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Lara und Jonas sind zur Freude aller vom ersten Tag im Kindergarten an unzertrennlich. Nico gefällt das nicht. Er ist überzeugt, dass Lara nur ihm gehört. Jonas wird immer wieder anfallsartig von Zuständen überfallen, in denen er schreckliche Bilder aus der Vergangenheit sieht. Doch aus welcher Vergangenheit? Nora kämpft um Gleichberechtigung und Unabhängigkeit, Lara um Jonas, Christa um ihren Mann und Soja um die Liebe ihres Lebens. Drei Familien, sechs Erwachsene, drei Einzelkinder. Konflikte, Lebens-, Liebes- und Sinn-Fragen wechseln sich ab. Bis hin zu einem Mann, der eines Abends spurlos verschwindet. Ein Kriminalfall, dessen dunklem Geheimnis Inspektor Peter Klaus erst nach mehreren Jahren auf die Spur kommt.
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Seitenzahl: 320
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Lara und Jonas sind zur Freude aller vom ersten Tag im Kindergarten an unzertrennlich. Nico gefällt das nicht. Er ist überzeugt, dass Lara nur ihm gehört.
Jonas wird immer wieder anfallsartig von Zuständen überfallen, in denen er schreckliche Bilder aus der Vergangenheit sieht. Doch aus welcher Vergangenheit?
Nora kämpft um Gleichberechtigung und Unabhängigkeit, Lara um Jonas, Christa um ihren Mann und Soja um die Liebe ihres Lebens.
Drei Familien, sechs Erwachsene, drei Einzelkinder. Konflikte, Lebens-, Liebes- und Sinnfragen wechseln sich ab. Bis hin zu einem Mann, der eines Abends spurlos verschwindet. – Ein Kriminalfall, dessen dunklem Geheimnis Inspektor Peter Klaus erst nach mehreren Jahren auf die Spur kommt.
Sämtliche Personen, deren Namen, Handlungen und Ansichten, die in diesem Buch vorkommen, sind allein der Fantasie des Autors entsprungen und haben keinen Bezug zu lebenden oder verstorbenen Personen.
Nach der letzten Eiszeit hatte sich der Rhein aus einem hoch gelegenen Bergtal einen Weg gesucht und sich im Laufe der Zeit immer tiefer eingegraben, bis er schliesslich eine Schlucht geschaffen hatte, in der er mit Donnergetöse seine naturgegebene Kraft ausdrücken konnte.
Danach durchfliesst er ein Tal, auf dessen linker Seite sich der Heinzenberg befindet, dessen höchster Punkt mit zweitausendeinhundert Metern die Präzer-Höhe bildet.
Am Ende der Schlucht und am Anfang des Tales liegt Thusis, ein Dorf mit etwa dreitausend Einwohnern. Richtung Süden, über dem Rhein, ragt ein markanter Fels in den Himmel, auf dessen Plateau die Ruinen der Burganlage Hohenrätien stehen.
Direkt nach der Schlucht erstreckt sich linkerhand, quer zum Heinzenberg, eine Bergkette mit dem knapp dreitausend Meter hohen Piz Beverin.
Gegenüber vom Heinzenberg liegt das Domleschg, ein fruchtbares Gelände mit sanft abfallenden Wiesen, kleinen Rebbergen, einigen Burgen, einem Badesee und mehreren Dörfern.
Lara und Jonas begegneten sich zum ersten Mal, als ihre Mütter sie in den Kindergarten brachten. Da wussten sie noch nicht, dass das Schicksal, das sie zusammengeführt hatte, die ganze Palette menschlicher Regungen vor ihnen ausbreiten würde.
Laras Mutter Christa hatte Tom geheiratet, einen Juristen aus der nahen Stadt, der ihre hohen finanziellen und gesellschaftlichen Ansprüche erfüllen konnte. Ob es Liebe war, hatte sie sich nie gefragt. Tom besass eine Anwaltskanzlei, war politisch aktiv und verkehrte in gesellschaftlichen Kreisen, die sie aufwerteten.
Jonas Mutter Anna war in einem der umliegenden Bergdörfer aufgewachsen. Eine hübsche, praktisch veranlagte Frau, ohne die hohen Ansprüche von Toms Frau Christa. Sie war glücklich, ein gesundes Kind zu haben und einen Mann, den sie liebte.
Jonas Vater Martin war als Arzt bei den weiblichen Patienten besonders beliebt, was seine Frau manchmal etwas beunruhigte.
Schon in der ersten Stunde im Kindergarten bemerkte Anna, dass Jonas eine Verehrerin hatte: Lara.
Sie beobachtete, wie das hübsche blonde Mädchen ihrem Sohn lächelnd ein Spielzeug hinhielt und sich dabei kokett eine Haarsträhne aus der Stirn wischte.
Jonas wusste nicht, was das fremde Mädchen von ihm wollte. Fragend schaute er zu seiner Mutter hinüber und nahm dann das Geschenk an sich.
Auch Christa beobachtete belustigt das Verhalten ihrer Tochter. Gerade, als sie eine Bemerkung darüber machen wollte, stürmte ein kräftiger rothaariger Bub an ihr vorbei und auf Jonas zu. Bevor die Mütter reagieren konnten, hatte er Lara wuchtig zur Seite gestossen und Jonas das Spielzeug aus der Hand gerissen.
Lara verzog das Gesicht, Jonas lief verängstigt zu seiner Mutter. Christa war mit ein paar Schritten bei Lara, nahm ihre weinende Tochter auf den Arm und rief: «Welcher Mutter gehört dieser Grobian?»
«Nico, komm zu Mama!», rief eine dunkelhaarige Frau und lief zu ihrem Sohn.
Christa sah sie böse an.
«Ihr Bub ist ein Rüpel!»
«Tut mir leid», sagte Rosa, nahm Nico auf den Arm und lief mit ihm zu einer Frauengruppe.
Anna kannte Nicos Mutter und wusste, dass Christa überreagiert hatte. Nico hatte eher etwas von seinem Vater Reto mitbekommen, der mit ihr zur Schule gegangen und nicht gerade der Liebling der Lehrer und Mitschüler gewesen war.
Beim Nachtessen erzählte Christa ihrem Mann, was im Kindergarten geschehen war.
«Das gehört zum Leben», sagte Tom nur und nahm einen Schluck Wein.
«Besser sie erfährt das schon im Kindergarten als später. So lernt sie die Regeln.»
Christa strich Lara liebevoll übers Haar.
«Aber Tom, du bist zu hart, sie ist doch erst vier.»
Tom stand auf, ging ins Wohnzimmer, legte sich aufs Sofa und checkte sein Handy. Termine mit wichtigen Kunden. Politik, Rechts- und Scheidungsfälle bestimmten sein Leben, mehr als ihm lieb war.
Auch Anna erzählte ihrem Mann, wie der kleine Nico Jonas das Spielzeug entrissen hatte. Martin, in Gedanken noch mit der letzten Krankengeschichte beschäftigt, schaute kurz auf, lächelte Jonas zu und sagte: «Hast aber keine Angst gehabt, oder?»
Jonas schüttelte den Kopf, flüsterte aber seiner Mutter ins Ohr: «Doch schon ...»
«Christa hat etwas überreagiert», erklärte Anna.
«Du kennst sie ja.»
«Ich kenne sie als Patientin. Christa oder jemand anders, das macht für mich keinen Unterschied.»
«Das hoffe ich doch!», sagte Anna.
«Und, wie war es im Kindergarten?», fragte auch der Bauunternehmer seinen Sohn beim Nachtessen. Der Vierjährige zuckte mit den Schultern.
«Weiss nicht ...»
«Weiss nicht, gibt's nicht! Sag, wie war's. Hast du nette Kinder kennengelernt?»
Nico murkste etwas herum und begann dann zu erzählen: «Nein. Ein Bub hat mir mein Spielzeug weggenommen, da habe ich mich gewehrt und es ihm wieder abgenommen, und ein Mädchen war da, die hat zu weinen angefangen, und ihre Mama hat meiner Mama gesagt, ich bin ein Rüpel.»
«Ein Rüpel? Wer hat das gesagt? – Rosa?»
«Die Christa, die Frau von Tom.»
Der Bauunternehmer schob eine Gabel mit Spaghetti in den Mund. Kaute schweigend.
Rosa wusste, was in ihm vorging. Tom war einflussreich, sass mit ihrem Mann im Gemeinderat. Gleiche Partei, gleiche Interessen. Wichtige Geschäfte.
Nachdem er fertig gekaut und überlegt hatte, beugte er sich ganz nah zu seinem kleinen Sohn: «Und du bist ganz sicher, dass es nicht umgekehrt war, dass nicht du dem Jonas sein Spielzeug weggenommen hast?»
Nico schüttelte den Kopf, glitt vom Stuhl und lief in sein Zimmer.
«Er kommt eben nach dir», sagte Rosa ruhig, stand auf, strich ihrem Mann zärtlich über die Glatze und rief: «Nico, Zähne putzen!»
Lara und Jonas, jetzt neunjährig, sitzen seit der ersten Klasse in der Schulbank nebeneinander. So vertraut, friedlich und vergnügt, als ob sie sich schon eine halbe Ewigkeit kennen würden. Der Lehrer hat kein Problem damit und auch die ganze Klasse nicht.
Bis auf einen Mitschüler, der sich von Anfang an – genau genommen seit dem ersten Tag im Kindergarten – mit dieser Freundschaft nicht abfinden konnte: Nico.
Als er als Vierjähriger gesehen hatte, wie ein blondes Mädchen mit Engelslocken einem fremden Buben lächelnd ein Spielzeug überreichte, hatte das etwas in ihm ausgelöst, das ihn sein ganzes Leben lang beschäftigen sollte. Instinktiv hatte er gewusst, dass dieser Bub ihm das blonde Mädchen, das er sofort als seins erkannt hatte, wegnehmen würde. Und so war es auch gekommen.
Vom Kindergarten bis in die erste Klasse und weiter musste Nico Tag für Tag zuschauen, wie sein blonder Engel wie eine Klette an diesem Jonas hing.
Um die beiden zu trennen hatte er versucht, Jonas bei Lara durch Aufschneiderei auszustechen und ein paar Buben für sich zu gewinnen, die seine Abneigung gegen die Freundschaft von Jonas und Lara teilen sollten.
Doch das war gründlich daneben gegangen. Niemand hatte etwas gegen Jonas und auch nicht gegen Lara. Alle fanden sie süss und – in der dritten Klasse – sogar cool. Das war noch schlimmer als süss. Denn cool war das, was Nico auch sein wollte. Doch er hatte keine Chance.
Am liebsten hätte er Jonas einfach weg- und Lara zu sich hergezaubert. Oder einen von ihnen verschwinden lassen, damit sie nicht ständig zusammen sein konnten.
Er hatte sogar versucht, Jonas für sich zu gewinnen. Als Freund ihres Freundes hätte Lara ihn doch mögen müssen. Vergeblich. Lara hatte nur Augen für Jonas und Jonas für Lara. Nichts konnte die beiden trennen.
Nico war verzweifelt und auch nach fünf Jahren immer noch nicht in der Lage, jemandem zu erzählen, was mit ihm los war. Da er mit seinem Problem allein war, fühlte er sich zunehmend isoliert. Eifersucht und Wut schlugen ins Gegenteil um. Das Gefühl, dass etwas in seinem Leben falsch lief, wurde immer stärker.
Der ungestüme, laute Nico verwandelte sich in einen traurigen, teilnahmslosen Buben, der an nichts mehr Freude hatte.
Doch eines Tages konnte er nicht mehr. Weinend fiel er seiner Mutter, der sein verändertes Verhalten schon lange grosse Sorgen gemacht hatte, in die Arme und liess seinem Schmerz freien Lauf.
Rosa hörte zu und versuchte zu verstehen, obwohl sie nicht nachvollziehen konnte, was mit ihrem neunjährigen Buben los war.
Jonas und Lara waren zwei ausgesprochen gute Schüler. So gut, dass sie eine Klasse überspringen und in ein anderes Schulzimmer wechseln konnten, was Nico noch weiter von ihnen entfernte.
Das Haus mit der Arztpraxis von Martin und Anna befand sich etwa fünfzig Meter entfernt von der modernen Villa von Christa und Tom.
Durch die tiefe Freundschaft ihrer Kinder waren sich mit den Jahren auch die Eltern näher gekommen.
Als sie sich zum ersten Mal zum Abendessen trafen, zeigte sich, dass Christa, wie von Anna befürchtet, in ihrem Mann mehr als nur den Arzt sah.
Christa war eine attraktive Frau und wusste das auch. Gross, schlank und blond war sie mit zwanzig aus Deutschland in die Schweiz gekommen und hatte schnell Tom kennengelernt.
Als sie dann in einem freizügigen, schwarzen Cocktail-Kleid Martin schon beim ersten Treffen umarmte und auf die Wangen küsste, drang ein lang gehegter Verdachtspfeil ins Herz seiner Frau.
Um den Schmerz auszugleichen, zog Anna energisch Christas Mann an sich, was Tom – nicht nur emotional, sondern auch physisch – etwas aus dem Gleichgewicht brachte. Galant nahm er Anna den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe.
Martin wurde von Christa zum Sofa dirigiert, wo der Aperitif bereitstand. Anna setzte sich neben ihren Mann, Tom neben seine Frau. Christa sass Martin gegenüber. Das kurze, schwarze Kleid gab den Blick auf ihre langen Beine frei. Was Anna nicht fair fand. Damit konnte sie nicht mit Christa konkurrieren. Also beugte sie sich nach vorn, prostete Tom zu und sah mit Befriedigung, dass seine Augen an ihrer enormen Oberweite kleben blieben. Was Christa wiederum nicht verborgen blieb. Abrupt stand sie auf und verschwand mit hocherhobenem Kopf in der Küche. Anna eilte ihr nach. «Komm, ich helfe dir», sagte sie versöhnlich.
«Nicht nötig!»
«Bitte Christa! Freundschaft?»
Christa verharrte einen Moment, drehte sich dann lachend um, schloss Anna in die Arme und rief: «Ja, Freundschaft!»
Christa sass neben Anna, Tom neben Martin. Und während sie assen und tranken, kam das Gespräch auf die wunderliche Freundschaft ihrer Kinder, die nun schon fünf Jahre dauerte.
Tom erzählte von seinen Erfahrungen als Scheidungsanwalt. Er war der Realist, der meinte, dass auch die grössten Liebesgeschichten nach genug Ehejahren endeten. Dass es Liebe in einem gewissen Sinn nicht gäbe, weil es in der Natur nur ums Überleben ginge, einzig die naturwissenschaftlich erwiesene Programmierung die Geschlechter zusammenführe, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Im Wesentlichen würde sich der Mensch nicht im Geringsten vom Tier unterscheiden.
Anna schwieg und schaute fragend Martin an. Was würde ihr Mann dazu sagen?
Martin nahm einen Schluck Wein, setzte vorsichtig sein Glas auf das weisse Tischtuch und begann:
«Lieber Tom, was du gesagt hast, klingt vielleicht logisch. Meine Ansicht ist, dass in den Menschen, so wie ich sie als Arzt kennengelernt habe, mehr dran und drin ist, als wissenschaftlich beweisbar ist. Nimm nur die Freundschaft unserer Kinder. Wieso gerade Lara und Jonas? Und warum gibt es in der ganzen Gegend nur diese beiden mit so einer Freundschaft? Wenn das von einer Programmierung der Natur abhängig wäre, müsste es das zuhauf geben, überall und immer wieder. Gibt es aber nicht. Dein Weltbild ist für mich zu einseitig. Ich glaube an eine Energie, die alles Lebende beseelt. An eine Kraft, die die ganze Schöpfung zusammenhält, ohne die nichts existieren kann. Ursache und Wirkung, ja, alles, was in unserer Welt abläuft, wird von ihr gesteuert. Ohne sie könnten wir keinen Gedanken fassen, keine Hand heben, keinen Wein trinken. Nenn es, wie du willst, Tom, aber für mich ist es die Lebensenergie schlechthin und der Beweis, dass, wer oder was auch immer diese Kraft geschaffen hat, führt und lenkt, nur das sein kann, was als Gott, Allah, der Allmächtige oder der Ursprung allen Lebens bekannt ist.»
Stille. Dann Anna: «Ich denke, dass diese Kraft neutral ist und sowohl positiv als auch negativ benutzt werden kann, mit den entsprechenden Folgen natürlich. Dass sie jedoch ihren höchsten Ausdruck in der Liebe findet.»
Christa schwieg, nahm das Weinglas, liess es kreisen und nahm einen Schluck.
«Liebe? Tom, glaubst du, dass du mich liebst? Ich dich?
Was ist denn Liebe überhaupt?»
Tom schaute schweigend vor sich hin.
«Du hättest Theologie studieren sollen, Martin», meinte er dann. «Wärst sicher ein guter Seelsorger geworden. Ich denke, wir sind völlig verschieden. Du auf deiner Ebene, ich auf meiner. Ich Realist, du vielleicht Pazifist. Ich weiss es nicht. Fakt ist, ich glaube nicht an Gott, an nichts, ausser an das, was ich sehen und berühren kann. Und natürlich an das, was die Wissenschaft beweist. – Und Liebe? Ja, was ist Liebe überhaupt? Ich denke schon, dass ich meine Frau liebe. Wieso hätte ich dich denn sonst geheiratet, Christa? Was denkst du?»
Christa zuckte mit den Schultern.
«Es gibt viele Gründe. Ich bin attraktiv, sexy, lustig, kumpelhaft und treu! Nur als Beispiel.»
«Und hast mich geheiratet, weil ...?»
Christa überlegte etwas, schmunzelte und sagte dann: «Du bist gut aussehend, erfolgreich, intelligent, grosszügig und ... kein armer Schlucker!»
Dann erhob sie sich, rief: «Zum Wohl allerseits!» und leerte ihr Glas in einem Zug.
«Themenwechsel?», fragte Tom.
«Themenwechsel!», sagte Martin.
Eine Zeit lang war es still. Dann fragte Tom: «Hat jemand etwas von Nico gehört, dem Sohn von Reto und Rosa? – Man sagt, dass es ihm nicht gut gehen soll ...»
«Dem Rüpel aus dem Kindergarten?», fragte Christa.
«Er ist kein Rüpel mehr!»
Anna erzählte, was sie erfahren hatte. Seit Lara und Jonas eine Klasse übersprungen hätten, habe sich Nico sehr verändert. Traurig und still sitze er in der Schulbank und bekunde kein Interesse an der Schule noch an irgendetwas anderem.
Vor ein paar Tagen habe ihr Rosa mitgeteilt, was Nico erzählt habe. Dass er seit dem ersten Kindergartenbesuch vor fünf Jahren ein Problem habe.
Anna sah Tom und Christa ernst in die Augen: «Der Auslöser war eure Tochter Lara und unser Sohn Jonas.»
«Was? Wieso? Warum?», rief Christa.
«Nico erzählte, dass er sofort gewusst habe, dass Lara zu ihm gehöre. Doch da sei dieser Jonas gewesen, dem sie ein Spielzeug gegeben habe statt ihm. Deshalb habe er es ihm weggenommen. All die Jahre habe ihn fertiggemacht, dass Lara nur Augen für Jonas gehabt habe.
Christa und Tom sahen sich mit offenem Mund an. Sie konnten kaum glauben, was Anna erzählt hatte. Wie war das nur möglich? Mit vier Jahren? Und fünf Jahre lang darunter gelitten.
«Mein Gott», sagte Tom. «Haben Lara und Jonas jemals etwas von Nicos Problem mitbekommen?»
«Sie dachten, er wäre eifersüchtig, das schon», sagte Martin. «Dass es allerdings so schlimm war, konnte niemand ahnen.»
«Und, was geschieht jetzt mit Nico?», fragte Christa etwas verschämt.
«Seine Mutter sagte, sie würden ihn in eine Privatschule schicken. Um sich von dieser Fixierung zu lösen, brauche er Distanz zu den Personen, die sie ausgelöst hätten. – Wir werden ihn sehr lange nicht mehr sehen.»
Anna wischte sich eine Träne aus den Augen.
«So! Und jetzt will ich nach Hause!»
Reto war eben von der Arbeit im Baugeschäft nach Hause gekommen. Rosa stand in der Küche.
«Hallo Schatz, wie war dein Tag?»
«Ach! Nichts als Ärger!»
«Was war denn los?»
«Erzähl ich dir später.»
Reto verschwand in der Dusche. Rosa nahm den Braten aus dem Backofen, stellte ihn auf den Tisch und schaltete das Radio ein.
Nachrichten. Abstimmungsresultate. Retos Partei hatte Stimmen eingebüsst. Auch bei der heiss umkämpften Gemeindevorlage hatte sie den Kürzeren gezogen.
Reto schlurfte mit dem Badetuch in der Hand aus der Dusche und setzte sich in Trainerhosen und mit einem losen schwarzen T-Shirt bekleidet an den gedeckten Tisch.
«Erzähl!», drängte Rosa.
«Ach, da gibt es nicht viel zu erzählen. Hast es ja schon im Radio gehört. Wir haben Stimmen verloren. Nichts ist gelungen, gar nichts! – Wo ist der Wein?»
Rosa stand auf, öffnete den Schrank und stellte eine Flasche Burgunder und zwei Gläser auf den Tisch.
«Mit dem wollten wir eigentlich den Wahlsieg eurer Partei feiern.»
Reto häufte schweigend eine grosse Portion auf seinen Teller.
«Ist eben nichts draus geworden. Die Sozis, die Grünen! – Klimanotstand! Dass ich nicht lache! Kompletter Blödsinn! Würde mich nicht wundern, wenn unsere Partei auch noch auf diesen Zug aufspringt! Diskussionen darüber hat es bereits gegeben. Man hat Angst, Wähler zu verlieren, wenn man diesen Quatsch nicht mitmacht.»
Mit dem Zapfenzieher seines Armeemessers zog Reto den Korken aus der Flasche, hielt ihn vor die Nase, füllte sein Glas, nahm einen Schluck, nickte anerkennend und schenkte Rosa ein.
«Prost Schatz!»
«Prost Büffelchen!»
Rosa trank, stand auf und schlang die Arme um Reto.
«Alles nicht so schlimm. Wichtig ist doch, dass es uns gut geht, oder?»
«Finanziell geht es uns gut. Solange wir schnell und günstig sind, bekommen wir Aufträge. Ich habe gute Mitarbeiter. Ohne sie wäre ich aufgeschmissen.»
«Und du hast eine tüchtige Frau», flachste Rosa.
«Ja, gewiss! Allerdings ginge es mir noch besser, wenn Nico zu Hause wäre. Ich vermisse ihn. Du nicht?»
«Doch, natürlich», seufzte Rosa. «Er fehlt mir auch! Aber es geht ihm gut. Er hat Fortschritte gemacht, sagen seine Lehrer. Ist sehr fleissig, bekommt gute Noten.»
Reto stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände.
«Der arme Kerl. Ich kann immer noch nicht verstehen, was damals passiert ist. Wieso unser Bub im Alter von vier Jahren wegen dieser Lara so ein Problem bekommen hat. Vielleicht ist sie ja eine Hexe ...»
«Reeetooo! Was sagst du da? Gut, dass das Christa und Tom nicht gehört haben!»
«Wohl besser, ja ...», stöhnte Reto.
«Trotzdem, etwas muss sie in ihm ausgelöst haben, etwas, das vielleicht nur Kinder begreifen können ...»
In einer grossen Stadt – weit weg von zu Hause – liegt Nico mit dem Handy in der Hand in seinem Zimmer auf dem Bett. Ein Schreibtisch am Fenster, auf dem schön geordnet Bücher und Hefte neben dem Computer liegen. An der Wand neben der Tür steht ein Schrank.
Aus dem neunjährigen Buben ist beinahe ein junger Mann geworden. Ums Kinn herum spriessen, was ihn mit Stolz erfüllt, bereits die ersten Barthaare.
Das erste Jahr in der Privatschule war hart. Doch mit der Zeit gewöhnte sich Nico an das veränderte Umfeld. Die Lehrer waren nett, er hatte Freunde. Nur ein paar Mädchen in seiner Klasse ignorierten ihn. Doch das war ihm egal. Für Nico gab es sowieso nur ein weibliches Wesen, das ihm etwas bedeutete: Lara. Da er jedoch wusste, dass sie noch nicht bereit war, ihm ihre Zuneigung zu schenken, hatte er unter falschem Namen ein Facebook-Konto eröffnet. Lara hatte seine Freundschaftsanfrage als Lars – ohne etwas zu ahnen – angenommen. Von da an loggte sich Nico mehrmals am Tag auf Facebook ein. Nur sehen zu müssen, dass Laras Beziehung zu Jonas noch stärker geworden war. Das brach die alte Wunde wieder auf.
Doch diese Gefühle behielt er für sich, sprach nicht einmal mit seinem besten Freund darüber. Auch nicht mit seinen Lehrern und schon gar nicht mit den Eltern. Sie sollten glauben, dass er darüber hinweg war.
Doch das war er nicht. Im Gegenteil. Nico war nach wie vor entschlossen, alles zu tun, um Lara eines Tages doch noch für sich zu gewinnen. Wie ein Raubtier, das auf Beute aus ist, hatte er sich in seine Höhle zurückgezogen und wartete darauf, dass das Schicksal Jonas und Lara eines Tages trennen würde.
Lara und Jonas spazieren an einem Sonntagabend dem Rhein entlang.
Lara, glücklich, dass Jonas an ihrer Seite ist, erzählt vergnügt von ihren Freundinnen, die mit ihr das Gymnasium besuchen. Jonas, der ebenfalls auf die Matura hinarbeitet und gewöhnlich aufmerksam zuhört, schweigt.
«Jonas?»
«Ja?»
«Hörst du mir überhaupt zu?»
«Ah, ja, natürlich höre ich dir zu ...»
«Schaut aber nicht danach aus. Du sagst ja gar nichts. Stimmt etwas nicht?»
Jonas bleibt stehen, schaut zum Beverin hinauf, der – weil noch von Schnee bedeckt – für ihn aussieht, als ob er aus einer anderen Welt wäre.
«Lara, mach dir keine Sorgen. Ich weiss auch nicht, was mit mir los ist. Es ist nur ... Ich bin manchmal so traurig.»
«Traurig Jonas? Du warst noch nie traurig, seit dem Kindergarten nicht.»
Lara umarmt ihn und hält ihn lange umschlungen. Jonas lässt es geschehen, spürt ihre Liebe, die Wärme ihres Körpers. Vorsichtig hebt er die Arme und legt sie um ihre Taille. Als Lara ihn wieder freigibt, fühlt er sich etwas besser.
«Jonas, sag mir, was dir fehlt. Ist etwas mit deinen Eltern?»
«Nein, meine Eltern sind in Ordnung. Es ist etwas anderes. Es kommt von da.»
Jonas legte seine Hand auf die Brust, auf die Stelle, wo sein Herz schlug.
«Ist etwas mit deinem Herzen? Schlägt es meinetwegen zu schnell?», versuchte Lara zu scherzen.
Jonas lächelte gequält.
«Leider nein. Mit dir hat sich mein Herz immer wunderbar vertragen. Dieses Gefühl hat nichts damit zu tun. Ich kann es nicht erklären. Und es ist auch nicht das erste Mal. Seit etwa einem Jahr kommt ab und zu diese Traurigkeit über mich. Ich habe es für mich behalten, weil ich niemanden beunruhigen wollte.»
Lara hatte das Gefühl, als ob sich ganz langsam eine dunkle Wolke über die Sonne ihrer Freundschaft schob. Das durfte nicht sein, niemals. Um das zu verhindern, würde sie alles tun.
«Komm Jonas, wir laufen noch etwas. Lass uns rennen, das hilft vielleicht.»
Und schon rannte sie lachend davon. Jonas überwand sich, sprang ihr nach, und die Einsamkeit zog sich zurück.
Lara rannte quer durch ein Mohnfeld zu einem blühenden Kirschbaum. Als Jonas ankam, schlang sie die Arme um seinen Hals und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter.
Jonas Herz öffnete sich weiter als je in seinem Leben und er tat, was er schon lange hatte tun wollen. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste – nach einer ganzen Kindheit platonischer Freundschaft – zum ersten Mal ihre kirschroten Lippen.
Die beiden Herzen verschmolzen zu einem einzigen. Der Baum lächelte wissend, und die Kirschblüten an seinen Zweigen verströmten ihren Duft als wie Hochzeitsglocken ihren Klang.
Jonas nahm Lara mit zu seinen Eltern, weil sie darauf bestanden hatte, dass Anna und Martin wissen mussten, was mit ihrem Sohn los war.
Anna bemerkte auf den ersten Blick, dass der Vulkan der platonischen Kinderfreundschaft von Jonas und Lara dem Druck nicht mehr standgehalten und sie mit seiner ganzen Glut in den Himmel der Liebe geschleudert hatte. Etwas, was sie und Martin schon lange erwartet hatten.
Sie wusste, dass Lara und Jonas sich nun für immer und ewig gefunden zu haben glaubten. Dass nichts und niemand sie je würde trennen können.
Als Martin aus der Praxis kam und in die Stube trat, sagte Lara: «Wir müssen reden, Martin!»
Martin zog erstaunt eine Augenbraue hoch und reichte Lara die Hand.
«Wir müssen reden? Das klingt, als ob etwas nicht in Ordnung wäre ...»
Lara setzte sich zu Jonas auf die Couch und zog ihn an ihre Brust, als ob er ein Baby wäre.
«Euer Sohn hat ein Problem, das er nicht teilen wollte, um euch nicht zu beunruhigen.»
Martin setzte sich in den grossen Sessel, Anna auf die Couch neben Jonas.
«Ein Problem? Was denn für ein Problem, Jonas?», fragte Anna besorgt.
«Ach, es ist nichts Schlimmes», murmelte Jonas. «Es ist nur so, dass ich manchmal so traurig bin und mich sehr einsam fühle. Oft überfällt es mich aus heiterem Himmel, manchmal kommt es aber auch schleichend, wie heute beim Spaziergang mit Lara. Ab und zu wache ich mitten in der Nacht auf und frage mich, wer ich bin und wozu auf dieser Welt. Und ich finde keine Antwort.»
«Oje, das tut mir so leid, Jonas.»
Anna wollte die Arme um ihren Sohn legen. Da er jedoch schon von Lara gehalten wurde und seine Mutter um einen Kopf überragte, gelang das nicht ganz.
«Martin, sag doch auch etwas!»
Martin faltete seine Finger zu einer Pyramide, hielt sie vors Gesicht und verschwand für eine Weile in seiner Gedankenwelt.
«Das muss genau untersucht werden. Ich werde mit einem Kollegen reden», sagte er schliesslich, stand auf, fuhr Jonas mit der Hand über die Haare und lief zur Tür, die in die Praxis hinunterführte.
Gemeinderatssitzung. Tom und Reto sitzen nebeneinander am Konferenztisch. Und während der Bauunternehmer lautstark seine Meinung zu einem Traktandum kundtut, fragt sich Tom, ob er verstehen wird, wie gravierend für Lara das Problem seines Sohnes Nico werden könnte.
Nach der Sitzung nimmt er Reto beiseite.
«Ich muss mit dir reden.»
«Ok, machen wir!», sagt Reto.
«Geht's um die Wahlen?»
«Nein, diesmal nicht. Es ist etwas Privates.»
«Privat? Da bin ich aber gespannt!»
Tom zieht Reto am Arm zu einem Fenster des Rathauses, wo ein paar Stühle stehen.
«Setzen wir uns! Reto, es geht um Nico, deinen Sohn und um meine Tochter Lara. Und eigentlich auch noch um Martins Sohn Jonas.»
Reto fährt sich mit der Hand über die Glatze.
«Oje, jetzt wird's ernst, die alte Geschichte. Ich habe schon gedacht, dieser Kinderkram sei endlich vergessen! Deswegen musste mein Nico die Schule verlassen. Weisst du, was mich das jedes Jahr kostet?»
Tom hatte gewusst, dass es mit seinem Parteikollegen nicht einfach werden würde.
«Reto, diesmal geht es nicht ums Geld. Es geht darum, dass meine Tochter vermutet, dass Nico ihr nachspioniert. Was so viel heisst, dass er immer noch denkt, dass sie ihm gehört. Verstehst du, was ich meine, Reto?»
«Ach Blödsinn! Das sind doch noch Kinder. Die haben ihre Träume. Sind kaum aus der Pubertät geschlüpft. Da sieht die Welt ganz anders aus! Lara ist ein hübsches Mädchen. Ich würde auch Jagd auf sie machen, wenn ich in Nicos Alter wäre. Welcher normale, gesunde Bursche würde das nicht? Das ist Natur, Tom! Naturgesetze, wie du immer sagst. Wir werden von Naturgesetzen gesteuert. Das spüre auch ich zum Glück noch jeden Tag. Und sag mir nicht, du nicht! Wenn ich nur an deine Sekretärin denke, Tom! Du machst mir nichts vor!»
Tom wurde etwas verlegen, fasste sich aber schnell.
«Reto, ich würde nicht mit dir reden, wenn es nur Kinderkram wäre. Christa und ich und auch Jonas Eltern Martin und Anna ... Wir machen uns ernsthaft Sorgen.
Wir vermuten, dass Nico sich unter einem falschen Namen ein Facebook-Konto eröffnet hat, um mit Lara in Kontakt zu bleiben. Eine Zeit lang machte ihr dieser Lars den Hof, was Lara lustig fand. Doch dann wurde er immer aufdringlicher. Als Lara das unter ihren Freunden publik machte, begann er, sie zu beschimpfen.
Und jetzt kommt's, Reto: Er drohte, eines Tages werde sie ihm gehören, das wisse er schon seit Jahren. Nämlich dann, wenn dieser Schleimer an ihrer Seite abgekratzt sei.»
Tom hielt Reto sein Handy hin.
«Das ist der Text, mit dem dieser Lars seine Botschaften abschliesst: Eines Tages bist du allein. Dann werde ich da sein. Dann wirst du erkennen, dass ich es bin, für den du auf die Welt gekommen bist.
Reto nahm Toms Handy und setzte seine Lesebrille auf. Als er sie wieder abnahm, sah er müde aus. Stöhnend hielt er die Hände vors Gesicht.
«Tom, du weisst, dass ich immer auf deiner Seite war, und das werde ich auch weiterhin sein. Falls sich hinter diesem Lars wirklich Nico versteckt, werde ich tun, was nötig ist, damit er damit aufhört. Vielleicht kannst du dir vorstellen, wie schwer mir das fällt. Wie hart es für mich ist, dass mein einziger Sohn seit Jahren nur noch am Wochenende nach Hause kommt.»
Tom legte Reto eine Hand auf den Arm.
«Reto, wir werden das zusammen durchstehen. Christa und ich, du und Rosa und Martin und Anna. Ich schlage vor, wir treffen uns bald einmal bei mir zu einem gemütlichen Nachtessen. – Einverstanden?»
«Einverstanden!»
Tom stand auf, reichte Reto die Hand und half dem schwergewichtigen Mann auf die Beine.
Tom und Christas neues Haus am Sonnenhang über dem Dorf wurde von den Dorfbewohnern DIE VILLA genannt. Passend dazu waren Tom und Christa DIE VON DER VILLA und für Einzelne sogar DIE VILLIANER.
Die Villa machte ihrem Namen alle Ehre. Vom überaus geräumigen Wohnzimmer aus konnte man durch eine breite Fensterfront über das Dorf und das halbe Tal blicken. Im Süden dominierte der senkrecht aufragende Felsen, auf dem sich das Plateau mit der Burganlage befand, von der aus im Mittelalter das darunterliegende Untertanengebiet verwaltet worden war. Tief unten kämpfte sich der Hinterrhein durch die enge Schlucht.
Samstagabend. Nachtessen bei Tom und Christa. Reto und Rosa trafen als Erste ein. Christa öffnete die Tür, hiess sie willkommen und lief mit wiegenden Hüften voraus ins Wohnzimmer, was Reto die Möglichkeit gab, ihren gebräunten Rücken zu bewundern.
Tom stand am Fenster, drehte sich um und rief mit erhobenen Armen: «Schön, dass ihr da seid. Herzlich willkommen!»
Dann begrüsste er mit einem angedeuteten Handkuss Rosa, was Retos Frau ein amüsiertes Lächeln entlockte.
Die beiden Gemeinderäte schüttelten sich wortlos die Hand. Christa, die Rosa das letzte Mal im Kindergarten als Mutter eines kleinen Rüpels getroffen hatte, fühlte sich ihres Verhaltens von damals wegen nicht ganz wohl in ihrer Haut. Rosa spürte das und bemühte sich, die Situation zu entspannen, indem sie Christas Kleid bewunderte.
«Oh, danke, Rosa. Du bist aber auch sehr geschmackvoll angezogen», strahlte Christa erfreut. So eine attraktive Frau hätte sie dem grobschlächtigen Bauunternehmer nicht zugetraut.
Tatsächlich war Rosa alles andere als ein Mauerblümchen. Sie erzählte Christa, dass sie viele Jahre als Flugbegleiterin in der ganzen Welt herumgekommen sei und neben Deutsch noch Englisch, Spanisch, Italienisch, Französisch und natürlich Portugiesisch – ihre Muttersprache – spreche.
Christa war beeindruckt.
«Rosa, es tut mir leid. Ich war damals so böse zu dir wegen Nico. Kannst du mir verzeihen?»
Rosa schaute eine Sekunde lang in die Ferne. Hörte, wie Christa ihren Jungen einen Rüpel nannte, spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte, weil sie wusste, dass sie recht hatte. Doch sie liebte diesen Rüpel und den Mann, der ihm seinen Charakter vererbt hatte.
Rosa kam wieder in die Gegenwart, blickte Christa in die Augen und fragte lächelnd: «Freundschaft?»
Mit einem Aufschrei schloss Christa sie in die Arme.
«Jaaaa, Rosa, Freundschaft! Danke, Rosa, danke!»
Jonas Eltern trafen als Letzte ein. Ergeben liess Martin sich von Christa auf beide Wangen küssen und war erleichtert, dass Rosa nicht mehr als einen Händedruck verlangte.
Tom, als Gastgeber, hiess die Gäste willkommen, hob sein Glas und sagte, zuerst wolle man essen, trinken und sich als Freunde unterhalten.
Christa hatte zu Ehren ihrer Gäste eine junge Köchin aufgeboten, die für ihre naturnahe Kochkunst bekannt war und im Nachbardorf vor ein paar Jahren ein Restaurant eröffnet hatte.
Ronja servierte einen Aperitif, den sie aus Enzianwurzeln und Holunderblüten gebraut hatte.
Die drei Paare prosteten sich zu, nippten vorsichtig am ungewohnten Getränk. Ausser Reto fanden es alle aussergewöhnlich und bereichernd.
Man setzte sich an den langen, massiven Edelholztisch. Ronja servierte wunderbare kleine Raffinessen, die noch keiner der Anwesenden kannte. Erst nachdem alle satt waren, eröffnete Tom die Diskussion zum Thema Nico und seiner seltsamen Besessenheit in Bezug auf seine und Christas Tochter Lara.
Während Martin und Anna bei Tom und Christa beim Abendessen waren, lag Jonas mit Lara auf der Couch im Wohnzimmer seiner Eltern.
Laras Gedanken kreisten um das aggressive Verhalten ihres Facebook-Freundes. Dieser Lars hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Es war das zweite Mal, dass jemand wirklich gar nicht nett zu ihr war. Das erste Mal lag Jahre zurück. Sie konnte sich immer noch daran erinnern. An diesen rothaarigen Buben, der sie im Kindergarten weggestossen und Jonas das Spielzeug entrissen hatte.
Und jetzt Lars, der eigentlich nur Nico sein konnte! Was er auf Facebook geschrieben hatte, machte ihr Angst: Eines Tages bist du allein. Dann werde ich da sein. Dann wirst du erkennen, dass ich es bin, für den du auf die Welt gekommen bist.
Nein, sie würde nie ohne Jonas sein, das wusste sie aus tiefstem Herzen. Ganz egal, was auch geschehen würde. Sie würde ihn Jonas verlassen. Immer zu ihm halten. Er war nicht nur ein Freund, den sie vom ersten Treffen an und auf den ersten Blick geliebt hatte. Er war viel mehr: Ein Teil von ihr selbst. Sie sah sich in ihm, erkannte ihn in ihrem Inneren. Es war, als ob eine Seele in zwei Hälften geteilt und in je einem männlichen und einem weiblichen Körper auf die Erde geschickt worden wäre. Lara war überzeugt, dass Jonas gleich für sie empfand. Vielleicht konnte er es nur noch nicht so klar erkennen. Doch dazu war sie ja da. Um ihm die Augen zu öffnen, ihm den Weg zu zeigen. Zu ihr. Zu sich selbst. Zu ihrer Bestimmung.
Jonas döst, den linken Arm über dem Gesicht, vor sich hin. Lara rollt sich auf ihn, blickt ihm tief in die Augen.
«Jonas, hast du gehört, was ich gesagt habe? Was dieser Lars geschrieben hat? Du weisst doch, dass ich dich niemals verlassen werde, oder?»
«Joooonaaas?»
«Jaaaa, was ist denn Lara? Was hast du gesagt?»
«Jonas, wieso hörst du nicht zu? Ich mache mir Sorgen wegen Lars auf Facebook. Denkst du auch, dass es Nico sein könnte?»
«Nico? Aber der ist doch schon so lange weg. In einer Privatschule, hat seine Mutter gesagt ...»
«Ja schon, aber dieser Lars scheint genau das gleiche Problem mit mir zu haben. Er behauptet, dass ich eines Tages allein sein und erst dann erkennen werde, dass ich nur für ihn auf die Welt gekommen sei.»
«Ach, Lara, du bist eben ein wunderhübsches Mädchen, da kann ein Junge schon den Verstand verlieren. Habe ich ja auch ... Und das schon seit Jahren», flachst er grinsend.
Lara schmollt.
«Du nimmst mich nicht ernst, Jonas. Das ist nicht schön. Ich mache mir echt Sorgen. Übrigens auch unsere Eltern. Mein Vater hat Nicos Vater darüber informiert und der wird Nico zur Rede stellen. Was denkst du denn, weshalb sie heute Abend ohne uns zusammengekommen sind?»
Jonas nimmt ein Kissen, legt es sich auf den Kopf und balanciert es aus.
«Ach unsere Eltern! Die sind doch immer besorgt. Für sie ist die Welt voller Gefahren, vor denen sie uns Kinder beschützen wollen.»
Lara schubst ihn heftig auf die Couch. Jonas fängt im Fallen das Kissen auf und wirft es ihr lachend an den Kopf. Bald landen sie zusammen auf dem Teppich. Spielerisch kämpfend rollen sie darauf herum. Bis Lara die Oberhand gewinnt. Schwer atmend liegt sie auf seiner Brust.
Nach dem Erlebnis unter dem Kirschbaum war Lara für Jonas nicht mehr das Mädchen, das er seit dem Kindergarten wie eine Schwester geliebt hatte. Als ob eine Statue enthüllt worden wäre, sah er sie seither als Frau und sich als Mann, der sie körperlich begehrte. An diesem Tag hatte sich die Tür zum Paradies seiner Kindheit für immer geschlossen.
Als er dann mit Lara auf der Couch im Haus seiner Eltern lag und sie ihm von ihrem Facebook-Freund Lars erzählte, der auch, wie Nico, der Ansicht war, dass Lara ihm gehöre, erwachte etwas in ihm ... Ein Trieb, der den männlichen Teil der Schöpfung seit Urzeiten um den weiblichen kämpfen lässt, ergriff von ihm Besitz und liess nur noch einen Gedanken zu: Meine Frau! Mein Revier! Einem Bergbach gleich, der durch ein plötzliches Gewitter zur Rüfe anschwillt und alles mit sich reisst, fiel Jonas über seine Freundin her, rollte sie auf den Rücken und riss ihr die Kleider vom Leib ...
«Jonas! Was machst du? Hör sofort auf!», schrie Lara erschrocken. Doch Jonas war nicht zu stoppen. In seinem Kopf hämmert ein einziges Wort: MEIN, MEIN, MEIN!
Der Bauunternehmer räuspert sich. Tom nickt ihm zu. Reto legt einen Arm um seine Frau ...
«Wir zwei, Rosa und ich, möchten uns, falls dieser Lars wirklich Nico ist, für das Verhalten unseres Sohnes entschuldigen. Wir hoffen aber immer noch, dass dem nicht so ist. Nico ist kein schlechter Junge.
Ich komme mit seinem seltsamen Verhalten allerdings immer noch nicht klar. Wie ist es möglich, dass ein Vierjähriger sich auf den ersten Blick in ein gleichaltriges Mädchen verliebt, ja, sogar überzeugt ist, dass sie nur für ihn auf die Welt gekommen ist? Wir wollen Tom und Christa nicht zu nahe treten, aber es ist doch so, dass auch Lara an dieser Fixierung beteiligt ist. Irgendetwas verbindet die beiden, wir möchten herausfinden, was es ist, bevor wir Nico noch mehr bestrafen.»
«Genau», ergänzt Rosa. «Nico hat schon genug gelitten. Und Reto und ich auch.»
Christa schaut Martin und Anna, Jonas Eltern, an, die ihr schweigend gegenüber sitzen.
«Was denkst du, Martin? Als Arzt müsstest du doch mehr über so etwas wissen, nicht?»
Martin, in Gedanken versunken, hebt den Kopf, schaut fragend seine Frau an. Anna nickt. Martin schiebt die Brille mit dem Mittelfinger an die Nasenwurzel und beginnt: «Liebe Freunde. Als praktischer Arzt bin ich natürlich kein Spezialist für psychische Probleme. Deshalb habe ich mich mit einem Kollegen aus der Studienzeit über diesen Fall unterhalten. Er ist Psychiater und hat sein Studium der menschlichen Natur auf Gebiete ausgeweitet, die bei seinen nur wissenschaftlich orientierten Kollegen eher auf Ablehnung stossen. Es war aber nicht der Fall mit Nico und Lara, der mich zu ihm geführt hat, sondern ein Problem unseres Sohnes. Jonas klagte über Phasen tiefer Traurigkeit, die ihn seit einiger Zeit aus heiterem Himmel überfallen. Mein Kollege sagt, dass solche emotionalen Schwankungen in der Phase zum Erwachsenwerden vorkommen können, jedoch meistens von selbst wieder verschwinden würden.
Doch nun zum Fall Nico: Markus, mein Kollege, ist irgendwann im Verlauf seiner Forschungen auf die Studien eines amerikanischen Psychiaters gestossen, der seine Patienten in den Fünfzigerjahren mit Hypnose in die Vergangenheit zurückversetzte und erstaunliche Dinge herausgefunden hat.»
«Stop! Stop! Stop!», rief Reto.
«Was denn für eine Vergangenheit? In die Kindheit? Die kennen wir von Nico ja vom ersten Tag an!»
«Lieber Reto, ich weiss, dass du ein praktisch denkender Mensch bist und dass dieses Thema deshalb in deiner Welt nicht vorkommt ...», antwortete Martin vorsichtig.
«Was denn für ein Thema, Martin? Komm sag, was dein Psycho-Guru geflunkert hat!»
Der Arzt kannte Rosa und Reto seit Jahren. Mit Reto als Patient hatte er schon harte Diskussionen führen müssen, weil der sture Bock partout nicht einsehen wollte, dass seine gesundheitlichen Probleme etwas mit seiner Lebensweise zu tun hatten.