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Julia-Marie Sommer hat sich geschworen, nie wieder ihr Herz zu verschenken. Mit einem Liebesschloss und dem Vermächtnis ihrer Oma Melli im Gepäck, macht sich die Physiotherapeutin auf den Weg nach Norderney. Auf der ostfriesischen Insel will sie die Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Leben anfangen.
Im Internet lernt sie jemanden kennen, doch das Date mit ihm entwickelt sich zur Katastrophe – trotzdem bringt er ihre Einstellung, sich nie wieder zu verlieben, gefährlich ins Schwanken.
Wird Marie ihrem Vorsatz treu bleiben, oder sendet ihr die Liebe wie ein Leuchtturm Signale und zeigt ihr den richtigen Weg?
Leserstimme:
„Klasse ist, dass ich mich durch das Erwähnen der typischen Plätze auf Norderney sofort auf der Insel gesehen habe und die Seeluft und das Salz förmlich riechen und schmecken konnte."
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Die Autorin hat Seemannsgarn gesponnen!
Diese Geschichte ist frei erfunden.
Namen, Personen, Handlungen und Begebenheiten entspringen der Fantasie der Autorin.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
Die schönen Orte (es sind längst nicht alle!) auf Norderney, die weiten Strände und das Wrack gibt es tatsächlich.
Sommertage mit Oma Melli
Omas Nähkästchen musste unbedingt mit in mein neues Leben, auch wenn das auf den ersten Blick albern erscheinen mag. Zusammen mit einem netten Sümmchen und ihren Sprüchen hinterließ sie es mir als persönliches Andenken. Eine ihrer Weisheiten hatte sich mir besonders gut eingeprägt: Ein anständiges Mädchen hat immer eine Handarbeit!
Vielleicht hegte Oma Melli die stille Hoffnung, dass ich allein durch den Besitz des Nähkästchens ein anständiges Leben führen würde.
Mit meiner Oma verbrachte ich viele Sommerferien auf Norderney und verliebte mich schon damals in die ostfriesische Insel zwischen Juist und Baltrum.
Stundenlang konnten wir am Strand entlanglaufen, haben Muscheln und Strandgut gesammelt, im Sand gebuddelt, Drachen steigen lassen oder den Möwen im Wind hinterhergeschaut. Mit ihr stiefelte ich zum ersten Mal ins Wattenmeer und war erstaunt, dass der Meeresboden mit seinen winzigen Löchlein aussah wie ein Sieb, aus dem kleine Bläschen aufstiegen. Ich traute mich sogar, einen lebendigen Wattwurm anzufassen, obwohl mich das zappelnde, glitschige Ding ziemlich ekelte. Der Wattführer klopfte mir hinterher anerkennend auf die Schulter und erzählte uns wilde Geschichten von Würmern und Muscheln, die ich ihm natürlich alle geglaubt hatte. Erst viel später kam ich dahinter, dass er ein Meister darin war, Seemannsgarn zu spinnen.
Gern erinnere ich mich auch daran, wie oft wir bei einem Eis oder einem Stück Kuchen oben an der Marienhöhe saßen und nicht genug davon kriegen konnten, den Fährschiffen hinterherzuschauen und die Aussicht zu genießen. Wenn mir das zu langweilig wurde, lief ich zum Spielplatz am Weststrand und tobte mit anderen Kindern herum. Meine Oma kam später nach, breitete ihr Tuch in einem Strandkorb aus, machte es sich dort gemütlich und lauschte dem Meeresrauschen. Manchmal schrieb sie etwas in ein kleines Büchlein, das sie sofort zuklappte und versteckte, sobald ich angerannt kam.
An Schietwettertagen, die es natürlich auch mal gab, verbrachten wir etliche Stunden im Schwimmbad. Manchmal besuchten wir auch das Bademuseum und bestaunten die Schätzchen aus vergangenen Zeiten. Irgendwann fingen wir damit an alles aufzuschreiben, was uns Spaß macht und was wir in den Ferien unternehmen wollten. Noch heute erstelle ich mit Begeisterung für alles Mögliche To-do-Listen. Das ist eine meiner kleinen Macken, die ich wohl meiner Oma zu verdanken habe.
In den Ferien genoss ich bei ihr viele Freiheiten, sie achtete nicht auf Schlafens- und Essenszeiten, stattdessen passte sie auf, dass mir die kleinen Wunder der Natur nicht entgingen. Außerdem brachte sie mir Stricken und Häkeln bei und sie zeigte mir, wie man Traumfänger bastelt. In ihrem Nähkasten fand ich unter allerlei Krimskrams ein besonders schönes Exemplar, das ich ins Fenster hängte. Muscheln und Federn waren darin eingearbeitet, aber auch drei Knöpfe, die mir Rätsel aufgaben.
Meine Erinnerungen an Oma Melli waren sicher auch ein Grund, weshalb ich meinen neuen Lebensmittelpunkt auf Norderney zwischen Ebbe und Flut aufhängen wollte.
Mein Hang zur Romantik knallte mir immer wieder dazwischen. Mit Windstärke zehn wehte er mal in Rosarot, und dann wieder in Himmelblau über mich hinweg und haute mich jedes Mal um, obwohl ich bereits seit vier Jahren zur Generation 30 plus gehöre.
Ich spürte die Böe förmlich, als ich oben an Deck der Frisia stand und in mein neues Leben schipperte. Die Seehundsbänke hatten wir längst hinter uns gelassen und die Silhouette Norderneys kam unaufhaltsam näher. Das grüne Dach der Marienhöhe war nicht mehr in Sicht, wir würden also in Kürze auf Norderney anlegen. Die Partygänger, die über den Maifeiertag die Insel unsicher machen wollten, leerten ihre Flaschen und verzogen sich angeheitert und gut gelaunt ins Innere der Fähre.
Das war der perfekte Augenblick! Jetzt musste ich es tun! Ich stand an der Reling und schaute wie hypnotisiert auf die Insel, die im dunstigen Sonnenlicht vor mir lag. Mit der Hand umklammerte ich das kühle Metall, das ich seit meiner Abreise mit mir herumschleppte. Ich fuhr ein letztes Mal mit dem Daumen über die sanften Schwünge der eingravierten Buchstaben:
Marie + Lucas - für immer!
Über mir kreiste eine Möwe, bereit sich herabzustürzen, sobald ich meine Faust öffnen würde. Sie hoffte wohl, sich eine ordentliche Portion Futter abholen zu können. Entschlossen löste ich meine Finger, schaute das Ding zum allerletzten Mal an, holte schwungvoll aus und schmiss das Liebesschloss in hohem Bogen in das graugrüne Wasser der Nordsee. Das Geräusch des Aufpralls klang wie tosender Applaus, Sekunden später war es futsch. Verschluckt, als hätte es nie ein Liebesschloss, nie eine Liebe, nie einen Traum von Heirat und Familie gegeben.
»In wenigen Minuten erreichen wir Norderney. Wir bitten alle Fahrgäste ...«, tönte es aus dem Lautsprecher. Ich gehörte zu den letzten Passagieren, lief nach unten zum Ausgang, quälte mich zwischen den ungeduldig wartenden Urlaubern zu den Gepäckfächern durch, schnappte mir den Trolley, meinen Rucksack und den Beutel mit Omas Nähkasten. Meinen großen Koffer hatte ich wohlweislich vorausgeschickt.
Ein Prickeln wie rosarotes Brausepulver breitete sich in mir aus, als wir an Land gingen und ich den Schriftzug Norderney - meine Insel erblickte. Mein Herz hüpfte vor Freude und mein Puls schnellte in die Höhe vor lauter Begeisterung. Ich war geflasht von meinem eigenen Mut, dass ich das Liebesschloss und damit einen Teil meiner Vergangenheit über Bord geworfen hatte. Endlich war ich angekommen – nicht nur auf Norderney, sondern auch in einem neuen Leben, von dem ich mir viel erhoffte.
Die Menschenmenge hinter mir schob mich vorwärts durch den Schalter, an dem ich meine Norderneycard vorzeigte. Nun konnte es losgehen, ich drängelte mich zwischen den Feiertrüppchen hindurch zu den Bussen und prallte mit einer Männergruppe zusammen, die lautstark ihre Abendplanung diskutierte.
»Na Mädchen, du kannst es wohl nicht mehr abwarten«, quatschte mich einer von ihnen an. Abschätzend musterte ich den Typ und sortierte ihn in die Schublade Alternder Held. Ich verpasste ihm trotz seines dummen Spruchs einen Pluspunkt, weil mir sein Hemd mit dem feinen Rosenmuster ausgesprochen gut gefiel. Den Bonuspunkt hatte ich dummerweise zu voreilig vergeben, wie ich wenig später feststellen musste.
Der Typ grinste mich schadenfroh durch die Bustür an, die sich direkt vor meiner Nase schloss und mich schimpfend und wild gestikulierend zurückließ. Blödmann! Lauf du mir noch einmal über den Weg!
***
Auf Schritt und Tritt begegnete man dem Schriftzug Meine Insel – Norderney, sobald man im Hafen anlegte. Das Logo war weit mehr als nur ein cooler Werbeslogan, es war mein Lebensgefühl, das mich immer mehr darin bestärkte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Natürlich machte ich mir auch Gedanken darüber, welche Alternativen es für mich gab, falls ich die Probezeit nicht bestehen sollte. Eine Zeit lang könnte ich sicher im Service oder als Verkäuferin arbeiten. Flexibel und ungebunden war ich ja und notfalls konnte ich immer noch auf das Geld von meiner Oma zurückgreifen.
Seit sechs Wochen lebte ich inzwischen auf der Insel und bemerkte schon nach den ersten Tagen des Einlebens erstaunt, die ein oder andere Veränderung an mir. Es fing damit an, dass ich Morgenmuffel regelmäßig in aller Herrgottsfrühe aufwachte und die Stille der Morgendämmerung zu schätzen begann. Die lärmenden Nachtschwärmer waren um diese Zeit von den Straßen verschwunden, es herrschte eine friedliche Ruhe, die nur von Vogelgezwitscher und den Schreien der Möwen unterbrochen wurde. Die klare Luft, der Dunst des kommenden Tages, das Ausschleichen der Nacht zauberten mir ein Lächeln ins Gesicht, mit dem ich in den Tag startete. Diese Stimmung ließ sich nur noch durch einen frisch gebrühten Kaffee toppen.
»Für einen Tag im Juni ist es ganz schön kühl«, flüsterte ich und schloss das Fenster. Das Thermometer zeigte elf Grad, gefühlt waren es aber höchstens acht. Doch das war der Spinne hinter der Glasscheibe, die ich Thekla getauft hatte, sowieso egal. In ihrem fein gesponnenen Netz glitzerten Tautropfen und ließen das filigrane Kunstwerk wunderschön aussehen. Manchmal beschlich mich das seltsame Gefühl, die Spinne würde mich von der anderen Seite des Fensters beobachten. Das war natürlich vollkommener Quatsch, aber wenn sie sich an ihrem Faden herabließ und direkt vor meinen Augen hängenblieb, war ich mir nicht mehr so sicher. Ich hatte sogar den Eindruck, als würde sie mich vorwurfsvoll ansehen.
»Ja, ja! Ist ja gut. Meinst du, ich sollte mich um meine eigene Netzpflege kümmern?«, murmelte ich und dachte an eine Freundin, die behauptete, dass ein gutes Selbstgespräch einen intelligenten Gesprächspartner voraussetzt. Das war doch irgendwie beruhigend, denn ich führte wirklich gute, niveauvolle Selbstgespräche. Also nahm ich meine kleinen Plaudereien weiterhin mit Humor. Manchmal kamen mir aber doch Zweifel, vielleicht sollte ich meine Netzwerkaktivitäten nicht so sehr auf das Internet beschränken, sondern lieber mein reales soziales Netz, meine Freundschaften pflegen und meinen Bekanntenkreis erweitern.
Noch eine Weile sah ich Thekla bei ihrem eifrigen Networking zu, während mein PC sich langsam hochfuhr. Ich griff zu meinem Notizbuch und begann, meine Beobachtungen festzuhalten.
Unsichtbare Fäden ziehen – sich verstecken, nicht zu erkennen geben – beobachten – das Netz immer im Auge behalten – Lockmittel verteilen – umgarnen – einwickeln – vorsichtig anschleichen – Beute begutachten – Beute genießen – verdauen – Ruhepause, stand schon darin.
Das Netz erweitern, fügte ich jetzt hinzu und prüfte, wer sich in meinem Account verfangen hatte. Meine anfängliche Begeisterung für diese Art der Partnersuche hatte deutlich nachgelassen, es fing an, mich zu langweilen und ich merkte, dass ich nicht mehr mit Herzblut bei der Sache war. Doch ein allerletztes Mal wollte ich es noch wissen!
Meine Ausbeute konnte sich sehen lassen. Ein Profil fiel mir unter all den Zuschriften besonders ins Auge, das ich sofort genauer unter die Lupe nahm. Der Mann, den ich wie die anderen auch, liebevoll als ›Chatzchen‹ bezeichnete, nannte sich Prinz G. Der Typ hatte ein ausgesprochen sympathisches Lächeln und erfreulicherweise fand ich keine Rechtschreibfehler in seiner Zuschrift. Könnte er ein Leckerchen sein oder sogar noch mehr?
»Der Tag fängt ja wirklich gut an«, murmelte ich, wickelte mich aus meinem Bademantel und schlüpfte in meine Laufschuhe. Vor der Arbeit ging ich meistens erstmal eine Runde Joggen.
***
Von meinem Apartment aus musste ich nur ein paar Meter laufen, bis ich das Meer sehen konnte. Das war in meinen Augen ein Luxus, der unbezahlbar war. Zuerst joggte ich an der Milchbar vorbei, dann bog ich nach rechts auf die Promenade ab, legte ein wenig an Tempo zu und trabte nun richtig los. Um diese Uhrzeit waren kaum Menschen unterwegs, nur ein paar Läufer oder Hundebesitzer, die freundlich grüßten und ihre ersten Runden drehten. Einige abgehärtete Inselliebhaber ließen es sich nicht nehmen, den neuen Tag mit einem Bad in der Nordsee zu beginnen. Splitterfasernackt stürzten sie sich in die Fluten, schwammen ein paar Züge und wickelten sich anschließend in ihre Bademäntel. Solche Baderituale gehörten zum Strandleben und es störte sich niemand daran, dass das Morgenschwimmen nicht am FKK-Strand stattfand.
Während ich lief, erfreute ich mich an den Farben, dem Wellengang und dem Rauschen des Meeres. Ich begrüßte es mit einem Lächeln, atmete tief die salzige Luft ein und liebte es, den Wind auf meiner Haut zu spüren und dabei die frechen Möwen zu beobachten. Bewegung war für mich die beste Methode, um einen klaren Kopf zu bekommen, wenn ich über etwas nachdenken musste.
»He! Marie!«, wurde ich mit dem knappen Gruß der Insulaner aus meinen Gedanken gerissen.
»He! Hinnerk!« Fröhlich winkte ich ihm zu und lief weiter. Mein Kollege war also auch so ein früher Vogel wie ich. Wenn du wüsstest, dachte ich und lächelte in mich hinein. Von meinem Doppelleben als geheimnisvolle Verführerin ahnte hier niemand etwas. Und das sollte auch so bleiben.
Auf meinem Rückweg vom Joggen beobachtete ich eine kleine Gruppe bei ihren sportlichen Übungen unter Anleitung einer Klimatherapeutin. Der krönende Abschluss dieser Trainingsstunde endete mit einem Bad im Meer. Irgendwann werde ich das auch ausprobieren, nahm ich mir vor. Über die Klimatherapie hatte ich schon einiges gehört, ich stellte mir vor, was es für ein tolles Gefühl sein musste, wenn die Haut nach dem Eintauchen in das kalte Salzwasser anfing zu kribbeln und der Kreislauf so richtig in Schwung kam.
Für meine Laufstrecke bis zum Riffkieker und zurück brauchte ich heute nur knappe zwanzig Minuten, wie mir die männliche Stimme in meiner Laufapp verkündete und mir zu dem Erfolg gratulierte. Ich sprang noch schnell beim Bäcker rein, holte mir ein Brötchen, den Norderneyer Morgen, kurz NoMo genannt und freute mich auf mein Frühstück.
Anschließend machte ich mich fertig für den Job. Meine schulterlangen Haare steckte ich zu einem kleinen Dutt hoch, tuschte mir die Wimpern und betonte meine Augen mit einen dünnen Lidstrich am oberen Rand. Manchmal verzichtete ich auch darauf und ging völlig ungeschminkt aus dem Haus. Die Klamottenfrage war schnell gelöst, in unserer Abteilung in der Therme liefen alle in weißer Kleidung und mit Badelatschen herum.
Im Hinausgehen zwinkerte ich meinem Spiegelbild zu, es zeigte mir eine sympathische, sportliche Frau Anfang dreißig, mit einer normalen schlanken Figur. Inselkind, nannten meine Freunde mich, weil ich angeblich so ein natürlicher Typ bin. Vielleicht meinten sie damit aber nur, dass ich mehr aus mir machen könnte. Ich persönlich fand mich durchschnittlich gutaussehend und war mit meinem Äußeren ganz zufrieden.
Ich ging noch einmal zurück in den Wohnraum und holte mein Notizbuch. Nach der Arbeit wollte ich mir einen Plan machen, wie ich ein Date von der Insel aus am besten arrangieren könnte.
Gutgelaunt und hellwach kam ich auf der Arbeit an und freute mich auf meinen ersten Termin, eine Aromamassage für Frau Neumann.
»Moin Frau Neumann, wie wär’s denn heute mal mit einem Sanddornöl? Oder lieber Rose? Oder Orange?«, fragte ich meine Kundin, zeigte ihr die Flasche mit dem orangefarbenen Öl und ließ sie daran schnuppern. Dabei wünschte ich mir, dass sie sich für Sanddorn entscheidet, denn das war mein momentaner Lieblingsduft.
»Hm, das riecht aber gut! Schon allein diese Farbe! Da bekommt man ja schon vom Hingucken gute Laune!«
Diese Antwort wollte ich hören, ich hatte es doch gewusst. Danke! Das klappte ja mal wieder hervorragend mit meinen Bestellungen beim Universum. Auch das war ein Phänomen, das neuerdings immer öfter auftrat.
Frau Neumann machte es sich auf der Liege bequem und hatte Lust auf ein Schwätzchen. Einige Geschichten aus ihrem Leben kannte ich bereits, immerhin kam sie zweimal in der Woche zu uns und bestand schon nach dem ersten Termin darauf, nur noch von mir behandelt zu werden. Sie war davon überzeugt, dass ich bei ihr mehr als nur eine äußere Blockade gelöst hätte. Vielleicht lag das daran, dass ich gut zuhören konnte und ihr meine ehrliche Meinung sagte, wenn sie mich darum bat.
»Na, dann erzählen Sie mal. Wie weit sind Sie denn mit Ihren Überlegungen? Schon einen Schritt weiter?«, begann ich unsere Unterhaltung. Ohne Umschweife kam sie auf ihr Lieblingsthema, auf die geplante Trennung von ihrem Mann zu sprechen. Sie litt unter seiner nervigen Angewohnheit, sich ständig in neue Affären zu stürzen und seine Untreue auch noch völlig in Ordnung zu finden.
»Ach Marie, wissen Sie, was er letztens zu mir gesagt hat? Er meinte, dass ich ihm nicht mehr das geben kann, was er sich wünscht.«
»Und, was ist das? Hat er sich wenigstens getraut, das auszusprechen?«
»Ne, als ich ihn danach fragte, fing er an herumzustottern und hat schnell abgelenkt. Und dann wollte er mir tatsächlich weismachen, dass er mich über alles liebt und mich niemals verlassen würde. So ein Unsinn! Ohne meinen finanziellen Background kann er einer Frau doch nichts anderes bieten, als seine gottverdammte Potenz.«
»Er ist finanziell von Ihnen abhängig?«
Frau Neumann seufzte. »Wissen Sie, Marie, ich habe ihm immer wieder verziehen. Und ich würde trotz seiner Seitensprünge mit ihm zusammenbleiben, wenn ich nicht zufällig gehört hätte, wie er mich als langweilige, vertrocknete alte Pflaume bezeichnet hat. Marie, sehe ich wirklich so aus? Oder wirke ich so? Mal ganz ehrlich!« Sie hob den Kopf ein wenig von der Liege und schaute mich mit einem zornigen, aber zugleich tieftraurigen Blick an.
Sanft schob ich sie wieder in die richtige Position zurück und beschwichtigte sie. »Liebe Frau Neumann, ich bin ziemlich sicher, dass Sie alles andere als eine vertrocknete, alte Pflaume sind. Wie kommt er nur darauf? Sie sind noch jung, haben eine tolle Figur, außerdem sind Sie eine kluge und gebildete Frau, die das Herz am rechten Fleck hat, soweit ich das beurteilen kann. In Liebesdingen haben Sie bestimmt auch einiges zu bieten und ich kann mir vorstellen, dass sie sinnliche Momente ebenso genießen können wie eine schöne Massage.«
Frau Neumanns Muskeln entspannten sich zusehends, ich konnte es fühlen, doch da war unsere Zeit auch schon wieder um. »So, fertig für heute! Wann sehen wir uns das nächste Mal?«, fragte ich und wünschte noch einen schönen Tag.
Mit einem tiefen Seufzer setzte sie sich auf. »Am Freitag komme ich wieder. Das ist dann das letzte Mal, am Sonntag geht’s schon wieder nach Hause. Leider! Ich würde gern noch ein paar Tage hierbleiben, aber es gibt viel zu tun«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
»Klingt nach einem guten Plan.«
»Ich werde meinen Mann vor die Tür setzen. Mein Entschluss steht fest, die Entscheidung ist getroffen!«, sagte sie im Brustton der Überzeugung und klatschte auf die Liege, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Ach …, was ich noch sagen wollte ... Marie, nach Ihren Massagen habe ich beinahe das Gefühl zu schweben, das ist einfach himmlisch! Ist es möglich, dass ich am Freitag eine etwas längere Massage bekommen kann? Ich hätte gern eineinhalb Stunden, wenn sich das irgendwie einrichten lässt.«
Ich sah in meinem Timer nach und signalisierte ihr, dass ich an dem Tag noch genau eine halbe Stunde bis zum nächsten Termin frei hätte. Ihr Wunsch konnte also erfüllt werden und sie schwebte mit einem seligen Lächeln und einem großzügigen Trinkgeld hinaus. Der Schein wanderte sofort in meine Hosentasche. Ich freute mich über Frau Neumanns Vertrauen, anscheinend war ich eine gute Gesprächspartnerin für sie.
Wieder eine gute Tat getan!, hätte meine Oma gesagt.
***
Ein leises Glücksgefühl beschlich mich jedesmal aufs Neue, wenn ich nach Feierabend meinen Arbeitsplatz in der Thalassotherme verließ und sofort auf Urlaub umschalten konnte. Es war, als würde ich einen Schalter umlegen, wenn ich nach getaner Arbeit am Meer entlang nach Hause lief. Auch sonst lag alles dicht beieinander, ich hatte keine weiten Wege und mit dem Fahrrad kam ich überall hin. Meine Einkäufe verstaute ich in meiner neuen Gepäcktasche, die nicht nur praktisch, sondern auch noch schön war. Sie hatte ein verspieltes Rosenmuster, daran konnte ich einfach nicht vorbeigehen, als ich sie sah.
Wieder einmal war die Luft so klar, dass man die Nachbarinsel Juist deutlich erkennen konnte. Barfuß lief ich durch den warmen Sand nach Hause und hielt dabei nach schönen Muscheln Ausschau. Ich hatte mir überlegt, meinen Chatzchen aus dem Internet einen Gruß vom Meer zu schenken, als kleine Erinnerung. Aber auch ohne diesen Abschiedsgruß würden sie mich niemals vergessen, da war ich mir ziemlich sicher.
Als die Milchbar in Sicht kam, wünschte ich mir einen Platz mit dem Gesicht zur Sonne und einen leckeren Feierabendkaffee. Kaum hatte ich den Wunsch ans Universum abgeschickt, stand jemand auf und meine Bitte wurde erfüllt. Heute war wirklich ein Glückstag!
Das Trinkgeld in meiner Tasche investierte ich in einen Kaffee und überlegte, wie ich die Zuschriften meiner Chatzchen beantworten sollte. Große Lust hatte ich nicht mehr, mich heute noch an den PC zu setzen. Also ließ ich mir in aller Ruhe den Kaffee schmecken und dachte über mich und mein Leben nach, auch über meinen Entschluss, mich nie wieder zu verlieben. Das, wonach ich im Internet suchte, hatte mit Liebe oder Partnerschaft nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil, ich traf mich nur mit Männern, bei denen ich sicher sein konnte, dass sie keine Beziehung wollten. Mir ging es lediglich um ein wenig Erotik, das brauchte ich für mein Selbstbewusstsein.
Meine Antwortmails spickte ich mit kleinen zweideutigen Andeutungen, ich machte neugierig, weckte Wünsche und ließ die Männer dann eine Weile zappeln. In meinem Heftchen notierte ich: Annähern, begutachten, mit Versprechungen locken und den Mann dann schwach werden lassen.
Für meine Chatzchensuche hatte ich mir den Nickname Tula zugelegt. Das war eine Abkürzung von Tarantula, inspiriert von der Spinne vor meinem Fenster. Die Kurzform hörte sich sympathischer an, Tula klang nett und freundlich, das passte besser zu mir. Bei meiner Recherche zu dem Namen fand ich heraus, dass es ein homöopathisches Mittel namens Tarantula gibt, das unter anderem bei sexueller Übererregbarkeit eingesetzt wird. Wenn das kein Zufall war? Für meine Chatzchen hielt ich eine andere Erklärung bereit, falls sich überhaupt jemand für meinen Namen interessieren sollte.
***
Genug geträumt, dachte ich und blinzelte schläfrig in die Sonne. In meiner Arbeitstasche, einem modischen Rucksackbeutel, früher auch Turnbeutel genannt, schlummerten seit Tagen einige Postkarten, die nur darauf warteten, beschrieben zu werden. Ich wollte nach Hause an meine Ma schreiben, die sich immer noch übertriebene Sorgen machte und an ein paar Freunde, die mich darum beneideten, dass ich meinen Traum lebte. Ich hatte es ihnen versprochen und jetzt war ich schon über sechs Wochen hier, es wurde langsam Zeit, mein Versprechen einzulösen. Ich zückte meinen Stift und fing an zu schreiben.
Die letzte Karte, mit einem Anker darauf, hatte ich für Leon aufgehoben. Er war es gewesen, der mich auf die Idee mit dem Internet gebracht hatte und mir hilfreiche Tipps gab, in welchen Clubs und Foren ich Männer für schöne Stunden finden könnte. In letzter Zeit hatte ich nur noch selten an ihn gedacht, aber hier in der Abendsonne, mit all den verliebten Pärchen um mich herum, war die Geschichte unseres Kennenlernens mit einem Mal wieder präsent. Unsere Affäre hatte total romantisch begonnen und noch immer dachte ich mit einem warmen Gefühl an diesen Mann zurück.
Wir hatten uns an unserem Arbeitsplatz, einem Kurhotel im Allgäu, kennengelernt. Das war direkt nach der Trennung von Lucas. Ich konnte es nicht ertragen, mit meinem Ex weiterhin in derselben Stadt zu leben und fand schon bald einen neuen Job. Neben meiner soliden Ausbildung als Physiotherapeutin und meiner Berufserfahrung konnte ich zusätzliche Qualifikationen im Wellnessbereich vorweisen. Damit hatte ich gute Voraussetzungen, um überall einen Job zu finden.
Leon war der erste Mann nach meiner Trennung, der sich für mich interessierte und kannte sich mit den Geheimnissen und Wundern des menschlichen Körpers, insbesondere des weiblichen, bestens aus, wie ich später erleben durfte. Ich hatte in den Jahren mit Lucas schon ganz vergessen, wie Flirten geht und seine letzte Bemerkung, ich sei zu lieb, hämmerte immer noch in meinem Kopf. Er hatte meinem Selbstbewusstsein einen ordentlichen Knacks verpasst. Seitdem zweifelte ich an mir und fühlte mich ziemlich klein und mies.
Nach dem ganzen Beziehungsstress sehnte ich mich nach ein wenig Ablenkung und flog mit Leon für ein paar Tage nach Madrid. Trotz meiner Höhenangst schaffte er es, mich in eine Wahnsinnsachterbahn namens Tarantula zu locken. Zitternd vor Angst saß ich neben ihm und bekam Panik, als die Sicherheitsbügel einrasteten. Leon legte seinen Arm um mich und sprach mir gut zu, wie einem kleinen Kind. »Marie, es wird dir gefallen, da bin ich ganz sicher. So wie dir manch anderes auch gefallen wird. Ich bin doch bei dir. Ich halte dich, du kannst mir vertrauen.«
Ruckzuck ging es steil nach oben und dann im senkrechten Fall wieder abwärts. Ich drängte mich an ihn, spürte meinen Herzschlag und seinen Arm, den er fest um mich gelegt hatte und mich schützte. Als ich laut aufschrie, raunte er mir etwas ins Ohr wovon ich dachte, ich hätte mich verhört. »Siehst du, du kannst es doch. Ungefähr so wirst du schreien, wenn du deine Lust nicht mehr unterdrückst und sie endlich zulassen kannst, das verspreche ich dir.«