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In Balkon zur Strasse beobachtet und beschreibt Gian vom Balkon aus das Leben auf der Strasse, die an seinem Haus vorbeiführt. Im ersten Teil hält er sich noch tagebuchartig an die Alltagsrealität. Ab Balkon II-V wird es dann ab und zu magisch. Dass eines Tages die Strasse verschwunden ist und an ihrer Stelle ein Fluss am Haus vorbeifliesst, ist nur der Anfang einer Reihe unerklärlicher Vorkommnisse, die ihn über das Alltagsbewusstsein hinaus in eine andere Realität katapultieren. Als dann auch noch seine Kaffeemaschine zu sprechen beginnt, und er sich plötzlich auf einem riesigen Ozeandampfer wiederfindet, auf dem ihn eine junge Frau mit Hallo Onkel Gian begrüsst, verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Fantasie endgültig.
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Seitenzahl: 160
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Die Ansichten, die Gian in diesem Buch äussert, sind rein spekulativ und erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit,
Balkon I Alltag
Balkon II Magisch
Balkon III Magisch
Balkon IV Magisch
Balkon V Magisch
BRÜCKE I
BRÜCKE II
KURZ- UND MINI-GESCHICHTEN
In BALKON ZUR STRASSE beobachtet und beschreibt Gian vom Balkon aus das Leben auf der Strasse, die an seinem Haus vorbeiführt.
Im ersten Teil hält er sich noch tagebuchartig an die Alltagsrealität. Ab Balkon II–V wird es dann ab und zu magisch. Dass eines Tages die Strasse mit Fussgängern, Autos und Velos verschwunden ist und an ihrer Stelle ein Fluss am Haus vorbeifliesst, ist nur der Anfang einer Reihe unerklärlicher Vorkommnisse, die Gian über das Alltagsbewusstsein hinaus in eine andere Realität katapultieren.
Als dann auch noch seine Kaffeemaschine zu sprechen beginnt, und er sich plötzlich auf einem riesigen Ozeandampfer wiederfindet, auf dem ihn eine junge Frau mit Hallo Onkel Gian begrüsst, verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Fantasie immer mehr.
DIE BRÜCKE
Gian versucht schreibend und unter Lebensgefahr über eine nebelverhangene Hängebrücke ans andere Ufer zu gelangen. Ein geheimnisvoller weisshaariger Mann versucht, ihn zu warnen. Doch Gian will nicht auf ihn hören.
Acht Grad. Faserpelzjacke, Trainerhose. Filzpantoffeln. Königsblau. Mit roter Schweiz und weissem Kreuz dreingestickt. Maschinell. Massenware. Neun Franken neunzig. Dosenbach.
Der fünf Millimeter dicke Filz dämpft die Missempfindungen an Gians Füssen. Nervenschäden, verursacht durch eine Logenspaltung an den Waden. Besser, als keine Füsse mehr. Jeder bekommt, was er verdient, hat er den Ärzten gesagt.
Die Kälte. Der Lärm der Autos. Das Zwitschern der Vögel. Gian nimmt Laptop und Maus und setzt sich in der warmen Stube an den Esstisch.
Vor drei Stunden am Rhein: «Nicht aufspringen! Nicht aufspringen!», ruft die Frau.
Der Hund gehorcht. Schnuppert nur an der Kamera, mit der Gian die Gämsen am Calanda fotografiert hat.
Beim ersten Treffen vor ein paar Wochen stürmt das schwarze Tier auf ihn zu, als ob es ihn schon immer gekannt hätte. Die Pfoten hinterlassen lange Spuren auf seiner Jacke, die feuchte Schnauze berührt seine Nase.
Die Frau entschuldigt sich.
«Ich habe sie aus dem Tierheim, sie ist erst drei Jahre alt. Die Erziehung fehlt ihr noch.»
Ob er Gämsen gesehen habe?
«Ja, eine, gerade gegenüber», sagt Gian. Dann läuft er schnell weiter, geniesst den Spaziergang am Rhein. Jeden Morgen zwischen acht und halb zehn Uhr. Weiter vorn laufen Rekruten im Kampfanzug über die Brücke.
Radio: Ländlermusik.
Gian blättert die Tageszeitung durch: Der Kanton lockert das Festverbot ... Ab sofort sind grössere Veranstaltungen in Graubünden wieder möglich. Dies, obwohl sich die Zahl der Erkrankten auf elf Fälle erhöht hat. – Schutz vor Abofallen. – Harte Zeiten für die Migros. – Regierung will nichts an Fusionspraxis ändern. – Es darf gefeiert werden, wenn man sich nicht zu nahe kommt ...»
Kaffeepause: Die Maschine macht Geräusche, als ob ein kleineres Flugzeug über das Haus fliegen würde, was Gian jedes Mal nervt. – Etwas Rahm, wenig Zucker, besser wäre Assugrin, hat der Arzt gesagt.
Post holen: Zahnkontrolle. Die Karte fliegt zerknüllt in den Papierkorb.
Zeitung: Anlässe abgesagt – Konzert Nexus – Kinoaufführung – Mitgliederversammlung Procap Grischun – Veranstaltungen zum Internationalen Tag der Frau – Tag der offenen Türe im Seniorenzentrum Cadonau – Dämpfer für die Migros Ostschweiz.
Radio, Nachrichten: Der Bundesrat will die Schweizer besser vor Gewalttätern schützen.
Zeitung: Todesanzeigen. Vier. Zwei Frauen, zwei Männer. Gian kennt/kannte sie nicht. Achter April 1932, 23. Januar 1921, 24. Mai 1948, 8. Mai 1941.
Der alte Russ, ein Bündner Auswanderer und seine Zeit. Hysterie wegen des Coronavirus. Will der Staat für uns nur das Beste? Ermittlungen gegen Spaniens Ex-König und dessen Geliebte.
Sport: Interessiert nur, wenn die Schweiz gewinnt.
Letzte Seite: Warten auf Bond – Keine Zeit zu sterben. Wegen Corona verschoben.
Gian steht auf und wirft einen Blick durchs Spektiv, mit dem er seit ein paar Tagen die Gegend überwacht. Die Bonaduzer Alp ist von leuchtend weissem Schnee bedeckt. Sein Auge schweift nach links, nach oben, wo der Berg im Nebel verschwindet. Der Berg, der weiter hinten sein Schicksalsberg ist.
Etwas über sieben Grad. Regen. Kein Wetter, um die neue System-Kamera zu testen. Gian läuft dem Rhein entlang und macht ein paar Fotos. Weil der Spiegel fehlt, sieht man ihr nicht an, was sie drauf hat. Mit Adapter und dem 70-300 mm-Objektiv der alten Spiegelreflex wirkt sie trotzdem ziemlich erwachsen.
Ein Ehepaar mit zwei Schirmen. Gian kennt sie von weitem. Alte Bekannte aus der Druckerei. Sie meint, dass er nass werde, so nur mit Hut und Jacke.
«Ein bisschen Natur», sagt er und verabschiedet sich, weil eine Frau mit Hund die Beiden in ein Gespräch verwickelt.
Wenn du mich liebst, dann küss mich doch, ich habe Angst, du wartest noch ..., singt er vor sich hin ... Andrea Berg, auf dem USB-Stick in seinem Auto. Gian hat um die dreissig Musik-Videos von YouTube heruntergeladen und am Computer in MP3 konvertiert.
Schlager, Klassik, Volkslieder ...
Rückblende, Kantonsspital: Anfang Dezember 2018.
«Du bisch ja a Bürgerlicha!», meint sein ehemaliger Lehrer erstaunt. Etwa zwei Stunden sitzt er an Gians Bett. Interviewt ihn, will wissen, was sein ehemaliger Schüler so alles gemacht hat in den vergangenen fünfzig Jahren.
Zwei Frauen haben den Patienten Bücher gebracht. Gian hat ein paar Thriller ausgesucht, sie liegen aufgestapelt auf dem Nachttisch. Er staunt, dass sein Lehrer diese Bücher gelesen und auch die Filme gesehen hat. Nie wäre er darauf gekommen, dass er sich für dieses Genre interessiert. Die Wildwestromane, die Gian und sein Bruder während der Schulzeit verschlungen haben, hat er verächtlich als Schund abgetan.
Gian läuft weiter dem Rhein entlang. Allein im Regen. Rekruten liegen zwischen den Bäumen am Boden. Kurze, trockene Explosionen, dann ein gewaltiger Klapf. Gefechtsübung mit Handgranaten. Gian erinnert sich an die Rekrutenschule in Andermatt. Sommer 1970, vor fünfzig Jahren.
Zwei Frauen mit Kapuzen joggen vorbei. Gian schaut durch den Regen an den Calanda hinauf. Keine einzige Gams zu sehen. Das Wasser dringt durch die Jacke, nässt die Jeans. Nur ein bisschen Natur.
Rückblende: Sie gehörten zur Risikogruppe, hat der ältere Sohn vor zwei Tagen gesagt. Deshalb besser kein Kontakt.
Für die Geburtstagsfeier ist es sowieso zu spät. Schon als Bub war das kein grosses Thema. Zweimal hat man ihn sogar vergessen. In einer Schulpause bekommt Gian von seiner Tant eine Schokolade.
«Giavischa tut i bien», sagt sie freundlich. Es dauert eine Weile, bis Gian begreift, dass er Geburtstag hat.
Manchmal denkt er an die alten Männer im Dorf. Sieht sie pfeifenrauchend am Abend auf der Bank vor dem Haus sitzen. Er und reist in Gedanken zurück in die Vergangenheit. Erinnert sich, erlebt nochmals, hört die vertrauten Stimmen ...
Gian hat seinen Spaziergang beendet, schiebt das Ticket in den Automaten und ist erstaunt, dass er so lange unterwegs war. Die durchnässte Jacke wirft er über die Kopfstütze auf dem Rücksitz, die Kamera kommt in die Foto-Tasche. Mit einem Papiertaschentuch, das neben dem angebissenen Apfel beim Schalthebel liegt, reinigt er die Brille. Dann fährt er los.
Unterwegs fällt ihm ein, dass er noch in die Apotheke sollte. Seit Tagen macht er sich Sorgen, ob seine Medikamente wegen des C-Virus noch zu haben sind.
Zu seinem Erstaunen ist er dann der einzige Kunde. Kein Stau wie die Medien verkündet haben. Alle Medikamente sind vorhanden und sogar auch beim Liferanten noch auf Lager.
Balkon: Drei Uhr nachmittags. Die Kälte dringt langsam durch Gians Jacke und nach unten in die Beine. Auf der Bonaduzer Alp leuchtet frischer Schnee unter grauweissen Wolken.
Gian hat auf ketonische Ernährung umgestellt, verzichtet im Moment fast ganz auf Kohlenhydrate. Gemüse, Fleisch, Eier ... und ein einziges Stück Brot am Tag. Wie lange er das durchhält, weiss er nicht.
Gian auf der Post: Eine freundliche Angestellte zeigt ihm, wie er seine Rechnung am Zahlungsautomaten eingeben kann. Sie liest ihm die Konto-Nummer ab seinem Handy vor und ist entzückt, dass ein so alter Mann an dieser Technik Interesse zeigt.
Bevor er wieder ins Auto steigt, erscheint auf dem Handy eine Terminerinnerung: Augenarzt, 09.30 Uhr.
Im Wartezimmer: Gian blättert eine Illustrierte durch und begegnet Endo Anaconda. Er hat abgenommen, trinkt seit zehn Monaten keinen Alkohol mehr, erzählt, dass er früher jeden Tag eine Flasche Hochprozentiges getrunken und nicht das Gefühl gehabt habe, betrunken zu sein. Jetzt trinkt er mit drei Kollegen am Küchentisch Tee.
Die Assistentin ruft. Jung, stark geschminkte Augen, attraktiv. Gian folgt ihr wie ein Hündchen ins Untersuchungszimmer.
«Sie können sich auf diesen Stuhl setzen.»
Der Stuhl steht dicht vor einem Apparat. Sie macht den Makulatest. Rote Linien blitzen durch Gians Augen, drehen, dehnen sich, blenden.
«Sie können sitzen bleiben, der Arzt kontrolliert auch noch», sagt sie und verlässt ihn.
Dr. Chan, noch kürzer angebunden als sonst, grüsst ihn ohne Handschlag. C-Virus, Ansteckungsgefahr. Klare Befehle, keine Fragen erwünscht. Er schiebt eine Vorrichtung zehn Zentimeter vor Gians Augen.
«Stirn anlehnen! Nase nicht! Nur Stirn!»
Blendendes Licht.
«Auf mein Ohr schauen! – Anderes Auge! – Auf mein Ohr schauen!»
Gian sieht kein Ohr, schaut einfach in die Richtung, in der er es vermutet.
«Lesen! Oberste Reihe!»
Gian liest und meldet: 2, 4, 9, 5, 6 ...
Die nächste Reihe, kleinere Zahlen ...
«Anderes Auge! Lesen!»
Gian ist stolz, dass er die Zahlen überhaupt sieht.
«Nach oben schauen!»
Die Augentropfen machen fast blind. Gian hofft, dass er trotzdem noch fahren kann.
Abschlussbericht: Makula unverändert, nächster Termin in sechs Monaten.
Dr. Chan läuft voraus zum Empfang, murmelt auf Wiedersehen und ist weg. Die Arztsekretärin reicht Gian das Kärtchen mit dem Termin über den Tresen, auf dem, wie er erst jetzt sieht, eine Flasche mit Desinfektionsmittel steht.
Einkauf nach dem Arztbesuch: Eine Frau, einen Kopf grösser als Gian, bezahlt vor ihm eine einzelne Flasche Likör. Sein Einkauf füllt das ganze Band.
«Hamsterkauf», sagt er zum Spass.
«Ist mir egal!», schmettert sie seine Freundlichkeit zu Boden. Gian hasst humorlose Menschen und ab sofort Frauen, die ihn um einen Kopf überragen.
Durch die offene Balkontür ertönt Musik. Radio Eviva, Jodelgesang.
Gian erinnert sich an seinen kurzen Besuch in einem Jodelchor: Beim ersten Auftritt streift man ihm eine Edelweiss bestickte blaue Kutte über. Er steht in der hintersten Reihe und hat, weil er die Lieder noch nicht kennt, die Anweisung bekommen, nur die Lippen zu bewegen. Trotzdem versucht er, mitzusingen, was gründlich schief geht. Eine langjährige Jodlerin vor ihm zischt ihn an, er solle den Mund halten, wenn er schon nicht singen könne.
Gian zieht die blaue Kutte aus und gibt sie dem Chorältesten zurück. Liebevoll faltet der die Kostbarkeit zusammen, legt sie sorgfältig vor sich auf das weisse Tischtuch. Danach schaut er durch ihn hindurch. Gian fühlt sich, als ob er mit dieser Zurückweisung die Ehre des Vaterlandes beschmutzt hätte.
Überall dieser Virus. Dauerthema im Radio, auf dem Handy, in der Zeitung. Und beim Morgenessen mit Rahel. Langsam wird es Gian zuviel. Er traut der Hysterie nicht. Etwas daran ist faul. Wenn der Virus wirklich nicht viel schlimmer ist als eine Grippe, weshalb dann dieses Theater? Gian ist überzeugt, dass mehr dahintersteckt, traut weder der Regierung, noch den Fachleuten und schon gar nicht den Medien. Die ganze Wirtschaft droht zusammenzubrechen, wenn das nicht bald aufhört. Und nur wegen eines neuen Grippevirus, das, wie man weiss, weniger Todesopfer fordert als die alljährliche Grippe.
Enkelkinder sollen nicht mehr von den Grosseltern betreut werden, Restaurants haben kaum noch Gäste, Fluggesellschaften keine Passagiere. Geflogen wird trotzdem. Mit leeren Sitzen, um die Slots nicht zu verlieren. Dass immer noch Autos vorbeifahren, beruhigt Gian etwas. Er beschliesst, die sozialen Medien zu meiden. Dort findet die grösste Hetze statt. Millionen von Flüchtlingen warten scheinbar darauf, in Deutschland eine neue Heimat zu finden. Die Regierung tut alles, damit sie ungefährdet einreisen können. Welch noble Geste von einem Land, das zwei Weltkriege geführt und Millionen von Menschen auf dem Gewissen hat.
Um sieben Uhr morgens hat Gian seine neue Kamera aufs Stativ geschraubt und, noch im Pyjama, auf dem Balkon aufgestellt. Zeitraffer. Sechshundert Aufnahmen, alle zehn Sekunden eine. Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten für ein Vierundzwanzig-Sekunden-Video.
Gian kann sich an einen Traum erinnern, in dem er jemandem sagt, dass er im Grunde genommen die Menschen liebe, alle. So wie sie sind. Nicht persönlich, das wäre unmöglich. Doch als menschliche Wesen, die ihren Weg gehen wie er seinen.
Freitag. Kalt, wie jedes Jahr um diese Zeit. Wenn es dann endlich wärmer wird, ist er vorbei, der Frühling. Ein besonderer Frühling, weil man, als Ü65-Mensch, sich nicht aus dem Haus wagen sollte. Ansteckungsgefahr. Der Virus lauert hinter jeder Ecke. Laut den Medien türmen sich bereits überall Leichenberge.
Tag und Nacht, auf allen Kanälen das gleiche Thema. Massive Angstmacherei, es ist, als ob man beschlossen hätte, nicht aufzuhören, bis nicht jedes Wesen auf dieser Welt auf allen Vieren durch die Gegend kriecht. Jeder macht einen Bogen um den anderen, zwei Meter Abstand mindestens. Experten tauchen in den Medien auf wie Pilze, die nach einem Landregen aus dem Boden schiessen. Jeder weiss etwas, nämlich die Wahrheit, Und wehe denen, die die Gefahr nicht ernst nehmen.
Von Anfang an war er skeptisch, und ist es immer noch. Etwas scheint gewaltig faul zu sein an dieser Medienhysterie. Wenn wirklich eine solch schreckliche Seuche unterwegs wäre, würde man versuchen, die Bevölkerung zu beruhigen. Was im Moment gemacht wird, ist jedoch das pure Gegenteil.
Über der Strasse hört Gian das Brummen eines Rasenmähers. Rahel werkelt in der Küche herum. Autos rauschen vorbei, Vögel zwitschern, gelb blühen die Forsythien. Ein milchiger Dunst liegt über den schneebedeckten Bergen.
Viertel nach zwei, vielleicht bekommt Gian heute die neue Tastatur für den Computer, den er in den letzten Tagen nach einem Totalabsturz wieder zum Laufen gebracht hat. Gut fühlt er sich nicht in diesen Tagen, um ehrlich zu sein.
Kein Wölkchen am Himmel, ein kalter Wind.
Ab und zu laufen Leute vorbei, die sich in einer fremden Sprache unterhalten. Jugoslawisch vielleicht, ab und zu Italienisch oder Romanisch. Doch meistens im einheimischen Dialekt.
Am Vormittag war er in der Apotheke. Frau Frick, die bayrisch-österreichische Apothekerin mit Gesichtsmaske, fragt, wie es ihm gehe. «Der Sohn besorgt die Einkäufe», sagt er. «Ah ja, gut!», meint sie.
Vier Medikamente. Von jeder Schachtel hat Gian den Teil abgerissen, wo der Name drauf steht, dazu mit Kuli 1x, 2x, 1x, 2x drauf geschrieben. Mit vier 5-Franken-Gutscheinen bezahlt er den Warzenentfernungsstift. Die beiden Frauen beraten, ob mit Kälte oder mit Essigsäure besser ist. Sie sind Diabetiker, dann ist der Kältestift nicht ideal. Was das mit Diabetes zu tun hat? Sie können es nicht genau sagen. Ob sie ihm glauben, dass die Warze am rechten Zeh gewachsen ist?
Beim ersten Auftragen beschliesst Gian, vorsichtig zu sein und hält den Stift nur kurze Zeit auf die Warze unterhalb des rechten Auges. Es brennt etwas, die Säure reizt die Nasenschleimhäute. Doch es wirkt, nach ein paar Tagen ist das Gewächs verschwunden.
Eigentlich wird er keine Bücher mehr schreiben, hat Gian gedacht und sich auf die Fotografie gestürzt. Neue Kamera, Zubehör, Adapter, ein Spektiv. Ein Fernrohr, um den Mond zu beobachten. Die Welt steht auf dem Kopf, was bei Spiegelteleskopen normal ist, liest er in der Beschreibung. Die Umkehrlinse, die ein paar Tage später eintrifft, zeigt kein Bild. Nichts als Nebel. – Frust, Ärger. Wenigstens kann er die neue Kamera anschliessen und den Berg gegenüber fotografieren. Und auch filmen. Gämsen tummeln sich im Schnee, rennen die Kreta duruf, mindestens fünfzehn Stück.
Er schneidet ein Video zusammen und stellt es auf Facebook, wo er über zweihundert Freunde hat. Persönlich kennt er nur zehn.
Sein Sohn ruft nach der Arbeit an. Er klingt müde, ist gestresst. Wie erwartet, bringt er die Einkäufe am nächsten Morgen. In einer Woche kommt die erste Lieferung von Coopathome.
Schönes Wetter. Etwas dunstig über der Bonaduzer Alp. Immer noch ungewöhnlich kalt.
Am Vormittag war Gian mit Rahel in der Stadt. Sie sind die einzigen Kunden auf der Hauptpost. Distanz-Markierungen verzieren den Boden. Gian schiebt das kleine Paket für seinen Bruder gegen die Scheibe. Die Angestellte zögert, bevor sie aufmacht. Hat sie Angst vor Corona? Oder Bedenken, weil Gian mit seinen weissen Haaren offensichtlich im Risikoalter ist?
Gian parkiert auf der Oberen Au und läuft mit Rahel an den Rhein bis zur Absperrung. Das Militär will nicht, dass in diesen Tagen Zivilisten auf ihrem Gelände herumstreifen.
Die Füsse schmerzen, wie immer seit der Operation, doch es geht. Nach vierzig Minuten steigt er mit Rahel wieder ins Auto. Bei der Haltestelle Felsberg will sie aussteigen. «Noch etwas laufen», sagt sie.
Zu Hause öffnet er die Packung mit dem Hackfleisch, mischt fein gehackte Zwiebeln und Knoblauch darunter, würzt und knetet. Das Fleisch ist nass und kalt.
«War wohl tiefgefroren», sagt er zur Frau, die gerade zur Tür hereinkommt.
Portugiesischer Wein. Er trinkt mehr, als ihm guttut. Einfach so, aus Lust. Nach dem Essen räumt er ab, füllt das Geschirr in die Maschine, legt eine Chemie-Tablette ins Fach und drückt auf den Startknopf. Dann legt er sich auf die Couch und schläft schnell ein. Nach zwei Stunden wacht er auf. Ihm ist übel. Rahel sagt, er habe geschnarcht.
Sein Sohn bringt im Armee-Tenue die Esswaren. Er stellt die Einkaufstaschen auf den Türvorleger und bleibt im Gang stehen. Distanz wegen dem Virus. Er macht sich Sorgen um seine Eltern. Gian kommen fast die Tränen.
Mit Rahel auf dem Balkon. Wenig Verkehr, mehrere Spaziergänger, Familien, Kinder ...
Gian erinnert sich an einen unangenehmen Traum: Er sitzt mit ein paar Leuten an einem langen, ovalen Konferenztisch. Im gegenüber, am oberen Ende, ein Mann, der ihn stumm anstarrt. Gian versucht, mit ihm zu kommunizieren, doch er blockt ab. Er scheint mit irgendetwas, das Gian getan hat, nicht einverstanden zu sein, und lässt es ihn spüren. Sein stummer Vorwurf, sein Schweigen, machen Gian wütend. Er ist überzeugt, dass dieser Mann nicht das Recht hat, ihn zu verurteilen, wofür auch immer.
Die Frau mit Hut, die Gian am Balkontisch gegenübersitzt, möchte, dass er, weil die Sonne auf ihre Füsse brennt, die Store herunterkurbelt.
«Ah, gut, danke!», sagt sie und schaut weiter in die grüne Hülle ihres Handys.
Ein Easy-Rider-Töff blubbert die Strasse hinauf, ein Töffli dröhnt entgegen. Dann wieder Stille, nur die Vögel zwitschern.
Während Rahel mit ihrem Handy beschäftigt ist, denkt Gian an die Worte des US-Präsidenten: Never, never, never giv up!
Auch wenn er manchmal auf allen Vieren im Dunkeln herumkriecht, so gelingt es ihm doch immer wieder, auf die Füsse zu kommen. Dann greift er zur Gitarre, übt ein paar Griffe, spielt eine Melodie, oder er nimmt seinen Laptop, verschiebt sich mit ihm auf den Balkon und schreibt ein paar Zeilen. Was, spielt keine Rolle, sagt Doris Dörrie in ihrem Buch Leben, schreiben, atmen. Einfach schreiben, den Verstand ausschalten, die Zweifel, die Gedanken im Kopf, die ständig versuchen, das Vertrauen in die innere Stimme zu zerstören.
Am Vormittag hat Gian seinen Hauswart-Job erledigt: Das Treppenhaus gereinigt, die Abfallbehälter in beiden Waschküchen geleert, im Heizraum fünfundzwanzig Kilo Reosal in die Entkalkungsanlage nachgefüllt, Lift, Geländer und Handläufe gesäubert und mit dem Laubsauger Tiefgarage und Hauseingang von den dörren Blättern befreit, die der April-Regen aus den Hecken rund ums Haus in die Auffahrt geblasen hat.