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Keiner hatte es geplant, keiner damit gerechnet, keiner gab den Befehl – und doch haben irgendwie alle mitgemacht. Als am Abend des 9. November 1989 die Grenze in Berlin noch dicht war, glaubten viele schon, sie sei gefallen. Ein Trugschluss, der die Mauer vollends zum Einsturz brachte. Was sich Politiker beider Seiten nicht vorstellen konnten, nahmen die Menschen spontan selbst in die Hand – diese Novembernacht schrieb Weltgeschichte. Eine besondere Rolle spielte dabei jener ominöse Zettel, den Günter Schabowski während der legendären Pressekonferenz hervorkramte. Florian Huber schildert die dramatischen Ereignisse aus der Sicht der Beteiligten – eines Stasi-Grenzwächters, eines Ostberliner Liebespaares, eines Obersten der Volkspolizei, eines Westberliner Studenten und eben Günter Schabowskis. So entsteht das packende Porträt dieser vierundzwanzig Stunden – von der morgendlichen Sitzung im DDR-Innenministerium, wo über eine neue Reiseregelung verhandelt wurde, über die entscheidende Pressekonferenz bis hin zur Öffnung der Grenzbäume kurz vor Mitternacht. Das Buch erscheint parallel zur Ausstrahlung der ARD-Dokumentation «Schabowskis Zettel» Anfang November 2009 – die atemberaubende Biographie des Tages, der die Welt verändert hat.
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Seitenzahl: 267
Florian Huber
Schabowskis Irrtum
Das Drama des 9. November
Am Morgen danach sind die Führungsspitzen von Staat und Partei zum gemeinsamen Frühstück verabredet. Sie treffen sich in einem Nebenraum des großen Versammlungssaals, wo gleich der dritte und letzte Beratungstag des obersten Parteigremiums beginnen soll. Aber nach kämpferischen Debatten steht heute niemand der Sinn, vielmehr wirken die Genossen ernüchtert, niedergeschlagen, ratlos. In einer solchen Verfassung hat man die älteren Herren vom SED-Politbüro, denen ihre Allmacht über die Geschicke des Landes und seiner sechzehn Millionen Bürger über die Jahrzehnte ganz selbstverständlich geworden ist, noch nicht gesehen. Verdrießlich rühren sie in ihren Kaffeetassen, tauschen verstohlen Blicke aus, keiner will das Wort ergreifen. Was ist geschehen, dass aus den kommunistischen Pharaonen über Nacht Nebendarsteller der Geschichte geworden sind? Wer hat ihnen so dreist das Heft aus der Hand gewunden, dass sie dem Lauf der Ereignisse wie einem verpassten Zug hinterherblicken müssen?
«Wer hat uns das bloß eingebrockt?» Es ist der Genosse Generalsekretär Egon Krenz, der schließlich diese Frage in das Schweigen hinein murmelt. Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, sekundiert, indem er bedenklich den Kopf hin- und herwiegt.
Politbüro-Mitglied Günter Schabowski ahnt, dass nur er gemeint sein kann und alle unsichtbaren Finger jetzt auf ihn zeigen. Schließlich hat er am vergangenen Abend vor der versammelten Weltpresse und live im Fernsehen jene verhängnisvollen Sätze gesprochen, die das ohnehin unruhige Land noch tiefer ins Chaos gestürzt haben. Aber im Grunde war es nicht Schabowski, der am 9.November die Mauer zum Einsturz brachte. Wer die dramatischen Ereignisse dieser Nacht bis zu ihrem Anfang zurückverfolgt, kommt zu einem wenig spektakulären Verursacher: einem schlichten Zettel, der Schabowski im Verlauf des Tages in die Hand gedrückt wurde.
Nicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte beeinflusste ein Stück Papier den Gang der Ereignisse in unvorhergesehener Weise. Im Juli 1870 weilte der preußische König WilhelmI. zu seiner alljährlichen Sommerkur in Bad Ems. Die außenpolitische Lage war angespannt, denn die Franzosen forderten lautstark eine Garantieerklärung vom deutschen Monarchen, dass er niemals einen Hohenzollern auf Spaniens Thron schicken würde. Eines Morgens sah sich Wilhelm auf seinem Frührundgang vom französischen Botschafter abgefangen und auf der Kurpromenade mit Forderungen nach einem Thronverzicht bedrängt. Seine Majestät wies das Ansinnen des Diplomaten ab und ließ einen ausführlichen telegraphischen Bericht über diese Begegnung an den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck in Berlin kabeln. Ihm überließ es der König, die Presse «in geeigneter Form zu unterrichten». Bismarck kürzte den Text des Telegramms und formulierte ihn um, und als die «Emser Depesche» kurz darauf in der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» veröffentlicht wurde, eskalierte die Situation: Die französische Regierung sah sich bloßgestellt, eine Woche später erklärte sie Preußen den Krieg.
Der Nachfolger WilhelmsI. auf dem Thron, Kaiser WilhelmII., wusste nach einigen Jahren des Regierens immerhin um die Sprengkraft seiner oft undiplomatischen Wortwahl. Daher hatte er es sich angewöhnt, seine Äußerungen gegenüber der Presse von seiner Regierung vorab autorisieren zu lassen. Bei einem England-Urlaub im Herbst 1908 führte der Kaiser mehrere Gespräche mit einem britischen Oberst, der diese in Interviewform zusammenfasste und dem «Daily Telegraph» zur Veröffentlichung anbot. Von dort aus ging das Manuskript mit der Bitte um Freigabe an die kaiserlichen Büros nach Berlin. Der dafür zuständige Reichskanzler von Bülow weilte allerdings gerade in der Sommerfrische auf Norderney, und die Abschrift landete auf dem Schreibtisch eines untergeordneten Beamten des Auswärtigen Amtes, der sie autorisierte. Die Veröffentlichung des Interviews mitsamt allen diplomatischen Zweideutigkeiten im «Daily Telegraph» löste im In- und Ausland einen Sturm der Entrüstung aus. Der Reichstag in Berlin stritt heftig, Reichskanzler von Bülow bot seinen Rücktritt an, Kaiser WilhelmII. erwog die Abdankung vom Thron.
Einem anderen Stück Papier blieb eine solch durchschlagende Wirkung unglücklicherweise versagt. Das zweiseitige Fernschreiben mit detaillierten Anweisungen zum Staatsstreich wurde am Nachmittag des 20.Juli 1944 im Berliner Bendlerblock, dem Hauptquartier der Verschwörer um Oberst Graf von Stauffenberg, auf den Weg gebracht. Doch die Übermittlung an die Wehrkreiskommandos der Wehrmacht zog sich quälend in die Länge. Auf einem Geheimschreiber dauerte ein einzelner Absetzvorgang enervierende fünfzehn Minuten, und nur vier Schreibkräfte waren befugt, «Geheime Kommandosachen» zu bearbeiten. Der Papierstau im Bendlerblock hatte die fatale Folge, dass das Fernschreiben mit den Befehlen zur «Operation Walküre» in manchen Wehrkreiskommandos erst drei Stunden später und damit nach Dienstschluss anlangte. Wichtige Zeit war verstrichen, in der die überrumpelte NS-Führung sich sammeln und zum Gegenschlag ausholen konnte. Der Plan, Hitler zu töten und sein Regime zu stürzen, wurde kurz darauf blutig vereitelt.
Absprachefehler, verkürzte Wiedergabe, übergangene Instanzen, schlechtes Timing und der Lawineneffekt der Veröffentlichung – nichts davon fehlt, als am 9.November 1989 ein Zettel seinen Weg in die Weltgeschichte antritt. In seiner äußeren Gestalt gleicht er den Millionen Papieren, die der Geheimdienst am laufenden Band produzierte in dem vergeblichen Versuch, die Erosion der Deutschen Demokratischen Republik aufzuhalten. Fünf Blätter aus industrieller Papierproduktion: dünn und stark säurehaltig, von brüchiger Konsistenz, unweigerlich der raschen Vergilbung und Versprödung, schließlich dem Zerfall anheimgegeben. Die schnörkellose, schnell verschießende Schrifttype ist die einer Robotron-Büroschreibmaschine aus volkseigener Produktion. Fehlerlos und routiniert setzt eine Schreibkraft des DDR-Innenministeriums in behördenüblichem Duktus am Morgen des 9.November 1989 jene Worte aufs Papier, die ohne Kenntnis der Umstände bis heute niemand den Atem verschlagen würden.
Doch in jenen Novembertagen ist das alte Betonregime ins Rutschen geraten. Die Machthaber sehen nicht weniger als die Bürger ungläubig die unverrückbaren Wahrheiten der vergangenen Jahrzehnte entwertet. An ihre Stelle sind aber noch keine neuen Gewissheiten getreten, die das Wichtige vom Unwichtigen, das Echte vom Falschen zu unterscheiden helfen. Von Tag zu Tag scheint die Situation offener, eine übernervöse, fiebrige Spannung breitet sich aus, die die Menschen begeistert und eine große Entscheidung herbeisehnen lässt. In dieser Stimmung kann jedes noch so kleine Ereignis, jede Begegnung, jedes unbedachte Wort plötzlich ungeahnte Bedeutung gewinnen. So wie an jenem Novemberabend Schabowskis unscheinbarer Zettel.
8.November 1989
DDR-Innenministerium (Mitte/Ost-Berlin)
Als am Nachmittag des 8.November auf dem Telefontableau mit den vielen grünen Lämpchen plötzlich ein rotes aufleuchtet, weiß Gerhard Lauter, dass ein wichtiger Auftrag auf ihn zukommt. Rot, das bedeutet oberste Priorität. Ein solcher Anruf wird nicht von seiner Sekretärin durchgestellt, sondern Lauter hat sofort einen seiner Vorgesetzten in der Leitung: DDR-Innenminister Friedrich Dickel oder dessen Stellvertreter Lothar Ahrendt. Der Auftrag, den er an diesem Mittwoch mit Herzklopfen entgegennimmt, ist nicht nur dringend, sondern zudem außerordentlich heikel: Erarbeiten Sie dem Ministerrat bis morgen Mittag einen Vorschlag, wie wir das Problem der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern über die Grenze der ČSSR nach Westdeutschland zurück in die DDR verlagern können.
Gerhard Lauter ahnt sofort, was für ein Sprengsatz ihm da in die Hände gedrückt worden ist. Ihn beunruhigt weniger die Aufgabenstellung als vielmehr das, was darin nicht angesprochen wird: nämlich wie mit privaten Auslandsreisen von DDR-Bürgern zu verfahren ist. Die Frage der Reisefreiheit ist in den vergangenen Monaten zum zentralen Thema der Protestkundgebungen geworden, die das Land in immer kürzeren Abständen erschüttern. Nach Jahrzehnten der Isolation wollen die Menschen endlich die Welt entdecken, sie wollen Paris, Rom und München sehen. Hilflos schaut die Staatsspitze der Massenflucht von Zehntausenden zu. Der Druck im Kessel DDR ist gewaltig.
In dieser Lage nun erteilt der Innenminister Gerhard Lauter den Befehl, eine rechtliche Vorlage für eine Ausreise ohne Wiederkehr zu erarbeiten. «Diese politische Entscheidung hätte die DDR-Bürger gezwungen, das Land für immer zu verlassen.» Von privatem Reiseverkehr nach Westdeutschland, vom kleinen Ausflug nach Paris und wieder zurück nach Leipzig kein Sterbenswörtchen. Lauter weiß, dass dieser absurde Auftrag leicht zur Eskalation der Situation beitragen kann. Doch was soll er tun? Was kann er tun?
Hotel «Schweizerhof». (Tiergarten/West-Berlin)
Tom Brokaw, Nachrichtenmoderator des großen US-Fernsehsenders NBC, ist vor kaum vierundzwanzig Stunden in Berlin eingetroffen. Eher beiläufig war in den Studios des New Yorker Rockefeller Center die Entscheidung gefallen, einen Mann nach Deutschland zu schicken, um die dortigen Ereignisse zu beobachten: «Noch am Montag saßen wir im Büro und verfolgten, was in Deutschland so passierte. Da sagte unser Auslandschef zu mir: ‹Willst du nicht mal rüberfliegen? Hier bei uns ist doch im Moment sowieso wenig los.› Ich hielt das für eine gute Idee.» Tom Brokaw ist nicht irgendein Reporter, sondern seit sieben Jahren Anchorman der legendären täglichen Nachrichtensendung «NBC Nightly News», die in den USA den Ruf eines journalistischen Leuchtturms genießt. Brokaw ist das Gesicht der Sendung, ihr preisgekrönter Star und Quotenmagier. Wenn er nach Berlin kommt, so bestimmt nicht nur für einen kleinen Stimmungsbericht. Für die kommenden Tage hat er sich im West-Berliner Hotel «Schweizerhof» einquartiert. Und auch in Ost-Berlin bleibt seine Ankunft nicht unbemerkt.
Zentraler Operativ-Stab im Ministerium für Staatssicherheit der DDR (Lichtenberg/Ost-Berlin)
Protokoll der telefonischen Lagemeldung an den Zentralen Operativ-Stab des Ministeriums für Staatssicherheit am 8.November:
– «Ich muss mal ’ne Anfrage stellen: Im Operativen Fernsehen ist hinter dem Brandenburger Tor ein neuer hochgezogener Mast zu sehen. Kannst du mir sagen, was der zu bedeuten hat?»
– «Ick hab noch keene Ahnung da.»
– «Habt ihr noch keine Meldung darüber vorliegen?»
– «Nee, muss ich mal nachfragen.»
– «Ja? Sei mal so freundlich und ruf bei uns an, bitte.»
Eine Stunde später:
– «Also wegen dem Mast haben wir noch nichts.»
– «Nee?»
– «Es gibt praktisch nur Hinweise von den Grenztruppen, dass drei Fahrzeuge der Bundespost Kabel verlegen, und dann gibt es einen Hinweis über die III, NBC hat von 22.00Uhr bis 01.00Uhr irgendwie ’ne Übertragungsstrecke angefordert. Das isses erst mal.»
– «Danke sehr.»
Hotel «Schweizerhof». (Tiergarten/West-Berlin)
Warum genau Brokaws NBC-Team einen vierzig Meter hohen Satellitenmast am Brandenburger Tor aufgestellt hat, muss den Männern der Staatssicherheit ein Rätsel bleiben, denn einen konkreten Anlass gibt es nicht. Die Amerikaner hatten aus der Entfernung den vagen Eindruck gewonnen, dass sich im Osten Deutschlands ein gewaltiger Druck aufbaut. «Mehr ahnten wir aber nicht. Nur dass es ein besonderer Augenblick war, wenn man sah, was das ganze Jahr über passiert ist.» In den letzten Monaten hat Brokaw viel Zeit im Flugzeug verbracht, um bei der Erosion des Ostblocks vor Ort zu sein. Und nun beschließt der Neunundvierzigjährige mit den graumelierten Schläfen und den markanten Gesichtszügen, für ein paar Tage dorthin zu gehen, wo gerade «the action of the world» zu sein scheint – nach Berlin.
Etwas ist im Gange im Ostteil der Stadt, so viel ist Brokaw und seinen Leuten klar. Nicht weniger, aber auch nicht mehr: «Wusste ich schon vorher, was passieren würde? Nein, so war es nicht.» Das Ausmaß des Chaos hinter den Kulissen ist zu diesem Zeitpunkt niemandem bewusst, am wenigsten den Bürgern auf der Straße. Keiner rechnet mit einem Ausbruch des Vulkans. Erschöpft vom Jetlag geht Brokaw zeitig schlafen. Zuvor lässt er sein Büro noch einen Termin arrangieren: Interview mit Politbüro-Sprecher Günter Schabowski am morgigen Nachmittag, dem 9.November, unmittelbar nach dessen ZK-Pressekonferenz.
DDR-Innenministerium (Mitte/Ost-Berlin)
Gerhard Lauter ist neununddreißig Jahre alt. Der gebürtige Dresdner hat an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Kriminalistik studiert und anschließend bei der Kriminalpolizei Leipzig im Referat für Terrorbekämpfung gearbeitet. 1976 wechselt er nach Berlin ins Ministerium des Innern, wo er es bis zum Stellvertreter Untersuchung des Leiters der Hauptabteilung Kriminalpolizei bringt. Im Sommer 1989 erfolgt dann jene berufliche Beförderung, die Lauter ins Zentrum des politischen Existenzkampfes der DDR katapultieren soll: Seit dem 1.Juli amtiert er im Rang eines Obersts als Leiter der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen des Innenministeriums, einem der sensibelsten Bereiche im Machtapparat.
In seiner ungeliebten Polizeiuniform zeigt er sich nur, wenn es ein offizieller Anlass von ihm verlangt. Lauter ist das militärische Gehabe fremd, das in Teilen des Innenministeriums und im Ministerium für Staatssicherheit herrscht, mit dem er viel zu tun hat. Seine Mitarbeiter kennen ihn in Nadelstreifen mit dezenter Krawatte, das Haar sorgfältig frisiert und gescheitelt. Er ist kein Mann der lauten Töne, der seiner Position durch schroffes Auftreten ein festeres Fundament zu geben versucht, sondern verkörpert einen neuen Typus des sozialistischen Verwaltungsbeamten aus der zweiten Reihe. Anders als seine Vorgesetzten an der Spitze des Staates gehört Lauter einer Generation an, die die traumatischen Erfahrungen der Hitler-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs nicht mehr selbst erlebt hat. Die von der Aufbaugeneration als heroisch verklärten DDR-Gründerjahre mit Zwangskollektivierung, Juni-Aufstand, forcierter Industrialisierung und Mauerbau sind für ihn bestenfalls ferne Kindheitserinnerungen. Ein anderes System als den real existierenden Sozialismus hat Lauter nicht kennengelernt, und sein politisches Bewusstsein entwickelt er in den siebziger Jahren, dem scheinbar erfolgreichsten Jahrzehnt der DDR. Es ist der Beginn der Ära Honecker, der nach innen mit einem konsumfreundlichen Ansatz die Menschen für sich gewinnt und nach außen die Reputation des Landes verbessert, als es zu einer beispiellosen Welle der staatsrechtlichen Anerkennung der DDR kommt. In dieser Zeit des Aufbruchs beginnt Lauter seine Karriere, und es gibt für ihn keinen Grund, das System in Frage zu stellen.
Dennoch ist er kein Mann jener blechernen Dogmatik, hinter der sich die Politbüro- und Staatsgründergeneration um Honecker, Stoph und Mielke bei jedem Gegenwind verschanzt, weil sie um ihr harterkämpftes Lebenswerk fürchtet. Lauter ist ein sachorientierter Funktionär, der in Krisenmomenten pragmatisch zu denken vermag. Eine Fähigkeit, die jetzt auf eine harte Probe gestellt werden soll.
Am 8.November liegen ein paar nervenaufreibende Monate hinter ihm. Als er im Juli 1989 sein neues Amt antritt, befinden sich die sozialistischen Systeme Osteuropas in einem unaufhaltsamen Erosionsprozess. Seit KPdSU-Chef Gorbatschow mit «Glasnost» und «Perestroika» der Sowjetunion strukturelle Reformen verordnet hat, verspüren politische Erneuerer in den sozialistischen Bruderstaaten Rückenwind. Nirgendwo ändern sich die Verhältnisse so rasch und radikal wie in Ungarn. Fassungslos beobachten die Genossen in Ost-Berlin, wie die Kommunistische Partei Ungarns nicht nur ihr Machtmonopol zugunsten eines Mehrparteiensystems aufgibt, sondern mit Billigung Gorbatschows den Abbau der hermetischen Grenzanlagen nach Westen beschließt. Anfang Mai 1989 durchtrennen ungarische Grenzsoldaten vor laufenden Fernsehkameras den Grenzzaun zu Österreich und schneiden so das erste Loch in den Eisernen Vorhang.
Ungarn ist seit je eines der beliebtesten Reiseziele der DDR-Bürger. Allein im Jahr 1988 reisen achthunderttausend Ostdeutsche in das sozialistische Bruderland. Am 19.August 1989 kommt es dann am Rande einer politischen Veranstaltung an der ungarisch-österreichischen Grenze zur ersten großen Massenflucht: Mehr als sechshundert DDR-Urlauber stürmen unter den Augen der Grenzbehörden durch ein unverschlossenes Grenztor nach Westen. Die größte Absetzbewegung seit dem Bau der Mauer 1961 nimmt ihren Anfang.
Das Verlangen der DDR-Bürger nach Reisefreiheit ist kaum mehr niederzuhalten. In seiner Hauptabteilung Pass- und Meldewesen beim Ministerium des Innern spürt Gerhard Lauter, wie der Druck auf ihn und die insgesamt dreizehntausend Mitarbeiter seines Dienstzweiges von Tag zu Tag wächst. Denn sie sind es, die in den Pass- und Meldestellen den aufgebrachten reisewilligen Bürgern gegenüberstehen. Insgeheim sehnt Lauter wie viele seiner Kollegen die Ablösung der überalterten und überforderten Parteiführung um Erich Honecker herbei, doch die Wochen verstreichen in bleierner Lähmung.
Die ersten Ungarn-Flüchtlinge sind für ihn unübersehbare Warnsignale, dass bald Zehntausende diesen Weg in die Freiheit gehen werden. «Die DDR war das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, in dem ich staatliche Verantwortung bei der Polizei übernommen habe. Jetzt sah ich das alles zugrunde gehen. Die Leute liefen weg, sie stimmten mit den Füßen ab. Das tat weh.» Im Kreis seiner Mitarbeiter ist man sich einig, dass nur ein freierer Reiseverkehr das Land stabiler machen und eine Atempause für die politischen Reformen verschaffen würde. Lauter wie auch seine Kollegen von der Staatssicherheit verfassen in dieser Phase regelmäßig Berichte mit alarmierenden Zahlen über die Lage in den Dienststellen und an den Grenzen. Diese gehen direkt an die Parteiführung, die das Problem zur Chefsache gemacht hat. Doch die SED-Spitze reagiert auf ihre eigene Weise: Sie weist Lauter und seine Kollegen an, auch das Reisen in die sozialistischen Bruderländer Ungarn, Bulgarien und Rumänien zu unterbinden. Dabei bestehen mit diesen Ländern seit Jahren pass- und visafreie Reisevereinbarungen.
Am 3.Oktober erfährt Gerhard Lauter erst aus dem Radio von einer offiziellen Verlautbarung des Innenministeriums, der zufolge die DDR den Reiseverkehr in die ČSSR ausgesetzt hat. Ihm ist sofort klar, was das für die Menschen in seinem Land bedeutet. Die Herbstferien stehen vor der Tür, Hunderttausende haben für die nächsten Tage Reisen ins Nachbarland geplant und gebucht. Sie alle sollen nun zu Hause bleiben. In höchster Erregung lässt er sich telefonisch mit Innenminister Friedrich Dickel verbinden und stellt ihn zur Rede; doch der herrscht ihn seinerseits an, was er denn da verzapft habe. Beide sind an diesem Tag von den Herren des Politbüros übergangen worden und stehen nun vor vollendeten Tatsachen: Die Grenze zur ČSSR ist dicht. Eine Sturmwelle des Protests fegt durch das Land. Bis an die Tresen der Dienststellen im Pass- und Meldewesen brandet die Wut der Bürger, die Mitarbeiter lautstark beschimpfen und auch handgreiflich werden. Rund eintausend neue Ausreiseanträge werden allein im Oktober jeden Tag gestellt.
In seinem Büro in der Mauerstraße, wenige hundert Meter von der Staatsgrenze entfernt, sieht sich Gerhard Lauter in einer schlimmen Zwickmühle. Der offiziellen Order vom Politbüro, die Grenzen weiter abzuriegeln, steht der Druck von der Straße entgegen, sie endlich zu öffnen. Lauters Verbindungsleute zur Staatssicherheit und zur Parteiführung zerbrechen sich mit ihm gemeinsam den Kopf über Auswege aus der absurden Lage, wobei am Ende immer die Erkenntnis steht, dass gegen den Willen der Spitze kein Fortschritt durchzusetzen ist. «Das war bedrückend, beängstigend. Von der politischen Führung der DDR gab es überhaupt keine Reaktion.» In den letzten Wochen hat Lauter aufgehört, über die Krisenfestigkeit seiner Regierung zu spekulieren. Er ist sich inzwischen sicher, dass sie dieser Herausforderung nicht mehr gewachsen ist.
Als die SED-Führung am 1.November den Reisestopp in die ČSSR wieder aufhebt, um die Gemüter abzukühlen, wird prompt die nächste Eskalationsstufe erreicht, diesmal auf diplomatischer Ebene. Denn ein gewaltiger Strom von DDR-Flüchtlingen – bis zu zwanzigtausend Menschen pro Tag – ergießt sich nun auf das Territorium des Nachbarlandes und droht dieses mit in den Abgrund zu reißen. Die tschechoslowakischen Genossen sind außer sich.
Am 8.November wird der DDR-Botschafter ins Prager Außenministerium zitiert, wo man ihm bedeutet, die SED solle ihre Probleme gefälligst im eigenen Land lösen, anstatt sie auf den Nachbarn abzuwälzen. Andernfalls werde Prag die Grenzen zur DDR dichtmachen. Den Politbüromitgliedern in Ost-Berlin ist die Tragweite dieser Drohung klar. Denn noch so eine Volte, und aus dem Schwelbrand wird ein Großfeuer.
Gebäude des Zentralkomitees der SED (Mitte/Ost-Berlin)
«Ein Flüchtlingsbiwak von Tausenden Familien an der Grenze zur ČSSR, womöglich Massenattacken auf die Grenzen!» – solche Bilder gehen Günter Schabowski durch den Kopf, und er weiß, dass die Republik einen solchen Ausnahmezustand nicht überleben würde. Dabei gab es für ihn zuletzt Anlass zu großem Optimismus. Die Hoffnung und der Glaube, die Staatspartei SED von der Spitze her reformieren zu können, hatten ihn durch die turbulenten letzten Wochen seiner bis dahin makellosen politischen Karriere in der DDR getragen. «Wir wollten eine bessere DDR und eine andere, bessere SED.»
Schabowski stammt aus einer mecklenburgischen Arbeiterfamilie. Er erlebt die Hitler-Diktatur, den Einmarsch der Sowjets und alle Umbrüche der DDR-Geschichte seit der Staatsgründung: Stalins Tod, den Aufstand des 17.Juni, Mauerbau und Prager Frühling, den Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker. Seine kommunistischen Lehrer beeindrucken ihn: «Die dümmste Ungerechtigkeit ist, die Einteilung in Arm und Reich hinzunehmen.» Bereits 1952, mit dreiundzwanzig Jahren, tritt er in die SED ein. Sämtliche Weihen eines linientreuen DDR-Kaders werden ihm zuteil: FDJ-Mitgliedschaft, Journalistik-Studium am «Roten Kloster» in Leipzig, Parteihochschule in Moskau. Seine Karriere in den DDR-Medien führt ihn von der Gewerkschaftszeitung «Tribüne» bis zum Flaggschiff des sozialistischen Verlautbarungsjournalismus, dem SED-Zentralorgan «Neues Deutschland», das er ab 1978 als Chefredakteur steuert. Drei Jahre später wird Schabowski Mitglied des ZK der SED, 1984 rückt er auf ins Politbüro der SED, das höchste Machtgremium des Landes. Ein Jahr darauf ernennt ihn Erich Honecker zum Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. Aufgrund seines unaufhaltsamen Aufstiegs und seiner Ämterfülle wird er neben Egon Krenz im Westen als Nachfolgekandidat von Honecker als DDR-Staatschef gehandelt.
Als die Selbstgewissheiten des sozialistischen Lagers im Lauf des Jahres 1989 zunehmend in Frage stehen, hat Schabowski darauf zunächst ebenso wenig eine Antwort wie die Veteranen im Politbüro. Mit seinen sechzig Jahren liegt er sieben Jahre unter dem Altersschnitt. In den Schlüsselpositionen sitzen nach wie vor die verdienten Altkader. Honecker und Chefideologe Kurt Hager sind siebenundsiebzig, Erich Mielke einundachtzig – eine «gusseiserne Altherrenriege». Die reformerischen Signale aus Gorbatschows Sowjetunion mögen viele DDR-Bürger begeistern, im Führungsgremium des Landes stoßen sie auf taube Ohren. Den Wirbel um die gefälschten Kommunalwahlen vom Februar schweigen die Herren einfach tot. Erschrocken und hilflos müssen sie zusehen, wie der sozialistische Block erste Risse zeigt. Doch selbst als die Ungarn vor aller Welt und ohne Absprache ihren Grenzzaun mit Drahtscheren bearbeiten, wähnen sich die SED-Machthaber im Vertrauen auf die bewährte Solidarität der Bruderparteien noch in Sicherheit.
Doch das Undenkbare tritt ein. Die gelockerten Grenzbarrikaden werden im Spätsommer und Herbst 1989 für Hunderte und bald Tausende DDR-Flüchtlinge zum Ausfallstor nach Westen. Während im Politbüro über den Verrat der Ungarn lamentiert wird und die Schuldigen damit gefunden sind, dämmert Günter Schabowski, dass man sich und die Bevölkerung so kaum mehr täuschen kann. Die Ursache für diese Massenflucht liegt bei ihnen, den Parteispitzen. «Die politische Geduld der Menschen war erschöpft wie noch nie», so Schabowski. In Scharen verlassen sie das angeschlagene Land, dessen Führung sich gegen den Strom der Zeit stellt.
Für Schabowski beginnen die Tage mit den Nachrichtensendungen des Deutschlandfunks um sechs Uhr, und sie enden mit den letzten Berichten des Westfernsehens nach Mitternacht. «In mir regte sich die Ahnung von etwas nie Gekanntem, Unglaublichem, das auf uns zukommt.» Die Nachrichten über die Massenflucht und den Protest der Bevölkerung stehen in Kontrast zur kategorischen Weigerung der Staatsführung, das Reiseverbot zu lockern. Unter diesem Eindruck entschließen sich einige Mitglieder des Politbüros um Egon Krenz und Schabowski zum Sturz des Generalsekretärs, «bestimmt von keinem anderen Gedanken, als eine Reiseregelung zu schaffen, durch die von uns der Druck der Öffentlichkeit genommen würde». Am 17.Oktober eröffnet Honecker zum letzten Mal eine Sitzung des Politbüros. In deren Verlauf sagen sich alle Genossen von ihm los, und ihm selbst bleibt schließlich keine andere Wahl, als dem eigenen Rücktritt zuzustimmen. «Für eine kommunistische Partei war es eine Blasphemie, den Generalsekretär abzusetzen. So weit waren wir schon.»
Mit der neuen SED-Führung beginnt für Schabowski eine kurze, aber intensive Phase des Aufbruchs, in der er versucht, einen politischen Dialog mit der Bevölkerung in Gang zu setzen, den es in vier Jahrzehnten DDR nie gegeben hat. Von den anderen Mitgliedern des Politbüros hebt er sich allein schon wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten ab. Während diese Genossen außerstande sind, sich aus dem Korsett des hölzernen sozialistischen Einheitsvokabulars zu lösen, vermag Schabowski selbst trockene Sachverhalte pointiert zu vermitteln. Wo die anderen schulmeistern, zieht er es vor, zu argumentieren. Statt in langatmige Monologe zu flüchten, lässt er sich auf den offenen Schlagabtausch ein.
Jeden Tag geht er in die Betriebe, spricht mit Arbeitern und Funktionären, sucht die Nähe zu den Menschen im Land. «Ich stürzte mich in das politische Getümmel. Wir kämpften verzweifelt um Zustimmung in der Bevölkerung zu dieser Entscheidung, Honecker abzusetzen. Aber sie blieb aus.» Das Misstrauen der Menschen gegenüber den Vertretern des alten Systems bekommt Schabowski zu spüren. Die bleiernen Jahre des Stillstands und das Schweigen der vergangenen Monate haben die letzten Reserven des Vertrauens aufgezehrt. Da hilft es auch nicht, dass Schabowski sich den Bürgern stellt. Die Skepsis gegenüber einer Führung, die sie so lange ignoriert und bevormundet hat, überwiegt.
Dennoch ist die gesellschaftliche Debatte in der DDR intensiv wie nie zuvor. Plötzlich finden spontane Diskussionen in der Öffentlichkeit und vor laufenden Kameras statt, wo zuvor der lange Schatten der Staatssicherheit die Lippen der Menschen versiegelt hat. Im Gegensatz zu den verunsicherten Kollegen aus dem Politbüro schreckt Schabowski die neue Diskussionswut der Bürger nicht. Zwar hat er bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Erfahrung mit demokratischer Gesprächskultur, doch er scheint sich wohl zu fühlen. Während die Altkader sich hinter Floskeln verschanzen, debattiert er mit den Menschen auf der Straße. Manchmal entfahren ihm dabei ahnungsvolle, ja prophetische Warnungen: «Ich will nicht, dass durch unkontrollierte Handlungen, durch unbeabsichtigtes Handeln der Weg verbaut wird für die Zukunft.»
Seine Hoffnung auf einen ehrlichen Neubeginn soll sich – allen Rückschlägen zum Trotz – bis zum 8.November halten. An diesem Tag beginnt die 10.Tagung des Zentralkomitees der SED, eine richtungweisende Sitzung, denn nach dem Abgang Honeckers steht eine Reihe politischer Existenzfragen auf der Agenda: Ein neues Politbüro soll gewählt werden, eine Reform der erstarrten Planwirtschaft ist überfällig, die Betriebe sollen mehr Autonomie bekommen, und für Anfang des kommenden Jahres sind die ersten freien Wahlen der DDR-Geschichte zu organisieren. Doch ein Thema, das seit Monaten die Schlagzeilen und die Gespräche der Bürger beherrscht, steht nicht auf der Tagesordnung: die Frage der Reisefreiheit. «Das Reisegesetz war für diese Regierung, wenn man so will, das unwichtigste Thema.»
So kommt es, dass sich an diesem Mittwoch die mehr als zweihundert Mitglieder und Kandidaten im großen Versammlungssaal des ZK-Gebäudes stundenlang in Kaderdebatten über das gerade zurückgetretene Politbüro verhaken, während sich draußen eine diplomatische Krise bedrohlich zuspitzt: An diesem 8.November stellt die ČSSR der DDR-Führung ein Ultimatum, die Ausreisewelle von Bürgern in ihr Land zu stoppen – andernfalls droht sie, die Grenzen dichtzumachen.
Für die Parteiführung um Egon Krenz bedeutet dieser Tag das größtmögliche Chaos. Der Streit um die Neuformierung des Politbüros endet in einem schalen Kompromiss, der das bis dahin allmächtige Leitungsgremium auf ein Rumpf-Politbüro reduziert. Über die weitere Behandlung der ausgeschiedenen Alt-Mitglieder entspinnt sich ein hitziger, angesichts der Dringlichkeit anderer Fragen abwegiger Disput. Zu allem Überfluss haben sich vor dem ZK-Gebäude mehrere tausend Menschen zu einer Demonstration gegen die Parteispitze versammelt. Es sind die eigenen Parteimitglieder, die sich gegen den alten stalinistischen Kommandostil der SED-Führung aufzulehnen beginnen.
Nur Günter Schabowski hat an diesem hektischen Mittwoch noch einmal eine Sternstunde. Am späten Nachmittag gibt er im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße eine Pressekonferenz, um über erste Ergebnisse der dreitägigen ZK-Sitzung zu informieren.
Internationales Pressezentrum (Mitte/Ost-Berlin)
«Berlin (ADN) – Ein harter Tag lag hinter Günter Schabowski, als er am Mittwochabend vor die Journalisten in Berlin trat: Am Morgen war er gemeinsam mit den anderen Mitgliedern und Kandidaten des SED-Politbüros zurückgetreten, am frühen Nachmittag wählte ihn die 10.ZK-Tagung einstimmig wieder in dieses Gremium. Die Erwartungshaltung der Journalisten war groß. Schabowski hatte die Mehrfachbelastung augenscheinlich gut weggesteckt und erwies sich in der rund einstündigen Befragung als ein souveräner Partner der Weltmedien.»
Es ist die erste Pressekonferenz der DDR-Geschichte, die diese Bezeichnung verdient. Zugelassen sind Journalisten von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, und die Veranstaltung ist offen für Fragen. Zum ersten Mal wagen sich die kujonierten und zensierten Reporter der DDR aus der Deckung. Mit blanker Verwunderung beobachten ihre Kollegen von den westlichen Medien, wie sie die Vertreter der Staatsführung auf dem Podium herausfordern.
«Für mich», so Schabowski, «gehörte es zum neuen politischen Ambiente, ja, es feuerte mich an, dass ich mir als ein Oberer, ein Bonze, gegen Widerspruch Gehör verschaffen musste.» Gerade erst ist er zum Medien-Verantwortlichen des Politbüros ernannt worden, und er gedenkt nicht, wie sein Vorgänger daraus ein stalinistisches Hochamt von Anleitung und Zensur zu machen. Über Jahrzehnte hatte der Staat Presse, Radio und Fernsehen bis ins Detail gelenkt und kontrolliert. Journalisten waren dazu ausgebildet, die Bürger im Sinne des sozialistischen Menschenbilds der SED zu erziehen. Das Ergebnis war eine verödete Medienlandschaft aus trostlosem Agitprop. Vom «Neuen Deutschland» bis zur «Aktuellen Kamera» verbreiteten alle Organe die immer gleichen ideologischen Stanzen. Denn kaum etwas fürchtete die Parteiführung mehr als die Macht der freien Meinung und den zerstörerischen Sog einer unkontrollierbaren Berichterstattung.
Schabowski will weg von der Lenkung der Medien, dabei hat er selbst lange genug maßgeblich zu deren «geistiger Kastration» beigetragen. Sieben Jahre war er Chefredakteur des «Neuen Deutschland», des Zentralorgans der Partei. Sosehr ihn diese kompromittierende Vergangenheit verfolgt, kämpft er gleichwohl in seiner neuen Rolle als Medienverantwortlicher für einen freieren Umgang mit der Presse. Mehr als ein paar Erfahrungen allerdings hat auch er bis zum Beginn der dreitägigen ZK-Tagung nicht sammeln können. Sicher, er hat standgehalten in den Straßendebatten, Bürgergesprächen und Interviews seit dem Sturz der alten SED-Garde um Erich Honecker. Aber jetzt steht er vor einer neuen Herausforderung: Am Abend jedes Sitzungstages soll er sich den Fragen internationaler Medienvertreter stellen, live und zur besten Sendezeit im DDR-Fernsehen. Ein Schaukampf mit Dutzenden hellwachen Journalisten – vor einem hochkritischen Millionenpublikum.
Am Abend des 8.November tritt er zum ersten Mal in den Ring: «Ich bin Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK. Ich werde Ihnen heute und an den kommenden Tagen über den Ablauf der Beratungen berichten und stehe für Fragen zur Verfügung.» Er führt die Ergebnisse des turbulenten Sitzungsauftakts aus, berichtet vom Rücktritt des alten Politbüros und von der Zusammensetzung des neuen, von der Bestätigung Egon Krenz’ als Generalsekretär. Vom diplomatischen Druck der tschechoslowakischen Genossen in der Grenzfrage und den hektischen Verhandlungen um eine neue Reiseregelung hingegen spricht Schabowski nicht – das ZK hat sich mit dieser Frage nicht beschäftigt. Auf die Flüchtlingsströme angesprochen, weicht er ins Ungefähre aus.
«Berlin (ADN) – Die Ausreisewelle von DDR-Bürgern in die BRD bezeichnete Schabowski als tragisch. Es müsse Vertrauen wachsen in die SED-Konzeption, die auf einen menschengerechten Sozialismus abziele. Er erneuerte in diesem Zusammenhang die Bitte an alle: Bleibt hier, wir brauchen euch!»
Nach einem Gesprächsmarathon von anderthalb Stunden macht sich Schabowski auf den Heimweg nach Wandlitz, in die von Politbüro-Mitgliedern bewohnte Waldsiedlung nordöstlich vor Berlin. Erschöpft ist er, aber nicht unzufrieden. Er hat sich ordentlich geschlagen, so sein Gefühl, ist unter dem Druck der versammelten Weltpresse nicht in die Knie gegangen. Er ist überzeugt, dass er auch in den Pressekonferenzen morgen und übermorgen souverän bestehen kann.
DDR-Innenministerium (Mitte/Ost-Berlin)
Gerhard Lauter schlägt sich an diesem Nachmittag des 8.November mit düsteren Vorahnungen herum. Durch seine Quellen in Staatssicherheit und ZK ist er über die Drohungen der ČSSR-Staatsführung vom heutigen Tage informiert: Entweder ihr löst euer Flüchtlingsproblem selbst, oder wir lassen an den Grenzen alle Schlagbäume runter. Angesichts von bis zu zwanzigtausend Ausreisewilligen pro Tag eine verständliche Reaktion des Nachbarn, aber auch ein beängstigendes Szenario. Wie würden diese Menschen auf eine erneute Abriegelung der Grenzen reagieren? Das ZK hat sich in seiner heutigen Sitzung nicht damit befasst – erst einmal soll er, Lauter, die so wichtige Entscheidungsvorlage für die Regierung verfassen. Der dringende Auftrag von höchster Stelle seines Ministeriums, der ihm vorhin am Telefon erteilt wurde, hat genau diesen Hintergrund: Eine neue Reiseregelung muss her, und es muss schnell gehen. Denn wann hat man schon mal alle Spitzen so konzentriert beisammen? Die Mitglieder des Politbüros und des Ministerrats, die in der Mehrzahl an der ZK-Tagung teilnehmen, können so auf einen Schlag zustimmen.
Ungute Erinnerungen an die vergangenen Wochen steigen in Lauter hoch. Alles, was den Männern aus den obersten Parteigremien eingefallen ist, hat dazu geführt, die Situation zu verschärfen. «Es kam zu krassen Fehlentscheidungen der DDR-Führung. Beispielsweise sollten wir nach dem Willen des Generalsekretärs für alle DDR-Bürger, die ausreisen wollen, einen roten Pass einführen. Das konnten wir noch verhindern. Dann wieder ließen sie die Ausreise der Flüchtlinge aus den Botschaften über DDR-Territorium durchführen. So gab es jeden Tag neue Erlebnisse, die uns nicht zur Ruhe kommen ließen.» All die hektischen Aktionen wie die Aussetzung des pass- und visafreien Reiseverkehrs mit der ČSSR oder die faktischen Reiseverbote durch das Verhängen turmhoher Restriktionen dienen dem einen Ziel, Zeit zu gewinnen und am Ende etwas zu retten, was so nicht mehr zu retten ist. Für Oberst Gerhard Lauter ist das der Beweis für die Unfähigkeit der ausgebrannten Staatsspitze, das Land noch zu lenken.
Unmittelbar nach dem Abgang von Honecker sieht sich dessen Nachfolger Egon Krenz durch den Druck der äußeren Verhältnisse genötigt, noch im laufenden Jahr ein neues Reisegesetz für die DDR anzukündigen. Eine Arbeitsgruppe verschiedener Behörden macht sich an die Arbeit, unter Federführung von Gerhard Lauter im Innenministerium. Eine offizielle Pressemeldung sorgt dafür, dass in der Bevölkerung hohe Erwartungen an dieses Gesetz geknüpft werden.
Lauters Arbeitsgruppe hat zunächst keinerlei Probleme mit dem Gesetzentwurf, der nur auf eine Gewährung der Reisefreiheit hinauslaufen kann: «Reisefreiheit herzustellen ist nicht besonders schwer. Ein solches Gesetz in der Schublade zu haben ist kein Problem für Juristen.» Doch die Entwürfe für das Politbüro, die er mit den Genossen aus den anderen Ministerien aufgesetzt hat, sind allesamt Makulatur, weil sie eine politisch eher zweitrangige, praktisch jedoch zwingende Fragestellung nicht beantworten: Wie sollen die DDR-Bürger