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Eine neue Stadt, eine neue Schule ... Die 16-jährige Scarlett ist nicht begeistert von diesen Aussichten. Doch zu ihrer eigenen Überraschung findet sie schnell Freunde, mit denen sie auch auf das Schulkonzert geht, das Ereignis des Jahres! Denn dort tritt die Band "Dead Stones" auf. Als der Bassist die Bühne betritt und sie in seine eisblauen Augen blickt, die sie aus der Menge geradezu herausgesucht zu haben scheinen, ist es um sie geschehen. Doch ein Freund warnt sie vor diesem geheimnisvolllen Mikael und seiner Band. Ein Mord und ein Wesen mit feuerigen Augen kommen dazwischen - und unvermittelt verschmelzen Liebe, Tod und Angst miteinander ...
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Seitenzahl: 423
BARBARA BARALDI
SCARLETT - DIE LIEBE HAT AUGEN WIE EIS, DER TOD HAT AUGEN WIE FEUER ROMAN
Übersetzung aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der italienischen Originalausgabe: »Scarlett. L’amore ha occhi di ghiacco, la morte di fuoco.«
Für die Originalausgabe: Copyright © 2010 by Arnoldo Mondadori Editore S.p.A., Milano
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2011 by Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Christina Neiske, München Einband-/Umschlagmotiv: © 2010 Arnoldo Mondadori Editore S.p.A., Milano; Graphic design by Eleonora Bassi; Frames by Michele Frigo E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-1148-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für dich,
mit einer gebrochenen Rose
hast du
mein Leben
verändert
Strömender Regen. Die Nacht umhüllt mich mit ihrem dunklen Samtmantel. Ich habe mir die Kapuze meines Sweatshirts tief in die Stirn gezogen und fühle mich wie ein triefnasser, in Tränen aufgelöster Streuner. Zweifel und Angst quälen mich: Ich habe keine Ahnung, was ich glauben soll, wem ich glauben soll. Ich zittere, aber nicht nur der Kälte wegen. Meine Gefühle entladen sich stoßweise, so wie die Blitze, die immer wieder den Himmel durchzucken.
Der Park wirkt, als stamme er direkt aus einem Albtraum. Die gespenstischen Silhouetten der Bäume, die undurchdringliche Schwärze, die die Umrisse des Gebäudes verschluckt. Eine Weile bleibe ich wie gelähmt stehen, ich hatte nicht erwartet, die Tür angelehnt vorzufinden. Auf Zehenspitzen bewege ich mich vorwärts. Und ehe ich es wirklich merke, bin ich schon hineingegangen. Der glänzende Marmorboden reflektiert matt mein Spiegelbild. Jetzt wird mir klar, was für einen schrecklichen Fehler ich begangen habe. Ich sollte nicht hier sein, aber dennoch balle ich die Fäuste und gehe weiter. Ich muss Klarheit gewinnen, ich brauche Antworten.
Das Handy, Scarlett, los, hol es schon raus!
Ich nehme es in die Hand, den Finger auf der Taste mit der Notrufnummer. Wie in Trance folge ich einem Geräusch, das mich zu der Wendeltreppe am Ende des Ganges führt.
Ein Donner, dann erhellt ein Blitz die Nacht. Wie das Blitzlicht einer Kamera. Ich kann meinen Schrei nicht aufhalten. Mein Herz rast wie ein außer Kontrolle geratener Zug.
Ich taste mich an der Wand entlang und suche nach dem Schalter. Und da steht er vor mir.
Gierige rote Augen wie die eines Raubtiers. Sie gehören zu einer dunklen, mindestens zwei Meter großen Schattengestalt. Sie versucht mich zu packen, aber ich weiche aus, fange an zu rennen. Ich schreie, und es fühlt sich an, als würde man mir mit Schmirgelpapier die Kehle streicheln.
Ich keuche, schaue zurück, sehe den Schatten nicht mehr. Vielleicht habe ich ihn ja abgehängt.
Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende bringen kann, steht er vor mir.
Ich versuche zu flüchten, stolpere und knalle mit den Handflächen auf den Marmorboden. Ein stechender Schmerz. Das Handy schlittert einige Meter weg. Keine Zeit, es aufzuheben. Ich stehe auf, rutsche wieder aus und schlage mir das Knie auf.
Die dunkle Gestalt ist jetzt über mir. Weil es so dunkel ist, kann ich das Gesicht nicht genau erkennen. Nur die Augen, die wie Blutstropfen glänzen. Der Schatten holt sofort aus und schlägt mich, ein brutaler Hieb. Ich fliege ein paar Meter weg wie eine schlaffe Gliederpuppe. Der Schmerz raubt mir den Atem.
Ich lande krachend an einer Wand und sinke mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Ich huste, in meiner Brust fühle ich stechende Schmerzen. Ich beiße die Zähne zusammen und stehe auf, aber das hilft nichts. Der Schatten ist schon vor mir. Seine Hand schließt sich wie eine Zange um meinen Hals und hält mich an der Wand fest. Seine Berührung ist kalt wie Stahl, und vom stechenden Geruch seiner Haut tränen mir die Augen.
Ich strampele mit den Füßen, kratze, trete um mich. Alles umsonst. Ich kann nicht mehr atmen. Der stählerne Griff seiner Hand, die meine Kehle gepackt hält, wird immer enger. Schmerzhaftes Röcheln. Ich bereite mich darauf vor, mich vom Leben zu verabschieden, mit einem letzten flüchtigen Blick auf den schwarzen Himmel, der fast vollständig hinter einem dichten Regenvorhang verschwindet. Ein salziger Tropfen löst sich von meinen Wimpern und rinnt zu den Lippen herab.
»Mikael«, flüstere ich.
Der Sommer hat sich davongemacht wie ein wunderschöner Schmetterling mit bunten Flügeln. Gerade noch hatte er sich auf der Blüte meiner Erinnerungen niedergelassen, und schon ist er weitergeflattert. So, nun ist er also gekommen, der schicksalhafte erste Tag in der neuen Schule. Mein Herz klopft ununterbrochen, meine Gefühle sind gemischt. Letztes Jahr um die gleiche Zeit bin ich geradezu vor Vorfreude geplatzt, schließlich sollte ich gleich meine Klassenkameraden wiedertreffen, darunter Manuela, die den Sommer am Meer verbracht hatte und nur darauf wartete, mir ihre spannenden, manchmal auch pikanten Erlebnisse zu erzählen, und Matteo, meinen besten Freund. Oder vielleicht war er auch viel mehr als das. Dieses Jahr dagegen bin ich absolut panisch. Vor mir liegt ein kompletter Neubeginn, ich muss bei null anfangen. Ich wasche mir das Gesicht mit der flüssigen Heidelbeerseife, und aus dem Spiegel blickt mir jemand entgegen, dem man die schlaflose Nacht nur zu deutlich ansieht. Ich kneife die Augen zusammen und versuche in dem Repertoire meiner Gesichtsausdrücke einen zu finden, der Entschlossenheit demonstriert. Doch dabei kommt nur eine klägliche Grimasse heraus, also schnappe ich mir meine Bürste und striegele damit energisch meine Haare. Ich werde diesen Tag mit hocherhobenem Kopf beginnen und versuchen, meine Ängste und meine Traurigkeit zu kontrollieren, die mich ab und an zu überwältigen drohen. Cremona ist weit weg, und damit alle meine alten Lehrer, die ich schon so gut kannte, dass sie mir nicht mehr viel Angst machten. Manuela mit ihren guten Ratschlägen ist ebenfalls weit weg und Matteo mit seinen Blicken, es ist einfach alles weit weg, was ich bis heute als mein »Zuhause« betrachtet habe.
Der Umzug war anstrengend, und vor allen Dingen kam er so überraschend. In dem einen Moment denke ich noch darüber nach, wie wohl die Sommerferien werden und was in den letzten Schultagen Aufregendes passiert ist. Und im nächsten erfahre ich, dass mir ein Umzug mit all seinen Konsequenzen bevorsteht.
»Warum habt ihr mir das nicht früher gesagt? Jetzt kann ich mich nicht mal mehr von meinen Schulfreunden verabschieden … Ich gehöre auch zur Familie, falls euch das noch nicht aufgefallen ist!«
»Schatz, versuch das doch zu verstehen. Wir haben dir nichts erzählt, um dich nicht zu beunruhigen. Ich weiß doch, wie du dir alles zu Herzen nimmst, und ich wollte nicht, dass sich das auf deine schulischen Leistungen auswirkt, vor allem jetzt am Ende des Schuljahres«, meinte Arrigo, mein Vater. Wenn ich sauer auf meine Eltern bin, nenne ich sie immer beim Vornamen.
Ich habe versucht, ihnen zu erklären, warum ich auf keinen Fall Cremona verlassen kann, vor allem nicht jetzt. Dabei dachte ich in erster Linie an Matteo und diesen flüchtigen Kuss im Physiksaal wenige Stunden zuvor. Aber die Entscheidung war schon gefallen, und ich musste mich damit abfinden.
»Du kannst dich doch jeden Tag mit deinen alten Schulfreunden unterhalten, wenn du willst. Am Telefon oder übers Internet.«
Was weiß mein Vater schon übers Internet?
»Scarlett, mir ist klar, dass es für dich hart sein wird, dich in einer neuen Stadt einzuleben, aber du wirst sicher schnell neue Freunde finden«, hat er gesagt und mich mit seinen großen blauen Augen angesehen. Da spürte ich auf einmal so ein ziehendes Gefühl in der Magengegend, das ich gar nicht weiter beschreiben könnte. Ich hätte ihm zu gern gesagt, wie frustriert ich mich fühlte, aber die Worte dafür kamen mir einfach nicht über die Lippen.
Es fällt mir nie leicht zu beschreiben, was ich gerade empfinde, und genauso wenig kann ich meine Gefühle zeigen. Wut oder andere Emotionen übermannen mich einfach, und dann steigen mir die Tränen in die Augen, es genügt ein einziges Wort, und ich fange unweigerlich an zu heulen. Und weil ich nicht in Tränen ausbrechen möchte, breche ich das Gespräch lieber ab und hülle mich in trotziges Schweigen.
»Scarlett, beeil dich, sonst kommst du zu spät!«, ruft mir meine Mutter von unten zu und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Ich stöhne laut und werfe den x-ten kritischen Blick in den Spiegel. Was stimmt denn bloß an mir nicht? Glatte blonde schulterlange Haare. Gut, die Spitzen sind ein bisschen gespalten. Manchmal sind meine Haare eben etwas empfindlich. Ich fahre mir über das Muttermal über der Oberlippe. Ein Erbe meiner englischen Großmutter.
Alles völlig normal, ich bin einfach zu normal, das ist das Problem. Vielleicht sollte ich mir die Haare färben, denn wenn ich schlecht drauf bin, kommen sie mir eher mausgrau vor als aschblond. Einfach mal ein hübsches Feuerrot wie die Tönung, mit der Manuela letztes Jahr nach den Ferien in die Schule gerauscht ist. Alle haben sie bewundert. Ich könnte mir auch einen Stufenschnitt zulegen und sie tiefschwarz färben. Dann kämen meine blauen Augen bestimmt auch besser zur Geltung: Sie sind so groß wie die meines Vaters, aber mit grauen Einsprengseln und …
Die Badezimmertür öffnet sich sperrangelweit, und Marco, mein kleiner Bruder, kommt hereingeschossen. »Machst du mal voran? Da hilft sowieso nichts mehr, du bist und bleibst hässlich!«, zieht er mich auf. Er springt einen Schritt auf mich zu, reißt mir die Bürste aus der Hand und streckt mir die Zunge heraus, dann dreht er sich um und rennt davon.
»Komm her, dann bist du dran!«, schreie ich und verfolge ihn die Treppe hinunter. Er lacht und rennt in die Küche. Bevor ich nachkomme, werde ich langsamer und überkreuze abergläubisch die Finger, ich hoffe, dass meine Mutter wenigstens heute einmal gut gelaunt ist. Das wäre allerdings ein Wunder.
»Guten Morgen«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. Marco sitzt jetzt an seinem Platz neben dem Fernseher, aber von meiner Bürste keine Spur. Sicher versteckt er sie unter dem Tisch. Ich sehe ihn betont gleichgültig von oben herab an, woraufhin er mir eine seiner Grimassen schneidet. Mein Platz ist am Fenster. Von dort kann ich die Welt da draußen und die kaum wahrnehmbaren Bewegungen eines großen, einzeln stehenden Baumes beobachten, der seine Äste wie Arme nach oben streckt, als würde er sich ergeben. Ich denke darüber nach, dass ich mich genauso fühle.
»Wie siehst du denn aus? Ich dachte, du wolltest einen guten Eindruck bei deinen neuen Schulkameraden hinterlassen und wenigstens am ersten Schultag einigermaßen passabel aussehen. Siehst du nicht, dass dieses T-Shirt total ausgeblichen ist?« Mama wirkt so gehetzt wie immer. Sie lässt mir nicht einmal die Zeit, etwas darauf zu erwidern, schon fügt sie hinzu: »Jetzt muss ich doch wirklich mal deine Anziehsachen durchsehen. Du würdest ja nie etwas wegschmeißen, genau wie deine Großmutter.« Ich muss wohl nicht extra betonen, dass sie und Oma Evelyn, die Mutter meines Vaters, sich nie so recht vertragen haben. Meine Großmutter lebt von Erinnerungen, und jeder Gegenstand verkörpert eine für sie.
»Das T-Shirt habe ich letztes Jahr an meinem ersten Schultag getragen. Ich … hatte nur gehofft, dass es mir Glück bringt, das ist alles«, murmele ich. Ich schütte mir Milch und Müsli in meine Schüssel und esse mit Appetit. »Außerdem hast du es falsch gewaschen, mit deinem Spleen, dass alles bei 60 Grad in die Maschine muss.«
»Sprich nicht mit vollem Mund!«
»Außerdem ist Vintage dieses Jahr total in.« Gleich geht sie ab …
»Mach, was du willst, Scarle-tt.« Bingo! Wenn meiner Mutter der Geduldsfaden reißt, betont sie die zwei »t« am Ende meines Namens immer wie eine Drohung: Scarle-tt. Ich kann leider nicht auf dieselbe Tour kontern: Sie heißt Simona.
Ich mag meinen Namen, obwohl ich mich erst an ihn gewöhnen musste. Scarlett hieß meine Urgroßmutter. Ich habe sie nie kennengelernt, aber Oma Evelyn sagt, dass sie mir sehr ähnlich war und dass sie so gern eine Enkelin gehabt hätte, um ihr Geschichten aus ihrem langen Leben zu erzählen, Geschichten wie aus einem Roman. Als ich auf die Welt kam, war sie gerade erst ein paar Monate tot, verloschen wie eine Kerze, die von einem Leben voller turbulenter Liebesabenteuer verzehrt wurde. Ich stelle sie mir ein wenig wie eine Gothic Lady im Ruhestand vor, stets in schwarzen Kleidern und mit den extravaganten Schleiern über dem Gesicht, die sie auf den Fotos trägt.
Selbstverständlich hat sich Simona mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, dass ich, eine hundertprozentige Italienerin, einen so exotischen Namen tragen sollte. Aber mein Vater kann sehr überzeugend sein. So wie ich ihn kenne, hat er sie bestimmt darauf aufmerksam gemacht, dass wir dann den gleichen Anfangsbuchstaben hätten. Wie auch immer, letzten Endes hat meine Mutter akzeptiert, dass ihre Erstgeborene einen Namen wie ein Hollywoodstar tragen würde.
»Und Papa?«
»Der ist schon vor einer Stunde weg.«
Seit wir nach Siena gezogen sind, macht mein Vater fast jeden Tag Überstunden und kommt gerade noch zum Schlafen nach Hause. Ich denke, so was ist wohl normal, wenn man einen neuen Job übernommen hat, zumal einen mit viel Verantwortung. Also übe ich mich in Geduld, obwohl ich eigentlich Ruhe bräuchte. Aber wenn Simona so gereizt ist und sich wegen nichts und wieder nichts aufregt, ist das gar nicht so einfach.
Die wichtigste Eigenschaft meiner Mutter ist ganz klar ihre Entschlossenheit. Die jedoch ganz schnell in Aggressivität umschlagen kann. Sie ist einen Meter sechzig groß und trägt einen Pagenkopf in ständig wechselnden Tönungen. Sie ist Friseurin mit Leib und Seele, und vor ein paar Jahren hat sie es endlich geschafft, ihren eigenen Salon aufzumachen, wobei sie ein außergewöhnliches Organisationstalent bewiesen hat. Ich kann mir schon vorstellen, dass es ihr schwergefallen ist, ihn aufzugeben! Für sie bedeutete der Umzug nach Siena, dass sie auf alles verzichten musste, was sie sich mühsam in langen Jahren aufgebaut hatte. Jetzt sind ihre Haare schokobraun, aber ich möchte wetten, dass sie in ein paar Wochen mit einer neuen Farbe nach Hause kommt, ganz bestimmt irgendetwas Auffallenderes. Meine Mutter liebt leuchtende Farben, trotz ihrer schmalen Lippen trägt sie immer einen Hauch feuerroten Lippenstift.
»Dann gehe ich mal.« Ich stehe auf und schnappe mir meinen Schulrucksack.
»Ciao«, sagt sie zerstreut.
Mein kleiner Bruder Marco springt auf und läuft zu mir, um mir einen Kuss auf die Backe zu geben, in der einen Hand den milchverschmierten Löffel und in der anderen die Bürste, die er mir stibitzt hat.
»Ciao, du kleiner Frosch«, murmele ich.
Er verzieht schmollend den Mund. »Ich hab ein bisschen Angst vor dem ersten Schultag«, meint er leise.
»Du bist doch jetzt ein großer Junge. Wird schon alles gut gehen.« Wenn er wüsste, dass ich mich mehr fürchte als er, würde er mich bestimmt nicht mehr als sein leuchtendes Vorbild ansehen.
»Und wenn es mir nicht gefällt?«, fragt er und starrt auf seine Schuhspitzen.
»Dir wird es supergut gefallen, und du wirst jede Menge neue Dinge lernen.«
»Okay«, brummt er und setzt sich wieder an den Tisch.
Ich atme einmal tief durch und gehe dann nach draußen, wo die toskanische Herbstsonne mich mit einer Kraft küsst, die ich nicht gewohnt bin.
»Wird schon alles gut gehen«, wiederhole ich leise und durchquere mit großen Schritten den Garten.
Das Haus, in das wir gezogen sind, ist so anders als unsere Wohnung in Cremona. Es ist sehr geräumig, wirkt aber irgendwie düster, mit großen Fenstern, die einen wie neugierige Augen ansehen. Es ist von Bäumen und merkwürdigen Büschen umgeben, die so rund sind wie Baisers. Von dem oberen Stockwerk, wo die Schlafzimmer liegen, geht ein abschüssiges Vordach aus Holzlatten ab, das sich wie der traurige zahnlose Mund einer älteren Dame über einen mit Margeriten übersäten Rasen erhebt. In den ersten Tagen nach dem Umzug habe ich mich abends oft auf dieses Holzdach gesetzt und in den Himmel gestarrt, in der Hoffnung, eine Sternschnuppe zu entdecken und mir dann etwas wünschen zu können. Ich wusste genau, was ich mir wünschen würde: nach Cremona zurückzukehren und das neue Schuljahr mit den üblichen Freunden zu beginnen. Sogar der Balboni trauerte ich nach, meiner stets strengen und ein wenig missmutigen Mathematiklehrerin, die Blondinen generell nicht ausstehen konnte, weil eine von denen ihr den ersten – und letzten – Freund ausgespannt hatte, zumindest sagte sie das immer. Ich vermisse mein Viertel mit den pastellfarbenen Wohnhäusern und den kleinen Grünanlagen, die für Hunde verboten sind. Ich vermisse Birillo, den Hund unseres Nachbarn, der jeden Morgen um zwanzig vor sieben pünktlich wie die Eieruhr losbellte, und den kleinen Balkon, auf den ich mich immer zum Lernen zurückzogen habe.
Hier in der Toskana dominiert die Natur, es herrscht eine unnatürliche Stille, die nur von den nächtlichen Geräuschen und den Lauten der Tiere unterbrochen wird, die sich in der Dunkelheit verbergen. Hinter dem Haus erhebt sich eine kleine Anhöhe mit zwei Schaukeln, von denen man auf eine Kette sanft geschwungener Hügel blickt. Auf einem von ihnen steht ein hoher schlanker Turm, den ich auch vom Fenster meines Zimmers sehen kann. Er wirkt irgendwie melancholisch und dekadent, sodass mir bei seinem Anblick Geschichten von geraubten Prinzessinnen und tapferen Rittern, die sie retten wollen, in den Sinn kommen, von Drachen und Zauberern, Hexen und sprechenden Katern. Bei Tag verliert der Turm zumindest einen Teil seines romantischen Flairs, das er in der Nacht ausstrahlt, wenn sinnliches Mondlicht ihn umschmeichelt. Ich grüße ihn mit den Augen und beschleunige meinen Schritt. Jetzt kann ich es nicht mehr vor mir herschieben: Heute beginnt ganz offiziell mein neues Leben in Siena, mit neuen Lehrern und neuen Mitschülern.
Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn mein Vater mich hingebracht hätte, aber na ja, man kann nicht alles haben. Stimmt schon, die Schule ist ziemlich nah, sodass man sie auch bequem zu Fuß erreichen kann. Und Simona hat ja sogar angeboten, mich zu fahren, aber wenn ich das angenommen hätte, wären wir uns bloß wieder in die Haare geraten. Irgendwie kommt mir das wie ein schlechtes Omen vor – dass ich mich diesem neuen Abschnitt meines Lebens so ganz allein stellen muss, jagt mir Angst ein. Aber dann sage ich mir, dass ich schließlich schon in der elften Klasse bin und auf eigenen Füßen stehen kann. Da ist es ja auch schon, mein neues Gymnasium, es heißt San Carlo, weil es auf den Ruinen eines gleichnamigen Klosters erbaut wurde. Eine Privatschule mitten in einem Park mit uralten Bäumen. Ich muss zugeben, als ich zum ersten Mal dort hinkam, war ich schon ziemlich beeindruckt, allerdings hatte ich auch eine leichte Gänsehaut.
Ich rücke die Träger meines Rucksacks rechts und links auf meinen Schultern zurecht. Noch nie habe ich mich so uncool gefühlt. Wahrscheinlich bin ich in ganz Italien, ach, was sag ich da, auf der ganzen Welt die Einzige, die ihren Schulrucksack noch auf diese Weise trägt. Und das bloß wegen meiner Grundschullehrerin und ihren Vorträgen über die Folgeschäden von falscher Haltung, außerdem hatte ich als kleines Mädchen eine leichte Rückgratverkrümmung. Mein Rücken ist mir wichtig! Selbst wenn mir das vor meinen Mitschülern leicht peinlich sein sollte. Aber vielleicht bemerken sie es nicht einmal. Oh mein Gott, mir wird klar, dass mir bloß Unsinn durch den Kopf geht. Ich streiche meine Haare hinter die Ohren und suche wieder nach dem entschlossenen Gesichtsausdruck, den ich schon heute Morgen vor dem Spiegel nicht finden konnte.
Wie gern wäre ich selbstsicherer und würde die Klasse mit einem breiten Lächeln auf den Lippen betreten, den Kopf hoch erhoben und mit kerzengeradem Rücken, auch ohne die Hilfe meines Rucksacks. Stattdessen schaue ich auf den Boden, lege viel (zu viel?) Wert auf das Urteil anderer und halte mich für eine unbedeutende graue Maus.
Ich bin da. Ein kleiner Spaziergang am frühen Morgen war genau das Richtige, um meine Nerven zu beruhigen. Aber wen will ich damit täuschen? Ich bin angespannt wie ein Flitzebogen und habe ein flaues Gefühl im Magen. Plötzlich habe ich meinen Platz in der Bankreihe in Cremona vor Augen, der dieses Jahr leer bleiben wird, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich schlucke einmal heftig und schaue nach oben, um sie zurückzudrängen. Komm schon, Scarlett!
Der Schulhof ist voller Schüler, fremde Gesichter, die einander überlagern. Ein großes Durcheinander, Geschrei und Gelächter. Freunde, die sich nach den Sommerferien zum ersten Mal wiedersehen, und ein paar Eltern von Schülern im ersten Jahr, die ihre schüchternen Sprösslinge bis zur Haupttreppe begleiten. Ich gehe zu den Aushängen in der Eingangshalle. Ich bin in der Elf Z, Zett wie Zorro, der Held mit der Maske. Und was bin ich? Eine unbeholfene Heldin ganz ohne Maske oder Ruhm. Ich schiebe mich durch eine verschlafene Schülermasse zu den Treppen, die in den dritten Stock hinaufführen. In einem mir noch unbekannten Klassenraum im linken Flur wird mein neues Leben beginnen.
Ich blicke nach unten, sodass meine Haare mein Gesicht bedecken wie ein Schild, hinter dem ich mich verstecken kann. Ich halte mich am Handlauf fest und nehme immer zwei Stufen auf einmal, mit der anderen Hand umklammere ich meinen Glücksbringer. Früher oder später werde ich mich wohl entschließen, ihn ganz nach hinten in eine Schublade zu verbannen, ich bin schließlich kein Kind mehr. Aber noch ist es nicht so weit, und heute spüre ich mehr denn je das Bedürfnis, meine Hand um die mir so vertraute Sternenkugel zu schließen. Eigentlich ist es nur ein ganz gewöhnlicher Gummiball, ein Flummi von der Sorte, die extrem hoch springen, wenn man sie kräftig auf den Boden wirft. Gewöhnlich für andere, aber nicht für mich.
»Wenn es dir schlecht geht oder wenn du traurig bist, drück diese Kugel ganz fest. Das ist dann so, als würdest du die Sterne berühren, das ist dein ganz persönlicher Himmel in Griffweite, der alles viel klarer erscheinen lässt«, hat mir Oma Evelyn an jenem längst vergangenen Tag gesagt, als sie sie mir feierlich überreichte. Damals muss ich sechs Jahre alt gewesen sein, nicht viel älter, meine verstrubbelten blonden Haare verfilzten sich in den Spitzen, und ich blickte mit zwei riesigen Augen neugierig auf die Welt. Mein Monat Ferien in London ging zu Ende, und es war der Moment gekommen, in dem ich Abschied nehmen musste von Oma Evelyn, von ihrem leckeren Schokoladenkuchen und ihren wunderbaren Gutenachtgeschichten. Ich habe diese durchscheinende Kugel gegen das Licht gehalten und die bunten Sterne betrachtet, die immer neue Muster bildeten, je nachdem, in welchem Winkel man sie hielt. Dann habe ich gelächelt, und plötzlich schien der Abschied mir nicht mehr so schlimm. Seit dem Moment sind meine Glücksbringerkugel und ich unzertrennlich.
Auf dem Flur biege ich links um die Ecke, wie es in dem kleinen Plan eingezeichnet war. Vergeblich versuche ich die Angst zu ignorieren, meine ständige und lästige Begleiterin.
»Pass doch auf, wo du hinläufst!«, schreit eine schrille Stimme. Jemand rammt meine Schulter, kreischendes Gelächter ertönt um mich herum, und Sally, meine Sternenkugel, fliegt mir aus der Hand. Sofort greift jemand nach ihr, und ich schaue auf.
»Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders«, sage ich automatisch. Vor mir steht ein Mädchen, das geradewegs dem Cover eines Hochglanzmagazins entstiegen sein könnte. Sie ist ungefähr zehn Zentimeter größer als ich. Hautenge Jeans und eine weiße Bluse, an der die obersten beiden Knöpfe ganz bewusst offen gelassen wurden, bringen ihre Figur eines Pin-up-Girls noch besser zur Geltung. Sie hat lange platinblonde Haare, und ihre Lippen glänzen purpurrot. Ihr strahlendes Lächeln enthüllt blendend weiße Zähne.
»Du solltest besser aufpassen, wo du hintrittst.«
»Ich habe mich doch schon bei dir entschuldigt. Könnte ich meine …«, ich verstumme. ›Meine Sternenkugel‹ zu sagen kommt mir reichlich kindisch vor, und zuzugeben, dass ich einen Glücksbringer mit mir herumtrage, ist sicher mindestens ebenso uncool. Daher beschränke ich mich darauf, einfach nur auf Sally zu zeigen, die sie mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln festhält.
»Du möchtest dein Gummibällchen wiederhaben?«, fragt Lavinia. Ihren Namen erfahre ich, weil eines der Mädchen, die um sie herumschwirren und an ihren Lippen zu hängen scheinen, sie so nennt, ehe sie laut loskichert.
Oberpeinlich! Ich sehe mich um und suche fieberhaft nach einer schlagfertigen Bemerkung, mit der ich mich aus der Verlegenheit retten könnte, doch ich sehe nur in lauter spöttische Augen. Diese Mädchen sind topmodisch gekleidet, duften nach Parfüm und sind so geschminkt, wie ich das niemals hinbekäme. Angesichts ihrer offenkundigen Perfektion fühle ich mich unwohl.
»Ja«, stammele ich verlegen.
Als Antwort wirft Lavinia Sally dem Mädchen mit den langen schwarzen Haaren zu, das neben mir steht.
»Bitte, könnte ich sie wiederhaben?« Ich versuche ruhig zu bleiben, obwohl das gar nicht so leicht ist. Meine Wangen röten sich, und meine Hände schwitzen.
Das schwarzhaarige Mädchen wirft Sally einem anderen Mädchen mit einer sorgfältig geföhnten goldblonden Mähne zu, deren Locken sich so schön einrollen und nach Vanille duften wie Zuckerkringel. Da greift ein muskulöser Arm ins Geschehen ein, schnappt sich die Kugel, und eine dunkle Männerstimme löst die gespannte Situation auf: »Lavinia, wie ich sehe, lässt du keine Gelegenheit aus, um dich in Szene zu setzen.«
»Umberto, was für eine Freude. Du hingegen lässt keine Gelegenheit aus, den Ritter für hoffnungslose Fälle zu spielen«, antwortet Lavinia, dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet, gefolgt von den anderen.
»Das hier gehört wohl dir.« Der Junge reicht mir Sally.
Schnell nehme ich die Kugel und lasse sie hinten in einer Tasche meiner Jeans verschwinden. Er hat wunderschöne schlanke Hände, das ist das Erste, was mir auffällt, auch weil ich mich noch nicht getraut habe, hochzuschauen. »Danke«, flüstere ich und hebe den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen.
Gar nicht so übel, der Typ. Breite Schultern und der drahtige Körper eines Sportlers. Er hat braune Augen und Haare und ein unwiderstehliches Lächeln. Wenn es auf seinem Gesicht erscheint, bilden sich zwei Grübchen in den Wangen, und seine Augen leuchten noch intensiver.
»Ich heiße Umberto.«
»Scarlett.« Ich schüttele ihm energisch die Hand. Meine Großmutter sagt immer, dass ein kräftiger Händedruck wichtig ist, weil einen sonst keiner ernst nimmt. Sie sagt, es sei ein Zeichen für Aufrichtigkeit und Charakterstärke.
»Du hast einen wunderschönen Namen, Scarlett. Bist du neu hier? Ich würde mich bestimmt erinnern, wenn du mir schon mal über den Weg gelaufen wärst.« Er lächelt wieder und sieht mir tief in die Augen.
Ich werde rot. »Ja. Ich bin erst vor Kurzem umgezogen. Eigentlich wäre heute mein erster Tag in der elften Klasse in Cremona, und stattdessen bin ich hier, eine Fremde in Feindesland.« Seit ich meinen geliebten Glücksbringer zurückhabe, ist mir auch wieder nach Scherzen zumute, auch wenn es mir immer noch einen Stich ins Herz versetzt, von meiner Heimatstadt zu sprechen.
»Stets zu deinen Diensten, um dir diese Gegend weniger fremd und freundlicher erscheinen zu lassen. Apropos, achte nicht weiter auf Lavinia, sie ist nun mal so. Es macht ihr Spaß, die Neuen zu quälen.«
»Kennst du sie gut?«
»Sie geht in meine Klasse. Ihr Vater ist der Ingenieur Locatelli. Der Name sagt dir nichts? Auf jeden Fall wirst du bald von ihm hören, du musst bloß in die Turnhalle gehen.«
»Ein Ingenieur, der Sportunterricht gibt?«
Umberto muss lachen. Wieder erscheinen die Grübchen, wieder denke ich, dass er wirklich gut aussieht, und wieder werde ich rot.
»Er ist steinreich. Ein Industrieller aus der Gegend, der durch bedeutende Stiftungen an die Schule hervorgetreten ist. Unter anderem hat er die Turnhalle gesponsert.«
Wir laufen nebeneinander her. Umberto ist der erste freundliche Mensch, den ich treffe, seit ich hier bin. Ich lächle vor mich hin.
»Du weißt doch sicher, dass hier früher ein altes Kloster stand? Der Grundriss der Schule ist derselbe geblieben, genauso wie die Hauptfassade. Eines der wenigen Dinge, die den Umbau überlebt haben, neben den alten Handschriften, die in der Bibliothek aufbewahrt werden, und dem uralten Park. Ach, entschuldige … Du fragst dich sicher schon, ob ich einen Reiseführer zum Frühstück verspeist habe. Das liegt daran, dass ich mich leidenschaftlich für Geschichte und Archäologie interessiere.«
»Ach was. Das ist alles sehr interessant«, stottere ich. »Ich bin nur nervös. Es ist mein erster Tag …«
»Und es wird alles super laufen. Was hast du gesagt, du bist in der elften?«
»Elf Zett.«
»Genau gegenüber von meiner Klasse. Wir werden uns wohl noch öfter sehen, Scarlett.«
Oh Mann! Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Vielleicht ist es besser, wenn ich schweige. Ja, Scarlett, halt einfach den Mund.
»Dann könntest du mir mehr über das Kloster erzählen, über die alte Bibliothek und all diese anderen interessanten Dinge.« Nein! Das hört sich jetzt so an, als würdest du ihn aufziehen.
»Ich habe dich gelangweilt, stimmt’s? Aber ich verspreche dir, dass ich beim nächsten Mal über etwas anderes reden werde.«
»Nein, ich wollte sagen, du hast mich nicht gelangweilt. Ich mag Bücher. Auch Geschichte. Also entschuldige.«
»Mach dir keinen Kopf.« Er lächelt. Und ich stelle fest, dass er nicht nur ganz gut aussieht, sondern ausgesprochen attraktiv ist.
»Erzähl mir was über Lavinia. Ist sie Mitglied des Begrüßungskomitees für die Neuen?«, frage ich, um unpassende Gedanken zu vertreiben.
»Was soll ich sagen? Sie weiß, dass sie schön ist. Sie ist reich und daran gewöhnt, immer das zu kriegen, was sie will. Abgesehen von der Tatsache, dass alle Jungs hinter ihr her sind und die Mädchen sich darum reißen, in die ausgewählte Elitetruppe der Lavinia-Girls aufgenommen zu werden.«
»Der Lavinia-Girls?«, frage ich und muss losprusten.
»So habe ich sie genannt. Sie sehen doch aus wie aus einem Hochglanzmagazin und entstammen allesamt den reichsten Familien der Gegend. Sofia, das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren, ist die Tochter des Rektors. Dann hattest du das Vergnügen, Federica kennenzulernen, die – so leid es mir tut – in deine Klasse geht, außerdem ist sie Lavinias Cousine. Und da wären wir, das hier ist dein neues Klassenzimmer.«
Die Unterhaltung mit Umberto hat mir sehr geholfen, meine Nerven zu beruhigen. Ich danke es ihm mit einem breiten Lächeln. Er winkt einem Mädchen zu, deren braune Haare von einem Haarreif gebändigt werden. Sofort scheint ihr Gesicht zu strahlen, und sie kommt auf uns zu.
»Hallo, Umberto! Wie geht es dir?«, fragt sie schüchtern.
»Nicht schlecht. Ich wollte dir eine neue Freundin von mir vorstellen, die eben erst nach Siena gezogen ist. Scarlett, das hier ist Caterina. Caterina, das ist Scarlett.« Wir reichen uns die Hände, sehen einander an und finden uns sofort sympathisch.
»Sie hatte soeben eine Begegnung der unangenehmeren Art mit Lavinia. Du kennst das ja, stimmt’s?«
»Wechseln wir lieber das Thema. Woher kommst du, Scarlett?« Wenn sie spricht, klingt sie kontrolliert und freundlich. Sie hat ein süßes Lächeln und zwei große braune Rehaugen.
»Aus Cremona«, antworte ich mit einem gezwungenen Lächeln, während in meinem Kopf wieder die Bilder von meinen ehemaligen Mitschülern auftauchen. Da läutet es, und Umberto schaut mich an und lächelt mir aufmunternd zu. »Dann viel Glück, Scarlett.«
Ich mag es, wie er meinen Namen ausspricht.
Dann wendet er sich an Caterina. »Kümmerst du dich um sie?«, fragt er augenzwinkernd.
Sie wird rot und antwortet aufgeregt: »Keine Sorge, sie ist in guten Händen.« Zwei Mädchen lächeln mir zu, während wir durch die Klasse zu den einzigen beiden leeren Plätzen laufen.
»Ist das hier okay für dich?«, fragt mich Caterina.
»Aber sicher!« Vierte Reihe, neben dem Fenster. Die toskanische Sonne küsst mich durch die Scheibe und wärmt mich. Ich werfe einen Blick nach draußen in den Park und auf die Hügel im Hintergrund. Sie sehen aus wie gestürzte Schokopuddings mit Pistazienstückchen. Ich hole meinen Kalender und mein Federmäppchen aus dem Rucksack und seufze tief. Das erste Kapitel meines neuen Lebens ist geschrieben. Ich habe zwei sehr nette Menschen kennengelernt, die ersten seit dem Umzug nach Siena. Mit ein bisschen gutem Willen wird mein Trennungsschmerz nachlassen, auch wenn der Gedanke an Matteo und das, was aus uns hätte werden können, immer noch wehtut.
Die große Pause sorgt für einen Moment Ruhe in der Hektik dieses emotionsgeladenen Vormittags. Caterina hat ihr Versprechen gehalten, das sie Umberto gegeben hatte, und sich auf jede erdenkliche Weise darum bemüht, dass ich mich wohl und angenommen fühle. Zwischen den Stunden hat sie keine Gelegenheit ausgelassen, mich neuen Leuten vorzustellen. All diese unbekannten Namen wirbeln nun durch meinen Kopf, zusammen mit den Namen der Lehrer und all den neuen Informationen, die ich noch nicht verdaut habe. Ich hoffe, dass ich mich an alle Namen erinnere und sie nicht durcheinanderbringe.
Fassen wir noch mal zusammen: Genziana ist das Mädchen mit der wilden roten Mähne. Sie hat zwei Dreadlocks, die sich in der Masse ihres karottenroten Haares verlieren. Die hat sie sich selbst mit der Häkelnadel gemacht, und sie stehen für die beiden geliebten Menschen in ihrem Leben: ihren Vater und die kleine Schwester. Nach ihrer Mutter habe ich sie nicht gefragt; da sie von sich aus nichts erzählt hat, schien mir das nicht angebracht. Sie ist sehr sympathisch und wirkt, als sei sie einem Dokumentarfilm aus den Siebzigern entsprungen: sportliche Figur, Sommersprossen über das ganze Gesicht und schmale grüne Augen. Sie spricht ebenso selbstverständlich über kosmische Energie wie über den Italienischlehrer oder eine Mathearbeit, sie ist Vegetarierin und glaubt fest daran, dass die Sterne unseren Alltag beeinflussen. Sie hat gesagt, dass mein Sternzeichen, Widder, ein Feuerzeichen ist. Vielleicht bin ich deswegen so impulsiv und starrköpfig; wenn ich an etwas glaube, dann bin ich sofort Feuer und Flamme dafür, und nichts kann mich davon abbringen. Da bin ich genauso stur wie meine Mutter, die Löwe ist, auch ein Feuerzeichen.
»Feuer und Feuer, da sprühen die Funken«, hat sie lächelnd erklärt und damit, ohne es zu wissen, bildlich die Situation zwischen meiner Mutter und mir beschrieben. Dann hat sie noch gemeint, dass Schüchternheit und die Sensibilität, die man mir anmerkt, typisch für Luftzeichen wären und bestimmt mit meinem Aszendenten zusammenhängen.
»Ich habe keine Ahnung, was mein Aszendent ist«, musste ich zugeben.
»Du kennst deinen Aszendenten nicht? Wie ist das möglich? Der Aszendent, oder auch der aufgehende Grad, ist das, was allgemein als ›erster Eindruck‹ bezeichnet wird. Der ist von grundlegender Bedeutung! Oder um es einfacher zu sagen, er entscheidet darüber, wie dich die anderen wahrnehmen. Wir müssen unbedingt deine Wissenslücken füllen!«
Sie hat mir versprochen, mir in den nächsten Tagen dabei zu helfen, ihn zu errechnen, und außerdem noch Mond, Sonne und einen Haufen anderer komplizierter Dinge, die an meinem Geburtstag »im Haus« gestanden hätten, wie sie das nennt.
Dann gibt es da noch Pietro mit dem gutmütigen Blick, groß, dick und schweigsam, und Lorenzo, den Schönling der Klasse, auch wenn er nicht mein Typ ist. Er ist Stürmer in der Schulmannschaft, hat tiefschwarze Augen und Haare und Schultern wie eine griechische Statue. Dann habe ich noch Laura kennengelernt, Loredana und schließlich Livio.
Livio ist dieses Jahr neu ans San Carlo gekommen, genau wie ich. Er ist schüchtern und hat ein paar Pickel zu viel. Seine Augen versteckt er hinter einer rechteckigen Brille, und auf den ersten Blick wirkt er wie der klassische Streber, der von den anderen nicht akzeptiert wird. Aber das ist nur ein erster, oberflächlicher Eindruck. Ich selbst würde total sauer werden, wenn man mich nur nach so einer spontanen Momentaufnahme beurteilen würde.
Livio hat sich von Unterrichtsbeginn an immer abseitsgehalten, daher habe ich ihn als Erste angesprochen, was ich normalerweise nie tue. Ich habe versucht, freundlich zu ihm zu sein, obwohl er so ein merkwürdiges T-Shirt trägt. Ständig wurden meine Augen von der Aufschrift in riesigen Großbuchstaben angezogen: I’M AN ONLY CHILD …
»Ach, du bist also Einzelkind?«, habe ich gefragt, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
Er schien überrascht und starrte mich nur mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an. Daher habe ich auf sein T-Shirt gezeigt.
»Ach so …« Er hat ein paar Sekunden überlegt und dann geantwortet: »Ja.«
»Das ist also auch dein erster Tag«, habe ich hastig weitergeredet.
»Ja.« Mein guter Wille stand in offensichtlichem Gegensatz zu seiner Unfähigkeit, eine Unterhaltung aufrechtzuerhalten. Daher habe ich aufgegeben, ihn nur noch angelächelt und den Daumen gehoben, um auszudrücken: »Das wird schon!« Darauf hat er als Antwort ebenfalls den Daumen hochgestreckt und mir den Rücken zugedreht. Erst da habe ich bemerkt, dass die Schrift auf der Rückseite des T-Shirts weiterging: … I KILLED MY BROTHERS.
Da musste ich laut lachen. T-Shirt hin oder her, ich verstehe Livio und kann mir vorstellen, wie einsam er sich fühlen muss.
Wir sitzen unter einer großen Eiche und genießen die Pause. Der Baum ist riesig und hat eine mächtige Krone, seine dicht belaubten Äste hängen tief herunter und hüllen uns ein wie ein Vorhang aus grünen Haaren. Genziana isst irgendetwas Undefinierbares aus Soja, Caterina und ich haben uns einen süßen Snack aus einem der Automaten gezogen. Meiner schmeckt gar nicht mal schlecht, er ist weich und mit Kirschmarmelade gefüllt.
»Diesen Sommer habe ich einen Jungen kennengelernt.« Genziana lächelt anzüglich, beißt sich auf die Lippen und pickt mit dem Zeigefinger die Krümel ihres Imbisses auf. »Er heißt Elia und kommt aus der Schweiz. Blond, blaue Augen, also genau mein Typ. Wir haben uns auf einem Strandfest kennengelernt, in dem Strandbad neben dem FKK-Strand.« Hier unterbricht sie ihre Erzählung und lächelt wieder so anzüglich.
»FKK? Also so ein Strand, wo man ohne …« Caterina wird rot und beendet ihre Frage nicht.
»FKK wie Freikörperkultur. Wir kommen nackt auf die Welt, und es ist nichts Schlimmes an der Harmonie eines menschlichen Körpers. Erst seine Kommerzialisierung durch die Medien führt zu einer verzerrten Wahrnehmung von Nacktheit.«
»Kann schon sein, aber ich schäme mich sogar im Badeanzug. Da muss man schon sehr selbstsicher sein, um sich so zu zeigen, wie Mutter Natur einen geschaffen hat.«
»Das kommt alles nur daher, weil alle einem perfekten Ideal nachstreben, das im Fernsehen und in den Hochglanzmagazinen präsentiert wird. Dieses Modell will die Originalität und die typischen Eigenheiten von jedem von uns einebnen, um Schönheit auf ein einziges Raster zu reduzieren: große Titten, pralle Lippen und eine kleine Nase. Und außerdem habe ich bloß gesagt, dass es in der Nähe von einem FKK-Strand war, und dann ist die Fantasie mit euch durchgegangen.«
»Meine Fantasie ist heute Vormittag schon genug strapaziert worden und hat sich daher keinen Zentimeter von der Stelle bewegt«, meine ich dazu.
Da müssen wir alle gemeinsam lachen. Genziana hat recht: Wie gern wäre ich zufrieden mit meinem Aussehen, wie gern würde ich mich voll und ganz so akzeptieren, wie ich bin, und meine Unvollkommenheiten einfach ignorieren.
»Aber jetzt wieder zu Elia. Supersüß, intelligent. Das war Liebe auf den ersten Blick. Glaubt ihr an die Liebe auf den ersten Blick?«, fragt Genziana verträumt.
»Ich glaube eher an ein Gefühl, das jeden Tag wächst, und zwar mit gegenseitiger Achtung und Respekt. Für mich muss Liebe nicht unbedingt mit Aufregung und Gefühlsstürmen einhergehen; ich sehe sie eher wie ein Nest, in dem man sich wohlfühlen kann, sicher, beschützt und geliebt«, sagt Caterina.
»Wenn es so wäre, würde das ja bedeuten, dass du dir den Mann zum Lieben mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen aussuchst.«
»Wenn ich es mir wirklich aussuchen könnte, wen ich lieben möchte, würde ich nicht ein Jahr darauf warten, von jemandem bemerkt zu werden, dem anscheinend noch nicht mal aufgefallen ist, dass ich ein Mädchen bin«, seufzt Caterina.
»Dann bist du also doch verliebt!«, ruft Genziana aus und setzt sich begeistert auf.
»Kann schon sein, aber ich werde euch niemals sagen, wer es ist! Fragt mich also erst gar nicht.« In einer komischen pantomimischen Darstellung tut Caterina so, als würde sie sich die Lippen zusammennähen.
»Oje, jetzt sind ihre Lippen versiegelt. Sie kann nicht mehr reden. Was sollen wir bloß machen, Scarlett?«, witzelt Genziana.
Ich bin froh, dass sie mich nichts zu dem Thema gefragt haben. Ich habe schweigend zugehört und gehofft, dass sie mir keine direkten Fragen stellen. Offen gesagt macht dieses ganze Gerede über die Liebe mich verlegen, ich habe kaum Erfahrungen auf dem Gebiet. Oder besser gesagt, gar keine. Und das nicht etwa, weil ich keine Gelegenheit dazu gehabt hätte. Mein Problem ist einfach, dass ich viel zu sehr an die Liebe glaube und immer warten wollte, bis ich wirklich verliebt bin, selbst für den ersten Kuss. Bis die Lage ganz vertrackt wurde.
Mit Matteo hat mich immer ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit verbunden. In Cremona war er mein bester Freund, mein Vertrauter. Wenn ich mit meiner Mutter gestritten hatte oder wenn ich Oma Evelyn zu sehr vermisst habe und in der Schule alles schiefging, wusste ich, dass ich auf ihn zählen konnte. Ein Wort oder eine Umarmung von ihm genügte, und schon kam alles wieder ins Lot. Ich weiß nicht wie viele alte Schwarz-Weiß-Filme wir uns am Nachmittag auf seinem weißen Sofa, das so weich wie eine Sommerwolke war, reingezogen haben, anstatt zu lernen. Und was haben wir für Diskussionen geführt über den Sinn des Lebens, ohne je zu einem Ende zu gelangen …
Matteo, Manuela und ich, die unzertrennlichen Freunde. »Forever friends« haben wir uns eines Tages geschworen. Wir haben unsere kleinen Finger ineinander verhakt, um unseren Schwur zu bekräftigen, und dazu aus vollem Hals eine etwas abgewandelte Version dieses wunderschönes Songs gegrölt: »Forever friends, we want to be forever friends …«
Wer weiß, ob wir trotz allem wirklich Freunde bleiben. Oder ob die Entfernung das Band zwischen uns zerreißen wird und alle Versprechungen sich auflösen wie Tränen im Regen.
Ich habe diese Szene wieder vor Augen, sie läuft wie in Zeitlupe vor mir ab. Der letzte Schultag, die letzte Stunde beendet vom letzten Klingeln. Die Schule ist aus, und die Sommerferien fangen an! Und ich habe noch keine Ahnung, was mir mein Vater ein paar Stunden später über den Umzug erzählen wird.
»Ich muss mit dir reden«, hatte Matteo gesagt.
Wir warteten, bis unsere Mitschüler und ihr fröhliches Stimmengewirr verschwunden waren. Dann war der Physiksaal leer, und wir standen ganz allein zwischen Messgeräten und Reagenzgläsern, den stummen Zeugen von etwas, das ich niemals erwartet hätte.
»Was hast du mir denn so Wichtiges zu sagen? Hast du dich als freiwilliger Entwicklungshelfer für Afrika gemeldet, oder hast du dich endlich entschieden, per Anhalter durch ganz Europa zu trampen?«, fragte ich. Doch dann erstarb das Lächeln auf meinen Lippen, als ich seinen ernsten, beinahe besorgten Gesichtsausdruck sah.
»Ich glaube, dass ich mich in dich verliebt habe.«
Ich stand wie vom Donner gerührt da und brachte kein Wort heraus. Er kam näher und hielt wenige Zentimeter vor meinen Lippen inne. Ich stand immer noch völlig reglos da, vollkommen unfähig zu reden, ja sogar zu atmen. Ja, ich habe tatsächlich die Luft angehalten, bis seine Lippen sich sanft auf meine legten. Ein hingehauchter Kuss, wie eine schüchterne Liebkosung.
»Denk darüber nach …«, sagte er. Dann verließ er den Raum und ließ mich zwischen Zweifeln und Ungewissheit, zwischen Thermometern und Messgeräten stehen.
In mir ging alles durcheinander. Matteo war immer mein bester Freund gewesen, fast wie ein großer Bruder, auch wenn er bloß ein paar Monate älter ist als ich. Sein plötzliches Geständnis so kurz vor dem Umzug war wie ein Tiefschlag des Schicksals, und auch heute kann oder will ich meine Gefühle nicht näher analysieren. Deshalb habe ich gar nicht mehr versucht, mit ihm zu reden. Nicht mal am Telefon. Er genauso wenig, vielleicht fühlte er sich zurückgewiesen oder es war ihm peinlich. Es ist also dabei geblieben, bei diesem Moment im Physiksaal, und seitdem herrscht Funkstille. Ich habe Manuela gebeten, ihm zu sagen, dass ich umgezogen bin. Ich weiß, manchmal bin ich einfach feige.
»Scarlett, bist du da?« Das ist Genziana.
Ich schüttele die Betäubung ab. »Entschuldigt, ich war … in Gedanken woanders.«
»Gib’s zu, du hast dich so darüber gefreut, dass du dir nicht mehr Caterinas Geschwätz anhören musst, dass du ganz in die meditative Betrachtung der Stille versunken bist!«
Caterina geht auf diese Spitze gar nicht weiter ein, sie hebt nur stumm die Hände und verweist darauf, dass ihre Lippen versiegelt sind.
»Hallo Mädels! Na, amüsiert ihr euch?«, mischt sich Umberto von hinten in unser Gespräch, und Caterina, die hier nicht mit ihm gerechnet hatte, wird auf einmal rot wie eine Tomate. »Na klar! Und du?«, flötet sie.
»Ja, alles super, sieht man das nicht?«
»Waren deine Lippen nicht gerade noch versiegelt?«, stichelt Genziana.
Caterina tut so, als hätte sie nichts gehört, und schlägt die Beine sittsam übereinander.
»Und Cat, ist Mathe für dich immer noch Ansichtssache?«, fragt Umberto und zeigt dazu sein schönstes Lächeln.
Caterina stammelt: »Nach deinen Nachhilfestunden bin ich deutlich besser geworden.«
»Gut. Dann kann ich ja, wenn sich meine Zukunftspläne zerschlagen, immer noch eine Karriere als Privatlehrer anstreben.«
»Und du kannst immer auf eine treue Kundin zählen«, sagt Genziana.
Caterina kneift sie in den Arm.
»Scarlett, möchtest du gern noch weitere ›Wunder‹ von San Carlo besichtigen? Sagen wir … morgen in der Pause?«
Da mich Umbertos Vorschlag unvorbereitet trifft, werde diesmal ich rot. »Okay«, sage ich.
Zum Glück ertönt jetzt die Klingel und erlöst mich aus der Verlegenheit. Umberto verabschiedet sich von uns, und wir drei gehen Richtung Klasse. Caterina ist wieder schweigsam geworden.
Unterrichtsschluss! Ich brauchte dringend Ruhe, daher habe ich mich hierhin geflüchtet. Ich wandere umher und schaue mich begeistert um. Bücher. Berge von Büchern oder besser gesagt, jede Menge Bücherregale, die Gänge bilden, in denen die Werke nach einem wissenschaftlichen System geordnet sind. Das reinste Paradies. Lesen ist meine Flucht, nur zu gern verschwinde ich in unbekannte Welten, Abenteuer und Gefühle. Nach einem wütenden Streit mit meiner Mutter, nach einer großen Enttäuschung oder wenn ich mich einfach ohne erkennbaren Grund so fühle, als würde mir ein Stückchen aus dem Herzen fehlen, dann flüchte ich mich in ein Buch. Das war schon immer so.
Oma Evelyn mit ihren Gutenachtgeschichten hat mir beigebracht, Geschichten zu lieben, die man Seite an Seite mit ihrem Helden durchleben kann. Ganz egal, ob Liebes-, Abenteuer- oder Gruselgeschichten. Es zählt nur, dass man der Realität entfliehen kann. Manchmal nur für kurze Augenblicke, manchmal für lange Stunden, die ganz allein mir gehören und mich untrennbar mit demjenigen verbinden, der sich diese Geschichte ausgedacht hat, und mit der Figur, die sie in dieser Welt aus Papier und Träumen erlebt hat und dort für immer leben wird.
Ich habe noch nie eine so gut bestückte Bibliothek gesehen. Von englischer Literatur über die des Mittleren Orients, Bücher in Übersetzung oder in der Originalsprache, Fachbücher und Belletristik mit einer ganzen Thriller-Abteilung. Oma würde ausflippen. Sie liebt Krimis, meist weiß sie schon nach den ersten paar Seiten, wer der Täter war. Keine Ahnung, wie sie das macht.
Ich gehe durch den langen Gang aus hell gemasertem Marmor, auf dem in Abständen schwere Tische aus Nussbaumholz stehen, an denen Schüler sitzen, die still lesen.
Stille, was für ein schönes Wort. Vor allem, nachdem so viele Eindrücke auf mich eingestürmt sind.
Ich gelange in einen kleinen Raum, in dem ein DVD-Player steht. Unglaublich, es gibt sogar Nightmare before Christmas, den Film, aus dem ich den Namen für meinen Glücksbringer habe, Sally. Mir wird bewusst, dass ich über das ganze Gesicht strahle wie ein kleines Kind.
Als ich wieder in den Hauptgang zurückkehre, möchte ich am liebsten über den glänzenden Boden schlittern wie auf einer Eislaufbahn. Von hier aus kann ich die gesamte Bibliothek überblicken, und ich stelle fest, dass es ein weiteres Stockwerk mit einer Galerie gibt. Dort oben sind noch mehr Bücher, sie werden in Bücherschränken aus Massivholz mit Intarsienarbeiten aufbewahrt, die aus einem Gemälde des neunzehnten Jahrhunderts stammen könnten. Eine Wendeltreppe führt nach oben. Ich gehe durch einen engen Gang, der zwischen zwei Regalen hindurchführt, die von den Vertretern der Aufklärung überwacht werden. Ich lese einige Titel auf den Buchrücken, die an die Vernunft appellieren und gemahnen, aus dem metaphorischen Dunkel der Unwissenheit zu treten. Auf diese Weise nähere ich mich der Treppe. Doch leider ist der obere Bereich off-limits. Ein rotes Samtband, das von einem Ende zum anderen gespannt ist, versperrt den Zugang. Und als würde das nicht genügen, hängt da auch noch ein handschriftliches Plakat: ZUTRITT VERBOTEN. Deutlicher kann man es wohl nicht ausdrücken …
Was ist wohl so Besonderes an den Büchern, dass sie dort oben aufbewahrt werden? Ich versuche, einen Blick auf sie zu erhaschen, als eine Stimme hinter mir ertönt und mich zusammenfahren lässt.
»Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß; mit dem Wissen wächst der Zweifel.«
»Goethe!«, rufe ich begeistert aus.
»Ich verneige mich vor Ihrer Bildung, Mademoiselle«, sagt der Unbekannte, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit leicht gebeugtem Gang. Die randlose Brille auf seiner Nase kann das Funkeln seiner meerblauen Augen nicht verbergen. Er trägt ein blassgelbes Hemd und eine lachsfarbene Fliege um den Hals. Sein silbergraues Haar und die tiefen Falten in seinem Gesicht bilden einen Gegensatz zu dem kindlichen Lächeln, das seinen Ausdruck belebt.
Er ist mir auf den ersten Blick sympathisch, und so gebe ich freimütig zu: »Eigentlich hat das gar nichts mit Bildung zu tun. Vor ein paar Jahren hat mir meine Großmutter ein Buch mit Aphorismen geschenkt. Die habe ich auswendig gelernt für peinliche Momente. Wenn man schüchtern ist, ist es nämlich gar nicht leicht, im passenden Moment immer den richtigen Spruch parat zu haben.«
Er biegt sich vor Lachen.
»Edoardo, Bibliothekar aus Leidenschaft«, stellt er sich vor, nachdem er seine Fassung wiedererlangt hat. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis«, fährt er bedeutungsvoll fort. »Ich bin fast so alt wie die Bücher, die im ersten Stock aufbewahrt werden.«
»Ach, genau, die Bücher. Kann man die nicht einsehen?«
»Oh nein, dafür braucht man eine Genehmigung. Das sind alte Handschriften aus dem Bestand des Klosters, das einst an dieser Stelle stand. Das Mobiliar dort oben gehört zu dem wenigen, was den Umbau überlebt hat.« Bitterkeit schwingt in seiner Stimme mit. »Die Gegenwart missachtet oft die weise Stimme der Vergangenheit und zieht es vor, ihre mahnenden Appelle zu übergehen, anstatt sie zu beherzigen.« Während er das sagt, berührt er mit der Daumenspitze den goldenen Ring, der an seinem linken Ringfinger glänzt. Es ist eine Art Wappen. »Im Archiv der Schule werden alte Fotografien aufbewahrt, auf denen man sieht, wie es hier früher einmal ausgesehen hat. Aber ich merke, dass deine Augen schon auf der Suche nach anderen Geschichten sind.«
Oh Mann! Dem entgeht aber auch gar nichts. »Ja, ich habe gerade Ihren Ring bewundert. Er ist sehr eigenartig«, sage ich und kann nicht verhindern, dass ich dabei erröte.