Schande zählt nicht - Stefan Matern - E-Book

Schande zählt nicht E-Book

Stefan Matern

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Beschreibung

Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir Menschen über unseren Hang zum Egoismus, über unsere Willensfreiheit und unser Potenzial zum Bösen wissen (wollen). Der indische Jesuitenpater Anthony de Mello (1931-1987) hat radikale Thesen zur Natur des Menschen aufgestellt. Darauf aufbauend entwickelt der Autor ein Welt- und Menschenbild, das es uns ermöglicht, negative Emotionen wie Ärger, Wut oder Hass zu vermeiden und das uns einen Weg zur Gelassenheit bietet.

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Stefan Matern

Schande zählt nicht

Warum wir unfreie Egoisten sind

Copyright 2020 Stefan Matern

Autor: Matern, Stefan

Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Satz & Umschlag: Erik Kinting

Verlag & Druck:

tredition GmbH,

Halenreihe 40-44,

22359 Hamburg

978-3-347-19044-3 (Paperback)

978-3-347-20200-9 (Hardcover)

978-3-347-19046-7 (e-book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dem Menschen,deren Liebe mir so viel zu bieten hat.

Und für Anthony de Mello.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I

Über Determinismus, Willensfreiheit und Gewalt

Willensfreiheit.

Schuld und Strafe im Determinismus

Willensfreiheit und Religion

Über Eigennutz und Altruismus

IIAnthony de Mello und sein neues Denken

Einleitung

Die Menschen wollen ihr kaputtes Spielzeug zurück

Wahre Nächstenliebe gibt es nicht

Die Maskerade der Nächstenliebe

Ich bin ein Egoist, du bist ein Egoist

Wir vertrauen niemandem

Say your thing and get out of here

Versuch nicht ständig, die Welt zu ändern

Identifiziere dich nicht mit deinem Beruf

Mach dein Glück nicht abhängig von anderen Menschen / Einsamkeit

Woher kommen Kummer und Leid?

Mach dein Glück nicht abhängig von Gütern, Beruf, Menschen

Trauere nicht über deine Sünden, sag nicht Es tut mir leid

Selbstbeobachtung / Bewusstheit

Negative Gefühle gegenüber anderen

Erfolg und Programmierung

Vorlieben, nicht Wünsche

Meditation über den eigenen Tod

Biographie von Anthony de Mello

Die wichtigsten Grundsätze aus Awareness

Epilog

Eine(r) von Tausend

Notifikation über die Schriften von Pater Anthony de Mello

IIIDie Quintessenz

Einleitung

Quintessenz

Land der Liebe

Fazit

Zwei Worte zum Schluss

Determinismus ist nicht gesellschaftsfähig

Determinismus ist nicht alles.

Quellenverzeichnis

Vorwort

»Es ist ein ungewöhnliches Buch geworden«, sagte meine Frau zu mir, »denn wenn man es richtig liest – und damit meine ich, dass man all die prägnanten Betrachtungen bewusst reflektiert – dann ist man ständig hin- und hergerissen zwischen Gefühl und Vernunft. Dann kommt man nicht umhin, Stellung zu beziehen und sich zu entscheiden für seine emotionale Sichtweise (Ich möchte lieber nicht daran glauben) oder für seine rationale Betrachtung (Genauso ist es).«

Ja, liebe Leser, genauso ist es. Doch am Ende des Buches werden sich einige von Ihnen für eine weitere Variante entscheiden: Sie werden das Gelesene schlichtweg verdrängen und wieder vergessen.

Gelassenheit und die Nähe des Menschen zu sich selbst sind von zentraler Bedeutung für Anthony de Mello, der den entscheidenden Anstoß zu diesem Buch gab. Aber Gelassenheit kann man sich nicht einfach verordnen. Man muss sie sich regelrecht erleben und die Auseinandersetzung mit de Mello ist für mich ein bedeutender Teil dieser Erlebung geworden. Das Außergewöhnliche an seinem Welt- und Menschenbild ist, dass sich Gelassenheit dabei nicht aus heiteren, optimistischen Betrachtungen entwickelt, sondern aus einem zutiefst ernüchternden Blick auf die menschliche Natur.

Anthony de Mello (1931–1987) war ein innerhalb der Katholischen Kirche bekannter und erfolgreicher indischer Jesuitenpater, der erst wenige Jahre vor seinem frühen und plötzlichen Tod damit begann, die menschliche Natur zu sezieren und radikale Thesen darüber aufzustellen. In den Jahren zuvor hatte er bereits mehrere Bücher mit Lebensweisheiten (teilweise auch als Aphorismen) über Meditation und Spiritualität veröffentlicht, aber noch nicht über sein neues Menschenbild. So sind seine Ansichten dazu nur fragmentarisch erhalten geblieben, aber zusammen mit anderen Texten, die sich kritisch mit der Lehre der Kirche auseinandersetzen, führte dies dazu, dass seine Schriften für einige Jahre mit einer offiziellen Notifikation der Katholischen Kirche gebrandmarkt wurden (… um die Gläubigen vor den Gefahren zu warnen, die in den Schriften von Pater Anthony de Mello liegen).

Nach seinem Tod haben Freunde von ihm wesentliche Aussagen aus seinen schriftlichen Unterlagen und Vorträgen seiner letzten Jahre zusammengetragen und als Buch unter seinem Namen in den USA veröffentlicht (Titel der Originalausgabe: Awareness (dt. Der springende Punkt, Herder Verlag).

Im zweiten Kapitel des Buches habe ich eine Reihe seiner Aussagen thematisch zusammengefasst und mit eigenen Kommentaren versehen. Mangels zusammenhängender Texte de Mellos ist die Vorstellung seines neuen Denkens nur in dieser aphorismenartigen Form möglich, aber im dritten Teil verbinden sich diese Fragmente zu einer stringenten Geschichte.

Und für den einen oder anderen auch zu einem Geschenk.

Dies ist das herausfordernste Buch, das ich je gelesen habe. Mir hat es nicht gefallen, was er über die Menschen und ihre Selbstsucht und über die Liebe sagt, aber ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Das hat der Papst wohl auch so gesehen, dass er ihn dafür bestraft hat …

Internetkritik zu Awareness

I

Über Determinismus, Willensfreiheit und Gewalt

Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.

Schopenhauer

Wir können die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen nicht endgültig beantworten, solange wir nicht wissen, wie unser Geist im Gehirn entsteht. Es gibt einige hypothetische Überlegungen sowie eine ganze Reihe wissenschaftlicher Experimente, die den Schluss nahelegen, dass die menschliche Willensfreiheit wesentlich geringer sein muss (oder gar reine Illusion ist), als wir das üblicherweise annehmen. Trotz immenser Anstrengungen, vor allem in den vergangenen 150 Jahren, hat die Hirnforschung auch weiterhin keinerlei Kenntnis darüber, wie die genauen Grundlagen unserer Gehirnfunktionen aussehen. Auch heute noch ist völlig unbekannt, wie Bewusstsein entsteht oder wie die Gedächtnis- oder die emotionale Speicherung eines Wortes wie Mutter in den Zellen unseres Gehirns erfolgt. Wir haben mittlerweile ausgezeichnete Informationen darüber, welche Hirnregionen bei den verschiedenen mentalen Vorgängen beteiligt sind und auf welche Weise diese Areale miteinander verknüpft sind. Und in den letzten Jahrzehnten hat die Hirnforschung große Erkenntnisse bei der Frage erworben, welche Neurotransmitter und Hormone an welchen Stellen des Gehirns welche Wirkungen in uns auslösen. Wir haben dabei gelernt, wie sehr unsere emotionalen und körperlichen Zustände von diesen Substanzen beeinflusst und bestimmt werden, aber bei all diesen Fortschritten wird immer wieder übersehen, dass wir auch weiterhin keinerlei Vorstellung davon haben, wie unser Geist aus Neuronen (Nervenzellen), Aktionspotentialen (elektrische Impulse in den Neuronen) und Neurotransmittern (Botenstoffe im Gehirn) erwächst. Was genau geschieht in den Hirnzellen, wenn Bewusstsein entsteht, wenn uns unsere Emotionen aufwühlen oder wenn Phantasie und Kreativität uns bereichern? Es kann keinerlei Zweifel daran geben, dass unser Geist neuronal basiert ist, also an die Nervenaktivität des Gehirns gebunden ist, aber wie aus der Monotonie der Aktionspotentiale zahlloser Neuronen ein denkender Geist oder die Vielfalt unseres Erlebens entsteht, davon haben wir nicht nur keinerlei Kenntnis – wir haben auch nach 150 Jahren Hirnforschung nicht einmal eine Idee davon entwickelt, wie eine Theorie aussehen könnte, die diese Metamorphose erklärt. Auch wenn derzeit viel über dunkle Materie und Energie im Universum gerätselt wird – das Wissen der Menschen um ihrer selbst bleibt das größte Geheimnis der Menschheit. Solange wir dies nicht verstehen, wird eine endgültige Beweisführung zum Thema Willensfreiheit nicht möglich sein.

Der Naturwissenschaftler Emil Heinrich Du Bois-Reymond prägte zur Frage der Hirnfunktionsweise 1872 den Ausspruch: Ignoramus et ignorabimus (Wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen), woraufhin der berühmte deutsche Mathematiker David Hilbert konterte: Wir müssen wissen, wir werden wissen. Hilbert nahm seine Zuversicht mit ins Grab (als Inschrift auf dem Grabstein), doch auch heute noch bleibt uns das Geheimnis unseres Geistes verschlossen.

Der britische Psychologe und Schriftsteller Stuart Sutherland schrieb zum Bewusstsein 1989 folgende Definition im International Dictionary of Psychology: Bewusstsein kann nur in Begriffen definiert werden, die unverständlich bleiben, wenn man nicht schon weiß, was das Bewusstsein ist. Es handelt sich um ein faszinierendes, aber undefinierbares Phänomen; man kann weder feststellen, was es ist, noch was es bewirkt oder warum es sich entwickelt hat. Nichts, was je darüber geschrieben wurde, ist die Mühe des Lesens wert.1

Einerseits bleibt uns die Funktionsweise unseres Gehirns verborgen und andererseits wissen wir zugleich, dass unsere Denkkategorien, also die Vorstellungen, die wir z. B. von Raum und Zeit haben, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Eine der großen Leistungen des Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) war die Erkenntnis, dass wir Menschen grundsätzlich in Kategorien denken, die wir nicht überschreiten können: Raum, Zeit und Kausalität. Nichts, was wir wahrnehmen oder uns vorstellen können, kann außerhalb dieser Kategorien existieren. Der Raum ist immer statisch und dreidimensional, die Zeit verläuft immer linear und kein Ereignis geschieht ohne eine entsprechende Ursache. Diese Art und Weise, unsere Umwelt wahrzunehmen, ist uns angeboren, oder, wie Kant es ausdrückte, in die Wiege gelegt. Da wir nur in diesen Kategorien denken können, verfügen wir überhaupt nicht über die Möglichkeit zu überprüfen, ob diese Sichtweise der Welt auch der Wirklichkeit entspricht. Es dauerte mehr als einhundert Jahre, bis Einsteins Relativitätstheorien und die Quantenmechanik den Nachweis erbrachten, dass Kants Zweifel berechtigt waren: Die Welt ist zuweilen fundamental anders, als wir sie erleben, aber unser Gehirn ist nicht in der Lage, sich einen gekrümmten Raum, einen unterschiedlich schnellen Verlauf der Zeit oder die bizarren Phänomene der Quantenmechanik vorzustellen. Nur anhand ihrer mathematischen Herleitung und aufgrund zahlreicher bestätigender Experimente wissen wir, dass diese vermeintlich unmöglichen Zustände der Wirklichkeit entsprechen, auch wenn dies unserer Logik nach nicht sein kann. Derartige Phänomene, die nachweislich existieren, sich aber unserer Vorstellungskraft entziehen, sind ein untrüglicher Beweis für die Unvollkommenheit unseres Denkens. Wir müssen daher auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Entstehungsweise von Geist und Bewusstsein ein ebenso gekrümmter Raum ist und dass unser Gehirn grundsätzlich nicht über die Fähigkeit verfügt, die Vorgänge zu verstehen, die den Geist in ihm generieren.

Aber auch Tiere verfügen über außergewöhnliche Hirnleistungen wie Gedächtnis, Emotionen und planvolles Handeln, sodass die unerklärliche Funktionsweise des Gehirns nicht erst im Evolutionsstadium des Homo sapiens aufgetreten sein kann. Während wir die Funktionsweise nahezu aller Gewebe und Organe inzwischen gut, oft bis auf die atomare Ebene hinab verstehen, bleiben uns die Mechanismen des Gehirns ein Rätsel.

Willensfreiheit

Eine kurze Einführung zum Thema Willensfreiheit_für diejenigen, die sich damit nicht näher beschäftigt haben und sich fragen, aus welchen Gründen wir an unserem freien Willen und somit auch an unserer gefühlten Entscheidungshoheit zweifeln müssen.

Zunächst einmal ist es gar nicht einfach zu erklären, was genau man unter Willensfreiheit versteht. Die Frage ist vielschichtig, sodass verschiedene Definitionen dazu entworfen wurden. Am einfachsten lässt sie sich veranschaulichen, wenn man die Frage stellt, ob ein Mensch, der durch keinerlei Zwänge beeinträchtigt wird, bei einer Entscheidung zwischen A und B frei wählen kann oder ob diese Entscheidung durch die aktuellen Zustände in seinem Gehirn grundsätzlich determiniert und somit vorherbestimmt ist. Mit Determinierung oder Vorherbestimmung ist gemeint, dass die Entscheidung gar nicht anders ausfallen kann, als sie es tut, und dass man eine Entscheidung auch prinzipiell vorhersagen könnte, wenn man alle Faktoren kennen würde, die im Gehirn an der Entscheidungsbildung beteiligt sind. Umgekehrt ausgedrückt würde echte Willensfreiheit bedeuten, dass selbst bei Kenntnis aller Hirnfaktoren prinzipiell nichts und niemand in der Lage wäre, das Ergebnis einer Entscheidung bis zum Zeitpunkt ihres Eintretens vorherzusagen.

Dazu ein Beispiel mit Frau Meier und Herrn Müller. Frau Meier ist Deterministin (Definition folgt) und behauptet, dass weder Herr Müller noch irgendein anderes Wesen auf dieser Welt einen freien Willen besitzt. Stellen wir uns vor, Herr Müller möchte gerne einen Hund haben und muss sich nun im Tierheim entscheiden, ob er Paulchen oder Lottchen mit nach Hause nehmen soll. Er entscheidet sich nach kurzer Zeit für Paulchen und ist der Überzeugung, dass er dabei eine freie Entscheidung getroffen hat. Er habe die Wahl gehabt und diese sei auf Paulchen gefallen. Fast alle Menschen auf der Welt sehen das ebenso. Frau Meier aber sieht das anders. Sie behauptet, Herr Müller habe zwar eine Entscheidung getroffen, aber diese Entscheidung sei nicht frei gewesen, da Herr Müller gar nicht anders habe handeln können, als sich für Paulchen zu entscheiden. Sein Wille habe keine Wahl gehabt und sei deswegen unfrei. Der Eindruck einer Entscheidungshoheit sei reine Illusion.

Wie kommt Frau Meier dazu?

Es gibt mehrere Gründe, die dafür sprechen, dass wir keine echte Entscheidungsfreiheit besitzen. Der menschliche Wille kann niemals völlig frei sein, denn wenn er völlig frei wäre, dann müsste er von allem vollkommen unabhängig sein. Nichts dürfte ihn beeinflussen, also auch nicht die Persönlichkeit desjenigen, dessen Gehirn er entspringt, und damit könnte dieser vollkommen freie Wille auch nicht unser eigener sein. Da der Wille kein materiefreier, schwebender Äther ist, sondern aus den Neuronen des Gehirns generiert wird (wie auch immer – wir wissen es nicht), ist der Wille mit Sicherheit abhängig von den materiellen und energetischen Bestandteilen des Hirngewebes, die ihn hervorbringen. Vollkommen frei also kann unser Wille nicht sein.

Unter Determinismus versteht man die Ansicht, dass die Kausalität, das Prinzip von Ursache und Wirkung, allumfassend in der Natur vorliegt und demnach allen Vorgängen eine Ursache zugrunde liegt. Alle Ereignisse in der Natur werden durch entsprechende Ursachen ausgelöst und somit sind alle Abläufe in der Natur die zwangsläufige Abfolge von Ereignissen, die immer das Produkt ihrer Vergangenheit und die Ursache ihrer Zukunft sind. Wie in einer fallenden Domino-Reihe sind alle Ereignisse in der Natur festgelegt und vorherbestimmt und damit auch theoretisch vorhersagbar, wenn man alle dazu erforderlichen Faktoren kennen würde. In diesem Zusammenhang wird häufig das Beispiel von der Determinierung des Universums genannt: Aus dem Determinismus folgt zwangsläufig, dass nach seiner Entstehung der weitere Verlauf des Kosmos aufgrund der kausalen Verkettung der Ereignisse unabänderlich festgelegt ist. Das Schicksal des gesamten Universums war bereits in seinem Urknall vorherbestimmt. All das, was gestern, heute und morgen geschieht, erfolgt seit Anbeginn der Zeit schicksalhaft und unvermeidlich.

Diese Ansicht über die Ereignisse und Abläufe in der unbelebten Natur wird von nahezu allen Wissenschaftlern geteilt, aber über die Frage, ob das auch auf die belebte Natur, also auf alle Lebewesen zutrifft, darüber besteht keine Einigkeit. Der Determinismus geht davon aus, dass auch alles (menschliche) Leben dem Gesetz der Kausalität unterliegt und determiniert ist und damit sind nicht nur körperliche Aktivitäten gemeint, sondern auch der Geist. Unser Denken und Handeln sind demzufolge determiniert, weil der Geist unserem Gehirn entspringt und die Abläufe im Gehirn eben auch dem Gesetz der Kausalität unterliegen. Denken, Fühlen und Handeln sind das Produkt von Milliarden von Nervenzellen, die miteinander kommunizieren und sich gegenseitig beeinflussen. Jede einzelne Nervenzelle, die Informationen erhält, verarbeitet und an andere Neuronen weiterleitet, arbeitet streng determiniert. Das bedeutet, dass jede Nervenzelle sich so verhält, wie es die physikalischen und chemischen Bedingungen in und außerhalb der Zelle gebieten. Eine einzelne Zelle kann sich bei ihrer Arbeitsweise nicht entscheiden, ob sie nun ein Signal stoppt oder weiterleitet, sondern sie wird durch die lokalen Verhältnisse zu jedem ihrer Schritte gezwungen.

Ähnlich verhält es sich bei einem Computerprogramm, das mit einem Algorithmus eine von ihm geforderte Entscheidung trifft, indem es die Faktoren analysiert, die es dabei zu berücksichtigen hat, und dann aufgrund seiner Programmierung zu einem Ergebnis bzw. zu einer Entscheidung gelangt. Wenn diese Faktoren bei jeder erneuten Analyse unverändert bleiben, muss und wird der Algorithmus immer wieder zu demselben Ergebnis kommen: dieselben Ursachen – dasselbe Resultat.

Heutzutage geht die Neurowissenschaft davon aus, dass auch im Gehirn Entscheidungen auf diese Art getroffen werden, indem ein Algorithmus durch die verschiedenen Aspekte, die für seine Entscheidungsfindung relevant sind, zu einem Ergebnis gezwungen wird. Daher wird seine Entscheidung unter den exakt selben Bedingungen immer gleich ausfallen. Es ist allerdings nicht möglich, einen Menschen dieselbe Entscheidung unter den exakt gleichen Bedingungen wiederholen zu lassen, denn vor einer erneuten Entscheidung haben sich seine Erfahrungen und somit die Bedingungen im Vergleich zur vorherigen Entscheidung geändert.

Somit ist die Determinierung des Gehirns hypothetisch. Sie kann nicht experimentell bewiesen werden. Wenn wir aber in einer gedachten Zeitschleife die Möglichkeit hätten, uns immer wieder an den Punkt derselben Entscheidung zurückzuführen, so würden wir uns jedes Mal aufs Neue gleich entscheiden – müssen. Trotz seiner Sympathie auch für Lottchen: Herr Müller hat sich nach kurzem Abwägen für Paulchen entschieden und auch wenn er einhundert Mal exakt dieselbe Entscheidungssituation durchleben würde, so hätte Lottchen einhundert Mal keine Chance. Dies wäre die unabänderliche Konsequenz aus dem Determinismus. Es bedeutet, dass alle Faktoren, die in der betreffenden Situation Herrn Müllers Entscheidung hervorbringen, im Zeitschleifenmodell immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führen werden. Wenn aber die Entscheidung unter identischen Bedingungen immer dieselbe ist, dann ist sie determiniert und wäre in Kenntnis aller beteiligten Faktoren grundsätzlich auch vorhersagbar. Natürlich wäre es möglich, dass Herr Müller kurz vor seiner Entscheidung von jemandem angesprochen wird, der ihn an seinen Onkel und dessen Hund Lottchen erinnert und ihn damit zu einer anderen Entscheidung veranlasst, aber dann wären eben die entscheidenden Faktoren nicht mehr dieselben wie zuvor. Einzig und allein die Tatsache, dass wir niemals in die Lage versetzt werden, dieselbe Entscheidung unter den exakt identischen Voraussetzungen (also auch ohne die Erfahrung, die wir nach der Entscheidung erwerben) erneut treffen zu müssen, hindert uns an der Erkenntnis, dass wir keinen freien Willen besitzen.

Drehbuchautoren von Zeitschleifenfilmen scheinen keine Anhänger des Determinismus zu sein, denn sie lassen ihre Protagonisten zwar immer wieder denselben Ablauf aufs Neue erleben, aber wenn Bill Murray in dem Klassiker Und täglich grüßt das Murmeltier morgens aufwacht, dann wird er sich dessen nach wenigen Tagen bewusst und kann nun versuchen, von Tag zu Tag seinem Ziel, der netten Andie MacDowell, näherzukommen. Das ist zugegebenerweise auch wesentlich unterhaltsamer, als ein deterministischer Ablauf es wäre, denn in einem solchen Film verliefe jeder neue Tag genauso wie zuvor und Bill Murray könnte die ganze Bandbreite seiner Lieblosigkeit und Läuterung gar nicht zur Geltung kommen lassen.

Diese Ansicht des Determinismus war in der Wissenschaft bis Anfang des 20. Jahrhunderts einstimmig anerkannt, aber das änderte sich durch Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenmechanik der 20er- und 30er-Jahre, die der Menschheit erstmalig und unausweichlich vor Augen geführt haben, dass unsere Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität nicht immer der Wirklichkeit entsprechen. Unsere grundlegenden Denkkategorien passen gut zu den gemäßigten Lebensverhältnissen unseres Mesokosmos, aber im Mikrokosmos der Elementarteilchen und im Makrokosmos des Universums sind sie unvollkommen und zuweilen auch völlig unfähig, die Wirklichkeit abzubilden. Diese Wirklichkeit lässt sich dann nur mithilfe mathematischer Formeln beschreiben und mit wissenschaftlichen Experimenten beweisen – verstehen aber können wir sie nicht. Und dennoch geht auch heute noch die große Mehrheit der Naturwissenschaftler davon aus, dass wir in einem vollkommen determiniert ablaufenden Universum leben.

In diesem Buch vertrete ich den Standpunkt des Determinismus (den ich auch Anthony de Mello unterstelle), ohne dabei gänzlich sicher sein zu können, dass dieses Weltbild auch der Wirklichkeit entspricht. Es gibt einige mehr oder weniger ernst zu nehmende Einwände dagegen, wobei ich auf die ernsteren von ihnen am Ende dieses Kapitels noch eingehen werde.

Einer der nicht relevanten Einwände gegen den Determinismus ist die Chaostheorie, die zuweilen als Rettungskandidat für die Willensfreiheit angeführt wird, in der aber das Prinzip der Kausalität vollständig erhalten bleibt. Die Theorie besagt, dass in manchen Systemen die Verhältnisse derart komplex sind, dass schon winzigste Faktoren einen enormen Einfluss auf das Ergebnis eines Vorgangs haben können wie z. B. der Schmetterlingseffekt beim Klima/ Die Abläufe in einem Chaossystem wie dem Klima.I verlaufen zwar vollkommen determiniert, aber die Komplexität der Abläufe wie auch die große Bedeutung bereits kleinster Einflüsse verhindern dabei jede exakte Vorhersagbarkeit. Die Chaostheorie erklärt also, warum Prognosen in hochkomplexen Systemen so schwierig sind, ohne dabei die Kausalität infrage zu stellen. Für das Gehirn würde das z. B. bedeuten, dass schon das Blinzeln eines Atoms das Ergebnis eines Gedankengangs erheblich beeinflussen könnte – sicherlich kein Plädoyer für Willensfreiheit. Wir können uns nicht einmal vorstellen, wie echte Willensfreiheit aussehen würde. Wenn wir uns längere Zeit mit einer zu treffenden Entscheidung auseinandersetzen, dann möchten wir dabei die Überzeugung haben, dass wir diese Wahl aufgrund unserer freien und bewussten Gedankengänge treffen. Dabei wirklich absolut willensfrei zu sein, würde bedeuten, dass diese Wahl nur durch unsere aktuellen Gedanken zu diesem Thema entschieden wird und durch nichts anderes. Diese Gedanken aber sind Bestandteil und Ausdruck unserer Persönlichkeit und die Persönlichkeit wiederum ist das Produkt unserer angeborenen und erworbenen Eigenschaften, die zusammen eine jahre- und jahrzehntelange Entwicklung unseres Gehirns bewirken. All das, was uns geprägt hat, all die unzähligen Faktoren unseres Genoms und unseres Lebenslaufs, formen unsere Persönlichkeit, die sich in den ca. 100 Milliarden(!) Nervenzellen und 500 Billionen(!)2 Synapsen unseres Gehirns eingebrannt hat (wie auch immer – wir wissen es nicht). Nichts von all dem Unbewussten und Bewussten, das unsere Persönlichkeit ausmacht, dürfte dann unsere Entscheidung und die vorhergehenden Gedankengänge beeinflussen. Das ist eine groteske Vorstellung. Unser Denken ist doch ein wesentlicher Bestandteil unserer Persönlichkeit. Um echte Willensfreiheit zu erreichen, müssten wir alle unsere Fragestellungen und die dazugehörigen Gedankengänge in eine Art Blackbox auslagern, in der sie vollkommen unabhängig von allen Einflüssen zur Entscheidung kommen könnten.