mal gewesen. Kaum hatte ich mein Blut in einem durchsichtigen Schlauch gesehen, hatte ich damit kämpfen müssen, bei Bewusstsein zu bleiben.
»Hat sich deine Meinung denn inzwischen geändert?«, fragte sie mit mütterlicher Stimme, als würde sie mich damit ablenken wollen. Derweil nahm sie meine andere Hand und stach mit einem kleinen Gerät in die Seite meines Ringfingers.
»Sie meinen, ob ich damit leben könnte zur Elite, also zur High Society, zu gehören?«
»Ich meine, ob du dich darüber freuen würdest, wenn deine Werte heute positiv sind«, korrigierte sie mich, während sie das Gerät beiseitelegte. Ein Piepton kündigte die Schnellanalyse meines Blutes an.
»Für mich sind sie positiv, wenn sie unverändert negativ sind.«
»Malia«, seufzte sie leise, bemühte sich aber immer noch um ein Lächeln. »Zur High Society zu gehören ist eine große Ehre.«
Ich blinzelte sie an.
Keine Ahnung, ob es je einen Moment gegeben hatte, in dem ich derselben Meinung gewesen war; aber für mich bedeutete der High Society beizutreten mit Sicherheit nicht mich geehrt zu fühlen.
Für mich bedeutete es, dass ich eine willenlose, gehorsame Soldatin werden würde – jemand ohne Leben, ohne Rechte, ohne Freiheit, ohne einen Weg zurück. Denn den gab es nicht, oder zumindest keinen, der nicht illegal oder selbstmörderisch wäre.
Es gab keine Möglichkeit, der Regierung zu entkommen.
Fast das ganze Land wusste, dass es einen nicht gerade geringen Bevölkerungsanteil gab, der das genauso sah wie ich. Aber in den letzten Jahren hatte die Regierung es geschafft die Demonstrationen und Gewaltausartungen im Zaum zu halten. Auch Festnahmen, wenn man sich gegen die Therapie weigerte, gab es kaum noch. Das lag jedoch nicht zuletzt an den wachsenden Drohungen New Asias.
Nichtsdestotrotz existierten zu viele Befürworter, so dass ein Kampf gegen die Gentherapien unmöglich war. Es gab zu viele, die die High Society wie Heilige verehrten, als hätte sie eine neue, bessere Welt erschaffen.
Ich wollte damit nicht sagen, dass das gelogen war, sondern nur, dass sie die Menschen, vor allem die Neugeborenen, zu den Therapien zwang.
Direkt nach der Geburt bekam man die erste Dosis des Serums verabreicht, das einen mit Hilfe von Mutationen dazu befähigen sollte, eines der vier Elemente zu beherrschen. Damit man ein Soldat sein konnte: eine menschliche Waffe.
Ob jeder Mensch von vornherein zu einem Element bestimmt war, blieb umstritten, in ihrer Entwicklung war jedes der vier aber klassisch. Je mehr man es trainierte, umso mehr Fähigkeiten würden sich zeigen. Obwohl ich mich kaum für die High Society interessierte, wusste ich trotzdem, wozu die wirklich guten Soldaten fähig waren.
Windsoldaten zum Beispiel konnten sich schneller bewegen und Tornados entstehen lassen, Erdsoldaten Erdplatten verschieben, um Erdbeben und Tsunamis auszulösen, Feuersoldaten eine ganze Stadt auf einmal in Brand setzen und Wassersoldaten eben einen solchen wieder löschen. Von diesen sogenannten Elitesoldaten gab es aber nur wenige, was die anderen aber nicht unbedingt weniger gefährlich machte; sie waren nur keine systematischen Massenmörder.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie erfolgreich verlief, lag bei rund fünf Prozent; ich gab die Hoffnung noch nicht auf, dass ich zu den übrigen fünfundneunzig Prozent gehören würde.
Dr. Martin räusperte sich verhalten. »Wenn ich dich etwas fragen dürfte, Malia … welches der vier Elemente würdest du beherrschen wollen, wenn du es dir aussuchen könntest?«
Da sie das kleine Gerät, auf dem inzwischen bestimmt das Ergebnis des Schnelltests zu sehen war, in der Hand hielt, ahnte ich bereits das Schlimmste.
Dennoch antwortete ich, ohne großartig nachzudenken: »Wasser.«
Es schien mir das harmloseste aller Elemente zu sein, obwohl die Meinungen dazu auseinandergingen. Was nicht bedeutete, dass ich »Hier!« geschrien hätte, wenn jemand bereit wäre mir seine Kräfte zu verschenken.
Der Schock über das Testergebnis musste mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Dr. Martins Lächeln bröckelte von Sekunde zu Sekunde ein Stückchen mehr – und genau so sah es auch in meinem Inneren aus. Ihre Worte fühlten sich niederschmetternd an, weshalb ich im ersten Moment nicht reagieren konnte.
An Freudensprünge war überhaupt nicht mehr zu denken, eher war mir zum Heulen zu Mute.
Wie lange ich die Ärztin wortlos anstarrte, die soeben mein Leben ruiniert hatte, wusste ich nicht; auch nicht, wie ich es schaffte, erfolgreich gegen den Drang anzukämpfen, mir die Nadel aus dem Arm zu reißen.
Vielleicht tat ich Letzteres nicht, weil ich nicht die Nächste im Netzwerk sein wollte, die bei ihrer Untersuchung durchgedreht war.
Behutsam legte Dr. Martin das kleine Gerät zurück auf den Tisch und erwiderte mitfühlend meinen Blick. »Es ist noch nichts bestätigt, hörst du?«, versuchte sie mich – erfolglos – zu beruhigen. »Achtzig Prozent sind für so eine Diagnose immer noch viel zu wenig, um mit Sicherheit sagen zu können, dass deine Gene auf die Therapie reagieren. Wir sollten noch nichts überstürzen, Malia.«
Ich nickte und musste dabei feststellen, dass mein Körper auf keinen anderen Bewegungsbefehl reagierte. So als wäre er eingefroren.
Es war nicht mal eine Minute vergangen, seitdem mir Dr. Martin die hohe Wahrscheinlichkeit einer Genveränderung verkündet hatte, und schon spielten sich in meinem Kopf die schlimmsten Szenarien ab. Zwar wusste ich, wie das Leben der Soldaten aussah, schließlich wurde damit nicht gerade wenig im Netzwerk geprahlt. Das hieß aber nicht, dass ich ein Teil davon werden wollte.
Bereits jetzt nistete sich leise Verzweiflung in meinen Brustkorb ein und drohte mich langsam zu ersticken – und das sollte nicht sein. Jeder andere wäre völlig aus dem Häuschen gewesen, hätte er meine Diagnose erhalten. Er hätte sich stark und unberechenbar gefühlt. Ich war weder das eine noch das andere.
Und wie sollte ich erst meinen Eltern beibringen, dass ich bald eine blutrünstige Killermaschine sein würde?
Nach weiteren schweigsamen Minuten, in denen Dr. Martin abwechselnd etwas in ihre Computerdateien eingab und die Blutabnahme kontrollierte, erlöste sie mich und tauschte die Nadel gegen einen Tupfer aus. Einvernehmlich drückte ich damit auf die Einstichstelle, während sie den Beutel mit den blutgefüllten Röhrchen verschloss. Dann klebte sie mir das vertraute Pflaster auf.
Normalerweise dauerte es immer ein paar Minuten, bis es zu bluten aufhörte, doch jetzt bildete ich mir ein, dass es innerhalb von Sekunden geschah. Kein Wunder, da ich durch die bestätigte – voraussichtliche – Mutation meiner Gene in der Lage war, schneller zu heilen.
Ich Glückliche.
Langsam setzte ich mich auf und lehnte mich mit einem plötzlichen Schwindelgefühl gegen die Wand in meinem Rücken, wobei ich mich aber trotzdem nicht traute die Finger vom Pflaster zu nehmen. Ich wollte es lieber noch eine Weile unter ihnen verstecken.
Als Dr. Martin die Nadel entsorgte und den Beutel in einer weißen Plastikbox verschwinden ließ, hätte ich mich am liebsten auf sie gestürzt. Wenn ich es verhindern könnte, dass sie meine Blutprobe einsandte, würden sie mich zumindest nicht bis zur nächsten Untersuchung registrieren – aber natürlich rührte ich mich keinen Millimeter.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie mich schließlich und drehte sich lächelnd zu mir um.
»Scheiße«, gestand ich offen und kümmerte mich ausnahmsweise mal nicht um meine Wortwahl. Für gewöhnlich dachte ich solche Dinge nur und sprach sie nicht aus – aber gerade interessierten mich meine Manieren herzlich wenig.
»Ich kann dich wirklich verstehen«, meinte sie mit einem besänftigenden Unterton in der Stimme, »aber du solltest versuchen ruhig zu bleiben. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass der Schnelltest fehlerhaft ist.«
Anders als sie vielleicht beabsichtigte, spendeten mir ihre Worte keinen Trost oder schenkten mir die Hoffnung, dass es sich bei dem Ergebnis um einen Irrtum handelte.
»Kann ich jetzt gehen?«, wollte ich ausweichend wissen, damit ich nicht doch noch zu der Heulsuse werden würde, die schon in mir schlummerte.
Dr. Martin lächelte mich an. »Gleich.« Sie erhob sich und ging ein weiteres Mal zu ihrem Schrank. Von dort holte sie eine kleine weiße Schachtel. »Hier, nimm davon eine, wenn dir wieder schwindelig wird. Aber nicht mehr als fünf Stück am Tag und am besten im Abstand von vier Stunden.«
Ich lächelte zurück, nickte und nahm die Tabletten. »Danke.«
»Und hier noch eine für jetzt.« Dr. Martin hielt mir einen kleinen, durchsichtigen, blauen Becher hin, worin sich eine weiße Tablette befand. Ich schluckte sie schnell mit ein bisschen Wasser hinunter.
»Wie lange wird es dauern?«
Dr. Martin lächelte. »Zwei, maximal drei Tage, dann weißt du es mit Sicherheit«, sagte sie und versenkte dabei wieder die Hände in den Taschen ihres Kittels. »Wenn du so weit bist, darfst du auch gehen. Ich sage nur eben vorne Bescheid, dass wir eine Bescheinigung an deine Schule schicken.«
***
Ich verließ das Ärztehaus mit einem komischen Gefühl im Bauch, als müsste ich mich gleich übergeben, obwohl sich mein Magen gleichzeitig vollkommen leer anfühlte. Vermutlich die Nebenwirkung der Panik, die sich immerhin langsam verflüchtigte. Unter dem Blick der prallen Mittagssonne hastete ich den Bridgepost Boulevard hinunter, um noch meine Bahn zu erreichen.
Auch wenn alles in mir danach strebte nach Hause zu rennen und mich in meinem Bett zu verkriechen, musste ich zurück in die Schule und erst mal mit Sara reden. Sie würde es schaffen meine Nerven zu beruhigen.
Schnaufend bog ich um die Ecke und legte noch einen Zahn zu, da die Bahn schon an der Haltestelle stand und nicht danach aussah, als würde sie auf mich warten.
Vor ein paar Jahrzehnten wäre das kein Problem gewesen, denn dann hätte ich einfach auf den nächsten Bus gewartet, aber diese Art Transportmittel saßen ihre Zeit jetzt nur noch in Museen ab und nicht mehr im öffentlichen Verkehr.
Jeder wusste, dass die Verschmutzung der Umwelt daran schuld war, doch die Regierung redete das Thema schön. Wenn es kaum noch eine schnelle und verlässliche Infrastruktur gab, bewegte man sich immerhin mehr und förderte die Gesundheit.
Da aber eigentlich niemand mit dem Fahrrad fuhr und nicht jede Familie die finanziellen Mittel hatte, um ein Auto zu besitzen, war die Bahn so gut wie immer überfüllt. Inzwischen hatte ich mich allerdings daran gewöhnt, von den ein- und aussteigenden Menschenmassen angerempelt, herumgeschubst und eingequetscht zu werden. Nicht zu vergessen die Lautstärke: kreischende Babys, sich unterhaltende Menschen und die minütliche Ankündigung, welche Haltestelle als Nächstes angefahren werden würde.
Auch jetzt hatte ich nur bedingt Glück. Zwar war das Abteil aufgrund der Uhrzeit deutlich leerer als üblich, aber trotzdem noch so voll, dass ich keinen Sitzplatz bekam. Das bedeutete für die nächste halbe Stunde: stehen. So wie immer also.
Leider war nicht nur die Bahn überfüllt, sondern auch die Stadt. Trotz gesunkener Bevölkerungszahl, die die Folgen der Therapien, vergangene Kriege und Naturkatastrophen verschuldet hatten, zählte Haven – einst Winter Haven – zu den größten Städten New Americas und galt somit als Hauptstadt von New Florida.
Das wusste ich aus dem Unterricht. Aber was genau das für Kriege waren, konnte ich nicht sagen. Die Vergangenheit war ein schwieriges Thema, weshalb wir so gut wie nie darüber sprachen; die Lehrer wiederholten lediglich, die Menschen wären schuld daran, dass die Natur unseren Lebensraum zerstörte.
Früher war das Meer über fünfzehn Meilen entfernt gewesen, doch durch den Anstieg seines Spiegels aufgrund der Erderwärmung konnte man es heute sogar zu Fuß erreichen – vorausgesetzt, man hatte eine gute Sonnencreme. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir überhaupt noch leben durften.
Als die Bahn vor der Schule hielt, machte sich mein erhöhter Puls bemerkbar. Wenn ich erst mal ein Mitglied der High Society wäre, würde bald nichts mehr so sein wie vorher. Es würde viele geben, die mich mit verachtenden Blicken strafen würden, weil sie genau das wollten, worum ich am liebsten einen riesigen Bogen gemacht hätte.
Diejenigen, die von meiner Vorgeschichte mit Jill wussten, würden eher Mitleid mit mir haben und das könnte ich noch weniger gebrauchen. Glücklicherweise war ich davon überzeugt, dass ich der Hälfte der Schüler nicht mal auffallen würde – zumindest war das bis jetzt so gewesen. Mit Aufmerksamkeit hatte ich noch nie etwas anfangen können.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir gerade eine der viertelstündigen Pausen hatten. Ich beeilte mich also, damit ich wenigstens noch kurz mit Sara sprechen konnte.
Bevor ich mich aber in Bewegung setzte, versuchte ich mir noch den Satz Mein Schnelltest war positiv von der Stirn zu schrubben. Erst am Haupteingang des kreisrunden, fünfstöckigen Gebäudes hörte ich damit auf und stellte peinlich berührt fest, dass mein Spiegelbild in der Fensterscheibe wie ein Fisch aussah, dem man einen Stromschlag verpasst hatte.
Kaum hatte ich das Gebäude betreten, befand ich mich mitten im Tumult. Zwar war meine Schule mit rund fünfhundert Schülern nicht gerade die größte in Haven, aber trotzdem im ersten Moment so laut, dass ich gerne rückwärts wieder rausgelaufen wäre. Ganz besonders stach dabei das Gelächter der High-Society-Mädchen hervor, die ein paar Meter von mir entfernt an ihren Spinden standen und sich mit Sicherheit über den neuesten Klatsch aus dem HavenPress unterhielten. Allein durch diese Geste schienen sie das Selbstbewusstsein zu besitzen, von dem ich eigentlich nur träumen konnte.
Schnell durchquerte ich die Eingangshalle und ging dabei an den gläsernen Aufzügen vorbei, die nur die High Society betreten durfte. Normale Menschen wie ich – zumindest so lange ich noch einer sein würde – mussten die Treppe nehmen.
Ich ging mit gesenktem Blick bis in den dritten Stock und atmete erleichtert aus, als ich meine beste Freundin im Schneidersitz vor ihrem Spind sitzen sah. Ihre schulterlangen, blonden Haare hingen wie ein Umhang um ihr Gesicht, während sie vornübergebeugt völlig vertieft auf das Tablet in ihrem Schoß starrte.
Sie bemerkte mich erst, als ich meine Tasche und kurz darauf mich selbst wie einen nassen Sack neben sie fallen ließ. Erschrocken fuhr sie hoch und schaltete schnell das Tablet aus, auf dem sie sich schon wieder durch Modemagazine geblättert hatte.
»Ich glaube, ab heute hat mein Leben keinen Sinn mehr«, offenbarte ich ihr, bevor sie überhaupt zu Wort kommen konnte.
Sara strich sich die Haare aus dem Gesicht und blinzelte mich mit ihren großen, karamellfarbenen Augen mehrmals an. Seit geraumer Zeit schminkte sie sich für die Schule, was zunächst mit Wimperntusche angefangen hatte. Aber inzwischen griff sie auch zu Eyeliner und rosafarbenem Lippenstift, der sie noch mädchenhafter und blasser aussehen ließ.
Offensichtlich hatte sie sich wieder eingekriegt, denn nach einer Weile fragte sie: »Wie war's denn?«
»Furchtbar«, antwortete ich wahrheitsgemäß und ließ den Kopf gegen die Spindtür hinter mir fallen.
»Weil …?«
»Weil der Schnelltest positiv war. Achtzig Prozent«, seufzte ich frustriert.
»Oh«, entfloh es ihr mitleidig, auch wenn ich ihren funkelnden Augen ansehen konnte, dass sie meinen Frust eher weniger teilte. »Aber so schlimm ist das doch gar nicht.«
»Für mich schon«, entgegnete ich.
Sara stieß mir ihren Ellbogen zwischen die Rippen. »Ich weiß, aber … ach, komm schon, Malia. Hast du nicht auch mal ein kleines bisschen davon geträumt, wie es wäre dazuzugehören?«
»Du träumst davon«, verbesserte ich sie mit skeptischem Blick. »Ich will einfach nicht wissen, wie ich einen Menschen auf hundert verschiedene Weisen töten kann.«
»Dass du auch immer gleich den Teufel an die Wand malen musst!« Sara klappte lachend die Schutzhülle ihres Tablets zu und verstaute das Gerät vorsichtig in ihrem Rucksack. Seit sie diese Modezeitschriften abonniert hatte, behandelte sie es wie einen Schatz.
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, verkündete die Klingel das Ende der Pause. Schweigend erhoben wir uns vom Fußboden und tauchten in Richtung der Treppen in die Schülermenge ein, die sich beinahe blitzartig im Flur gebildet hatte. Vor uns lag eine Unterrichtsstunde in Umweltlehre; der Kursraum lag ein Stockwerk höher.
Kaum hatten wir dieses erreicht, fuhr Sara mit ihrer Argumentation fort. »Die High Society ist – genau genommen – das Beste, was dir passieren kann. Sie sehen alle gut aus, haben Geld, tragen die besten Klamotten, können essen, was sie wollen. Sorgenfreiheit inklusive. Elite eben! Sogar du müsstest sie wenigstens ein bisschen beneiden.«
»Kein Stück«, antwortete ich fest, obwohl das natürlich nicht ganz stimmte.
Die High Society bestand aus Menschen, deren Leben besser nicht sein konnte. Sie hatten alles, was man brauchte, und mussten sich niemals beschweren oder sich Sorgen machen, wie sie den Monat überleben sollten.
Die Palette, die sie fast kostenfrei von der Regierung zur Verfügung gestellt bekamen, erstreckte sich von unnötigen Luxusgütern wie teuren Klamotten und Schmuck bis hin zum vollen Kühlschrank, Dutzenden Freizeitaktivitäten und was natürlich auch nicht fehlen durfte: begeisterte Fans wie Sara, die alles über die High Society wussten, als wären die Mitglieder weltberühmte Stars und keine Soldaten, die ihr Leben riskierten.
»Wenn du dann reich und berühmt bist, kannst du mich vielleicht irgendwie mit einschleusen?«, witzelte Sara in dem Versuch, mich damit irgendwie aufzumuntern. »Du weißt schon …«
»Du meinst, ich soll die Erdmädchen anbetteln dich in ihren Kreis aufzunehmen, damit sie dir Schönheitstipps geben können?«, witzelte nun ich.
»So würde ich das jetzt nicht unbedingt ausdrücken …«
»Doch, würdest du.«
Von allen Elementen mochte Sara das Element Erde am liebsten, weil Erdmädchen den Ruf hatten, schöne Haut und noch schönere Haare zu haben. Ich wusste nicht genau, was an dem Klischee dran war, immerhin galten Wassermädchen als besonders einfühlsam. Aber auch da gab es einige Personen, die das widerlegen konnten.
»Na ja, vielleicht«, entgegnete sie aufgeregt und grinste mich verheißungsvoll an.
Ich vergaß ihr zu antworten, als mein Blick auf ein geschlossenes Grüppchen der High Society fiel; da jedes der Mädchen rote Haarsträhnen besaß, ging ich davon aus, dass es sich um Feuersoldaten oder –rekruten handelte – vor allem, weil Chris unter ihnen war.
Als mir das Herz in den Magen rutschte, kniff ich die Lippen zusammen und betete, dass er nicht zu mir herübersehen würde. Wozu es nicht mal einen Grund gab.
»Malia, alles in Ordnung? Du kriegst ganz hässliche Flecken im Gesicht«, informierte Sara mich netterweise, weshalb mir gleich noch mehr Blut in den Kopf schoss.
Meine Wangen glühten. Die ganze Situation war mir so schrecklich peinlich, dass ich wie jedes Mal, wenn ich an ihnen vorbeiging, den Blick auf den Boden gerichtet hielt. Was die ganze Sache eigentlich nur noch schlimmer machte, schließlich hatte ich keine Angst vor ihnen.
Ich wollte den zukünftigen Soldaten New Americas nur nicht im Weg stehen. Erst recht nicht, wenn einer von ihnen der beliebteste von allen sein könnte.
Anscheinend hatte Sara Chris jetzt erst bemerkt – obwohl sie eigentlich immer schneller war als ich –, denn plötzlich verlangsamte sie ihre Schritte und zog mich enger an sich heran. »O mein Gott!«, flüsterte sie und erstickte dabei fast an ihren eigenen Worten. »Christopher Collins ist wieder da.«
»Na und?«, fragte ich bemüht gleichgültig und tat so, als ginge diese Tatsache komplett an mir vorbei. So musste ich Sara wenigstens nicht gestehen, dass ich längst von seiner Rückkehr wusste; ich hatte ihn gestern schon gesehen, als er während der normalen Unterrichtszeit ein paar Formalitäten geklärt hatte, und war dabei mindestens zwei Tode gestorben.
Das erste Mal, als ich zur Toilette gehetzt und dabei Gefahr gelaufen war, von ihm entdeckt zu werden; das zweite Mal, als ich die Toilette wieder verlassen und gehört hatte, dass er sich sehr auf den ersten Schultag seit langem freute.
Wenn Chris in die Schule ging, dann nur, um die Gerüchteküche anzuheizen.
Von der Seite bemerkte ich Saras entgeisterten Blick. »Na und?«, wiederholte sie perplex und sah mich an, als hätte ich völlig den Verstand verloren. »Da ist Christopher Collins und du interessierst dich nicht mal für ihn?«
»Könntest du bitte leiser reden?«, zischte ich ausweichend, um ihr nicht gestehen zu müssen, dass ich mich natürlich für ihn interessierte. Es war aber auch ein Ding der Unmöglichkeit, es nicht zu tun. Wenn auch nur aus der Ferne. Aus ganz, ganz weiter Ferne.
Sara zog leicht die Schultern hoch, als hätte sie selbst nicht gemerkt, wie laut sie tatsächlich gesprochen hatte. Ich war nur froh, dass keiner aus der Gruppe davon etwas mitbekommen hatte; dafür wimmelte es auf dem Flur Gott sei Dank von sich unterhaltenden Schülern.
Nichtsdestotrotz ließ ich mir einige Strähnen vors Gesicht fallen, um mich vor potenziellen Blicken zu schützen, wozu meine rotblonden Haare jedoch nicht gerade viel beitrugen.
Meiner besten Freundin entging das natürlich nicht. »Malia«, seufzte sie missbilligend. »Du solltest dir echt mal abgewöhnen, Angst vor … was auch immer zu haben.«
Ich verzichtete darauf ihr zu sagen, dass es nicht wirklich Angst war, die mich daran hinderte mit ihnen zu reden. Es war einfach ihr Auftreten, ihre Ausstrahlung, die mich so dermaßen einschüchterte, dass sich mir allein beim Gedanken daran die Zunge verknotete.
Als wir etwa auf einer Höhe mit der kleinen Gruppe waren, konnte ich nicht anders, als doch einen Blick zu riskieren. Ich versuchte meinem Herzen den Wunsch auszuschlagen, dass er hochsehen und mich bemerken würde, aber es hatte mich gerade eindeutig besser im Griff als mein Verstand. Der nämlich wollte mir weismachen, ich würde mich nicht genauso wie Hunderte andere Mädchen für ihn interessieren.
Vor allem, da Chris monatelang von der Bildfläche verschwunden gewesen war.
Obwohl ich nicht mal wusste, was ich erwartet hatte, stellte ich fest, dass er sich nicht verändert hatte. Er trug die dunkelbraunen Haare immer noch kurz und chaotisch und auch sein Kleidungstil war unverändert sportlich und schlicht. Für manche war er vielleicht zu einfach, doch für ihn war es perfekt.
Das war die allgemeine Meinung aller Mädchen dieser Welt und nicht nur meine eigene.
Chris sah müde aus, vermutlich vom Training, um irgendwann unser Land verteidigen zu können. Und ich würde bald genauso müde sein.
Ehe er mich oder meinen gaffenden Blick bemerken konnte, wandte ich schnell das Gesicht ab und konzentrierte mich auf die hellgrau gesprenkelten Fliesen unter den Füßen. Ich hatte nicht mal lange hingesehen, doch trotzdem hatten sich seine dunkelbraunen Augen wortwörtlich in mein Gedächtnis gebrannt.
Zugegeben, als wir mit der Bahn nach Hause fuhren, genoss ich es sogar, dass Sara mich mit ihren Vorträgen über Make-up, Frisuren, Peelings, Maniküren und Pediküren ablenkte. Ab und an kam sie zwar vom Thema ab und landete bei Christopher Collins, aber das verzieh ich ihr. Es war viel zu amüsant, ihr dabei zuzuhören, wie sie sich ausmalte mit ihm auf den Winterball zu gehen, obwohl selbst ein Kometeneinschlag wahrscheinlicher war.
Genau deswegen kam ich nicht umhin mir Sorgen darüber zu machen, dass Sara in fünf Tagen vor meiner Haustür stehen würde, weil sie unbeschreiblichen Liebeskummer hatte. Es war schließlich schon öfter vorgekommen, dass sie meinen Vorrat an Süßigkeiten plünderte, nachdem sie sich in irgendeinen Typen verliebt hatte, der sie kaum beachtete. Sie litt sowieso schon genug darunter, dass die Mitglieder der High Society sie nicht bemerkten. Dass sie nicht zur Elite gehörte.
Ehrlich gesagt verstand ich das selbst nicht wirklich – immerhin war sie ein hübsches Mädchen mit schulterlangen, blonden Locken und einem niedlichen Gesicht, dem man einfach nicht böse sein konnte.
Meiner Meinung nach hatte sie wirklich das Potenzial dazu gesellschaftlich aufzusteigen. Sie hätte es auch eher verdient als ich ein positives Ergebnis zu erhalten – und das nicht nur, weil sie die Privilegien besser gebrauchen könnte.
»… zum Friseur gehen und mir Strähnchen machen? Meinst du, dass Chris mich so bemerken wird?«, riss mich ihre Stimme aus meiner Träumerei.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, was sie gesagt hatte, aber ich gab mir Mühe, möglichst überzeugend zu lächeln. »Versuchen kannst du es ja«, sagte ich, obwohl ich ihr am liebsten davon abgeraten hätte, sich in irgendeiner Weise für einen Kerl zu ändern.
Ich wollte ihre Schwärmerei nicht gleich zerstören, auch wenn jeder in dieser Stadt wusste, wie Christophers Beuteschema aussah. Normale Menschen wie Sara und ich gehörten nämlich nicht dazu. Er war nicht gerade der Typ, der großartig um ein Mädchen werben musste. Eher waren es die Mädchen, die ihn umwarben, damit er sie überhaupt beachtete.
Die Wahl hatte dann letztendlich er. Und Kerle wie er suchten sich kein Mädchen aus der Mittelschicht aus.
Am Rande bekam ich mit, wie Sara weiter über Chris schwärmte und mich damit anzustecken versuchte, aber heute war mir nicht mehr danach. Ich schämte mich sowieso schon dafür, dass ich ihm genauso verfallen war wie alle anderen Mädchen dieser Stadt.
Ich konnte mir nicht mal erklären, wieso das so war. Klar, er sah gut aus, war ein Charmeur, wenn er ein Auge auf jemanden geworfen hatte, ein talentierter Soldat … aber das konnte doch nicht alles gewesen sein!
Mir fiel auf, dass Sara nicht mehr redete, weshalb ich per Blickkontakt versuchte herauszufinden, ob sie mir eine bislang unbeantwortete Frage gestellt hatte.
Die Dinge lagen jedoch völlig anders. Sara hatte ihre Aufmerksamkeit auf drei in Schwarz gekleidete Personen gerichtet, die gerade in die Bahn einstiegen, was eigentlich nichts Ungewöhnliches war. Dank der Uniform der High Society war Schwarz sowieso eine beliebte Farbe. Aber das hier war definitiv etwas anderes.
Es wurde vollkommen still in der Bahn, was mir von einer Sekunde zur anderen eine Gänsehaut bereitete.
Die schwarzen Gestalten trugen trotz der Hitze Kapuzenpullover, worunter sie ihre Gesichter verbargen, so dass ich auf den ersten Blick nicht sagen konnte, ob es Männer oder Frauen waren.
Ich zuckte leicht zusammen, als ich Saras Hand an meinem Handgelenk spürte; sie tastete danach und bohrte ihre Finger in meine Haut.
Erst jetzt bemerkte ich, dass am anderen Ende unseres Waggons noch mehr dieser Gestalten eingestiegen waren. Dort waren es fünf.
Als sich die Bahn erneut in Bewegung setzte, nahmen die meisten ihre Gespräche wieder auf, auch wenn die angespannte Stimmung blieb.
Sara neben mir beruhigte sich etwas. Glücklicherweise waren es sowieso nur noch zwei Stationen, bis wir bei Haven 15 ankommen und aussteigen würden.
»Wie wäre es, wenn wir heute Abend ausgehen, um dich auf andere Gedanken zu bringen?«, fragte sie leise und lächelte mich forschend an. Ich sah genau, wie ihr Blick dabei zu den schwarzen Gestalten wanderte, ignorierte es aber. »Ich verspreche auch, ich werde kein Wort über die High Society verlieren.«
Nachdenklich verzog ich den Mund. »Nur unter einer weiteren Bedingung.«
»Wenn du dich dann besser fühlst.« Ihre Augen huschten kurz zu mir, aber sie klang nicht so, als wäre sie wirklich bei mir.
»Wir reden nicht über Chris.«
Eigentlich hätte ich damit gerechnet, dass sie wenigstens darüber lachen würde, doch das tat sie nicht. Stattdessen sah sie stumm an mir vorbei und beobachtete die Person, die sich von der größeren Gruppe getrennt hatte und nun den Gang entlanglief; man erkannte jetzt deutlich, dass es sich um eine Frau handelte. Sie bewegte sich beinahe elegant, als hätte sie Übung darin, über einen Laufsteg zu schweben. Wenn es nur nicht so grotesk und angsteinflößend gewesen wäre, dass man ihr Gesicht nicht mal sehen konnte.
Indem sie anscheinend zufällig den Kopf hob, als hätte sie meinen starrenden Blick bemerkt, gab sie das schwarze Bandana zu erkennen, worunter sie Nase und Mund verbarg.
Ich rutschte automatisch ein Stück zurück, als sie mir auf einmal in die Augen sah und mir ihr Element offenbarte.
Je besser die Soldaten die Fähigkeiten ihres Elements im Griff hatten, desto stärker wirkte es sich auf ihre Augen aus, sobald sie diese anwendeten.
Bei den meisten Feuerrekruten hatte ich es schon oft gesehen, dieses Brennen, aber bei einem Windsoldaten war es das erste Mal.
Ihre beinahe weißen Augen funkelten mich belustigt an – zuerst fragte ich mich noch, was sie vorhatte. Doch eigentlich war es mir zu dem Zeitpunkt klar gewesen, als ich das schwarze Bandana gesehen hatte. Mir blieb nur keine Zeit, zu reagieren.
Kaum hatte sie die Hände aus den Taschen ihres Pullovers gezogen, hörte ich jemanden schreien; Glas zersplitterte. Es geschah so schnell, dass ich reflexartig nach Sara griff, die sich näher an mich herandrückte.
Der Schmerz ihrer Finger, die sich in meinen Oberschenkel krallten, blendete fast das Kreischen aus, das in meinen Ohren klirrte.
Ich bildete mir ein, dass die Bahn plötzlich an Geschwindigkeit verlor, obwohl der Wind meine Haare gleichzeitig mitriss – mein Puls geriet völlig außer Kontrolle.
Ich hatte das Bedürfnis, Sara an mir festzuhalten, als könnte der Fahrtwind sie tatsächlich aus dem Fenster ziehen, dessen Scheibe sich in Millionen kleine Scherben aufgelöst hatte. Einige davon lagen auf ihrem Schoß. Die meisten waren nach draußen geschleudert worden, als die Soldatin sie gesprengt hatte.
Am liebsten hätte ich mich in meinen umherwirbelnden Haaren versteckt, aber ich bekam kaum noch Luft. Der Lärm um uns wurde immer größer; während auf der einen Seite die Schüler schrien und sich an allem, was sie greifen konnten, festhielten, brach am anderen Ende des Waggons das Chaos aus. Gerade so konnte ich erkennen, wie die Windsoldatin immer noch in der Mitte der Bahn stand, als würde sie im völligen Gleichgewicht zu der Geschwindigkeit stehen, die sich stetig zu erhöhen schien.
Sara wimmerte leise – und ich hätte unglaublich gern das Gleiche getan, aber meine Kehle hatte sich zu fest zugeschnürt. Auch meine Beine reagierten kaum noch auf den Versuch, näher an Sara heranzurücken; sie fühlten sich kraftlos an und zitterten.
»Was soll die Scheiße?«, brüllte plötzlich jemand – es waren die ersten klaren Worte, die ich in diesem Tumult verstehen konnte und die für kurze Zeit sogar die Trance unterbrachen, in der sich die Fahrgäste befanden. Mich eingeschlossen.
»Wir werden nicht aufgeben!«, konterte eine männliche Stimme. Die anderen schwarzen Gestalten lachten nur, wobei mir klar wurde, was das hier war: eine Demonstration.
Bisher hatte ich immer das Glück gehabt, ganz weit weg zu sein, wenn die Rebellen mal wieder zuschlugen. Außerdem war ich in letzter Zeit davon ausgegangen, dass die Regierung sie in den Griff bekommen hatte.
Auch wenn ich von ihnen fasziniert war, jagten sie mir beim bloßen Anblick einen Schauer über den Rücken. Nicht zuletzt, weil sich darunter ausgebildete Soldaten befanden wie die Windsoldatin, die, wie es schien, diese Bahn am liebsten auf den Schrottplatz verfrachtet hätte – und mich hoffentlich nicht auf den Friedhof.
Innerlich betete ich, dass es nicht ihr Ziel war, uns als mögliche Opfer der Regierung zu töten, um sich dafür zu rächen, dass sie zu dem geworden waren, was die Therapie mit ihnen gemacht hatte. Zumal ich nicht mal eine Sekunde daran denken konnte, meine Familie im Stich zu lassen – zu sterben kam also überhaupt nicht in Frage. Irgendwer würde diese Wahnsinnigen schon aufhalten, irgendwann.
Als hätte man mein Gebet erhört, bremste die Bahn so rasant ab, dass Sara und ich von unseren Plätzen gerissen und unsanft von unseren gegenübersitzenden Nachbarn abgefangen wurden. Noch einmal nahmen die Schreie zu – ich gehörte vermutlich selbst dazu, war mir aber nicht sicher, da das Kreischen meine Ohren piepen ließ und der Aufprall mir sämtlichen Sauerstoff aus der Lunge presste –, dann stand die Bahn.
Erst nachdem ich mir ganz sicher war, dass ich es mir nicht nur einbildete, wagte ich es wieder Luft zu holen und ließ es über mich ergehen, dass mir das Herz immer noch gegen die Rippen hämmerte und nicht mal daran dachte das Tempo zu drosseln. Fast schon beschämt drückte ich mich von dem Schoß des Jungen ab, auf dem ich unfreiwillig und halb liegend gelandet war, und entschuldigte mich leise bei ihm.
Sara neben mir war kreidebleich und klammerte sich an dem Mädchen fest, das nicht weniger zitterte als wir. Eine kleine Scherbe hatte sich in ihren Arm gebohrt, aber er blutete kaum – anders als ihr war mir sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Sie realisierte es nicht einmal. Um ihr keine Angst zu machen – ich konnte schließlich nicht wissen, wie sie darauf reagieren würde oder ob sie es möglicherweise schon wusste –, ignorierte ich es und wandte mich stattdessen an Sara.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich sie leise, wobei ich den Blick durch die Bahn schweifen ließ und gleichzeitig meine Haare zurückschob.
Ich konnte mein Entsetzen nicht verbergen, als ich feststellte, dass die inzwischen wie vom Erdboden verschluckten, schwarz gekleideten Demonstranten einen Anblick völliger Verwüstung hinterlassen hatten.
Von den Fensterscheiben waren nur noch spitze Scherben in der Fassung zurückgeblieben, der Rest war vom Wind nach draußen gesogen worden oder hatte sich in der Bahn zerstreut.
Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn ich dabei nicht in die Gesichter der anderen Fahrgäste geschaut hätte; der Großteil von ihnen waren Schüler, die genauso wie ich und Sara heute früher Schluss gehabt hatten. Aber es waren auch einige Kinder dabei, die sich jetzt mit geröteten Wangen an ihre Mütter drückten. Gott sei Dank hatten die Scherben nicht viele von ihnen verletzt; auch mir ging es gut, wenn man vom Zittern absah.
Ich zuckte zusammen, als sich die Türen mit einem Zischen öffneten. Die Soldaten, die während der Zugfahrt gefehlt hatten – schließlich benutzte niemand von ihnen noch öffentliche Verkehrsmittel –, tauchten plötzlich auf und holten uns aus den Waggons heraus.
Zuerst ging diese Handlung völlig an mir vorbei; es schien so unwirklich, dass ich in eine Demonstration geraten war. Aber ausgerechnet an dem Tag, an dem ich von meiner Ärztin erfahren hatte, dass die Therapie wahrscheinlich angeschlagen hatte, passierte das hier?
Das war doch ein schlechter Scherz?!
Sie konnten es nicht wissen … oder? Nein. Das war unmöglich. Bestimmt war es in ihren Augen einfach mal wieder an der Zeit, unter Beweis zu stellen, dass sie das System verabscheuten.
Mechanisch, fast wie fremdgesteuert half ich Sara endlich vom Schoß des Mädchens hoch, damit sich die Soldaten um sie kümmern konnten.
Bevor wir aus der Bahn ausstiegen, griff ich nach unseren Rucksäcken, die in den Gang gerutscht waren, und beförderte meine beste Freundin und mich nach draußen.
»Sind Sie verletzt?«, sprach mich sofort jemand mit einer professionell ruhigen Stimme an und stellte sich mir in den Weg.
Ich musste blinzeln, um ihn zu erkennen – eindeutig ein Wassersoldat. Die senkrechten Streifen an den Seiten der schwarzen Kampfmontur waren dunkelblau und symbolisierten die Elementzugehörigkeit.
»Nein«, erwiderte ich schließlich mit schwacher Stimme, damit ich endlich aufhörte ihn anzustarren, als wäre er ein Monster, das kurz davor war mich in seine Arme zu locken.
Sara zitterte immer noch. »Können wir gehen? Bitte?«
»Wie heißen Sie?«
»Malia Lawrence«, antwortete ich schnell. »Das ist Sara Wyatt.«
Der blonde Wassersoldat warf einen prüfenden Blick auf meine Freundin, während er sich gleichzeitig etwas in sein Gerät notierte, das wie mein Tablet aussah, nur nicht so schmal. »Sind Sie verletzt?«, fragte er Sara.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nur ein paar Schnittwunden«, erklärte ich ihm notdürftig und presste wieder die Lippen aufeinander, als seine Augen meine streiften.
Einen Moment lang befürchtete ich noch, sie würden uns irgendwohin mitnehmen oder hier festhalten, aber er nickte uns nur zu und widmete sich den nächsten Personen, die mit Hilfe der Soldaten die Bahn verließen.
Schweigend gingen wir ein gutes Stück, bis Sara ihren Rucksack wieder allein tragen konnte. Wir waren eine Station zu weit gefahren, weshalb wir nun fast die ganze Strecke zurückgehen mussten, was bei dem Wetter kein Vergnügen war. Außerdem dauerte es eine Weile, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, meine Beine würden bei jedem Schritt wegknicken, vor allem, da ich Sara noch irgendwie stützen musste.
Auf dem Weg nach Hause begegneten uns ein paar schwarze Geländewagen der Regierung, darunter Kamerateams fürs Fernsehen und die Gouverneurin. Außerdem fuhren zwei Rettungswagen an uns vorbei, allerdings ohne Sirene, weshalb ich einfach nur noch froh darüber war, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Noch zumindest.
Es würde bestimmt nicht mal zwei Stunden dauern, und sie würden mit Hunderten Fragen vor meiner Tür stehen, um herauszufinden, ob ich jemanden von den Demonstranten erkannt hatte.
Erleichtert, dass das nicht der Fall war, schleppte ich Sara und mich bis zu ihrem Haus. Ich wartete, bis ihre Eltern die Tür öffneten und die völlig aufgelöste Sara reinholten. Es tat mir in der Seele weh zu wissen, dass diese Aktion sie ganz sicher nicht davon abhalten würde, weiterhin ein Teil der High Society werden zu wollen. Und das, obwohl sie es nicht mal geschafft hatte, bei der gerade eben überstandenen Aktion die Ruhe zu bewahren. Im Krieg würde es noch schlimmer zugehen, aber wie ich Sara kannte, würde sie darüber hinwegsehen.
Nachdem ich mich von Sara und ihren Eltern verabschiedet und ihnen dreimal versichert hatte, dass es mir gut ging, beeilte ich mich ebenfalls nach Hause zu kommen.
Wie erwartet standen meine Eltern bereits auf der Veranda und liefen mir entgegen, als sie mich durch das Vorgartentor kommen sahen.
Wie in einem schlechten Film lief meine Mom auf mich zu und zog mich in ihre Arme; kurz darauf folgte Dad. Ich konnte nicht anders, als meine Stirn auf Moms Schulter sinken zu lassen und wem auch immer dafür zu danken, dass es einfach nur eine Demonstration und ich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war.
Es war nichts passiert.
Ich war nicht verletzt. Mir ging es gut. Ich würde damit klarkommen. Ich würde es müssen, wenn der Schnelltest nicht gelogen hatte. Mir blieb keine andere Wahl.
»Süße, geht es dir wirklich gut? Sollen wir zu Dr. Martin fahren?«, nuschelte mir Mom durch das völlig zerzauste Haar ins Ohr, ehe sie mich ein Stückchen von sich wegschob und besorgt ansah.
Am liebsten hätte ich meinen Griff verstärkt, aber ich gab mich tapfer. Es war alles gut.
»Schon okay«, erwiderte ich mit einem versuchten Lächeln, wusste aber, dass es nicht besonders überzeugend war.
»Und der Test?«
Von wegen, alles war gut. Nichts war gut. Mir war heute die schlimmste Mitteilung meines Lebens gemacht worden und ich bezweifelte, dass das alles nur ein Albtraum war, aus dem ich nicht aufwachen konnte. Das hier passierte wirklich und man hatte mir gerade die erste Vorwarnung erteilt, was noch alles auf mich zukommen würde.
Ich würde zur Soldatin ausgebildet werden.
Ich würde Befehlen folgen müssen.
Ich würde gegen Demonstranten kämpfen müssen. Ich würde die Menschen verhaften müssen, deren Ziele ich genauso verfolgte.
Ich würde jemanden töten müssen.
Ich würde jeden Tag mit der Angst konfrontiert werden, ihn nicht zu überleben.
Meine Miene musste eigentlich schon genug Aufschluss darüber geben, wie es gelaufen war, aber mein Mund öffnete sich dennoch: »Achtzig Prozent«, sagte ich knapp und schmerzlos.
Dass ich den Rest des Tages in meinem Zimmer verbringen wollte, nahmen mir meine Eltern nicht übel. Bestimmt brauchten sie selbst erst mal ein bisschen Zeit, um zu begreifen, wie unfair das Leben zu unserer Familie war: eine Tochter gestorben, die andere sollte Soldatin werden– ein schönes, einfaches Leben war meiner Meinung nach etwas anderes, auch wenn die Gesellschaft das nicht so sah.
Jill war nichts weiter als ein gescheitertes Experiment gewesen, das aber einen großen Teil zur Erforschung des Serums beigetragen hatte, das unsere Gene manipulierte– und ich? Ich wäre jetzt der Grund, weshalb meine Familie ein umwerfendes Leben haben würde. Immerhin würden auch sie von meinem vermutlich baldigen gesellschaftlichen Aufstieg profitieren.
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