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Lilian kann an die Liebe nicht so recht glauben. Sie misstraut den Männern und ihrem verführerischen Werben. Bis sie auf den Marquis von Claybourne trifft. Der charmante Draufgänger ist es gewohnt, dass ihm die Damenwelt zu Füßen liegt – auch Lilian macht da keine Ausnahme. Schon bald ist sie dem Marquis verfallen. Doch ist es ihm ernst mit ihr?
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Seitenzahl: 546
Zum Buch
Anders als ihre Schwestern träumt Lilian Loring nicht unaufhörlich vom perfekten Kleid für den perfekten Ball, um damit den Mann ihrer Träume zu beeindrucken. Im Gegenteil: Von den Männern im Allgemeinen und der Ehe im Besondern hat die bezaubernde Lilian keine sehr hohe Meinung. Der überaus attraktive Heath Griffin, Marquess von Claybourne, verkörpert ihren ganz persönlichen Alptraum: Der charmante Draufgänger hat sich schon einen respektablen Ruf als Herzensbrecher erworben. Als Lilian erkennt, dass sie sein Interesse erregt hat, besteht ihre erste Reaktion darin, ihm entfliehen zu wollen. Denn zu ihrem großen Entsetzen lassen sie die feurigen Avancen des Marquess alles andere als kalt.
Und Heath Griffin erfährt das erste Mal in seinem Leben, wie es ist, sein Herz zu verlieren …
Pressestimmen
»Bei einer so prickelnden Story kann man nur hoffen, dass die Gefechte der Leidenschaft weitergehen!« Romantic Times BOOKreviews
Zum Autor
Nicole Jordan ist eine äußerst erfolgreiche Autorin historischer Liebesromane. Ihre Bücher erscheinen regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Nicole Jordan lebt in Utah.
Das Original TO SEDUCE A BRIDE erschien bei Ballantine Books, New York.
Vollständige deutsche Erstausgabe 03/2010 Copyright © 2008 by Anne Bushyhead Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: © Pino Daeni via Agentur Schlück GmbH Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agenturen: Spencerhill Associates, Ltd. und Interpill Media GmbH, Hamburg Satz: IBV Satz – und Datentechnik GmbH, Berlin
eISBN: 978-3-641-18774-3
www.heyne.de
www.randomhouse.de
Meinen wundervollen Reiterfreunden Karen, Wyatt und Kari.
Danke für all die schöne gemeinsame Zeit und dafür, dass ihr euch so hervorragend um meine »Kleinen« gekümmert habt!
Lady Freemantles fortwährende Ehestiftungsversuche sind enervierend genug, um eine Heilige in den Wahn zu treiben, und du weißt, dass ich keine Heilige bin.
Miss Lily Loring an Fanny Irwin
Danvers Hall, Chiswick, England, im Juni 1817
»Ich begreife nicht, warum er mich so durcheinanderbringt«, flüsterte Lilian Loring mit zittriger Stimme der grauen Katze zu. »Kein Mann hat mich bisher in eine solche Verwirrung gestürzt.«
Ein leises Schnurren war alles, was Lily als Antwort erhielt.
»Es liegt ganz gewiss nicht an seinem guten Aussehen, denn gewöhnlich bin ich gutaussehenden Adligen gegenüber gleichgültig gestimmt.« Gleichgültig oder gar höchst ablehnend ihnen gegenüber. »Und sein Rang wie auch sein Vermögen sind mir ohnehin egal.«
Mit einem verärgerten Seufzen streckte Lily sich im Stroh aus, während sie weiter die Katze kraulte. Es fiel ihr schwer, zu verstehen, warum Heath Griffin, Marquess of Claybourne, diese Wirkung auf sie ausübte – umso mehr, als sie ihm heute Morgen bei der Vermählung ihrer Schwester erstmals begegnet war.
»Das Ärgerliche ist, dass er zu schar… charmant ist.« Nicht zu vergessen männlich, lebendig und eindrucksvoll.
Welches auch immer seine Eigenschaften sein mochten, sie riefen bei Lily eine absurde Kurzatmigkeit und Nervosität hervor.
»Sssum Teufel mit …«
Lily biss sich auf die Unterlippe und verstummte, weil ihr auffiel, dass sie ein wenig lallte. Was fraglos an den drei Gläsern Champagner lag, die sie getrunken hatte und die eindeutig zwei Gläser zu viel gewesen waren. Schließlich wusste sie doch, dass ihr Alkohol leicht zu Kopfe stieg. Andererseits waren die abendlichen Vorkommnisse auch verstörend genug gewesen, um sie dazu zu bewegen, dass sie ein bisschen über die Stränge schlug.
Momentan war sie zwar keineswegs angetrunken, doch war es wohl keine kluge Idee gewesen, in einem Ballkleid die Leiter zur Tenne hinaufzuklettern – in einem edlen maßgeschneiderten aus blassrosa Seide, mit leichten Tanzschühchen noch dazu. Der Aufstieg mitsamt einer Serviette voller kleiner Häppchen hatte sich für die ansonsten sportliche Lily als Herausforderung entpuppt, nur wollte sie Boots unbedingt ein Abendessen bringen, bevor sie die Hochzeitsfeierlichkeiten verließ.
Boots, die Stallkatze von Danvers Hall, hatte unlängst geworfen, und die kleinen Kätzchen lagen nun zusammengerollt in einem Karton, den Lily ihnen hier oben aufgestellt hatte, wo die Katzenmutter und ihre Jungen vor den Hunden des Anwesens sicher waren. Ihre Laterne hatte Lily an einem Haken unten hängen lassen, um die Kleinen nicht zu erschrecken. Hier oben kam lediglich ein schwach goldener Schein an, der die Frühsommernacht ruhig und warm wirken ließ.
Die drei Katzenkinder waren kleine Fellknäuel, ihre Augen noch kaum geöffnet, aber schon begannen sie, ganz eigene Persönlichkeiten zu zeigen – recht ähnlich den Loring – Schwestern, wie Lily fand. Beim Anblick der Katzenbabys, die schläfrig zu ihr aufblinzelten, regten sich zärtliche Gefühle in Lilys Brust, deren Herz immer schon für die Hilflosen und vom Schicksal weniger Begünstigten geschlagen hatte.
Wäre sie indessen ehrlich zu sich gewesen, hätte sie gestehen müssen, dass sie nicht bloß auf den Stallboden geklettert war, um die Katze zu füttern und in ihrem Selbstmitleid zu schwelgen, sondern mindestens ebenso sehr, um Lord Claybourne aus dem Weg zu gehen.
Während Boots genüsslich an einem Stück gerösteter Fasanenbrust knabberte, griff Lily in den Karton und hob eines der entzückenden Katzenbabys heraus.
»Weißt du eigentlich, wie niedlich du bist?«, murmelte sie und drückte ihre Nase in das seidenweiche schwarze Fell. Die winzige schwarze Katze war ein ziemlich freches kleines Ding, wie Lily selbst, und tapste mit den Krallen nach Lilys Nase.
Lily lachte leise, was gut gegen die Enge in ihrem Hals war und die melancholischen Gedanken vertrieb.
Die Vermählung morgens in der Dorfkirche war sehr schön gewesen. Lilys älteste Schwester hatte sich mit Marcus Pierce, dem neuen Earl of Danvers, vermählt. Danach folgten ein opulenter Hochzeitsempfang und ein Ball in Danvers Hall, zu dem an die sechshundert Gäste geladen waren. Alle Festlichkeiten verliefen harmonisch und angenehm, was in erster Linie Roslyn zu verdanken war, Lilys mittlerer Schwester, die es weder an Mühe noch an Talent als Gastgeberin missen ließ.
Der Ball würde noch mindestens ein bis zwei Stunden andauern, bis weit nach Mitternacht. Lily und Roslyn jedoch hatten sich bereits vor einer Weile in aller Abgeschiedenheit von Arabella verabschiedet, wobei einige Tränen geflossen waren.
Lily empfand es als überaus schmerzlich, Arabella an einen Ehemann zu verlieren, und leider war der Abend noch strapaziöser geworden, weil ihre freundliche Gönnerin, Lady Winifred Freemantle, sich nach Kräften bemühte, auch die anderen beiden Loring – Schwestern mit heiratswürdigen Kandidaten zu verkuppeln. Als die Schwestern vor einigen Jahren ohne einen Penny und auf sich allein gestellt hergekommen waren, hatte Winifred ihnen die Mittel zur Verfügung gestellt, um ihre eigene Akademie für junge Damen zu gründen, in der sie Töchter reicher Kaufleute auf das Leben in gehobenen Kreisen vorbereiteten. Heute aber hatte Winifred nichts unversucht gelassen, Lily dem guten Freund von Marcus aufzudrängen, dem Marquess of Claybourne.
Es war ihr schließlich, sehr zum Verdruss Lilys, gelungen, seine Lordschaft quasi zu nötigen, Lily zum Tanz aufzufordern.
»Sie werden entzückt sein, eine solch glänzende Tanzpartnerin wie Miss Lilian zu haben, My Lord, dessen bin ich gewiss«, hatte Winifred ihm versichert.
»Entzückt und geehrt«, erwiderte Claybourne, der Lily mit einem Lächeln bedachte.
Und leider hatte sie sogleich gefühlt, wie ihre Wangen heiß wurden. Während ihre verräterische Freundin sich mit einem selbstsicheren Lächeln abwandte, hatte Lily dagestanden und Claybourne angestarrt, gleichermaßen verwirrt wie wütend.
Der Marquess war ein großer beeindruckender Mann mit einer fesselnden Ausstrahlung. Sein Haar war hellbraun, seine Augen von einem goldgesprenkelten Haselnussbraun und sein Gesicht so atemberaubend männlich, dass unzählige Damenherzen ins Flattern gerieten.
Leider stellte Lily fest, dass sie sich von diesen Unzähligen nicht unterschied. Vielmehr war sie sich ihres ärgerlich beschleunigten Pulses überaus bewusst, als sie vor ihm stand und sich noch an ihre Wut über Winifreds Einmischung zu klammern versuchte. Es war so beschämend, dem sehr vermögenden, sehr begehrenswerten Marquess vorgeführt zu werden wie eine junge Stute auf der Pferdeauktion!
Also hatte Lily sich stumm von Lord Claybourne auf die Tanzfläche des Ballsaals führen lassen. Und als das Orchester die ersten Takte eines Walzers anstimmte, begab sie sich höchst widerwillig in Lord Claybournes Arme. Ihr war nicht wohl dabei, ihm so nahe zu sein, seine Wärme und seine Stärke zu spüren. Ebenso wenig behagte ihr, wie deutlich sie seinen Körper fühlte oder die elegante Geschmeidigkeit, mit der sie im Rhythmus der Musik über das Parkett schwebten. All das hatte sie noch bei keinem Mann zuvor wahrgenommen. Eigentlich hatte sie bisher an Männern nur bemerkt, welche Neigung zur Brutalität sie besaßen, wie groß ihre Fäuste waren …
»Missfällt Ihnen das Tanzen an sich, Miss Loring?«, hatte Claybourne schließlich das Schweigen zwischen ihnen gebrochen, »oder haben Sie etwas dagegen, mit mir zu tanzen?«
Lily war erschrocken. »Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas gegen Sie haben könnte, My Lord?«, hatte sie gefragt.
»Nun, das mag an Ihrer angsteinflößenden Miene liegen.«
Wieder fühlte Lily, wie sie rot wurde, und sie rang sich ein höfliches Lächeln ab. »Verzeihen Sie. Tanzen gehört nicht zu meinen bevorzugten Zeitvertreiben.«
Seine Bernsteinaugen wurden halb von seinen zusammengezogenen Brauen beschattet. »Sie beherrschen es dennoch recht gut. Ich gestehe, dass ich überrascht bin, wie gut.«
Sie sah erstaunt zu ihm auf. »Warum überrascht es Sie?«
»Weil Marcus behauptet, Sie seien ein Hitzkopf und ein Wildfang. Soweit ich von ihm hörte, ist Ihnen ein rasanter Galopp über das freie Feld weit lieber als ein öder Abend im Ballsaal.«
Ob dieser sehr zutreffenden Bemerkung musste Lily unweigerlich lachen. »Reiten ist mir zweifellos lieber als Walzertanzen, My Lord, obwohl ich ›Hitzkopf‹ ein wenig übertrieben scharf finde. Marcus hält mich offenbar für einen, weil ich häufiger mit ihm stritt, als er um Arabella warb. Wie dem auch sei: Ich gestehe freimütig, ein Wildfang zu sein, ausgenommen ich lehre an unserer Akademie und gebe den jungen Damen ein gutes Beispiel. Oder bei Anlässen wie diesem, wenn es mir obliegt, um meiner Schwestern willen Wohlverhalten zu demonstrieren. Wenn ich hingegen ehrlich bin, muss ich gestehen, dass es mir sogar eine gewisse Freude bereitet, den besseren Kreisen ihre erwarteten Benimmformen zu verweigern.«
»Und ich gestehe, dass Rebellen schon immer meiner Bewunderung sicher waren«, entgegnete er in einem Tonfall, der unverkennbar widerspiegelte, dass er amüsiert war. »Sie unterscheiden sich von Ihren Schwestern, habe ich Recht?«
Misstrauisch beäugte sie Claybourne, konnte jedoch nicht einschätzen, ob er schmeichelnd oder vorwurfsvoll sprach.
Nicht dass sie sein Urteil geschert hätte. Ebenso wenig kümmerte es sie, ob sie im Vergleich zu ihren Schwestern gut oder schlecht abschnitt. Sowohl Arabella als auch Roslyn waren beachtliche Schönheiten, groß und elegant mit hellem Haar, cremefarbenem Teint.
Lily konnte weder mit deren Größe noch ihrer aristokratischen Haltung aufwarten, war überdies dunkelhaarig mit braunen Augen und einer rosigen Gesichtsfarbe, weshalb sie inmitten ihrer blonden, blauäugigen Verwandtschaft wie ein Wechselbalg erschien. Noch dazu waren ihre Schwestern der Inbegriff an Grazie und damenhafter Vornehmheit, wohingegen Lily ihre tiefe Abneigung gegen die absurd steifen Regeln der herrschenden Elite häufiger zum Ausdruck brachte und sich damit regelmäßig Schwierigkeiten einhandelte.
Dennoch war sie nicht gewillt, sich bei seiner Lordschaft für ihre subversiven Neigungen zu entschuldigen. Vielmehr galt für sie: je weniger Konversation, desto besser.
Bedauerlicherweise wollte oder konnte er ihren Wink nicht verstehen und schweigen. »Hat Ihnen die Trauung heute Morgen gefallen, Miss Loring?«
Dieses Thema war ein äußerst wunder Punkt bei Lily, auch wenn es ihr gelang, ihren Missmut nicht zu zeigen. »Arabella war eine wunderschöne Braut«, antwortete sie vorsichtig.
»Aber Sie stimmen der Heirat zwischen Ihrer Schwester und meinem Freund nicht zu.«
Stirnrunzelnd blickte Lily sich im Ballsaal nach dem Brautpaar um und entdeckte Arabella und Marcus, die lachend Walzer tanzten. »Ich fürchte, sie begeht mit dieser überstürzten Heirat einen Fehler. Braut und Bräutigam kennen sich kaum zwei Monate.«
»Und doch bekunden beide, über die Maßen ineinander verliebt zu sein.«
»Ja, ich weiß«, bestätigte Lily finster. Angesichts der zärtlichen Blicke, die Belle und Marcus wechselten, musste sie zugeben, dass sie fürwahr sehr verliebt wirkten. »Trotzdem mache ich mir Sorgen, dass es nicht von Dauer sein könnte.«
Claybourne lächelte. »Sie klingen ganz so wie mein Freund Arden.«
Wie Lily bereits wusste, war Drew Moncrief, der Duke of Arden, Marcus’ anderer enger Freund. Die drei Adligen – Danvers, Arden und Claybourne – waren seit ihren Schultagen befreundet. »War seine Durchlaucht ebenfalls gegen die Heirat?«
»Ja – aus denselben Gründen wie Sie.«
»Wie steht es mit Ihnen, My Lord? Was halten Sie von der Verbindung?«
Claybournes Augen funkelten amüsiert. »Bis auf weiteres enthalte ich mich eines Urteils, bin jedoch geneigt, die Heirat zu bejahen. Ich würde sagen, das Brautpaar sieht bemerkenswert glücklich aus, denken Sie nicht?«
»Ja, und ich hoffe inständig, sie bleiben es. Ich möchte nicht, dass Arabella wehgetan wird.«
Hier merkte seine Lordschaft auf. »Fürchten Sie ernstlich, Marcus könnte Ihrer Schwester wehtun?«
»Durchaus, denn Adlige neigen gemeinhin dazu«, murmelte Lily vor sich hin, doch offenbar verstand er sie.
»Nicht alle Adligen sind Schurken, Miss Loring.«
»Nein, der Fairness halber sollte man einräumen, dass es auch Ausnahmen gibt.«
Sie betrachtete den Marquess prüfend. Er war ein kräftig gebauter Mann, breitschultrig und muskulös. Und er war so groß, dass Lilys Kopf kaum bis an seine Schulter reichte.
Grundsätzlich misstraute sie starken Männern und beurteilte sie ausschließlich danach, wie sie Frauen behandelten: eine Gewohnheit aus Kindertagen. Doch so seltsam es auch anmutete, weckte Lord Claybourne kein Misstrauen in ihr. Zumindest nicht aus den üblichen Gründen, nämlich weil er größer und stärker war als sie.
Er sah sogar sehr stark aus, und dennoch kam er ihr nicht wie ein Mann vor, der seine Kraft gegen Schwächere richtete.
Vielleicht lag es an seinem offenen Lächeln … oder an den Geschichten, die sie über ihn gehört hatte. Der Marquess of Claybourne wurde von vielen Frauen angebetet.
Und er stand in dem Ruf, die Bewunderung der Damen zu erwidern, wenn auch nicht hinreichend, um einer seiner zahlreichen Eroberungen einen Antrag zu machen. Gerade deshalb verwunderte Lily, dass er sich nicht gegen die unerwartete Heirat seines Freundes Marcus aussprach.
»Ich hoffe sehr, dass Sie mich nicht voreilig verdammen wollen«, unterbrach Claybourne Lilys Überlegungen, »wenigstens nicht, bevor wir uns besser kennengelernt haben.«
»Es ist unnötig, dass wir uns besser kennenlernen, My Lord«, erwiderte sie gelassen. »Wir bewegen uns nicht in denselben Kreisen, und nach den Hochzeitsfeierlichkeiten werde ich mich wieder gänzlich auf mein Wildfangdasein beschränken, was bedeutet, dass ich es tunlichst vermeiden werde, abermals einen Ballsaal zu betreten.«
Sein Lachen war rau und charmant, reichlich entwaffnend sogar. »Marcus warnte mich bereits, dass Sie einzigartig seien.«
Lily war fest entschlossen, seinem ungezwungenen Charme zu widerstehen.
Sie wollte nicht von Lord Claybourne fasziniert sein. Dieser Mann gab ihr das Gefühl, zart, zerbrechlich und feminin zu sein, was ihr ganz und gar nicht behagte. Ja, er strahlte eine geradezu überwältigende Macht und Männlichkeit aus.
Was Lily seltsam dünkte, war, dass es nicht allein sein gutes Aussehen und seine maskuline Gestalt waren, die es ihr angetan hatten. Vielmehr umgab ihn die Aura eines Abenteurers, eines kühnen Entdeckers, als sollte er ein Kapitän sein, der die sieben Weltmeere bereiste, oder eine Expedition anführen und die Geheimnisse unbekannter Länder ergründen.
Lily wusste nicht, ob er womöglich ein Schiff besaß, aber ihr war bekannt, dass er ein großer Sportsmann war. Seine sportlichen Erfolge waren in sämtlichen Salons legendär, und Winifred hatte den ganzen Tag über ein Loblied auf ihn gesungen, um Lilys Interesse zu wecken und ihn besonders begehrenswert für sie zu machen.
Nur hatte Lily keineswegs vor, den Marquess zu heiraten – weder ihn noch irgendeinen anderen. Obwohl sie gestehen musste, dass Claybourne der reizvollste Mann war, dem sie je begegnet war. Was wiederum einen umso triftigeren Grund darstellte, ihm weiträumig aus dem Weg zu gehen.
Das tat sie, sobald der Walzer endete.
Ohnehin hatte sie vor, den Ball frühzeitig zu verlassen und die Nacht bei ihrer guten Freundin Tess Blanchard zu verbringen, einer vornehmen jungen Dame, die ebenfalls an der Freemantle Academy unterrichtete.
Sie sagte Arabella Lebewohl und trank anschließend in kurzer Abfolge zwei weitere Gläser Champagner gegen die drohenden Tränen. Dann machte sie sich auf den Weg in die hinteren Stallungen, in denen ehedem die Zuchtstuten untergebracht gewesen waren, um Boots zu füttern und nach den Katzenbabys zu sehen. In diesem abgelegenen Winkel weit ab vom Hof war es herrlich ruhig.
Lilys Kopf schwirrte noch von zu viel Champagner und zu viel Lord Claybourne. Beim Walzertanzen war leider unvermeidlich gewesen, dass sie deutlich fühlte, wie stark er sich anfühlte – und wie geschmeidig er sich bewegte. Infolgedessen war sie nun reichlich durcheinander.
»Aber ich sehe ihn nicht mehr wieder«, murmelte Lily, während sie das schwarze Kätzchen in den Karton zurücklegte. »Oder sssu…zumindest kann Winifred mich nie wieder so peinlich vorführen.«
In diesem Moment hörte Lily ein Geräusch von unten aus dem Stall, als würde jemand sich räuspern.
Lily fragte sich, wer dort in den Stall gekommen sein mochte, und lugte vorsichtig über den Rand des Heubodens. Ihr Herz setzte kurzfristig aus, als sie den breitschultrigen Marquess of Claybourne erkannte, der lässig an einem der Stützbalken lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf leicht zur Seite geneigt.
Rasch zog sie sich wieder vom Rand zurück, weil sich auf einmal alles drehte und ihr schwindlig wurde. Gütiger Himmel! Hatte er gehört, wie sie jammerte, er wäre zu charmant?
Sie hielt sich eine Hand an die Schläfe, um den Schwindel zu vertreiben, und blickte abermals vorsichtig über die Bodenkante. »M-My Lord, was tun Sie hier?«
»Ich sah, wie Sie den Ball verließen, und wunderte mich, was Sie in den Ställen wollen.«
»Sie sind mir gefolgt?«, erkundigte Lily sich entsetzt.
Claybourne nickte ruhig. »Ja, das bin ich.«
»Und Sie haben mich schamlos belauscht?«
»Zugegeben, ich war neugierig. Führen Sie häufig Selbstgespräche, Miss Loring?«
»Manchmal. In diesem Fall jedoch sprach ich mit der Katze oder, besser gesagt, mit den Katzen. Boots, unsere Stallkatze, hat unlängst Junge bekommen.«
»Möchten Sie mir vielleicht erklären, was Sie oben auf dem Heuboden machen?«
»Wenn Sie es ubbe…unbedingt wissen wollen: Ich füttere die Katze.«
»Sie sind hergekommen, um die Stallkatze zu füttern?«, wiederholte er ungläubig.
»Soll ich sie etwa verhungern lassen?« Das war eine rhetorische Frage. »Boots ist eine exzellente Mäusefängerin, aber im Augenblick hat sie Wichtigeres zu tun. Sie muss sich um ihre Jungen kümmern.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Haben Sie vor, dort oben bei den Katzen zu bleiben?«
»Nein! Ich komme herunter, sobald mein Kopf wieder klar ist. Mir scheint, ich … hatte etwas zu viel Champagner.« Ärgerlicherweise war ihr momentan noch zu schwindlig, als dass sie die Leiter hinabsteigen und vor Lord Claybourne fliehen konnte.
»Dann macht es Ihnen gewiss nichts aus, wenn ich nach oben komme und Ihnen Gesellschaft leiste«, entschied er und setzte auch schon einen Fuß auf die unterste Leitersprosse.
Und ob es ihr etwas ausmachte! Lily machte sich abrupt gerade und überlegte nervös, wie sie ihn davon abhalten könnte, ihr seine Gesellschaft aufzudrängen. »Sie können nicht hier heraufklettern, My Lord!«, rief sie, was leider zwecklos war, denn fast gleichzeitig erschien sein Kopf oberhalb der Bodenkante.
»Doch, ich kann. Und ich beabsichtige, bei Ihnen zu bleiben.«
Kaum war sein gesamter Oberkörper zu sehen, hielt er inne und sah Lily interessiert an.
»Sie werden sich den Gehrock schmutzig machen«, versuchte Lily es hilflos erneut und betrachtete das elegante weinrote Kleidungsstück – Weston, keine Frage –, das seine breiten Schultern aufs Trefflichste betonte.
»Mein Gehrock wird es überleben«, entgegnete er, während er sie seinerseits musterte. »Aber was ist mit Ihnen? Sie tragen ein Ballkleid.«
»Das ist etwas anderes. Mir liegt nichts an Kleidung.«
Als er die Brauen hochzog, wurde Lily klar, dass ihre Antwort doppeldeutig war. »Ich … ich meine nicht, dass ich gern unbekleidet bin«, stammelte sie eilig und spürte, wie ihre Wangen glühten. »Ich meinte lediglich, dass mir nichts an voll… vornehmer Kleidung liegt … an Ballkleidern.«
»Wie ungewöhnlich!«, bemerkte er trocken, stieg die letzten Leitersprossen hinauf und setzte sich leicht seitlich auf den Bodenrand. »Ich bin noch keiner Dame begegnet, die sich nicht für elegante Roben interessiert.«
»Sie sehen also, ich bin nicht normal, My Lord. Ich bin sogar sehr anormal.«
»Ach ja?«, sagte er und rutschte näher zu ihr.
Selbst im gedämpften Licht fiel ihr auf, dass seine braunen Augen funkelten. Er machte sich über sie lustig!
Lily öffnete den Mund, um ihn zurechtzuweisen, doch er kam ihr zuvor. »Was ist denn so anormal an Ihnen, mein Engel? Mir erscheinen Sie ausgesprochen normal.«
Als sein Blick über ihren Körper wanderte, bedeckte Lily ihre roten Wangen mit beiden Händen und zwang sich, ruhig zu bleiben. Was allerdings vergebens war, denn in seiner Lordschaft Nähe überkam sie ein höchst unangenehmes Kribbeln.
Sie richtete sich möglichst gerade auf, weil sie selbstsicher wirken wollte, und erklärte streng: »Ich meinte, dass ich nicht normal für eine Frau bin.«
»Daran zweifle ich nicht.«
Sie sah ihn verärgert an. »Im Grunde hätte ich als Junge auf die Welt kommen sollen. Dann wäre ich viel gück…glücklicher.«
»Ach, sind Sie denn so unglücklich?«
Beschwipst, wie sie war, arbeitete ihr Verstand merklich träger als sonst, und sie musste über die Frage nachdenken. »Nun … nein. Mir gefällt mein Leben recht gut. Aber Damen genießen so viel weniger Freiheiten als Herren.«
»Und welche Freiheiten würden Sie gern genießen, meine Liebe?«
Lily nagte an ihrer Lippe, denn sie hatte schon viel zu viel gesagt. Der Champagner hatte ihr gefährlich die Zunge gelöst. »Hören Sie gar nicht auf mich, My Lord. Ich rede Unsinn. Das muss am Champagner liegen.«
»Ja, könnte sein. Was veranlasste Sie, zu viel davon zu trinken?«
»Ich wollte meinen Kummer ertränken, wenn Sie es genau wissen wollen.«
»Welchen Kummer?«
»Den über den Verlust meiner Schwester. Der Abschied hat mich ein wenig melancholisch gemacht, was ich selbstverständlich nicht vor anderen zeigen wollte.« Als er schwieg, ergänzte sie: »Das war eine dezente Aufforderung an Sie, mich allein zu lassen, My Lord.«
Statt die Leiter wieder hinunterzuklettern, lehnte er sich lässig zurück, die flachen Händen hinter sich aufgestützt, und überkreuzte seine langen seidenverhüllten Beine vor sich, als machte er sich für einen längeren Aufenthalt bereit.
Lily seufzte gereizt. »Ich glaube, Sie begreifen nicht, in welcher Gefahr Sie sich befinden, Lord Claybourne. Es ist ein schwerwiegender Fehler, mit mir hier allein zu sein. Sollte Winifred davon erfahren, wäre sie vollkommen außer sich vor Freude.«
»Winifred?«
»Lady Freemantle. Sie ist der Hauptgrund, weshalb ich den Ball frühzeitig verließ. Ich wollte ihr entfliehen. Sie will mich mi…mit Ihnen verkuppeln. Das muss Ihnen doch aufgefallen sein.«
Er war nicht annähernd so erschrocken, wie er sein sollte. »Mag sein, jedoch bin ich derlei gewöhnt. Sagen wir, übereifrige Mamas, die mir ihre heiratsfähigen Töchter aufdrängen, sind mir nicht fremd.«
Lily rümpfte die Nase. »Auch wenn es Ihnen leichtfällt, Winifreds beschämendes Gebaren abzutun, störe ich mich dennoch daran. Ich bin keine Zuchtstute, die man vorführt, auf dass ein für geeignet befundener Gentleman meine Vorzüge wie meine Mängel prüft.«
Wieder funkelten seine Augen belustigt. »Mit einer solchen habe ich Sie auch nie verwechselt.«
Nun wurde Lily richtig verärgert. »Verstehen Sie denn nicht? Winifred möchte, dass ich Sie von meinen Vorzügen überzeuge!«
»Was Sie nicht beabsichtigen.«
»Ganz gewiss nicht! Mir liegt nichts an einer Heirat.«
»Was für eine außergewöhnliche Einstellung für eine junge Dame! Die meisten machen es sich zur Lebensaufgabe, einen Ehegatten zu finden.«
»Stimmt. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich Ihnen nachstellen könnte, Lord Claybourne. Nicht dass ich nicht wüsste, was für eine begehrte Partie Sie sind. Sie sind geradezu unanständig vermögend, besitzen einen angesehenen Titel, sehen nicht allzu schäbig aus und sind angeblich unwiderstehlich charmant.«
»Doch selbst die Summe dieser entzückenden Eigenschaften kann Sie nicht betören.«
»Nicht im Geringsten.« Lily lächelte, um die Schärfe ihrer Worte abzumildern. »Zweifellos verfügen Sie über einen ganzen Schwarm von Verehrerinnen, denen ich mich nicht anzuschließen gedenke. Ebenso wenig werde ich mich jemals wie all die anderen Ehegattenjägerinnen verhalten, die Sie kennen. Ich bin nicht interessiert.«
»Was mich ungemein erleichtert, Miss Loring, denn es bereitet mir so gar kein Vergnügen, mir nachstellen zu lassen.« Seinem Tonfall nach zu urteilen, bereitete ihm dieses Gespräch hingegen viel zu viel Vergnügen. »Allerdings würde ich sehr gern wissen, woher Ihre profunde Ablehnung der Ehe rührt.«
Lily holte tief Luft. Wildfang hin oder her, normalerweise würde sie nicht im Traum erwägen, ihre persönlichen Angelegenheiten mit einem Fremden zu besprechen. In diesem Fall jedoch war ein bescheidenes Maß an Offenheit eventuell zweckdienlich.
»Meiner Erfahrung nach führt die Ehe zwangsläufig dazu, dass die Frau unglücklich wird«, offenbarte sie ihm.
»Sie sprechen aus persönlicher Erfahrung?«
Lily kniff die Lippen zusammen, bevor sie antwortete: »Leider ja. Die Feindseligkeit zwischen meinen Eltern lehrte mich, der Ehe gegenüber grundsätzlich abgeneigt zu sein.«
Das Funkeln in Claybournes Augen verschwand, als er sie ansah, und sein Ernst machte Lily noch nervöser als seine vorherige Belustigung.
»Ich brauche keinen Ehemann«, fügte sie eilig hinzu, »ungeachtet dessen, was die vornehme Gesellschaft von einer jungen Dame erwartet. Dank der großzügigen Regelung, die Marcus für uns traf, bin ich finanziell unabhängig und kann folglich ein erfüllendes Leben führen, ohne heiraten zu müssen.«
»Trotzdem deuteten Sie an, dass Sie sich mehr Freiheiten wünschten.«
Sie lächelte unsicher. »Das ist wahr.« Sie hatte sich immer ein Leben voller Freiheiten und Abenteuer erträumt. »Ich habe vor, meine Mittel zu nutzen, um zu reisen und neue, aufregende Orte zu besuchen.«
»Allein?«
»Lady Hester Stanhope hat es getan«, erwiderte Lily. Die abenteuerlustige Tochter eines Earls und Nichte von William Pitt dem Jüngeren war in den Mittleren Osten gesegelt und hatte sich dort einem arabischen Stamm angeschlossen.
»Ja, das hat sie. Nur war sie zum fraglichen Zeitpunkt erheblich älter als Sie.«
»Ich bin einundzwanzig – alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.«
»Also … Sie wollen nicht heiraten, weil Männer ihre Gattinnen oft unglücklich machen«, fasste Claybourne zusammen, als wäre er nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte.
»Ja. Erst machen die Männer uns zu verliebt, als dass wir klar denken können, und wir überlassen ihnen die Kontrolle über unser Leben. Und dann verletzen sie uns.« Unwillkürlich knirschte Lily mit den Zähnen. »Ich halte es für abstoßend, dass Ehemänner das Recht besitzen, sich ihren Frauen gegenüber wie Schurken zu gebärden. Kein Mann wird je eine solche Macht über mich haben.«
Vollkommen unerwartet beugte Claybourne sich vor und hob eine Hand an Lilys Wange. »Wer hat Ihnen so wehgetan, mein Engel?«, fragte er sanft.
Lily wich zurück. »Niemand hat mir wehgetan. Meine Mutter war diejenige, die verletzt wurde. Und meine älteste Schwester übrigens auch.«
Einen Moment lang schwieg er. »Wie ich hörte, war Ihr Vater ein veritabler Schwerenöter.«
Lily wandte den Blick ab, denn sie wollte die schmerzlichen Erinnerungen nicht wieder wachrufen. »Ja, der war er. Und bei jeder Gelegenheit hat er meiner Mutter seine Mätressen vorgeführt. Es war furchtbar verletzend für sie. Arabellas erster Verlobter behandelte sie wenig besser. Belle liebte ihn, doch als der Skandal meiner Eltern öffentlich wurde, löste er die Verlobung kurzerhand.«
Lily war sicher, dass Lord Claybourne alles über die schrecklichen Skandale wusste, in die ihre Familie vor vier Jahren verwickelt gewesen war. Ihre Mutter hatte sich einen Geliebten genommen, weil sie ihre unglückliche Ehe nicht mehr ertrug. Darauf zwang ihr aufgebrachter Ehemann sie, auf den Kontinent zu fliehen, verspielte nur zwei Wochen später sein letztes Vermögen und kam bei einem Duell um eine seiner Mätressen ums Leben. Die Loring – Schwestern blieben mittel – und obdachlos zurück, der Gnade ihres geizigen Stiefonkels ausgeliefert, des Earl of Danvers, der sie höchst widerwillig bei sich aufnahm.
»Wollten Sie deshalb nicht, dass Marcus Ihre Schwester heiratet?«
»Größtenteils.«
»Sie scheinen eine ziemlich finstere Einstellung gegenüber Adligen zu hegen.«
»Das leugne ich nicht. Adlige können die schlimmsten Ehemänner abgeben.«
»Folglich darf ich annehmen, dass Ihre Aversion sich nicht gegen meine Person richtet?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein, ich habe nichts gegen Sie persönlich, My Lord. Ich kenne Sie ja nicht einmal.« Zum Glück, fügte sie in Gedanken hinzu.
Claybourne blieb ungefähr zwölf Herzschläge lang stumm, ehe er sich seitlich drehte und in den Karton mit den Katzenbabys sah. »Ich schätze, das ist Boots«, murmelte er und kraulte die Katzenmutter hinter dem Ohr. Zu Lilys Verwunderung hatte Boots nichts dagegen. Sie schnurrte sogar und rieb genüsslich ihren Kopf an Claybournes Fingern.
Wie gebannt schaute Lily auf die Hände seiner Lordschaft, die das seidige graue Fell streichelten. Er hatte außergewöhnlich elegante Hände.
»Ich glaube, Sie vergessen einen wichtigen Punkt«, sagte er schließlich.
Zunächst begriff sie gar nicht, dass Lord Claybourne mit ihr sprach. »Welchen?«
»Es ist wahr, dass manche Männer verletzend sein können, aber sie können Damen auch größte Freuden bereiten.«
Wieder einmal wurde Lilys Gesicht heiß. »Manche vielleicht, aber das tut nichts zur Sache.«
Ausgerechnet in diesem Moment krallte ein schwarzes Kätzchen sich in seine Manschette und begann, in seinen Fingerknöchel zu beißen.
»Du bist aber ein hungriger kleiner Bursche, was?«, raunte Claybourne schmunzelnd. »Und du anscheinend auch«, ergänzte er, als das graues Kätzchen sich auf seinen Daumen stürzte.
Behutsam hob er die beiden aus dem Karton und setzte sie sich auf den Schoß. Fast sofort kletterte das schwarze Katzenbaby an seiner Brust hinauf, wobei es seine winzigen Krallen in Claybournes Goldbrokatweste grub.
»Oh, entschuldigen Sie, My Lord!«
»Das macht nichts.« Als die kleine schwarze Katze immer höher kletterte, lachte Claybourne leise. Bei dem tiefen raspelnden Laut wurde Lily ganz seltsam zu-mute.
»Warten Sie, lassen Sie mich Ihnen helfen!«, bat sie.
Sie beugte sich vor und wollte ihm das Kätzchen abnehmen, doch die krummen kleinen Krallen hingen in Claybournes Krawatte fest. Als Lily versuchte, sie aus dem edlen Stoff zu lösen, ohne ihn einzureißen, schaffte sie es, den Marquess stattdessen rücklings ins Stroh zu stoßen.
Da lag er und blickte zu ihr auf. Lily, die nun halb über ihm lehnte, erstarrte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Er war vollkommen ruhig, doch da loderte ein Feuer in seinen Augen, bei dem Lilys Herz schneller schlug.
»Es tut mir leid«, stammelte sie und klang auf einmal atemlos.
»Mir nicht.«
Sanft fasste er die kleinen schwarzen Krallen, befreite sie aus seiner Krawatte und setzte das Kätzchen neben sich ins Stroh. Sofort krabbelte es zu dem Karton zurück, und das kleine graue folgte ihm maunzend.
Immer noch konnte Lily nicht anders, als Claybourne anzusehen. Und kaum streckte er einen Arm nach oben und legte seine Hand in ihren Nacken, versagte ihre Atmung vollständig. Ihr blieb gar keine Zeit, schockiert zu sein, ehe er sie auch schon hinuntergezogen hatte und sein Mund federleicht den ihren streifte.
Auf die Flut von Empfindungen, die sie nun überkam, war Lily genauso wenig vorbereitet gewesen wie auf die zärtliche Geste. Seine Lippen fühlten sich warm und fest, zugleich aber auch verlockend weich an.
Lily unterdrückte ein Seufzen, stemmte ihre Hände auf Claybournes Brust und hob den Kopf, in dem sich abermals alles drehte. »W-warum haben Sie das getan?«, fragte sie zittrig.
»Ich wollte herausfinden, ob Ihre Lippen so einladend sind, wie sie aussehen.«
Seine Antwort fiel gänzlich anders aus, als Lily gedacht hatte. »Und – sind sie es?«
»Nein, sie sind noch einladender.«
Unfähig, sich zu rühren, sah Lily ihn an. Er hatte ein eindrucksvolles Gesicht, wunderschön im matten Lampenschein. Auch sein Mund war außerordentlich schön, die Lippen wie gemeißelt; und Letztere bogen sich nun zu einem trägen Lächeln.
»Ich vermute, Sie waren sich nicht gewahr, was Ihnen entging, meine Liebe. Die Leidenschaft zwischen Mann und Frau kann recht überwältigend sein.«
Lily räusperte sich, weil ihr Hals plötzlich wie ausgetrocknet war. »Selbst wenn, verzichte ich lieber auf jedwede Leidenschaft.«
»Wie viel wissen Sie über Sinnlichkeit? Sind Sie jemals richtig geküsst worden?«
Misstrauisch runzelte sie die Stirn. »Was meinen Sie mit ›richtig‹?«
Mit einem leisen Lachen zog er sie wieder zu sich hinab. »Wenn Sie fragen müssen, lautet die Antwort Nein. Ich denke, dieses Erfahrungsdefizit sollten wir beheben …«
Während sein warmer Atem über ihren Mund strich, wappnete Lily sich für einen weiteren Schrecken, doch sobald seine Lippen begannen, mit ihren zu spielen, fühlte sie, wie ihr Widerstand dahin schmolz.
Sein Kuss wirkte wie Magie und machte sie mindestens so schwindlig und leicht wie der Champagner.
Als er den Kuss beendete, strich er mit einem Finger über ihre Wange. »Gefiel Ihnen das, meine Süße?«
Sie konnte nicht verneinen, denn das wäre eine Lüge gewesen. Sein Kuss hatte sie atemlos gemacht und berauscht. Zudem fühlte sie ein ungekanntes Beben zwischen ihren Schenkeln, ein schmerzliches Begehren tief an ihren verborgensten weiblichen Körperstellen. »J-ja.«
»Sie klingen unsicher.«
»Es war … ziemlich angenehm.«
Seine Mundwinkel bogen sich leicht nach oben. »Lediglich angenehm? Darob sollte ich eigentlich betroffen sein.«
»Sie wissen sehr wohl, dass Sie es nicht sein müssen. Man sagt Ihnen nach, Sie seien ein Teufel bei den Damen und dürften bereits zahlreiche Eroberungen vorweisen …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf, in dem sich der Nebel partout nicht lichten wollte. »Zumindest verstehe ich nun, warum man sich erzählt, dass die Damen sie anbeten.«
»Wer sagt das?«
»Fanny.«
»Fanny Irwin? Ach ja, ich entsinne mich, dass Ihre Schwester Arabella erwähnte, Miss Irwin sei eine Freundin aus Kindertagen.«
Fanny war eine der begehrtesten Kurtisanen in London. Als eine der teuersten Freundinnen der drei Loring – Schwestern, war sie heute auch zu Arabellas Hochzeit geladen gewesen, was bei manchen der standesbewussten Gäste für mehr oder minder stumme Empörung gesorgt hatte.
Lily wünschte sich sehnlichst, Fanny wäre jetzt hier, um ihr einen Rat zu geben. Wie hatte sie sich in eine solche Lage bringen können? Was tat sie mit einem höchst verführerischen Fremden auf dem abgeschiedenen Heuboden? Und wie kam es, dass sie buchstäblich auf Lord Claybourne ausgestreckt lag, gegen seinen muskulösen Körper gedrückt? Die Wärme seiner Brust machte ihre eigenen Brüste köstlich schwer.
Und das, bevor er anfing, die Vertiefung unten an ihrem Hals sachte mit einem Finger zu streicheln. »Ich denke, ich sollte es Ihnen demonstrieren.«
»Was demonstrieren?«, fragte sie ängstlich.
Er blickte sie lächelnd an. »Die Art Freuden, die ein Mann einer Frau bereiten kann.«
Ihr Herz begann, zu hämmern, kaum dass er seinen Worten Taten folgen ließ. Seine Hand lag in ihrem Nacken und zog sie näher zu ihm. Diesmal war sein Kuss sogar noch etwas dringlicher. Mühelos öffnete er ihre Lippen, worauf er mit seiner Zunge in ihren Mund glitt und eine intensive Sehnsucht in ihr erregte, die Lily erst recht berauschte.
Sie kämpfte gegen die überstarken Regungen in ihr. Immer noch trübte der Champagner ihre Wahrnehmung, was jedoch weder das überwältigende Verlangen erklärte noch die unangemessene Anziehung, die der Marquess auf sie ausübte.
Unmöglich konnte sie ihm widerstehen. Nicht, wenn er sie auf diese bezaubernde Weise liebkoste. All ihre Sinne waren wie entzündet von dem sinnlichen Tanz, zu dem seine Zunge ihre verführte.
Mit einem Laut, der zwischen einem Seufzen und einem Wimmern lag, gab Lily jede Gegenwehr auf.
Was seine Lordschaft zum Anlass nahm, den Kuss noch zu vertiefen.
Hilflos tauchte Lily ihre Hand in sein sonnengeküsstes Haar, das erstaunlich dicht und seidig war. Derweil wanderte seine Hand von ihrem Hals zu dem eckigen Dekolleté ihres Ballkleides hinab, das reichlich Haut entblößte.
Als seine Fingerknöchel über die Wölbungen ihrer Brüste strichen, rang Lily nach Atem. Doch Claybourne küsste sie weiter, streichelte ihre Zunge samtig – weich.
Lily spürte, wie eines seiner Knie zwischen ihre drang. Kurz darauf fühlte sie durch ihre Röcke, wie sein Schenkel auf ihre Weiblichkeit drückte. Gleichzeitig umfing seine Hand ihre eine Brust.
Unweigerlich stöhnte Lily vor Wonne, und als seine Fingerspitzen ihre Brustspitze unter dem Mieder fanden, hatte sie das Gefühl, innerlich Feuer zu fangen.
Niemals hatte sie etwas Vergleichbares empfunden. Er machte sie regelrecht wahnsinnig mit seinen Liebkosungen, neckte sie und sprach jene Wildheit in ihr an, die sie von jeher erfüllte.
Dennoch war es seine Zärtlichkeit, die sie am meisten verblüffte. Dass er sanft sein konnte, war offensichtlich. Momente zuvor waren zwei kleine Katzenbabys auf ihm herumgeklettert, maunzend und schnurrend, und hatten damit quasi schon Lilys Misstrauen gegenüber allen Männern im Mark erschüttert.
Diese winzigen Wesen hatten keinerlei Gefahr bei ihm wahrgenommen, was ihn ungleich gefährlich für Lily machte …
Gütiger Himmel, was tat sie nur? Sie musste das hier beenden, rief eine verzweifelte Stimme in ihrem Kopf. Nein, sie durfte es auf keinen Fall fortsetzen!
Energisch stemmte sie sich von seiner Brust ab und setzte sich auf. Ihr Atem ging in kurzen Stößen, während ihr Puls raste.
»Das war ein … eine eindrucksvolle Demonstration, My Lord«, hauchte sie und bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Aber ich denke, die Wirkung des Champagners kam Ihnen zugute.« Sie hob eine Hand an ihre Schläfe. »Ich hätte nicht so viel trinken dürfen. Andererseits war ich nicht darauf vorbereitet, dass ich mich gegen Sie verteidigen müsste.«
Er antwortete nicht gleich. Stattdessen sah er ihr stumm in die Augen und stützte sich langsam auf einen Ellbogen auf.
Lily musste sich von seinem forschenden Blick abwenden. Zum Teufel mit ihm! Sie musste umgehend weg, denn sie traute sich selbst nicht, sollte sie länger allein mit Lord Claybourne sein.
In diesem Moment hörte sie Geräusche aus dem vorderen Hof. Das waren Kutschen, die vorgefahren wurden. Einige der Hochzeitsgäste verließen das Fest beizeiten, um ins mehrere Meilen entfernte London zurückzukehren.
»Ich muss gehen«, erklärte Lily hastig. Sie war froh, einen Vorwand zu haben.
»Schaffen Sie es sicher die Leiter hinunter?«
»Ich … denke schon. Ich bin jetzt beinahe wieder nüchtern.«
Lord Claybourne hob vorsichtig die beiden Kätzchen hoch und legte sie in den Karton zurück zu ihrer Mutter und den anderen. Während die Kleinen sich eilig zur Quelle ihres Abendessens begaben, rutschte Lily zur Leiter.
Doch anscheinend war Lord Claybourne noch nicht fertig mit ihr.
»Warten Sie! Da ist Stroh in Ihrem Haar. Sie können schlecht auf den Ball zurückgehen, solange Sie aussehen, als hätten Sie ein Stelldichein in einem Stall gehabt.«
Lily schüttelte den Kopf, als er näher kam. »Das ist gleich, denn ich gehe nicht in den Ballsaal zurück. Ich fahre in Kürze mit meiner Freundin, Miss Tess Blanchard, zu ihr nach Hause. Meine Schwester Roslyn und ich verbringen die Nacht in ihrem Haus.«
»Sie möchten doch aber nicht, dass Miss Blanchard Sie verdächtigt, mich geküsst zu haben, nicht wahr?«
»Nun … nein.«
»Dann halten Sie still, solange ich die Zofe spiele.«
Widerwillig gehorchte Lily und ließ sich von ihm das Stroh aus ihrer Frisur zupfen. Leider fühlte sie dabei deutlich seine Finger und spürte seinen Blick.
»Ich sollte mich beeilen«, ermahnte sie sich. »Tess wartet gewiss schon.«
Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Erlauben Sie mir, zuerst hinunterzusteigen, damit ich Sie auffangen kann, falls nötig. Ich wäre untröstlich, sollten Sie sich verletzen.«
Dem konnte sie ebenfalls nicht widersprechen. Wie ärgerlich! »Ich danke Ihnen, My Lord«, murmelte sie und ließ ihn an sich vorbei.
Lord Claybourne stieg als Erster hinunter, und Lily folgte ihm. Sie hielt sich oben fest, drehte sich um und kletterte rücklings die Leiter hinab.
Ein paar Sprossen schaffte sie, doch dann verfehlte sie eine. Es war ein Glück, dass Claybourne unter ihr stand, denn als sie wegrutschte, fing er sie ab, indem er ihre Taille umfasste. Ihr stummer Aufschrei indessen war eher seiner Berührung als der Angst vor dem Fall geschuldet.
»Langsam!«, raunte er ihr zu und führte ihren Fuß auf die Leitersprosse zurück.
Wie warm seine Finger sich auf ihrem Knöchel anfühlten, dachte Lily nervös und stieg die restlichen Sprossen so schnell hinunter, wie sie konnte.
»I-ich danke Ihnen«, wiederholte sie, als sie wieder festen Boden unter sich spürte.
Leicht schwankend blieb sie einen Moment stehen. Sie zitterte noch von seinen Küssen.
Sie erwartete, dass Lord Claybourne sich entfernte, der sich aber nicht vom Fleck rührte. Immer noch stand er hinter ihr, seine Hände an ihrer Taille. Sie fühlte ihn heiß und hart in ihrem Rücken, was sie natürlich an seine verführerischen Zärtlichkeiten erinnerte.
Ihr Atem stockte, als er noch näher kam und seine Hüften gegen sie presste.
Lily erschauderte. Sie wusste, was diese männliche Härte bedeutete. Er war erregt von dem, was sie oben auf dem Heuboden getan hatten.
Leider musste sie zugeben, dass sie gleichfalls sehr erregt war. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper in Wellen, während ein heißes Begehren zwischen ihren Beinen pochte.
»Sie dürfen mich jetzt loslassen, My Lord«, flüsterte sie. »Ich bin sicher, dass ich nicht mehr fallen kann.«
Er lachte leise. »Glauben Sie allen Ernstes, Sie seien sicher?«
Schon wieder wurde ihr Hals unschön trocken. »Bitte, Lord Claybourne …«
»Bitte was, Lily?« Er sprach ihren Namen in einem rauen Flüstern aus und neigte dabei seinen Mund zu ihrem Ohr.
Sie schrak auf. »Sie dürfen mich nicht wieder küssen!«, rief sie aus, wobei ihre Stimme schrill klang.
Sein Ausatmen glich beinahe einem Seufzen. »Ich weiß. Nichts täte ich lieber, als mit Ihnen auf den Heuboden zurückzuklettern und den Rest der Nacht darauf zu verwenden, Ihnen Freuden zu eröffnen, von denen Sie nicht einmal träumen. Aber es wäre unehrenhaft, Ihren geschwächten Zustand auszunutzen … und Marcus ließe sich mein Haupt auf einem Silbertablett präsentieren, sollte ich es auch nur versuchen.«
Lily war nicht sicher, ob Marcus seine Rolle als ihr Beschützer gar so ernst nahm. Immerhin war ihr Vormund von Anfang an wenig angetan gewesen, die Verantwortung für drei bettelarme Schwestern übernehmen zu müssen, und überdies war er nur wenige Monate lang ihr Vormund gewesen, nachdem er zum neuen Earl of Danvers geworden war. Zudem galt Marcus nach dem Gesetz nicht mehr als ihr Vormund, hatte er seinen drei Mündeln doch gesetzliche wie finanzielle Freiheit angedeihen lassen, als Arabella die Wette gegen ihn gewann. Dennoch hielt Lily es für klug, ihre Zweifel nicht gegenüber Lord Claybourne zu äußern.
»Ja, das würde er«, pflichtete sie ihm bei.
Nach einem kurzen Moment trat Claybourne zurück und gab ihr den Weg zur Stalltür frei.
Erleichtert wandte Lily sich von ihm ab. Ohne sich noch einmal umzudrehen, eilte sie zur Tür, wo sie jedoch abrupt stehen blieb, als ihr einfiel, was sie überhaupt in den Stall getrieben hatte.
Verdrossen blickte sie sich nun doch zu seiner Lordschaft um, die sie mit dunkel glühenden Augen betrachtete. »Sie müssen mir versprechen, dass Sie Lady Freemantle nichts von dem erzählen, was hier vorfiel. Sollte sie es erfahren, würde sie umgehend unsere Vermählung planen.«
Was immer in ihm vorgehen mochte, sie konnte es an seiner Miene nicht erkennen, obwohl er im hellen Laternenlicht stand. Und er zögerte etwas zu lange mit seiner Antwort. »Nun gut, ich verrate ihr nichts.«
Lily brachte ein mattes Lächeln zustande, ehe sie ihre Röcke lüpfte und floh. Den ganzen Weg zurück zum Herrenhaus schalt sie sich im Stillen. Niemals hätte sie zulassen dürfen, dass Lord Claybourne sie küsste! Er war eine viel zu große Gefahr für ihre Willenskraft.
Aber von jetzt an, schwor Lily sich feierlich, würde sie ihn meiden.
Sie hatte gar keine andere Wahl. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie einem Mann begegnet, der sich als unwiderstehlich erweisen könnte. Und das Klügste, was sie fortan tun konnte, war, sich so weit weg von dem gutaussehenden, betörenden, verführerischen Marquess of Claybourne zu halten wie möglich.
Ich wäre dir auf ewig dankbar, würdest du mir erlauben, Zuflucht in deiner Privatpension zu nehmen, Fanny, ist es doch mein innigster Wunsch, dass Lord Claybourne mich nicht findet.
Lily Loring an Fanny Irwin
Nachdem sie gegangen war, blieb Heath noch einige Zeit im Stall und wartete darauf, dass sein Gemüt sich hinreichend abgekühlt hatte, um in den Ballsaal zurückzukehren. Erregt, wie er war, konnte er sich unmöglich in die feine Gesellschaft begeben, denn die edle Seidenhose würde seine Verfassung allzu deutlich sichtbar machen.
Heaths Mund krümmte sich zu einem Lächeln, das schnell wieder verschwand.
Er hatte nicht beabsichtigt, was mit Lilian Loring und ihm geschehen war. Bevor sie ihn aufgehalten hatte, war er bereits drauf und dran gewesen, sie zu kompromittieren. Aber er war von ihrem Feuer verführt worden, und nun konnte er nur sich allein vorwerfen, dass er heiß und schmerzlich erregt war.
Ihn wunderte nicht, dass sie ihn anzog, obgleich er Lily heute Morgen erstmals begegnet war. Seit Monaten hörte er Berichte über die drei Loring – Schwestern, und ihn hatte nie abgestoßen, dass Marcus die jüngste als Wildfang und Hitzkopf beschrieb. Ganz im Gegenteil: Selbst die reizvollsten Damen, um die er sich bisher beworben hatte, schienen so tödlich langweilig, dass er sogleich Feuer fing, als er sich der geistreichen, unkonventionellen Lily gegenüber fand.
Marcus hatte Recht. Sie war eine Schönheit. Und fraglos einzigartig. Auch wenn Heath es nicht erwartet hatte, war er verzaubert.
Nach längerer Zeit konnte er den Stall verlassen, aber seine Gedanken blieben bei Lilian Loring, als er den Hof überquerte und sich auf das Herrenhaus von Danvers Hall zubewegte.
Sie war ebenso beeindruckend wie ihre älteste Schwester und doch ganz anders. Ihre klaren dunklen Augen und ihr dichtes kastanienbraunes Haar sowie ihre Grazie, die an ein ungezähmtes Fohlen erinnerte, verliehen Lily eine Lebendigkeit, die seine Sinne entfachte.
Wunderschöne Augen hatte sie, dachte Heath, als er sich zur hinteren Terrasse aufmachte, von der aus er direkt in den Ballsaal zurückgelangte.
Und ihr Mund war reinste Sünde. Er wusste sehr wohl, wie ihr Körper sich unter dem Ballkleid anfühlen würde …
Bei der Erinnerung daran überkam Heath prompt eine neue Welle der Erregung.
»Verflucht noch eins!«, brummte er, während er die Stufen zur Terrasse hinaufstieg. »Du solltest deine Lust zähmen, ehe du noch etwas Unangemessenes mit ihr anstellst!«
Teufel nochmal, er konnte nicht leugnen, dass er Lilian Loring begehrte!
Zugegeben, was ihn am meisten zu ihr hingezogen hatte, war ihr Lachen gewesen. Er hatte er erstmals am Morgen gehört, als er mit Marcus und Drew vor der Kirche auf die Brautfamilie wartete.
Mit ihren Schwestern war sie in der offenen Barouche vorgefahren, und gleich war ihm ihr warmes wunderschönes Lachen aufgefallen; auch später beim Hochzeitsempfang war es während ihrer lebhaften Unterhaltung mit ihren Freundinnen Fanny Irwin und Miss Tess Blanchard häufiger melodisch erklungen. Und vor kurzem dann hatte er ihr verzücktes leises Lachen gehört, als sie mit den Katzenjungen sprach.
Lachen war Heath wichtig. Es hatte seine Kindheit geprägt, den besten, wesentlichen Teil von ihr bestimmt – bis er mit zehn Jahren seine Mutter verlor. Seither hatten seine Freunde Marcus und Drew in der gemeinsamen Zeit in Eton und Oxford sowie in den Jahren danach Heaths Leben mit Lachen erfüllt. Nun jedoch war Marcus verheiratet, wodurch sich alles ändern würde …
Heath verdrängte den finsteren Gedanken und dachte lieber wieder an Lily Loring, während er über die Terrasse ging. Es war nur natürlich, dass er ihr Lachen mochte. Außerdem gefiel ihm ihre Offenheit.
Seiner Erfahrung nach war eine solche Ehrlichkeit bei Damen jeder Couleur eher ungewöhnlich. Nach all den mal mehr, mal weniger gezierten Annäherungsversuchen von Debütantinnen, denen Heath bereits ausgesetzt gewesen war, hatte Lilys direkte Art etwas herrlich Erfrischendes.
Ihre Ablehnung hingegen war vollkommen unerwartet gekommen. Weibliche Gleichgültigkeit war Heath bisher fremd. Kühne Verführung und hartnäckiges Nachstellen waren ihm weit geläufiger.
Sein offenkundiges Desinteresse an der Ehe hatte die Damen nie davon abhalten können, sich in ihn zu verlieben. Vielmehr stellten sie ihm in Scharen nach, was größtenteils seinem Talent geschuldet sein durfte, ihre Sehnsüchte zu befriedigen …
ENDE DER LESEPROBE