Schampus für alle - Guido Knopp - E-Book

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Guido Knopp

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Beschreibung

ALDI – diese vier Buchstaben haben im Positiven wie auch im Negativen Konsumverhalten und Esskultur der Deutschen wesentlich geprägt. Der Aufstieg der Brüder Karl und Theo erzählt deshalb auch von unserem Land. Im Essener Vorort Schonnebeck in der Mittelstraße 87 öffnet der Bäckergeselle Karl Albrecht senior 1913 ein kleines, aber feines Geschäft, in dem es neben Brot auch Kaffee, Tee, Konfitüre, Butter und Kekse zu kaufen gibt. Supermärkte waren noch ferne Zukunftsmusik und jeder Kunde wurde persönlich bedient, man plauschte, kannte sich. Doch mit den Kriegen wird die Beschaffung von Lebensmitteln eine immer größere Herausforderung. Als die Söhne Karl junior und Theo dann endlich von der Front zurückkehren, machen sie aus der Not eine Tugend: Mit niedrigen Preisen und einem äußerst schmalen Sortiment, das sich auf das Wesentliche beschränkt, locken sie die Kunden in den Jahren der Mangelwirtschaft ins Geschäft. Damit haben die Albrechts nicht nur Lebensmittel demokratisiert, sie schafften auch den Discount-Gedanken.

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Seitenzahl: 321

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Guido Knopp

In Zusammenarbeit mit Mario Sporn

Schampus für alle

ALDI – eine deutsche Geschichte

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortProlog: »Zeigen Sie mal Ihren Ausweis«Tante Emma in Essen: Wo die Albrechts herkommenDie Familie AlbrechtZwei Brüder als StammhalterKarl und Theo im KriegKeine Fisimatenten: Wie die Albrechts aufsteigenDer Tag X: Alles auf AnfangAuf der Suche nach dem richtigen WegFamilienplanungErste KriseDie Kunst des Weglassens: Warum die Albrechts Erfolg habenDie andere deutsche TeilungIm Preis liegt die LösungDie Kunden der AlbrechtsDie Eigenmarken-RevolutionDas Aldi-QualitätsversprechenErfolgsmodell DiscountGeiz ist geil: Wie die Albrechts tickenSparen aus PrinzipVorbild für die ManagerDie Brüder privatStilfragenKontrolle ist besserBankenrettung à la AldiDas Millionending: Wie Theo Albrecht entführt wirdDer Anwalt und der »Schränker«Das große DingDie EntführungDas Verlies in der KanzleiFeilschen um das LösegeldDer Fall wird öffentlichDas Ende der EntführungDie Schlinge zieht sich zuDer Albrecht-ProzessDie Geheimniskrämer: Warum die Albrechts die Öffentlichkeit scheuenDie unsichtbaren BrüderFlucht vor der PublizitätDas Habsburger-ModellDie Millionäre gehen stiftenAldi überall: Wie die Albrechts Deutschland und die Welt erobernKulturkampf in ÖsterreichRasantes WachstumDer HandelsgigantDie Konkurrenz schläft nichtExportschlager AldiBlick nach OstenSind wir nicht alle ein bisschen Aldi? Wie die Albrechts unser Land verändert habenDie Müll-LawineBillig um jeden PreisDie Folgen des BilligwahnsEin Gigant scheitertAldi und wirArbeiten bei AldiAldi und die GewerkschaftenDer Kult-Discounter: Warum die Läden der Albrechts schick wurdenDas Image wandelt sichIm SchnäppchenparadiesAldi wird »Kult«Nord gegen Süd?Das Erbe: Was vom Imperium der Albrechts bleibtDie nächste GenerationTod der GründerAldi ohne AlbrechtsDas Ausland im BlickEin Albrecht bricht ausDer FamilienstreitDie Affäre AchenbachMachtkampf in der Jakobus-StiftungDer Streit geht weiterEpilog: Quo vadis, Aldi?Abbildungsnachweis

Vorwort

Aldi: Diese vier Buchstaben stehen für das noch immer mächtigste Handelsimperium Deutschlands – und für sagenhaften Reichtum. Die Erben beider Aldi-Unternehmen, Süd und Nord, sind mit einem gemeinsamen Vermögen von rund 40 Milliarden Euro die noch immer reichsten Deutschen. Es ist ein Reichtum, den wir alle mitgeschaffen haben: Fast 90 Prozent der Deutschen haben schon einmal in einem Aldi-Markt eingekauft.

Die beiden rätselhaften Aldi-Gründergestalten, die Brüder Karl und Theo Albrecht, stehen für ein eigenes nachkriegsdeutsches Wirtschaftswunder, das nur auf den ersten Blick verblüfft. Was trieb sie an? Wie schafften sie es, aus einem kleinen Krämerladen im Herzen des Ruhrpotts einen milliardenschweren Weltkonzern zu formen? Antworten gibt dieses Buch.

Jahrzehntelang wird Aldi von zwei Phantomen regiert: Karl und Theo. Beide scheuen die Öffentlichkeit – sicher auch als Reaktion auf einen spektakulären Entführungsfall: 17 Tage lang war Theo Albrecht Ende 1971 in der Hand von Geiselgangstern, die für seine Freilassung schließlich sieben Millionen D-Mark erpressten. Der Entführte wollte diese Kosten anschließend am liebsten von der Steuer absetzen. Die Albrechts leben fortan völlig abgeschottet von der Außenwelt, geben keine Interviews (mit einer Ausnahme im Jahre 2014), es gibt kaum Fotos. Selbst die Nachricht ihres Todes wird erst bekannt, als sie längst zu Grabe getragen sind.

Wer über die Albrechts schreiben will, stößt auf eine nahezu undurchdringliche Mauer – bis heute. Noch immer wird das von den beiden Gründerfiguren aufgestellte Schweigegelübde nur selten durchbrochen. Für dieses Buch konnten dennoch Gespräche mit einigen Weggefährten der Albrechts geführt werden. Auch wurden die wenigen schriftlichen Zeugnisse und Beschreibungen ihrer Karrieren, die an die Öffentlichkeit gelangten, ausgewertet.

Mit dem Tod von Theo Albrecht 2010 und Karl 2014 endete nicht nur eine Ära, sondern auch das legendäre Schweigen der Familie. Stattdessen kommt es vor Gerichten heute zu erbitterten Gefechten um das liebe Geld.

Das Geheimnis der Albrechts ist ihre Antwort auf die Frage: Wie werde ich reich? In den Trümmerjahren der Nachkriegszeit übernehmen die Brüder den Laden der Mutter in Essen und machen aus der Not eine Tugend. Mit extrem niedrigen Preisen locken sie trotz eines äußerst schmalen Sortiments die Kunden ins Geschäft – die Discount-Idee ist geboren. Schon bald nennen sie hunderte, dann tausende Läden ihr Eigen: ALDI – das Kürzel aus »Albrecht Discount« – wird zum Synonym für den preisgünstigen Einkauf und später sogar »Kult«. Denn Geiz wird geil.

Mehr als 60 Jahre lang hat das System Aldi Konsumverhalten und Esskultur der Deutschen maßgeblich geprägt. Der Aufstieg der Albrechts erzählt deshalb auch von uns und unserem Land: Aldi, eine wahrhaft deutsche Geschichte.

Prolog: »Zeigen Sie mal Ihren Ausweis«

Die beiden Männer erregten Aufsehen, hier im öden Gewerbegebiet am Emscherbruch im Süden von Herten. Die gesichtslosen Bürogebäude und Fabrikhallen, hingestellt zwischen Abraumhalden und Ödland, sowie die übelriechende Abwasserbrühe der Emscher luden nicht gerade zum Flanieren ein. Zudem nieselte es an diesem frühen Abend des 29. November 1971, und das Thermometer zeigte nur knapp über Null. Die Beiden aber sahen aus, als seien sie geradewegs einem Modesalon entsprungen – gewandet in elegante Mäntel, mit Seidenschals, Hut und Nappalederhandschuhen wirkten sie in dieser Einöde mehr als fehl am Platz.

Der ungewöhnliche Aufzug schien auch einer Polizeistreife, die zufällig im VW-Bus vorbeikam, seltsam vorzukommen. Die Beamten bremsten ihren Wagen ab und rollten einige Meter im Schritttempo neben den Männern her. Die Gesetzeshüter waren sich unschlüssig: Sollten sie den beiden ungewöhnlichen Fußgängern auf den Zahn fühlen oder nicht? Nach einigem Hin und Her siegte schließlich die Bequemlichkeit – die Beamten zogen den Sitz im warmen Auto vor, statt in die kühle Novembernacht hinauszutreten und ihren Dienst zu verrichten. Es würde alles schon seine Richtigkeit haben. Sie gaben Gas und verschwanden in der Dunkelheit. Die beiden Männer atmeten auf. Denn in den Manteltaschen trugen sie Pistolen, und sie planten einen Coup, der bald als eines der spektakulärsten Verbrechen in die bundesdeutsche Geschichte eingehen sollte: Heinz-Joachim Ollenburg, verkrachter Rechtsanwalt aus Düsseldorf, und sein Kompagnon Paul Kron, gelernter Autoschlosser und von der Presse später mit dem Spitznamen »Diamanten-Paule« belegt, wollten den Aldi-Gründer und Multimillionär Theo Albrecht kidnappen.

Wochenlang hatten sie zuvor Albrechts Lebensgewohnheiten erkundet, ihm immer wieder vor seinem Essener Privathaus und hier vor der Hertener Firmenzentrale aufgelauert. Dabei waren ihnen mehr als einmal Zweifel gekommen: Sollten sie wirklich den Richtigen an der Angel haben? Denn dieser unscheinbare Mann hatte so gar nichts von einem Superreichen an sich. Sein Anwesen lag zwar in einem Essener Villenviertel, ließ jedoch jeden Anschein von Protz vermissen. Seine Mercedes-Limousine steuerte er stets selbst und stellte den Wagen vor seiner Firma immer auf dem gewöhnlichen Parkstreifen ab. Jeden Tag erschien er pünktlich zum Dienst und verließ immer als einer der Letzten das Büro. Irgendwelche Exaltiertheiten oder Extravaganzen – Fehlanzeige.

Bereits in der Woche zuvor hatten sie zweimal Anlauf genommen, das große Ding durchzuziehen, doch immer waren ihnen Skrupel gekommen, und sie hatten ihr Vorhaben in letzter Minute abgebrochen. Nun aber sollte es gelingen. Gegen 18.15 Uhr wurde es ernst – im Chefbüro in der vierten Etage erlosch das Licht. Wenig später kam ein Mann aus der Hauptpforte und trat auf die Straße. Heute stand sein Wagen besonders weit vom Bürogebäude entfernt, er musste also einige Schritte gehen. Angekommen am Auto, schloss er zunächst die Beifahrertür seines Wagens auf und öffnete dann von innen die Fahrertür. Die umständliche Prozedur war nötig, weil das Schlitzohr Kron einige Tage zuvor ein Streichholz in das Türschloss auf der Fahrerseite gesteckt hatte, um sein Opfer aufzuhalten und so mehr Zeit für den geplanten Überfall zu gewinnen. Repariert worden war der Schaden bislang nicht. Als der Mann wieder aus der Beifahrertür kletterte und sich anschickte, zur Fahrerseite hinüberzugehen, nickten die beiden Geiselnehmer sich zu: Heute musste es gelingen! Sie schlugen die Mantelkragen hoch, zogen die Hüte tief ins Gesicht und traten auf den Wagen zu. In dem Moment, als der Mann auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte und die Tür schließen wollte, trat »Diamanten-Paule« mit vorgehaltener Pistole auf ihn zu und fragte: »Nehmen Sie uns mit?« Vollkommen überrascht rief der Mann am Lenkrad: »Was wollt ihr von mir, ich habe kein Geld!« Doch da hatte Kron ihn schon auf den Beifahrersitz gedrängt, Ollenburg war dahinter eingestiegen und hielt ihm den Lauf seiner Pistole an den Nacken.

Misstrauisch musterte Kron den neben ihm Sitzenden. Wieder kamen ihm Zweifel. Aus der Nähe betrachtet, machte der Mann noch weniger her als von Ferne. Die beiden Gangster hatten sich für ihre Begegnung mit dem Millionär besonders fein herausgeputzt. Der aber trug lediglich einen schlichten Anzug von der Stange und einen abgewetzten Mantel. Sollte das vielleicht gar nicht Theo Albrecht sein, sondern nur irgendein x-beliebiger Buchhalter oder Fahrer aus dem Unternehmen? Kron wollte sicher gehen: »Sie sind doch der Herr Albrecht?«, fragte er. »Ja« – »Der Theo Albrecht?« – »Ja.« Doch Kron war noch immer nicht überzeugt: »Zeigen Sie mal Ihren Ausweis!«, herrschte er den verängstigten Mann an, der daraufhin seine Papiere hervorholte. Und in der Tat: Es war Theo Albrecht!

Ein Mann, der schon damals ein Phantom war – genau wie sein zwei Jahre älterer Bruder Karl, mit dem Theo Albrecht gemeinsam den Discounter Aldi aufgebaut hatte. Aldi – ein deutsches Imperium, mit einem Stellenwert im Einzelhandel wie Volkswagen oder Mercedes Benz in der Automobilindustrie. Heute ist »Aldi« eine der wertvollsten Marken Deutschlands. Aldi – das war Deutschland. Schlichte Läden, wo stets alles ordentlich war und sich immer am gleichen Platz befand. Einfach, vernünftig und zuverlässig, wie deutsche Autos oder deutsche Fußballer. Aldi – das war der Berti Vogts unter den Supermärkten. Und ein Exportschlager: Wie die Fernsehkrimis um Kommissar Derrick, die weltweit in mehr als 100 Ländern ausgestrahlt wurden, eroberte Aldi Europa, die USA und Australien – etwas langweilig und bieder, aber dafür rechtschaffen und solide: typisch deutsch.

Doch der Aufstieg zum weltweit tätigen Big Player vollzog sich weitgehend im Verborgenen. Als die deutsche Öffentlichkeit erstmals auf die Albrechts aufmerksam wurde, machten sie in ihren Läden schon Milliardenumsätze. Begonnen hatte ihr Weg im Wirtschaftswunderland der fünfziger und sechziger Jahre.

Aber wo damals andere »Kapitäne der Wirtschaft« mit dicker Zigarre und Schampus für die bunten Blätter posierten, machten sich die Albrechts rar: keine öffentlichen Auftritte, keine Reden, keine Fotos, erst recht keine Interviews. Sie waren weder gefeierte Mäzene, wie Kaufhauskönig Helmut Horten, noch Ehrenkonsuln wie Quelle-Chef Gustav Schickedanz, und schon gar keine Playboys, wie der Industriellenspross Gunter Sachs. Die beiden Brüder waren zeitlebens verschwiegen, unerbittlich verschwiegen – nicht erst seit der Entführung Theo Albrechts. Als das Imperium zu groß wurde, teilten sie es zunächst in zwei Hälften und dann weiter in immer unübersichtlichere Strukturen, mit dem einen Ziel: einen Einblick von außen möglichst zu verhindern. Manch Beobachter scherzte, man könne eher mit einem Foto des Yetis rechnen als mit einem der Albrechts.

Wo Fakten fehlen, blühen Mythen. Bald machten Gerüchte über den außergewöhnlichen Reichtum der Brüder die Runde. Jahrelang führten sie die – freilich nur auf Schätzungen beruhende – Rangliste der wohlhabendsten Deutschen an, wurden vom Wirtschaftsmagazin »Forbes« einige Zeit lang sogar zu den zehn reichsten Menschen der Welt gerechnet. Trotz ihres sagenhaften Vermögens seien sie aber auffallend knauserig gewesen, hieß es immer wieder. Ihre Firma hätten sie dabei selbst dann noch wie den elterlichen Krämerladen in Essen geführt, als sie schon über Tausende Mitarbeiter geboten und Millionen scheffelten. Und sie hätten sich kaum ein Privatleben gegönnt, sondern stets nur unermüdlich gearbeitet. Was ist Legende, was ist Wirklichkeit? Wie wurden aus den kleinen Kaufleuten zwei der größten Unternehmer der Republik? Warum gingen die beiden Brüder schließlich getrennte Wege? Und was erzählt uns das Phänomen Aldi über Deutschland und diejenigen, die den Discounter groß gemacht haben – uns Deutsche? Was ist das Geheimnis der Albrechts?

Tante Emma in Essen: Wo die Albrechts herkommen

Es war ein ungewöhnliches Gefährt, das da Mitte der 1930er Jahre in einem Essener Hinterhof entstand. Zwei Jungs, Hemdsärmel hochgekrempelt, überlegten und probierten, schraubten und hämmerten, bis aus zwei Fahrrädern eins entstanden war – ein Tandem, auf dem sie gemeinsam in die Pedale treten und eine große Reise unternehmen wollten. So hat es Karl Albrecht einem Journalisten erzählt, kurz vor seinem Tod 2014, als er nach all den Jahren des Schweigens doch einmal reden wollte über sein Leben und das seines Bruders. Wie so vieles bei den Albrechts blieb dennoch das meiste im Vagen. Wann genau machten sich Karl und Theo auf den Weg, und wollten die Teenager wirklich über die Alpen nach Italien radeln? Ihr Kurs jedenfalls ging südwärts, an Köln und Bonn vorbei, durch Frankfurt über die Schwäbische Alb nach München, bis sie schließlich nach Berchtesgaden gelangten. Nicht überliefert ist, ob sie auch Hitlers »Berghof« auf dem Obersalzberg einen Besuch abstatteten, in den Friedensjahren des »Dritten Reichs« eine durchaus beliebte Touristenattraktion. In Berchtesgaden jedenfalls machten sie kehrt und fuhren wieder Richtung Heimat, wo das elterliche Geschäft wartete – ein Lebensmittelladen in Essen-Schonnebeck, einem Vorort im Norden der Industriemetropole mitten im Ruhrgebiet. 19,50 Reichsmark hatten sie in den drei Wochen der Reise ausgegeben, alle Posten säuberlich notiert auf einem Notizzettel, der die Zeiten überdauerte. Dass sich die beiden – noch Schüler oder schon Lehrlinge – einen solchen »Individualtourismus« überhaupt leisten konnten, ist ein Hinweis darauf, dass manches lieb gewonnene Klischee über die Albrechts vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht.

Die Familie Albrecht

Eine gängige Legende zur Familiengeschichte der Albrechts nämlich lautet folgendermaßen: Bergmann – natürlich, im Ruhrpott – sei Vater Albrecht gewesen, ehe er wegen einer »Staublunge« seinen Beruf habe aufgeben müssen und nur noch hustend und röchelnd am Ofen habe sitzen können. Seine Frau sei daraufhin gezwungen gewesen, einen kleinen Krämerladen aufzumachen, der die Familie aber mehr schlecht als recht ernährt habe, so dass die Kinder Karl und Theo schon früh bittere Not kennengelernt hätten. Dies sei ihr Antrieb gewesen, es später allen zu zeigen – vor allem den Handelsketten, die den kleinen Kaufleuten schon damals das Wasser abgegraben hätten. So weit, so gut. Aber stimmt das wirklich?

Spurensuche in Schonnebeck. Auf der Huestraße, der zentralen Verkehrsachse des Essener Stadtteils, gab es bis Ende November 2020 eine Aldi-Filiale – wenige Tage darauf eröffnete ganz in der Nähe eine völlig neue. Aufmerksame Beobachter konnten im alten Geschäft etwa ab den 1960er Jahren an Warenstapeln Lieferzettel bemerken, die das Kürzel »VST001« trugen – Verkaufsstelle 001. In der Tat war dieser für heutige Gewohnheiten viel zu kleine Supermarkt die Wiege des Aldi-Imperiums – zumindest fast. Denn eigentlich begann die Geschichte des Unternehmens nicht hier, sondern genau nebenan. In der damaligen Mittelstraße 87 eröffnete der Bäckergeselle Karl Albrecht senior im Jahre 1913 ein Brotgeschäft, nachdem er die aus einer alteingesessenen Schonnebecker Familie stammende Anna Siepmann geehelicht hatte. Sicherlich eine gute Partie, denn das neu errichtete Haus in zentraler Lage gehörte ihrer Familie. Und für Albrecht ein veritabler Aufstieg: vom Handwerksgesellen, der »Bergmann« ist Legende, zum Kleinunternehmer, getreu dem Motto: »Ist der Handel noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein.« Ausweislich einer erhalten gebliebenen Rabattkarte gab es bei ihm natürlich Brot und andere Backwaren zu kaufen, aber auch Kaffee, Tee und Konfitüren, Butter, Margarine und Kekse. Ein Geschäft – klein, aber fein.

Schon nach einem Jahr aber mischte sich die große Politik ins private und berufliche Leben der jungen Familie Albrecht. Als die Welt am 28. Juni 1914 von der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie durch einen bosnischen Serben in Sarajevo erfuhr, dachte kaum jemand an einen großen Krieg. Dennoch brachte dieses Attentat das Pulverfass Europa zur Explosion. Alle fühlten sich als Angegriffene, keiner als Angreifer. Wie in Berlin begrüßten auch die Menschen in Wien, Paris und London euphorisch den Ausbruch eines Krieges, von dem noch niemand ahnte, wie mörderisch er werden würde. Der Weltenbrand begann mit dem Angriff der deutschen Heere im Westen. Doch der Sturmlauf führte binnen weniger Wochen in einen erbitterten Grabenkampf. Er wurde mit allen Mitteln geführt: Maschinengewehre »mähten« ganze Regimenter nieder. »Feuerwalzen« der Artillerie durchpflügten ganze Landstriche, hochgiftiges Gas kam erstmals zum Einsatz, mit fürchterlicher Wirkung.

Auch Karl Albrecht wurde als Soldat eingezogen. Seine Ehefrau musste den Laden jetzt allein schmeißen. An der sogenannten »Heimatfront« folgte auf die Kriegsbegeisterung tiefe Ernüchterung. Mangelwirtschaft und Hunger bestimmten den Alltag. Seit August 1914 hielt die britische Flotte die deutschen Häfen blockiert – auch, um die Bevölkerung auszuhungern und damit ihren Widerstandswillen zu brechen. In der Folge schossen die Nahrungsmittelpreise in die Höhe. Die wichtigsten Lebensmittel waren nur noch gegen Bezugsscheine oder in öffentlichen Volksküchen zu erhalten. »Wer hamstert, gehört ins Zuchthaus«, spottete der Volksmund, »wer aber nicht hamstert, ins Irrenhaus.« Die Steckrübe, eigentlich als Viehfutter angebaut, musste fehlende Naturalien ersetzen. Auch Klöße, Koteletts oder Pudding wurden mangels Alternativen aus Kohl gefertigt. Es gab Butterersatz aus gefärbtem Quark, Ersatzmarmelade aus Gelatine oder das mit Kartoffelmehl gestreckte sogenannte K-Brot. Dennoch zog der eklatante Versorgungsmangel, besonders im Winter, gravierende Folgen nach sich. Ein ganzes Volk, vor allem dessen unterprivilegierter Teil, nagte buchstäblich am Hungertuch. Bis 1918 starben über 700000 Deutsche an Hunger und Epidemien; es waren mehr, als später im gesamten Zweiten Weltkrieg den Flächenbombardements der Alliierten zum Opfer fielen.

Es gibt keine Aufzeichnungen, wie Anna Albrecht die Herausforderung meisterte, sich in dieser Notzeit über Wasser zu halten. Doch sie hatte Glück, dass Ehemann Karl unversehrt aus dem Feld zurückkehrte – im Gegensatz zu über zwei Millionen anderen deutschen Männern. Auch der Inhaber eines deutlich größeren Tante-Emma-Ladens direkt nebenan war gefallen. Die Albrechts nutzten die Chance, kauften Haus und Geschäft, und waren nun dort angekommen, wo sich bis unlängst die Aldi-Verkaufsstelle 001 befand.

Man lebte jetzt in einer Republik. Der Kaiser hatte abgedankt, der alte Obrigkeitsstaat war gefallen, eine Demokratie westlichen Musters auf den Weg gebracht. Doch der neue Staat trug schwer an seinem Erbe. Rechtsgerichtete Kritiker verbreiteten die Legende von einem »Dolchstoß« der Linken in den Rücken des »im Felde unbesiegten Heeres«. Der sogenannte Friede von Versailles gab dann den besiegten Deutschen die Alleinschuld am verlorenen Krieg. Versailles war objektiv nicht jenes Schanddiktat, als das es im geschlagenen Deutschen Reich empfunden wurde: Der geschmähte Friede von Versailles war eigentlich sogar ein eher milder Friede angesichts der radikalen deutschen Kriegszielpläne 1914. Doch für die Deutschen damals wirkten die Bedingungen der Sieger wie ein Schock. Sie maßen Versailles an den klassischen, maßvollen Friedensschlüssen des 19. Jahrhunderts – und empfanden diesen Frieden als Verrat, ja als verletzendes Diktat. Es waren weniger die materiellen Konditionen, die die Emotionen hochpeitschten, als die moralischen.

1923 stürzten die Nachbeben von Versailles den Staat von Weimar in seine bislang schwerste Krise. Auf die Reparationssumme von 132 Milliarden Goldmark hatte sich das besiegte Land verpflichten müssen. Nach wiederholten Versuchen, bei den Zahlungen alliierte Zugeständnisse zu erwirken, und wegen stockender Sachlieferungen forderte Frankreich jetzt mit Gewalt ein, was die Deutschen angeblich nicht freiwillig herausgeben wollten. Im Januar besetzten belgische und französische Truppen das Ruhrgebiet, um ihre Ansprüche direkt zu befriedigen. »La Ruhr« – das größte Ballungszentrum Europas – war auch für Frankreich mehr als ein Ort, an dem Kohle abgebaut und Erz verhüttet wurde. Es stellte einen Mythos dar. Wer hier herrschte, bestimmte über die wirtschaftliche Stärke des Deutschen Reichs.

Ein Sturm der Entrüstung ging durch alle Schichten der deutschen Bevölkerung. An ein militärisches Vorgehen war allerdings nicht zu denken in dem abgerüsteten Land. So entschied sich die Regierung zu einem »passiven Widerstand« und rief gemeinsam mit Parteien und Gewerkschaften im Ruhrrevier zum Streik gegen die Besatzer auf. Karl und Anna Albrecht erlebten die Protestaktionen hautnah mit. Zwei Millionen Deutsche gingen nicht mehr zur Arbeit. Die Reichsregierung sah sich gezwungen, den Lohnausgleich zu übernehmen. Die Versorgung der Streikenden, Steuerausfälle – all das verursachte enorme Kosten. Die finanzielle Belastung überstieg die Leistungsfähigkeit des Reiches bei weitem. Der Wert der Reichsmark fiel dadurch ins Bodenlose: Ein Kilo Brot kostete im Dezember 1919 noch 80 Pfennige, im Januar 1923 schon 472 Mark, ein halbes Jahr später fast 3500 Mark, im Herbst waren es dann Millionen und Milliarden.

Diese »Hyperinflation« hatte zur Folge, dass die Gehaltszahlungen sofort in Waren umgesetzt wurden. Am Ende verlor das Geld stündlich seinen Wert. Die Arbeitnehmer schleppten ihr Gehalt in Körben und Koffern durch die Straßen. Auf den Wochenmärkten und in den Geschäften konnte man mitverfolgen, wie auf den Schiefertafeln binnen kurzer Zeit mehrmals die Preise für Gemüse, Kartoffeln, Eier oder Butter erhöht wurden. Bald standen absurde Summen auf den Banknoten, oft nur noch aufgestempelt. Manch ratlose Zeitgenossen tapezierten ihre Wände mit den Geldscheinen oder heizten damit ihre Öfen an. Der Geldumlauf brach zusammen. Hersteller von industriellen oder landwirtschaftlichen Gütern gaben keine Waren mehr heraus, man kehrte zur urtümlichen Tauschwirtschaft zurück, was sich im Alltag aller Bevölkerungsschichten spiegelte.

Rechte und linke Kräfte versuchten jetzt den Umsturz. Während die Kommunisten eine Revolution nach russischem Vorbild forderten, wollten völkische Nationalisten und extrem Konservative aus Industrie, Politik und Militär eine autoritäre Diktatur. Doch Hitlers Putschversuch am 9. November 1923 endete im Kugelhagel der Polizei. Danach gelang es Reichskanzler Gustav Stresemann, die Hyperinflation zu stoppen. Am 15. November wurde eine neue Währung ausgegeben, die »Rentenmark«, im Umtauschverhältnis zu einer Billion Reichsmark. Es war ein radikaler Währungsschnitt. Der Staatsbankrott blieb aus, bald kam der Handel überall in Deutschland wieder in Schwung. Doch um welchen Preis? Die Sparguthaben von Millionen Deutschen, Rentenpakete und andere finanzielle Rücklagen waren endgültig verloren. Nur wer über Immobilien und andere Sachwerte verfügte, kam ohne gravierende Einschnitte durch die Krise. Eine bittere Erfahrung, die das Bewusstsein einer ganzen Generation prägte. Doch immerhin, es ging wieder aufwärts, auch bei den Albrechts.

Essen-Schonnebeck war in diesen frühen Jahren noch eher ländlich geprägt und kein wirklicher Arbeiterstadtteil. Zwar umzingelten ihn große Schachtanlagen wie mehrere Gruben der Zeche »Zollverein«, »Friedrich Ernestine« oder »Bonifacius«, doch ein Ort voller Industrielärm, rauchender Schlote und Abraumhalden war Schonnebeck nie. Sicherlich gehörten auch Bergmannsfamilien zur Kundschaft der Albrechts in ihrem damals typischen »Nachbarschaftsladen«. Hier wurde noch jeder Kunde persönlich bedient, gerne ein Schwätzchen gehalten und hin und wieder auch »angeschrieben«, wenn am Ende des Monats kein Geld mehr übrig war. Supermärkte waren noch ferne Zukunftsmusik, und weil es so etwas wie Kühlschränke für die breite Masse noch nicht gab, konnten viele Waren nicht so wie heute auf Vorrat gekauft werden. Viele Hausfrauen machten deshalb fast täglich ihre Runde: Bäcker, Fleischer, Gemüse- und Lebensmittelhändler. Im Mikrokosmos des Schonnebecker Handels fanden auch Karl und Anna Albrecht ihr Auskommen.

Zwei Brüder als Stammhalter

Und sie nahmen nun die durch den Krieg unterbrochene Familienplanung in Angriff. Für die damalige Zeit waren sie – mit je 33 Jahren – schon ziemlich spät dran. Im Februar 1920 kam ihr erster Sohn zur Welt, nach dem Vater Karl genannt. Im März 1922 folgte Theodor, von allen nur Theo gerufen. Alles spricht dafür, dass die Albrecht-Brüder nicht in bitterer Armut, sondern in bescheidenem, kleinbürgerlichem Wohlstand aufwuchsen. Zwar erzählte Karl Albrecht in dem bereits erwähnten Interview im Jahr 2014 davon, dass die Familie durchaus mit spitzem Bleistift rechnen musste und er schon als 14-Jähriger im Auftrag der Mutter Schulden bei säumigen Kunden habe eintreiben müssen, aber daraus zu schließen, dass die Familie am Hungertuch genagt hätte, geht wohl an der Wirklichkeit ziemlich vorbei. Durchaus glaubhaft ist allerdings, dass der Teenager im Geschäft mithelfen musste, zumal es als ausgemachte Sache galt, dass beide Söhne beruflich in die Fußstapfen ihrer Eltern treten sollten. So war das damals allgemein üblich.

Auch andere Tatsachen sprechen für ein solides finanzielles Fundament des elterlichen Geschäfts. So ist überliefert, dass die Familie Anfang der 1930er Jahre mehrfach ihre Ferien – als »Sommerfrische«, wie man damals sagte – in einer Bauernhof-Pension im Hochsauerland verbrachte, vier Bahnstunden von Essen entfernt. Dabei blieb die Mutter mit den Kindern wohl immer mehrere Wochen in Lüdingheim, einem Weiler mit lediglich drei Gehöften, während sich der Vater um das Geschäft kümmerte und nur für das Wochenende nachkam. Als sich ein Ortschronist Jahrzehnte später an die Albrecht-Brüder wandte und sie nach ihren Erinnerungen an diese Zeit fragte, antworteten die sonst so zugeknöpften Brüder unerwarteterweise sogar per Brief. Sie hätten gute Erinnerungen an den Aufenthalt in Lüdingheim, schrieben beide unisono. Den Ort habe man gewählt, weil es im Sauerland schön und die Entfernung nach Essen nicht allzu groß gewesen sei. Und, ganz Aldi-typisch: »Das soll nicht verschwiegen werden: Ihr Haus hatte damals ein wirklich gutes Preis-Leistungsverhältnis. Das hat Mutter mehrfach betont«, so Karl Albrecht.

Die Zeit vertrieben sich die Jungen beim Fußballspiel mit dem Sohn der Wirtsleute, beim Floßbau am nahe gelegenen Teich, in den Wäldern der Umgebung oder in den Stallungen und der Werkstatt des Bauernhofs, wo die Stadtkinder aus dem Kohlenpott echtes Landleben kennenlernten. »Manchmal lag ich an einem Hang in der Nähe der Pension im Gras und beobachtete den blauen Himmel«, beschrieb Karl eine andere Situation. »Ich erinnere mich an große Vögel, die lange in der Luft ihre Kreise zogen, ohne die Flügel zu schlagen. Dass es diese Nutzung des Aufwindes gab, das hatte ich vorher noch nicht bewusst wahrgenommen und wohl auch bis dahin nicht in der Schule gelernt.« Ebenso faszinierend fand er einen Elektrogenerator, den der Vermieter installiert hatte, um mit der Wasserkraft des vorbeifließenden Kränzgenbachs Strom zu erzeugen. Auch, dass die Familie mit einem Auto von der Bahnstation abgeholt wurde, hatte Karl Albrecht in Erinnerung behalten. »Das war für uns Jungen, die in einem Haushalt ohne Auto aufwuchsen, schon etwas Besonderes.«

Welche Schulen die beiden Albrecht-Brüder besuchten und welche Noten sie mit nach Hause brachten, welche Unterrichtsfächer ihnen Freude machten und welche nicht, wissen wir nicht. Immerhin dürfen wir vermuten, dass sie zumindest ordentlich zu rechnen gelernt haben. Nach Lage der Dinge beschränkte sich ihre Schulbildung auf die zehnklassige Mittelschule. Damit fiel zumindest ein Teil ihrer Schulzeit in die Jahre des »Dritten Reichs«.

Der 30. Januar 1933 war wohl der deutsche Schicksalstag des 20. Jahrhunderts. Es war ein Tag, der nicht zwangsläufig war. Denn scheitern musste die Weimarer Republik durchaus nicht. Eine andere internationale Lage, eine andere ökonomische Entwicklung hätten es ihr erleichtert, ihre Bürden zu ertragen und sie nach und nach ganz abzuwerfen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Im März 1930 zerbrach die letzte parlamentarisch gebildete Regierung an dem sozialen und politischen Beben, das die Weltwirtschaftskrise ein halbes Jahr zuvor ausgelöst hatte. Die erste deutsche Demokratie kapitulierte. Am Ende aber waren es, entgegen einer weitverbreiteten Legende, nicht die Arbeitslosen, die den Durchbruch Hitlers erst ermöglicht haben. Deren Stimmen gingen eher an die Linksparteien, insbesondere an die KPD. Dennoch war es die von Arbeitslosigkeit geprägte depressive Grundstimmung der Zeit, die Hitler nutzte. Hätte er verhindert werden können? Jene, die ihn 1933 möglich machten, trieben keine wirtschaftlichen Zwänge oder ominösen dunklen Mächte, sondern nur die eigene Schwäche, eigener Ehrgeiz, eigene Illusionen. Alle Aufpeitschung der Massen, aller rednerischer Aufruhr hätten Hitler nicht zur Macht verhelfen können. Die erhielt der Agitator erst durch das Intrigenspiel um den altersmüden Reichspräsidenten Hindenburg und durch das Versagen jener Kräfte, die die kranke Republik beschützen sollten.

Zwischen Hitler und den Deutschen gab es lange eine Teilidentität der Ziele. Der Einmarsch ins Rheinland, die Einverleibung Österreichs, die Besetzung des Sudetenlandes wurden von den meisten Zeitgenossen enthusiastisch akklamiert. Solche »Blumenkriege« waren populär. Die Deutschen außerhalb der Grenzen »heim ins Reich« zu holen, ohne Krieg, das »Unrecht von Versailles« zu tilgen – konnte man dagegen sein? Mehr wollte man nicht, und viele dachten, dass auch Hitler nicht mehr wollte. Doch das war ein enormes Missverständnis.

Wie sie zum Hitlerstaat standen, darüber haben beide Albrechts nie ein Wort verloren. Sie gehörten zu jener Jugend, von der Hitler 1938 tönte, dass sie nichts anderes lerne, »als deutsch denken, deutsch handeln«. Mit zehn Jahren, so der Diktator, gehöre sie ins Jungvolk, mit 14 in die Hitlerjugend, dann in den Arbeitsdienst und die Wehrmacht. »Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!« Es ist anzunehmen, dass die katholisch verwurzelten Albrechts diesem totalen Anspruch des Regimes eine gehörige Portion Skepsis entgegensetzten. Viele Katholiken erwiesen sich eher als resistent gegen die Verblendung durch braune Glaubenssätze als der Rest der Gesellschaft. Und alle Beobachter bezeugten die tiefe Religiosität der Familie. Der sonntägliche Kirchgang blieb bis ins hohe Alter ein unverrückbarer Pflichttermin im Leben beider Albrecht-Brüder. Ob sie in der NS-Zeit dennoch Mitglied der HJ oder des Jungvolks wurden, ob sie freudig mitmachten beim Marschieren unter flatternden Fahnen, bei Sonnenwendfeiern und Lagerfahrten, oder ob sie womöglich zu den Unauffälligen gehörten, die ihre Zeit irgendwie über die Runden brachten, ist nicht bekannt. Noch 1935 war nur die Hälfte aller Jugendlichen in der HJ organisiert, Pflicht wurde die Mitgliedschaft erst 1939. Somit könnten beide auch um den HJ-Dienst herumgekommen sein.

Sicher ist, dass beide den ihnen vorgezeichneten Berufsweg im Einzelhandel einschlugen. Karl ging dafür außer Haus und machte eine Lehre beim noblen Feinkostladen »Weiler Delikatessen« in der Essener Innenstadt. Als Älterer war er offenbar dazu ausersehen, das Brot-und-Butter-Portfolio des Albrecht’schen Geschäfts einmal erweitern und verfeinern zu können. Theo dagegen blieb im elterlichen Betrieb und lernte das Einmaleins des Kaufmannsberufs zwischen den akkurat sortierten Regalen und hinter dem blankgeputzten Verkaufstresen des Ladens in der Schonnebecker Huestraße, die jetzt nach dem Kampfflieger Richthofen hieß.

Karl und Theo im Krieg

Wieder einmal machte jedoch ein Krieg allen Plänen der Familie einen Strich durch die Rechnung. Als der lange vorbereitete Waffengang 1939 kam, gab es freilich – anders als 1914 – bei den meisten Soldaten und in der Bevölkerung keine Kriegsbegeisterung. Erst die schnellen Siege und die propagandistisch wirksame Betonung des »Blitzkrieg«-Konzepts sorgten für Zuversicht. Nach den Erfolgen gegen Polen, Norwegen, Holland und Belgien gelang schließlich der Triumph über Frankreich im Juni 1940. Damit schien die Scharte von Versailles ausgewetzt. Die Niederlage des sogenannten »Erbfeindes« verlieh Hitler die Aura der Unbesiegbarkeit. Siegestaumel und Führergläubigkeit gaben dem Diktator den Rückhalt, den er brauchte, um sich nun seinem eigentlichen Ziel zu widmen – dem Krieg gegen die Sowjetunion.

1940 wurde Karl zum Wehrdienst eingezogen, ein Jahr später auch Theo. Karl hat 2014 in seinem einzigen Interview andeutungsweise über diese Zeit gesprochen. Er gehörte zu jenen drei Millionen deutschen Soldaten, die nach dem Willen des Diktators im Rahmen des Unternehmens Barbarossa »Lebensraum im Osten« erobern sollten. Am 22. Juni 1941, kurz nach drei Uhr morgens, rollte die gewaltige deutsche Angriffsmaschine an. Auf einer Breite von 1600 Kilometern stießen die deutschen Truppen vom besetzten Polen aus in Richtung Osten vor. Der blitzartige Schlag überraschte die Sowjets völlig, die Verbände der Roten Armee wurden förmlich überrollt. Karls Einheit gehörte zur Hauptstreitmacht des Feldzugs, der Heeresgruppe Mitte. Ihre massierten Panzer- und Luftstreitkräfte sollten eine Bresche über Minsk und Smolensk in Richtung der sowjetischen Hauptstadt Moskau schlagen. Der Krieg im Osten war jedoch nicht nur ein militärischer Schlagabtausch, sondern vor allem auch ein Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug gegen »Bolschewismus und Judentum«. Zwar blieb der systematische Massenmord Sondereinsatzgruppen vorbehalten, aber auch die Wehrmacht wurde in Verbrechen verstrickt. Sollte Karl Albrecht Zeuge von solchen Mordaktionen geworden sein, so hat er wie die allermeisten anderen Kriegsteilnehmer darüber geschwiegen.

Die Schlammperiode im Herbst bremste den deutschen Vormarsch, dann übernahm »General Winter« das Zepter. Der Nachschub stockte, und bei zweistelligen Minusgraden waren die Landser oft auf freiem Feld dem russischen Winter schutzlos ausgeliefert. Im Dezember 1941 kulminierte die Entwicklung: Der Angriff auf Moskau scheiterte, die USA traten in den Krieg ein. Die Zeit der Blitzkriege war endgültig vorbei, die deutschen Verluste nahmen rapide zu. Auch Karl Albrecht, der in einer Sturmgeschütz-Abteilung kämpfte, wurde nach eigener Aussage vor Moskau schwer am Bein verwundet, sei aber wie durch ein Wunder der Amputation entkommen.

Im Sommer 1942 sah es so aus, als sollte die Wehrmacht noch einmal das Heft des Handelns in die Hand bekommen. Doch der Sturmlauf Richtung Kaukasus endete in der Katastrophe: In Stalingrad wurde eine ganze deutsche Armee ausgelöscht. 300000 Soldaten waren angetreten, die Stadt an der Wolga zu erobern, 90000 marschierten Ende Januar 1943 in langen grauen Kolonnen in Gefangenschaft. Nur 6000 sollten nach Jahren der Entbehrungen in sowjetischen Lagern die Heimat wiedersehen. Psychologisch war die Schlacht von Stalingrad ein tiefer Einschnitt. Nach ihr begann das blinde Vertrauen der Deutschen in ihre Führung zu schwinden. Fortan konnten nur Märchen von neuen Wunderwaffen die verstörten Volksgenossen bei der Stange halten.

Karl Albrecht machte im weiteren Verlauf des Krieges den Rückzug im Osten mit. 2014 erzählte er, einmal habe ihn nur ein wochenlanger Fußmarsch durch den verschneiten Osten gerettet – immer in Angst vor den heranrückenden Russen, aber auch vor deutschen Feldgendarmen, die selbst Verwundete wieder zurück an die Front schickten und vermeintliche Drückeberger standrechtlich hinrichten ließen. Wo Karl Albrecht das Kriegsende erlebte, ob er in Gefangenschaft geriet oder nicht – darüber wollte er nicht reden.

Auch über die Kriegserfahrungen von Theo Albrecht ist nur wenig bekannt. Von ihm heißt es, er habe in einer Nachschubeinheit des »Deutschen Afrikakorps« (DAK) gedient. Mit dem DAK wollte Hitler dem verbündeten italienischen Diktator Mussolini aus der Patsche helfen, der ab Sommer 1940 versucht hatte, sein »Imperio Romano« auf afrikanischem Boden auszubauen. Doch schon bald war die italienische Offensive in britischen Stellungen hängen geblieben. Der großspurige »Duce« musste seinen deutschen Bundesgenossen kleinlaut um Beistand bitten. Hitler sagte Hilfe zu. Das großzügige Angebot war nicht uneigennützig: Eine drohende Kapitulation des Verbündeten mit all ihren Auswirkungen musste unbedingt verhindert werden. So kämpften ab Februar 1941 hunderttausende deutsche Soldaten unter der Sonne Nordafrikas. Panzergeneral Erwin Rommel, der »Wüstenfuchs«, jagte seine Männer einmal quer durch Nordafrika bis nach Ägypten. Der Sieg schien zum Greifen nah, doch letztlich waren die deutschen Linien überdehnt. Nachschubeinheiten wie der von Theo Albrecht gelang es kaum, mit dem raschen Vormarsch der Panzer über Tausende Wüstenkilometer Schritt zu halten, die Lieferungen aus der Heimat stockten. Als dann schließlich im Westen, in Algerien, die Amerikaner landeten und eine zweite Front eröffneten, hatte Rommels Heer die Stunde geschlagen. Es blieb nur ein geordneter Rückzug – gegen die ausdrücklichen Haltebefehle Hitlers. Im Mai 1943 schwiegen die Waffen. Die Reste des Afrikakorps traten den Marsch in die alliierte Kriegsgefangenschaft an. Unter den Soldaten befand sich auch Theo Albrecht.

Welche Rolle spielten die Kriegserlebnisse für die beiden Brüder? Im Falle Karl Albrechts scheint die als wundersam empfundene Errettung aus den Kriegswirren seine ohnehin vorhandene Gottesfürchtigkeit verstärkt zu haben. Für Theo jedoch, so berichten Vertraute, habe die Zeit beim Kommiss einen ganz praktischen Nutzen gehabt: Unter erschwerten Bedingungen Nachschub zu organisieren, große Mengen Verpflegung und Material zu kalkulieren, zu ordern und zu verteilen, eine straff geführte Logistikkette zu dirigieren, das habe sich als beste Schule für sein zukünftiges Leben erwiesen.

Zeitenwende 1945. Im zerstörten und besiegten, besetzten und geteilten Deutschland hieß das: Ende des totalen Sterbens, des brutalen Bombenkriegs, des Massenmords in den Lagern. Die meisten Deutschen waren dennoch nicht in der Lage, sich als »Befreite« zu empfinden. Das galt nur für eine Minderheit – die Opfer und die Opponenten des Regimes. Die Mehrheit aber sah den 8. Mai als Stichtag des Zusammenbruchs, der Niederlage. Denn sie hatten sich nicht selbst von Hitler trennen können, vielfach gar nicht wollen, hatten es den Alliierten überlassen müssen, die besetzten Länder und am Ende Deutschland von den Nazis zu befreien. Damals aber fanden jene, die das schreckliche Geschehen überlebten, weder Zeit für Reflexionen noch für Tränen. Nichts als weiter überleben wollten sie. Noch Hunderttausende verhungerten in diesem Jahr – gefangene Soldaten, Greise, Kranke. Konrad Adenauer sah das Volk »zugrunde gehen – langsam, aber sicher«. Doch der alte Herr aus Rhöndorf hatte seine Deutschen unterschätzt. Sie streckten Leberwurst mit Holz, sie bückten sich nach Ami-Kippen, fälschten Fragebögen, tauschten Silber gegen Butter, schlugen für Brennholz Wälder kahl und schneiderten aus Fahnentüchern Blusen. Stunde null? Ganz sicher nicht. Es gab genügend Kontinuität, um den scheinbar absoluten Stillstand des Geschehens einzubetten in das Vorher und das Nachher.

Keine Fisimatenten: Wie die Albrechts aufsteigen

Drei Jahre, einen Monat und zwölf Tage nach Kriegsende herrschte Alarmstimmung in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. In der Nacht vom 19. zum 20. Juni 1948, Punkt 0.00 Uhr, ertönten in Hunderten Kasernen Trillerpfeifen. Das Schlusskapitel einer geheimnisvollen Operation namens »Bird Dog« (Spürhund) nahm seinen Lauf. Tausende GIs hasteten aus ihren Unterkünften, nahmen Pistolen, Karabiner, Maschinenpistolen und Maschinengewehre in Empfang – Szenen wie bei einer kriegsmäßigen Mobilmachung. Berge von Holzkisten standen in den Kellern der Landesbanken zur Abholung bereit. Die Kisten waren handlich, die Soldaten bildeten Reihen wie bei einem Feuerwehreinsatz, reichten die Fracht bis zu den Armeetransportern durch, wo sie in Windeseile verladen wurde: Klappe zu, und los ging die Fahrt mitsamt den Wächtern auf der Ladeplattform. Hunderte Konvois waren am frühen Morgen des 20. Juni auf den Straßen Westdeutschlands unterwegs – eigentlich nichts Besonderes für ein besetztes Land. Doch diesmal transportierten alle Fahrzeuge die gleiche Fracht, alle Besatzungen hatten denselben Auftrag und hüteten dasselbe Geheimnis. Im Morgengrauen erreichten sie die Zielorte – Verteilerstellen für Lebensmittelmarken, die nun einem anderen Zweck dienen sollten: der Ausgabe des neuen Geldes, der Deutschen Mark. Es war Sonntag, der 20. Juni 1948. Es war der Tag X – der Tag der Währungsreform.

Der Tag X: Alles auf Anfang

1948 – auf dieses Jahr datierte auch Karl Albrecht später den Beginn »der eigentlichen Geschäftstätigkeit« der beiden Brüder. Bis dahin hatten die Alliierten das System der Zwangsbewirtschaftung aus der Kriegszeit, eine Kombination aus Rationierung und Preiskontrolle, beibehalten. Bezugsscheine und Lebensmittelkarten waren neben der nahezu wertlosen Reichsmark die offiziellen Währungen. Dies regelte zwar die Verteilung der Güter, dennoch regierte weiter der Mangel. Viele Menschen fristeten noch immer ein kärgliches Dasein, das sich nur unwesentlich von der Situation nach Kriegsende unterschied. Für Lebensmittelhändler wie die Albrechts gab es in dieser Lage nicht viel zu verdienen. Theo Albrecht konnte höchstens sein beim Militär erworbenes Organisationstalent unter Beweis stellen, um den Kunden überhaupt etwas anbieten zu können.

Bis April 1946 waren beide Albrecht-Brüder wieder nach Hause zurückgekehrt. Freud und Leid lagen wie in vielen anderen deutschen Familien dicht beieinander: Beide Brüder hatten den Krieg äußerlich unversehrt überstanden. Und obwohl Essen als wichtige Waffenschmiede zu den am meisten bombardierten Städten des Deutschen Reichs gehört hatte und mehr als die Hälfte aller Gebäude zerstört war, stand das Haus der Albrechts in Schonnebeck noch. Wieder hatte in der Kriegszeit vor allem die Mutter das Geschäft geschultert, denn Vater Karl war zunehmend von Krankheit gezeichnet gewesen. 1943 war er im Alter von nur 57 Jahren gestorben. Es lag nahe, dass nun Karl und Theo Albrecht die Führung des elterlichen Ladens übernahmen, wenngleich es für Karls Lehrrichtung »Feinkost« zunächst einmal keinen Bedarf mehr gab.

Im Frühjahr 1948