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Die Zeiten im Württemberg des Herzog Eberhard waren höchst wechselhaft. Das Fürstenhaus bot dem vom Pietismus erweckten Land, dessen einfache Leute einen neuen Zugang zur Bibel fanden, ein Trauerspiel. Die rechtmäßige Frau des Herzogs musste den Platz an der Seite ihres Mannes räumen. Eine Mätresse, Frl. von Grävenitz, trat an ihre Stelle. Bald hatte sie alle Fäden der Regierung und des Einflusses in ihrer Hand. Es stand nicht gut um Württemberg. In dieser Situation wird 1715 der Pfarrer Samuel Urlsperger zum Hofprediger und Konsistorialrat in Stuttgart berufen. Er versteht sich als Mann der biblischen Botschaft im Sinne Speners. Auch August Herrmann Francke, den er in Halle besucht hatte, beeinflusste ihn stark. Nach anfänglicher Zurückhaltung nimmt Urlsperger entschieden Stellung gegen das Treiben des Herzogs. Er tut dies so mutig, dass er ins Gefängnis kommt und zum Tode verurteilt wird. Die Bevölkerung gerät in Unruhe, es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen am Hof und in der Regierung, in deren Verlauf der Innenminister Baron von Schütz dem Herzog seinen Degen vor die Füße wirft, als er zum Gegenzeichen des Todesurteils aufgefordert wird: »Durchlaucht, hier ist mein Degen! – Blutschulden unterschreibe ich nicht.« Urlsperger ist gerettet, wird aber seines Amtes enthoben. Ein spannend geschildertes Leben. Samuel Urlsperger beeindruckt durch seinen Mut, im Namen Gottes gegen öffentliche Missstände Stellung zu beziehen. Deutlich bezeugt er das Wort Gottes als alleinige Basis für Glaube und Leben des Christen. Urlspergers missionarisches, seelsorgerliches und diakonisches Engagement (z. B. für Flüchtlinge) lässt ihn weltweite Verbindungen pflegen. Sein Erbe ist eine Herausforderung für Kirche und Gemeinde der Gegenwart.
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Seitenzahl: 262
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Samuel Urlsperger
Der Prediger des Herzogs
Armin Stein
© 2. Auflage 2018 cebooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Armin Stein
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-057-5
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Titelblatt
Impressum
In die weite Welt
Der Jünger bei dem Meister
Im Angesicht des Todes
Auf englischer Erde
Wieder in Halle
Das erste Pfarramt
»Führe uns nicht in Versuchung«
Der neue Hofprediger
Die »Landverderberin«
Lieber Besuch
Eine ernste Beichtstunde
Doch noch zu Wort gekommen
Veränderte Windrichtung
Ein stumm gemachter Mann
Was will das werden?
Im Kerker
In der Stille
Erlösung
Schwere Wahl
Feindliche Mächte
Neuer Sturm
Noch ein Fegefeuer
Schwäbische und andere Kunde
Der Anwalt der Vertriebenen
Von jenseits des Ozeans
Unterm Kreuz
Noch einmal durchs Todestal
Der Mann des Vertrauens
Ein schönes Abendrot
Gute Nacht
Anmerkungen
Unsere Empfehlungen
»Grüß Gott, lieber Herr! Bin ich hier auf dem Weg nach Halle?«
An einem taufrischen, himmelblauen Maimorgen des Jahres 1709 war es, als ein junger Mann auf der in nordwestlicher Richtung von Leipzig sich dahinwindenden Landstraße einen Wanderer so anredete, nachdem er diesen mit beschleunigtem Schritt eingeholt hatte.
Es erfolgte ein freundlicher Gegengruß und dann der Bescheid: »Diese Straße mündet in das Galgtor der Stadt Halle an der Saale. Und Sie können um so weniger irren, als ich dasselbe Reiseziel habe. Wenn Sie möchten, können Sie sich mir anschließen.«
»Ich danke Ihnen sehr«, erwiderte der junge Mann. »Gemeinsam ist der Weg leichter, und ich habe bereits zwei volle Tage schweigen müssen, weil ich keinen Begleiter fand.«
»Woher des Weges kommen Sie?« fragte der andere, ein Mann in den mittleren Jahren, von hagerer Gestalt und einem feinen, geistvollen Gesicht mit guten, freundlichen Augen. »Doch was frage ich! Sie kommen aus Süddeutschland; Ihre Sprache verrät Sie. Sie sind ein Schwabe.«
»Getroffen!« lachte der junge Mann. »Schwaben ist meine Heimat. Und wenn Sie es noch genauer wissen wollen: Das Städtlein Kirchheim ist der Ort, in dem ich auf gewachsen bin.«
»Kirchheim unter Teck?« fragte der andere.
Der junge Mann nickte. »Mein Vater ist dort, herzoglicher Stabsverwalter. Eigentlich stammt das Geschlecht der Urlsperger, dem ich angehöre, nicht aus dem Schwabenland. Meine Vorfahren sind in der Steiermark ansässig gewesen, bis sie nach dem großen Krieg um ihres Glaubens willen das Vaterland verlassen mussten. – Doch was plaudere ich da! Sie müssen mich für einen rechten Schwätzer halten.«
»O nein, ganz und gar nicht«, erwiderte der andere, dem der junge Mann mit den frischroten Wangen, dem langen, lockigen Haar, den treuherzigen Augen und dem fröhlichen Wesen sehr zugefallen anfing. »Wenn Sie wollen, reden Sie nur in dieser Tonart weiter; Sie werden in mir einen aufmerksamen Zuhörer haben.«
Dem jungen Mann taten diese väterlich warmen, teilnehmenden Worte gut. »Sehen Sie mir nicht bloß meine Herkunft und Heimat an, sondern auch meinen Beruf?« fragte er und stellte sich keck vor seinen Begleiter hin.
Der musterte ihn mit kurzem Blick und sagte dann: »Der junge Herr Urlsperger macht ein gelehrtes, biblisches Gesicht: Ich möchte wetten, vor mir steht ein Theologe.«
»Ihr Auge ist scharf, lieber Herr«, lächelte Urlsperger.
»Bis zu meinem 14. Lebensjahr habe ich auf den Bänken der Schule meiner Vaterstadt gesessen, dann hat man mich, wie das in Schwaben der Brauch ist, in eine Klosterschule getan, bis ich reif geworden bin für die Universität und nach Tübingen übersiedelte. Dort hab’ ich zuerst allgemeine Wissenschaften studiert und nach zwei Jahren die Magisterwürde errungen; dann ließ ich mich für Theologie einschreiben. Ein Diener am Wort zu werden entsprach nicht nur den Wünschen meiner Eltern, sondern war auch mein eigenes Anliegen. Doch bald wurde ich von Fieber befallen und musste nach Hause zurück. In den Wochen und Monaten der leiblichen Schwachheit bin ich jedoch nicht träge gewesen, so dass ich vor zwei Jahren vor dem Stuttgarter Konsistorium die theologische Prüfung bestanden habe und in das Tübinger Stift eingetreten bin. Dort ist mir dann ein Jahr später etwas Seltsames begegnet. Bei einer öffentlichen Disputation, der auch der Herzog beiwohnte, hatte ich eine Rolle mitzuspielen. Am nächsten Tag wurde ich in die herzogliche Kanzlei bestellt und traute meinen Ohren nicht, als der Kämmerer mir verkündete, Seine Durchlaucht sei auf mich aufmerksam geworden; er habe mir ein Stipendium ausgesetzt, mit dessen Hilfe ich in die Welt hinausziehen solle, um mich in den Wissenschaften noch weiter umzusehen. Sie können sich denken, lieber Herr, wie mir bei solcher Eröffnung das Herz im Leibe gehüpft ist. Ich habe mich auch nicht lange besonnen, sondern bald den Wanderstab genommen und bin zunächst nach Erlangen gewandert. Das war im August des vorigen Jahres.«
»Hm!« fiel der andere kopfnickend ein. »Die Ritterakademie wird Sie dorthin gezogen haben. Man redet viel Rühmenswertes von ihr.«
Urlsperger lächelte. »Ja, es ist eine gute Schule mit tüchtigen Lehrern. Ich habe auch etwas Rechtes gelernt. Was mich aber nach Erlangen gezogen hat, das war vor allem das Haus des Akademiedirektors von Jägersberg, das mit dem unseren seit langen Jahren eng befreundet ist. Und in diesem Haus war es besonders die Sophie, die mir’s angetan hatte. Ich musste doch sehen, was aus dem lieben Mädchen geworden war, mit dem ich einst in Kirchheim gespielt hatte. Und ich fand eine aufgebrochene Knospe, lieblich anzusehen, so lieblich, wie mir noch keine erschienen war. Ich will’s kurz machen: Eines Tages sind wir beide Hand in Hand vor die Eltern getreten und haben sie gebeten, sie möchten uns zu dem geschlossenen Bund der Herzen ihren Segen geben. Was dann auch geschehen ist.«
»Nehmen Sie auch von mir einen Händedruck dazu und meine herzlichsten Wünsche für eine glückliche Zukunft!« unterbrach der Begleiter den Redestrom des jungen Mannes. »Oh, mit welchen Augen werden Sie jetzt in die Welt hineinschauen! Sicherlich hängt Ihnen der Himmel voller Geigen.«
»Ja, ich bin glücklich«, schwärmte der junge Magister, »nur ist mir bange dabei – ich meine, ich verdiene das Glück gar nicht.«
Der andere sagte nichts, aber er streifte seinen Nebenmann mit einem Blick, aus dem sein ganzes Wohlgefallen sprach, bis er nach einer Pause fragte: »Und wohin wollen Sie nun, Herr Magister?«
»Zunächst nach Halle zu August Hermann Francke«, lautete der Bescheid. »Ich möchte den Mann von Angesicht zu Angesicht kennenlernen, der als ein Stern erster Größe am Himmel des Reiches Gottes steht.«
Der andere nickte zufrieden. »Das höre ich gerne. Wer den kennenlernen will, der muss doch von seinem Geiste etwas in sich haben und innerlich mit ihm verwandt sein.«
»Kennen Sie ihn?« fragte Urlsperger rasch.
»O ja. Wer sollte ihn nicht kennen! Ich bin nämlich ein hallescher Bürger.«
»Hm! Ob es wohl einem Fremden, noch dazu einem jungen, 24jährigen Burschen, möglich ist, dem Vielbesuchten und Vielbeschäftigten nahe zu kommen?«
»Das wird sich wohl machen lassen. Ich selbst will Sie zu ihm führen.«
Urlsperger musterte den Fremden schnell. »Ich habe Sie noch gar nicht nach dem Namen gefragt. Verzeihen Sie meine jugendliche Unbedachtsamkeit und meine Selbstgefälligkeit, die immer nur von sich redete.«
»Mein Name ist Elers«, sagte der Fremde gelassen.
Urlsperger wurde still und sah nachdenklich vor sich hin, dann fuhr er plötzlich auf: »Ich meine, diesen Namen habe ich schon gehört. Trägt nicht der, der in den Franckeschen Stiftungen dem Buchladen vorsteht, denselben Namen?«
Der Begleiter nickte. »Der Herr Professor hat mich seit einer Reihe von Jahren gewürdigt, sein geringer Gehilfe und Mitarbeiter zu sein.«
Urlsperger stammelte Entschuldigungen, dass er sich dem hochangesehenen Mann gegenüber solche Vertraulichkeit erlaubt habe, wurde aber von Elers bald beruhigt und erhielt nun auf seine Bitte genauere Auskunft über Francke, über dessen Herz und Wesen und über das Werk des gottbegnadeten, gesegneten Mannes.
Urlsperger hörte in andächtiger Begeisterung zu und streifte dabei von Zeit zu Zeit den Erzähler mit einem ehrfürchtigen Blick. Seine Hochachtung vor dem Mann, der von August Hermann Francke so groß und von sich selbst so gering dachte, wuchs immer mehr.
Sie waren inzwischen bis Schkeuditz gekommen und traten in ein Wirtshaus ein, um sich zu stärken, denn bis Halle waren es noch mehrere Wegstunden.
Auf dem Weitermarsch setzte Elers seine Erzählung fort, denn es war viel zu sagen von dem Mann, der von aller Welt bestaunt wurde als ein Muster des Gottvertrauens und der Menschenliebe, als ein Mann mit einem warmen Herzen, einem klaren Kopf und einer unsagbar geschickten Hand.
»Was ist das dort am Horizont, die spitzen Türme?« unterbrach endlich der junge Magister den Erzähler. »Ist das Halle?«
Elers bejahte. »Es sind die Türme der Marienkirche auf dem Markt. In einem Stündlein werden wir am Ziel sein.«
Da wurde der Schwabe froh, denn er brannte darauf, den Mann, von dem er sich nun ein recht klares Bild machen konnte, mit eigenen Augen zu sehen.
Unweit des Galgtors in der Nähe des alten, steinernen Marienbildes, an dem einst Johannes Tetzel1 mit seinem Ablasskasten haltgemacht hatte, blieb Elers stehen. »Sehen Sie dort die vielen Häuser? Das sind die Stiftungen August Hermann Franckes.«
Urlsperger deckte sich die Hand über die Augen gegen die Sonne und sah den Begleiter mit fragendem Blick an. »Ich habe sie mir groß vorgestellt, aber die Wirklichkeit geht noch über meine Vorstellungen hinaus.«
Elers lächelte. »Sie sehen ja nur einen Teil davon! Gedulden Sie sich noch ein wenig.«
Bald standen die beiden Wanderer vor dem Haupthaus, an dessen Front unter der goldenen Sonne zwei schwarze Adler im himmelblauen Felde die Flügel schwingen und mit großen Buchstaben die Inschrift steht: »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.«
Schweigend blickte Urlsperger hinauf, die Hände falteten sich ihm, und Tränen traten ihm in die Augen, bis er, in den Vorderhof tretend, von dem Eindruck überwältigt, ausrief: »O mein Gott, das ist ja eine Stadt! Und die hat er angefangen mit sieben Gulden?«
»Ich sagte es ja schon«, versetzte Elers. »In seinen Händen haben sich die sieben Gulden gemehrt, und diese betend gehaltenen Hände sind nie leer geworden. Das ist das ganze Geheimnis. Der Glaube kann alles, er kann Berge versetzen, er kann auch Häuser bauen.«
Und nun erklärte er dem Fremdling im Weitergehen der Reihe nach die einzelnen Gebäude und ihren Zweck: die Waisenanstalt, die Schulen alle, den Speisesaal mit dem allgemeinen Versammlungssaal und die Werkstätten. Danach führte er ihn durch die weitgedehnten Gärten, welche Francke gekauft hatte, um sie für seine Stiftungen nutzbar zu machen.
Als sie nach einer einstündigen Wanderung zum Ausgangspunkt zurückgekehrt waren, machte Elers vor einem kleinen, unscheinbaren Haus halt. »Wenn Sie den Herrn Professor sehen und sprechen wollen, finden Sie ihn hier, und zwar am sichersten morgens in der Frühe um sechs Uhr.«
Urlsperger warf einen schnellen Blick auf das Haus. »Ist dieses seine Wohnung?«
Als Elers bejahte, schwieg er eine Weile; dann sagte er im Weitergehen: »Der Mann, der andern so große und stattliche Häuser gebaut hat, nimmt für sich vorlieb mit einer Hütte!«
Elers schüttelte lächelnd den Kopf. »Befremdet Sie das? Passt das nicht zu dem Bild, das ich Ihnen von ihm gezeichnet habe? Er selbst will arm sein, um andere reich zu machen, und solches Armsein ist sein Reichtum, sein Glück. Niemand weiß es besser als er, dass Geben seliger ist als Nehmen. Und nun Gott befohlen! Auf Wiedersehen, mein lieber junger Freund!«
1 Johannes Tetzel (1465-1519), deutscher katholischer Theologe und Ablassprediger
Zaghaft stand am anderen Morgen der junge Schwabe vor der Tür des Francke-Hauses. Die natürliche Beklemmung, einem großen Mann unter die Augen zu treten, steigerte sich noch durch den Gedanken an die frühe Tagesstunde, in der er den Herrn Professor besuchen wollte.
Zu seinem Glück kam in dem Augenblick Elers aus der Tür mit einer Buchrolle unter dem Arm. Er begrüßte ihn freundlich und zog ihn, wieder umkehrend, hinter sich drein ins Haus.
Kurz darauf stand er in dem außerordentlich schlichten Arbeitszimmer vor dem Herrn Professor. Ja, so hatte er sich ihn gedacht: dieses von langem Haar umgebene Gesicht voll Milde und Güte, diese klaren, sprechenden Augen, dieser weiche, von sanftem Lächeln umspielte Mund; das alles war ihm schon über Nacht im Traum erschienen. Nun gewann er im Gespräch mit ihm einen immer tieferen Einblick in dessen Innenleben. Er lernte mit steigender Bewunderung und Ehrfurcht aufschauen zu dem Mann, der so Großes vollbracht hatte und doch so demütig vor ihm stand wie ein Kind.
Leider konnte sich Francke jetzt nur kurze Zeit dem Gast widmen, da ihn seine amtlichen Pflichten wegriefen, aber er ließ ihn nicht gehen, ohne ihn zum Abendessen eingeladen zu haben.
Urlsperger ging mit froher Laune davon. Zugleich war er beschämt, dass sich der bedeutende Mann zu ihm, dem unbedeutenden, so herabgelassen und ihm so viel von seiner kostbaren Zeit gewidmet, ja ihn sogar nochmals eingeladen hatte.
Er traf am Abend eine kleine Tafelrunde an: Neben dem Hausherrn saß seine Frau, eine feine, vornehme Dame, der die adelige Herkunft auf dem Gesicht geschrieben stand und deren Blick, deren Worte es verrieten, dass das beste Stück ihres Adels im Herzen saß. Ferner waren der Schwiegersohn Franckes, Freilinghausen, und seine beiden Gehilfen Elers und Neubauer anwesend.
Seltsam berührt fühlte sich Urlsperger, wie ihm, dem unbedeutenden und jungen Fremden, eine solche Bedeutung beigemessen wurde, dass man ihn bald zum Mittelpunkt der Unterhaltung machte.
Besonders Francke selbst geriet mit ihm in ein angeregtes Gespräch, nachdem ihm klargeworden war, dass im Gemüt des jungen Mannes ein ihm verwandter Ton erklang, dass er hier einen lebendigen Vertreter des süddeutschen Pietismus vor sich hatte. Was diesem an Jahren und männlicher Reife fehlte, das ersetzte das Feuer jugendlicher Begeisterung. Francke bemerkte sehr bald, dass er hier nicht einen »Durchschnittskandidaten« vor sich hatte, sondern einen jungen Mann mit hervorragendem Geist und Wesen, der möglicherweise noch einmal von sich reden machen würde.
Für Francke war es von größtem Interesse, durch diesen jungen Mann selbst ein Bild zu bekommen von der Bedeutung, die der Pietismus im Süden des Reichs erlangt habe, und von seiner besonderen Ausprägung. Denn es bestand ein wesentlicher Unterschied – das wusste er wohl – zwischen Nord und Süd.
»Ihr Schwaben seid in einer Art glücklicher als wir«, meinte Francke im Verlauf des Gesprächs. »Der schwäbische Charakter mit seiner nüchternen Ruhe und gemütlichen Behäbigkeit hat euch vor manchem Missstand bewahrt, der uns hier in einem beweglicheren und reizbareren Volksstamm schon viel zu schaffen gemacht hat. Wie viele Stürme habe ich bestehen müssen, ehe mein Schifflein den Hafen erreicht hat! Wenn ich an die Tage von Erfurt und Leipzig denke, so zittert mir aufs neue das Herz. Und auch hier in Halle bin ich zu Anfang nicht auf Rosen gewandelt, auch hier hat man mir, den man nicht verstand, das Leben recht sauer gemacht.«
»Sie haben recht, ehrwürdiger Herr Professor«, fiel Urlsperger ein, »doch habt ihr Norddeutschen nach einer andern Seite hin wieder einen Vorzug; dass nämlich die Fürsten und Großen der Sache Gottes günstig gesonnen sind, während ihr bei uns der Landesherr und sein Hof feindselig gegenüberstehen, zumal ihnen jegliches Verständnis dafür abgeht.«
Francke sah einen Augenblick schweigend auf seinen Teller und spielte mit der Gabel, dann sagte er: »Wohl weht bei uns zur Zeit in den hohen und höchsten Regionen eine warme Luft – dafür ist Gott zu danken aber Fürstengunst ist eine Wetterfahne. Verlasst euch nicht auf Fürsten, denn sie sind Menschen. Wehe uns, wenn wir bei ihnen unsre Stütze suchten! Bei euch im Schwabenland hat die ganze Bewegung eine breitere und solidere Grundlage im Bürgertum. Es steht, wie man hört, einmütig zusammen gegen die Ungerechtigkeiten und Gewalttaten und das Lasterleben des Hofs und wird in diesem Widerstand seiner Sache nur um so gewisser, seine Überzeugung nur um so treuer leben. Bei uns dagegen blüht der Frühling des geistlichen Lebens erst – wenigstens vorwiegend – auf den Höhen, und in den Tiefebenen des Bürger- und Bauernstandes liegt noch viel Winterschnee. Wie üppig ist der Same aufgegangen, den einst Spener1 auf den schwäbischen Acker gestreut hat, da ihm dort die Umstände so günstig schienen! Die ruhige Besonnenheit des schwäbischen Volkes bildete einen Damm gegen Verirrungen, Ausschweifungen und Schwärmereien, die bei uns zu Lande vielfach der guten Sache geschadet haben. Wie freue ich mich, wenn ich von dem blühenden Stand des kirchlichen Unterrichts höre, auf welchen Spener – mit Recht – so großen Wert legte. Er ist im Süden des Reiches feste, kirchliche Ordnung geworden, während er bei uns vom guten Willen abhängt und zudem vielfachen Anfeindungen ausgesetzt ist. Und dazu die Hausandachten neben den kirchlichen Gottesdiensten, von keinem Milizposten gestört, von Geistlichen vernünftig geleitet oder weise überwacht. Wie segne ich das Schwabenland um dieser Lebensquelle willen!
Alles in allem: Der Süden hat dem Norden manches voraus. Und welcher Führer könnt ihr euch rühmen! Welch eine starke Persönlichkeit ist etwa Hedinger, der glaubensmächtige, tapfere Zeuge, der als Hofprediger vor seinen Herzog hinzutreten wagte wie einst Nathan vor König David! Und Osiander, der, an der Spitze des Kirchenregiments stehend, den Mut gehabt hat, der allmächtigen Favoritin ihres Herzogs die Zähne zu zeigen! Alle Achtung vor diesem Gideon! Oder übertreibt etwa das Gerücht seinen Ruhm?«
Urlsperger verneinte und wusste von der Unerschrockenheit und Unbeugsamkeit dieses obersten Kirchenbeamten manches zu erzählen.
Die Frau Professorin hatte sich inzwischen still entfernt, weil ihr leidender Zustand sie frühzeitig ins Bett nötigte. Da wandte sich Francke an den Gast mit der Bitte, ihm genauere Auskunft über den Württemberger Hof zu geben, von dessen Sündenwirtschaft die gräulichsten Dinge erzählt würden. Er tat das in der Hoffnung, dass das Gerücht übertrieben habe.
Urlsperger fühlte sich als schwäbischer Untertan von dieser Frage ziemlich betroffen, doch glaubte er dem Gastfreund die geforderte Auskunft nicht vorenthalten zu dürfen.
»Trauer«, sagte er, »erfüllt das Herz jedes Schwaben, wenn er an seinen Landesherrn denkt. Er macht es seinen Untertanen so sehr schwer, ihn als den von Gott Erwählten zu achten und zu ehren. Was Paulus zu den Galatern spricht: ›Im Geist habt ihr angefangen; wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden?‹, das mag auch für Herzog Eberhard Ludwig gelten. Wäre er auf dem Wege geblieben, den ihm seine fromme Mutter und sein vortrefflicher Lehrer gewiesen haben, welch ein Segen hätte der gutherzige, für Gottes Wort empfängliche Fürst seinem Lande werden können! Aber dass sein Vater starb, als er noch in der Wiege lag, das wurde für ihn verhängnisvoll. Nicht dass die Vormundschaft seines Onkels schlechten Einfluss auf ihn gehabt hätte, aber dass man meinte, man müsse schon in seinem 16. Lebensjahr die Mündigkeitserklärung vom Kaiser erpressen – das wurde sein Unglück. Der unreife Junge hatte nun plötzlich unbeschränkte Macht, verlor bald das Gleichgewicht und taumelte von Torheit zu Torheit. Zuerst ergriff den Kleinen die Großmannssucht: Er wollte in seinem Ländchen den Hof Ludwigs XIV. mit seinem Glanz und seiner Pracht nachahmen, gerade als hätte er ebenso viel Geld wie der König von Frankreich. Allerlei neue Ämter schossen aus dem Boden wie die Pilze nach dem Regen. Sogar einen Oberhofmarschall glaubte der neue Hof nötig zu haben, und eine neue Kleiderordnung bestimmte mit peinlichster Genauigkeit einem jeden, in welchem Aufzug er sich zu präsentieren habe. Da am Stuttgarter Hof der Adel gänzlich fehlte, pflegte man Kontakte mit demselben aus dem Ausland, vor allem aus Mecklenburg. Und nun fingen die Tollheiten an. Der junge Herzog, dem das Lernen schon immer sehr schwergefallen war, suchte jetzt für seine Geistesleere einen Ausgleich in sinnlichen Vergnügungen. Besonders Großes leistete er in der edlen Tanzkunst, und so wurde denn der Göttin Terpsichore2 ein besonders schöner Altar gebaut. Aber auch auf den Besuch des Theaters wurde sehr viel Zeit verschwendet – Seine Durchlaucht erschien sogar selbst auf den Brettern –, und die nach französischem Muster eingebürgerten Kaffeehäuser mit einzelnen Zimmern boten den Herren viel Gelegenheit zu Glücksspiel und andern noblen Passionen. In seiner Eigenschaft als Reichsjägermeister glaubte der Herzog auch nicht genug zu tun, wenn er Hirsche und Rehe zu Tode hetzte, sondern wollte sich besonders verdient machen durch die Stiftung eines neuen Jagdordens zu Ehren des heiligen Hubertus. Auch dem Gott Mars glaubte er seine Huldigungen darbringen zu müssen, indem er in seinem Ländlein eine stehende Armee von 2000 Mann unterhielt, Garde zu Ross und zu Fuß, in gelber, silberstrotzender Uniform, mit schwarzen und roten Borten stolz verziert. Die Soldaten führen ein bequemes Leben und helfen das Land arm essen. Es ist ja nicht zu leugnen, dass in Herzog Eberhard Ludwig etwas von kriegerischem Geiste wohnt. Vor sieben Jahren, im spanischen Erbfolgekrieg, ergriff er Partei für Österreich und beteiligte sich an mehreren Schlachten, besonders bei Höchstädt, wo er unter dem Prinzen Eugenius eine Abteilung kommandierte. Als vor drei Jahren die Franzosen zum dritten Mal sengend und brandschatzend einfielen, ergriff der Herzog mit seinem Hof zuerst die Flucht, half aber danach mit, als die Reichstruppen die überrheinischen Mordbrenner zurückjagten. Doch diesmal war das kriegerische Feuer in ihm bereits erloschen und eine andere Leidenschaft in ihm auf gelodert, die ihn gänzlich gefangen nahm. Es fällt mir schwer, davon zu reden, und ich würde es auch unaufgefordert nicht tun.«
»Es ist nicht bloße Neugier, was mich zu meiner Bitte veranlasst«, fiel hier der Professor ein, »ich möchte nur aus dem Mund eines glaubwürdigen Zeugen hören, wie weit man den hier umgehenden Gerüchten Glauben schenken darf.«
Urlsperger sah schmerzvoll vor sich hin und fuhr fort: »Es ist nun drei Jahre her, dass diese Dame am Stuttgarter Hofe haust. Ihr Bruder, der Kammerjunker, hat sie mit sich gebracht, um ihr zu demselben Glanz zu verhelfen, den er selbst, der mecklenburgische Krautjunker, durch die Gunst des Herzogs errungen hatte. Mit Hilfe des allmächtigen Hofmarschalls von Stafforst gelang es ihm auch, die Schwester an den Hof zu bringen. Fräulein Christiane Wilhelmine von Grävenitz war eine Erscheinung, die Eindruck machen musste: eine echte Junogestalt, Anfang 20, eine so blendende und bezaubernde Schönheit, dass auch die kleinen Pockennarben auf den Wangen ihren Reizen keinen Abbruch tun können. Zunächst freilich nahm sie der Herzog gar nicht wahr, denn seine Zuneigung galt einer anderen.«
»Stimmt es denn wirklich, was hier erzählt wird«, fragte Freilinghausen dazwischen, »dass seine rechtmäßige Gemahlin ein Schreckbild ist, welches ihn abstoßen musste?«
»Ein Schreckbild?« fragte Urlsperger kopfschüttelnd. »Freilich ist ihr stilles, sanftes, zur Schwermut neigendes Wesen dem lebenslustigen Herzog ein Gräuel. Sie ist ihm vor allem zu tugendhaft. Im Volk aber genießt sie viel Liebe, welche noch vermehrt wird durch das Mitleid mit der verachteten Gattin, vor allem seit der Zeit, da es der Grävenitz gelungen ist, die Aufmerksamkeit des Herzogs auf sich zu ziehen und ihn nun ganz in ihre Netze zu verstricken. Um ihr eine Stellung am Hof zu schaffen, versuchte man einen alten Oberstallmeister zu bereden, sie zu heiraten. Der lehnte aber ab. Nichtsdestoweniger blieb die Grävenitz am Hof, und die Intrige zog nun ihre Fäden, um den Herzog vollends zu fangen: Man weckte Eifersucht in ihm. Auch spricht man von geheimen magischen und geheimnisvollen Mitteln, die die Rivalin angewendet habe, dem Herzog gegen seine Gemahlin eine unwiderstehliche Abneigung einzuflößen und ihn ganz an sich selbst zu ketten. Jedenfalls ist ihr dieses Vorhaben meisterlich gelungen.«
»Aber die Herzogin hat doch einen Vater«, wandte Freilinghausen ein. »Hat der den Schwiegersohn nicht zur Rechenschaft gezogen?«
»Ich weiß nicht, wie ich das schweigende Verhalten des Markgrafen von Baden-Durlach deuten soll«, erwiderte der Erzähler. »Die Tochter bat in ihrer Not den Vater um Hilfe, als ihr ein dunkles Gerücht zuging, der Herzog habe die ernstliche Absicht, das mecklenburgische Fräulein zu ehelichen. Das Unglaubliche ist auch in der Tat geschehen. Eines Tages – es war in den letzten Julitagen des Jahres 1707 – überraschte das Land Württemberg die entsetzliche Kunde: Das Fräulein Grävenitz ist dem Herzog angetraut worden, und nicht etwa als Nebenfrau, sondern als Hauptfrau.«
»Unerhört!« riefen die Anwesenden gemeinsam dazwischen, und Francke setzte hinzu: »Und es hat sich ein Geistlicher gefunden, der sich zu dieser Schande hergab?«
»Leider hat sich einer erkaufen lassen«, seufzte Urlsperger. »Sogleich musste nun ein Eilreiter nach Wien traben, um für die neue Gemahlin des Herzogs den Grafentitel zu holen, und er brachte auch bald das Gewünschte gegen Hinterlegung von 20000 Gulden. Seinen Geheimen Räten offenbarte der Herzog die vollzogene Trauung mit der ›Reichsgräfin von Urach‹ und gab ihnen den heiklen Befehl, seiner Gemahlin, wie auch der Herzoginmutter die Botschaft zu überbringen.«
»Und was sagt das Volk dazu?« fragte Neubauer.
»Im Volk«, erwiderte Urlsperger, »herrschte eine Weile dumpfes Schweigen. Dann aber wurde der Herzog von verschiedenen Seiten angegriffen: von den empörten Untertanen, die verurteilende Reden hielten, und von allen deutschen Fürsten und auswärtigen Machthabern, die Entrüstungsschreiben schickten. So fasste sich das Geheime Ratskollegium ein Herz, dem Herzog ernst ins Gewissen zu reden, und das Konsistorium3 verweigerte ihm das Abendmahl. War er nun anfangs über diese Angriffe erschrocken, so wusste ihm die Geliebte den Kopf bald wieder zurechtzurücken, dass er in unsinnigem Trotz seinem Kanzler erklärte: ›Ich bin Papst in meinem Lande und niemandem Rechenschaft schuldig als mir selbst. Ein lutherischer Fürst ist in Gewissensfällen nur Gott verantwortliche«
Am Tisch wurde es bei diesen Worten unruhig. Entsetzen und Entrüstung packte alle Anwesenden, und Urlsperger hätte am liebsten aufgehört zu erzählen, doch Francke forderte ihn auf, nachdem er einmal angefangen habe, auch das letzte noch zu sagen.
So fuhr er also fort: »Inzwischen zog aber am Himmel der Glückseligkeit eine Wolke auf: Vom Kaiser gesandt, erschien eine Kommission und erklärte im Namen Seiner Majestät, das Fräulein von Grävenitz sei auf der Stelle zu entlassen. Der Herzog war so verblüfft, dass er in der ersten Verwirrung sein Heil in der Flucht zum Katholizismus suchte, zumal ihm der Fürst von Hohenzollern versprach, beim Papst dahin zu wirken, dass er die Ehe des Herzogs löse. Doch kam er von diesem Gedanken wieder ab, nachdem ihm Prälat Osiander begreiflich gemacht hatte, dem Papst werde das nie einfallen. Der Herzog konnte sich aber nicht überwinden, der kaiserlichen Forderung, die Grävenitz fortzujagen, nachzukommen. Er tobte und wütete gegen die Geheimräte, die ihn überreden wollten, sich zu beugen: ›Zu Geheimen Räten haben wir euch bestellt, aber nicht zu Vormündern und Hofmeistern !‹ Aber auch hier wieder bewährte Osiander seinen Mut. Er machte den Herzog so mürbe, dass dieser sich zur förmlichen Nichtigkeitserklärung seiner Trauung überreden ließ. Freilich aber auch zu nichts Weiterem. Gegen die Entfernung der Geliebten vom Hof sträubte er sich mit Händen und Füßen: ›Das hieße, mir die Seele aus dem Leibe reißen. Würde ich aber dennoch gezwungen, so zahle das Land eine Abfindungssumme von 200 000 Gulden.‹«
»O weh!« rief Freilinghausen bitter. »Und der Kaiser?«
»Eines Tages«, erzählte Urlsperger weiter, »erschien vor dem Herzog der unerschrockene Osiander und teilte ihm mit, dass demnächst eine neue kaiserliche Kommission erscheinen werde, um zu untersuchen, was an dem Gerede von einem Vergiftungsversuch an der Frau Herzogin sei. Der Herzog erbleichte – vielleicht hielt er das Gerücht für nicht unbegründet. Und nun endlich kroch er zu Kreuz, indem er der Gräfin befahl, ihre Koffer zu packen und das Land zu verlassen. Sie tat das auch, da der Herzog ihr gleich seine Begleitung zugesichert hatte, und fuhr bald an der Seite Seiner Durchlaucht davon in die Schweiz, von den Untertanen nicht gerade auf den Weg gesegnet. Dort lebt nun das Paar in Herrlichkeit und Freuden, mag aus dem Lande werden, was da will.«
Hier schwieg der Erzähler, und im Kreis der Zuhörer war es lange still, bis endlich Francke dem Gast für seine ausführliche Berichterstattung dankte und dann hinzusetzte: »Ja, ja, die Licht- und Schattenseiten des Nordens und Südens halten einander die Waage. O sei gesegnet, Preußenvolk, sei gesegnet um dein Herrscherhaus der Hohenzollern!«
Dann ließ er dieses Thema fallen. »Auf einer Reise durch die Welt sind Sie also gerade, lieber Urlsperger, und wollen gern nach England. Mir fällt da jemand ein, der Ihnen ein Wegführer sein könnte: der englische Hofprediger Böhme, der auf das Festland herübergekommen ist, vor kurzem hier war und bald über den Kanal zurückgeht. Ein sehr tüchtiger Mann, von dem Sie vieles lernen und gewinnen können. Glühend vor Liebe zum Herrn. War früher auf manche Abwege geraten; nun aber ist sein Geist geklärt, und seine Kraft kann jetzt um so wirksamer dem Reiche Gottes dienen. Schade, dass Sie nicht etliche Tage früher hier angekommen sind. Sie hätten ihn dann kennenlernen und mit ihm zusammen die Reise machen können. Doch werden Sie ihn wahrscheinlich noch einholen, wenn Sie sich beeilen.«
Dem Schwaben war diese Aussicht sehr willkommen. So gern er auch im Haus August Hermann Franckes noch länger geblieben wäre, wollte er doch die günstige Gelegenheit nützen. Er nahm sich jedoch gleich vor, den Rückweg über Halle zu nehmen und dann das jetzt Versäumte nachzuholen.
Anderentags bestieg er den Postwagen und hatte Glück: Nach einigen Tagen traf er den englischen Hofprediger in Wesel.
1 Philipp Jakob Spener (1635-1705), deutscher evangelischer Theologe (Reformprogramm des lutherischen Pietismus)
2 Muse des Tanzes und Chorgesanges
3 Oberste Verwaltungsbehörde einer evangelischen Landeskirche
Mit stolz geblähten Segeln lief an einem Junimorgen die »Minerva« von Ostende in Richtung England aus.
Die Luft war für die Jahreszeit etwas frisch, der Himmel mit einem dünnen Wolkenschleier verhängt, und von Westen her kräuselte ein leichter Wind die Meeresfläche, so dass auf den hüpfenden Wellen weiße Schaumkronen zitterten und überall grünliche Lichter aufblitzten – ein wunderschöner Anblick.
Urlsperger stand mit Böhme auf dem Verdeck und genoss dieses ihm noch unbekannte Naturschauspiel, das sich rundum seinen Augen bot. Er war in Begleitung des englischen Hofpredigers durch die Niederlande gereist und hatte den hochbegabten, geistvollen und frommen Mann immer höher schätzen gelernt. Die theologischen und allgemeinwissenschaftlichen Gespräche, die die beiden bisher geführt hatten, verstummten jetzt vor den überwältigenden Eindrücken dieser großartigen Natur mit ihren elementaren Erscheinungen.
»Wovor mir erst bange gewesen war«, meinte Urlsperger, »das wird mir nun eine Lustfahrt. So herrlich und vergnüglich hätte ich mir eine Seereise nie vorgestellt. Den Landratten sitzt wohl allen mehr oder weniger eine Furcht vor dem flüssigen Element in den Gliedern. Mit beklommenem Herzen habe ich das Schiff betreten und befürchtet, es könnte sich hier die Lebensgefahr, in der ich voriges Jahr schwebte, in einer andern Gestalt wiederholen.«
»Lebensgefahr?« fragte Böhme neugierig.
Urlsperger nickte. »In den Schweizer Alpen war’s, wo ich in jugendlichem Übermut zu hoch hinausgewollt hatte und in die Eisregion des St. Gotthard geriet. Die Nacht überraschte mich, so dass ich den Rückweg nicht fand. Todmüde wollte ich mich setzen und die matten Glieder stärken, aber die Furcht vor dem Erfrieren jagte mich immer wieder auf. Nur zweimal gönnte ich mir, an eine Felswand gelehnt, zu verschnaufen und zu rasten. Endlos dehnte sich die Nacht, und ich hatte, immer schlaffer werdend, schon mit dem Leben abgeschlossen. Da endlich leuchtete im Osten das erlösende Morgenrot auf und zeigte mir in einiger Entfernung eine Hütte, dessen Bewohner mich gastlich aufnahm und zum Leben zurückbrachte, das ich nun als neu geschenkt aus Gottes Hand hinnahm.«
Böhme reichte dem jungen Freund die Hand. »Hoffentlich ist uns der Wind günstig, damit Ihnen ein zweites Mal die Todesangst erspart bleibt und uns andern auch.«
Urlsperger sah den Sprecher fragend an. »Sollte uns hier eine ernste Gefahr drohen, in diesem Kanal, in diesem Graben? Wir bekommen ja das offene Meer gar nicht zu sehen.«
Böhme zog die Stirn kraus. »Lieber vertraue ich mich dem offenen Meer als diesem ›Gräbern an. Auf dem offenen Meer tragen die langen, breiten Wellen das Schiff und heben und senken es sanft, hier aber im Kanal wird es von kurzen, sich widerstrebenden Wellen gestoßen und geschleudert, und in Wirklichkeit scheitern mehr Schiffe im Kanal als auf der offenen See. Daher atmet auch das Schiffsvolk immer erleichtert auf, wenn es den tückischen Kanal hinter sich hat. Aber der Himmel sieht ja heute aus, als bekämen wir eine gute Fahrt.«