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Was passiert, wenn aus einem Urlaubsflirt, der zudem mit einer »Ménage à trois« beginnt, Liebe wird? Als die junge Schauspielerin Ina zum ersten Mal nach Malta reist, verliebt sie sich in den Besitzer ihres kleinen Hotels. Gegensätze prallen aufeinander und versuchen zu verschmelzen, was schwer gelingt durch persönliche Schwierigkeiten, die nicht ausgesprochen werden. Die tragische Liebesgeschichte wird in zwei Tagebüchern erzählt, die der Schwester der Protagonistin zugespielt werden.
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Anke Jablinski
ErlebnisMalta 5
Anke Jablinski
SCHATTEN DES MEERES
Zwei Tagebücher einer Liebe
ErlebnisMalta 5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: November 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Anke Jablinski
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 432 8
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 711 4
Für M. im Himmel
Sie saßen am Hafen von Msida auf einer alten Bank. Zu ihrer Linken stand die große Kirche. Hinter ihnen lag das Roundabout mit dem Kinderspielplatz, Autos hupten und Kinder schrien oder lachten. Vor ihnen lag ruhig das Meer. Es roch nach Seeluft und Diesel. Wie immer umarmte oder liebkoste er sie nicht in der Öffentlichkeit. Er saß nur da und schaute auf das Meer. Wie sie. Gerade als die Kirchenglocken in all die unterschiedlichen Geräusche einstimmten, um drei Uhr anzukündigen, befahl er aus heiterem Himmel, und ohne sie dabei anzuschauen:
»Sag’: inhobbok*!«
»Was? Warum? Nein, ich weiß doch gar nicht, was das heißt!«
Frustriert schaute er auf den Boden und kaute nervös an seinem rechten Zeigefinger. Dann sah er sie fragend an. »Aber du willst doch Maltesisch lernen, Malti?«
»Ja, aber richtig. Nicht so. Sondern von Grund auf, wie in der Schule, verstehst du?«
Er verstand nicht. Er zeigte aufs Meer, dorthin, wo die vielen Boote lagen, und versuchte es noch einmal: »Sag’: nara il-jott**!«
Sie lächelte und schwieg …
* Ich liebe dich.
** Ich sehe die Jacht.
Stefanie
Wir alle haben das Bedürfnis, zu gefallen. Wir wollen unseren Verwandten und Freunden gefallen und von unseren Kollegen und Nachbarn geschätzt werden. Das Gefallenwollen wird umso wichtiger, desto mehr uns an einem Menschen liegt, das heißt in dem Maße, wie sehr uns selbst ein Mensch gefällt. Wenn wir uns verlieben, dann wollen wir dem Objekt unserer Begierde unbedingt gefallen und setzen alles daran, seine Sympathie zu gewinnen. Gelingt uns dies nicht, so sind wir in unserer Eitelkeit verletzt, frustriert, traurig, oft sogar verzweifelt. Unser Selbstwertgefühl wird angenagt von der nicht erwiderten Liebe.
Es ist das wohl schönste Gefühl, wenn unsere Liebe zu einem Menschen erwidert wird. Nun wollen wir diesen Menschen, der uns glücklich macht, aber auch begreifen, verstehen, wir wollen ihn kennenlernen, wollen wissen, was für ein Leben er geführt hat, bevor wir ihm begegnet sind, was er denkt und fühlt. Wir lernen, diesen Menschen zu lesen, lernen, die Hintergründe zu begreifen, die den geliebten Menschen dazu veranlassen, sich so – und nicht anders – zu verhalten. Obwohl wir ahnen, dass Erzählungen nie das wiedergeben können, was wirklich im Leben dieses Menschen passiert ist, möchten wir den Werdegang dieses Menschen kennenlernen.
Es kann ein unvergleichbares Glücksgefühl sein, denjenigen, den man liebt, wirklich zu verstehen. Umgekehrt ist es ein zermürbendes Gefühl, nie den geliebten Menschen kennenzulernen, ihn eben nicht zu erfassen, obwohl man ihn schon lange kennt, und viel Zeit mit ihm verbringt. Dieser Mensch aber verschließt sich – er igelt sich ein, sagen wir. Warum?, fragen wir uns verzweifelt. Verzweifelt deshalb, weil wir sofort an uns selbst zweifeln: Warum kann sich mein Gegenüber nicht öffnen, warum kann er mir nicht vertrauen? Was mache ich falsch?
Einem anderen zu vertrauen aber muss gelernt sein. Ich denke, dass es viele Menschen gibt, die nie gelernt haben, sich zu öffnen und sich damit gleichzeitig verletzbar zu machen, dem Gegenüber aber zuzutrauen, dass er gerade in verletzbaren Momenten nicht verletzt. Vielleicht hat ein Mensch, der nie vertraut hat, auch gar nicht dieses Bedürfnis, von dem wir gerne und leichtfertig behaupten, es sei das Bedürfnis eines jeden Menschen? Denn wie kann ich mir etwas wünschen, das ich nicht kenne, etwas, von dem ich nie etwas erfahren habe?
Kann dieser Wunsch plötzlich wachgerüttelt werden? Ich glaube, er kann! Auch ein Mensch, der sein Leben gelebt hat, ohne sich jemals wirklich zu zeigen, kann plötzlich Sehnsucht nach dieser Vertrautheit bekommen, wenn er sich in einen Menschen verliebt, der das Bedürfnis nach Vertrauen hat, und vielleicht sogar den Anspruch, in diesen verschlossenen Menschen einzutauchen.
Als meine Schwester Ina nach Malta reiste, hat sie sich in einen Mann verliebt, der nie über sein Leben gesprochen hat. Ich kann nur vermuten, dass in ihm das Bedürfnis sich mitzuteilen, vorhanden war, die Hürde für ihn aber zu hoch war, als dass er sie hätte nehmen können. Denn dieser Mann, Philip, hat Tagebuch geschrieben. Jeder Mensch, der Tagebuch schreibt, trägt den Wunsch in sich, sich mitzuteilen.
Erst seit ich diese beiden Tagebücher gelesen habe, die Tagebücher von Ina und Philip, kann ich ahnen, wie unerträglich es sein kann, nicht an den Menschen, zu dem man sich so hingezogen fühlt, heranzukommen, sei es aus eigener Unfähigkeit oder aus der Unzulänglichkeit des anderen.
Hat nicht jeder von uns mitunter sogar das Gefühl, auf der Welt zu sein, um Missverständnisse zu kreieren? Diese permanenten Missverständnisse gerade mit den Menschen, die uns am wichtigsten sind, können uns dazu bringen, uns klarer und verständlicher auszudrücken. Nach einiger Zeit glauben wir, sehr viel gelernt zu haben, und sind glücklich, denn wir zeigen uns, so wie wir sind, und fühlen uns – wenn wir Glück haben – verstanden. Zu unserem größten Entsetzen aber bleiben die Missverständnisse nicht aus! Wir haben nicht daran gedacht, dass wir nicht der einzige Mensch sind, der dieses Problem hat, und uns weiterhin viele Menschen begegnen werden, die sich verschwommen und unverständlich ausdrücken, weil sie vorsichtig sind, Angst haben. Wir haben alle Angst! Wir reden oft mehr als genug, aber das Wesentliche lassen wir beiseite. Ich glaube, es war Tennessee Williams, den meine Schwester liebte und verehrte, der sagte: »Die wichtigsten Dinge im Leben sind am schwersten zu sagen …«
1. Kapitel
Ina
St. Julian’s, 5. April 1987
Ich bin so glücklich! Seit ich hier auf Malta bin, fühle ich mich vollkommen entspannt, frei und von einer Lebensenergie, die ich schon fast nicht mehr kannte! All die Ängste und Befürchtungen, die ich in Berlin seit der Diagnose Morbus Bechterew im Januar ja fast immer als zusätzliche Last mit mir herumschleppe, scheinen sich hier in Luft aufgelöst zu haben!
Ich gehe täglich stundenlang spazieren, esse wenig und trinke keinen Alkohol. Kurz: Ich fühle mich so leicht, lebendig und frisch wie früher als Kind.
Das klare und türkisblaue Meer, das goldgelbe Licht der Abendsonne, die netten Leute, die über eine – so scheint es mir – ganz besondere Art von Humor verfügen, die vielen lieben Hunde und Kätzchen überall, all das zusammen ist mehr für mich als Urlaub. Vielmehr ist es, als fände ich zu mir selbst zurück, zu meinem Mittelpunkt.
Malta ist wirklich wunderschön: Die ganze Insel ist nicht einmal so groß wie West-Berlin! Obwohl fast der gesamte Ostteil Maltas (wo auch ich wohne) aus sich aneinanderreihenden Städten besteht, fühle ich mich gar nicht wie in einer Stadt! Trotz der vielen Autos, die sich auf rührende Art und Weise durch Straßen und Gassen bewegen, empfinde ich hier nie ein Gefühl der Enge oder Hektik, sondern immer ein Gefühl der Freiheit, der Gelassenheit und der Freude. Vielleicht ist es der Wind, der immer, selbst an den sonnigsten Tagen, zu spüren ist, und der meine Probleme förmlich wegzublasen scheint, vielleicht die Sonne, deren Licht hier intensiver auf mich wirkt, als ich es je woanders in Europa empfunden habe, vielleicht die Mentalität der drolligen Menschen, die hier leben. Vielleicht ist es diese Mischung aus Benzingeruch und Seeluft, die von der Küste noch weit bis ins Landesinnere wahrzunehmen ist, bei der zwei Welten aufeinanderstoßen und sich friedlich vereinen. Nun, vielleicht weiß ich auch gar nicht, was es ist, das mich verzaubert hat.
Bei aller Freude und bei aller Schwärmerei scheinen meine Pflichten vollkommen in Vergessenheit zu geraten! Schließlich sollte und wollte ich meine Rolle für Pippi Langstrumpf hier im Urlaub einstudieren. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal die Handlung gelesen, geschweige denn, meine Rolle einstudiert! Habe auch gar keine Lust dazu, aber in zehn Tagen geht es schon wieder zurück nach Berlin, und dann muß ich meinen Part im Theater vortragen. Das kann ja noch heiter werden! Es mag eine Binsenweisheit sein, aber die Zeit vergeht zu schnell, wenn man glücklich ist!
Auch an Andreas habe ich noch keine Zeile geschrieben! Sollte ich jetzt ein schlechtes Gewissen bekommen? Nein, für solche Art von Gedanken ist mein Kopf zurzeit nicht bereit! Ich habe Andreas natürlich nicht vergessen, und doch kann ich nicht gerade behaupten, Sehnsucht nach ihm zu haben.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich eigentlich nie Sehnsucht nach meinen Freunden hatte, wenn ich alleine im Urlaub war. Ich habe mich zwar stets gefreut sie wiederzusehen, wenn ich von einer Reise zurückkam, aber ich kann nicht behaupten, einen von ihnen wirklich vermisst zu haben! Wenn ich mich so umschaue, so müsste ich langsam aber sicher meinen, dass mit mir irgendwas nicht stimmt! Ob im Theater, im Film oder im alltäglichen Leben: Überall scheinen die Menschen ihre Partner zu vermissen, wenn sie fort sind. Vorausgesetzt, dass sie sie lieben natürlich. Natürlich? Ist es denn natürlich oder sogar zwangsläufig, denjenigen, den man liebt, zu vermissen, sobald er nicht da ist? Ist Sehnsucht ein Beweis für Liebe, sind die beiden Begriffe unmittelbar verbunden und nicht voneinander zu trennen? Das glaube ich nicht. Sehnsucht bedeutet viel mehr, jemanden zu brauchen, als ihn zu lieben (erstes schließt zweites natürlich nicht aus).
Was mich betrifft, so habe ich viel zu große Angst jemanden zu brauchen, mich also quasi abhängig zu machen, als dass ich Gefühle der Sehnsucht aufkommen lassen würde! Sehnsucht bereitet mir Angst, deswegen habe ich keine (ist das wirklich so einfach?)
Ist das ein Armutszeugnis, vermisse ich etwas, ohne es zu wissen? Na ja, Sehnsucht hin, Sehnsucht her, ich bin auch immer noch etwas sauer auf Andreas. Zwar haben wir uns gerade vor meiner Reise wieder versöhnt, aber es gibt immer wieder so viele Dinge, die mich ärgern, wenn ich nur an ihn denke. Manchmal glaube ich sogar schon, dass Männer und Frauen zu verschieden sind, um sich wirklich zu verstehen! Aber das ist wahrscheinlich Unsinn (wo habe ich das nur wieder gelesen?)
Was Männer angeht, so benehme ich mich nicht gerade zurückhaltend hier, im Gegenteil: Ich bin permanent am Flirten! Die maltesischen Männer sind die totalen Anmacher und wahnsinnig nett und lustig dabei. Wahrscheinlich würde so manch eine deutsche Frau die Malteser als Machos bezeichnen, aber immerhin können sie – im Gegensatz zu den langweiligen deutschen Männern – noch flirten. Und flirten gehört nun einmal zu den schönsten Dingen im Leben!
Am meisten flirte ich mit einem Malteser, der hier im Hotel arbeitet. Äußerlich ist er gar nicht mein Typ, und auch nicht mal typisch südländisch: Er ist wohl so Ende dreißig, nicht gerade schlank, hat blaue Augen und dunkelblondes, grau meliertes Haar. Obwohl er kein Schönling ist, hatte er von Anfang an eine erotische Ausstrahlung auf mich (was im Übrigen oft der Fall ist; meistens finde ich sogenannte gut aussehende Männer völlig unerotisch und vor allem uninteressant). Irgendwas an ihm hat mich sofort interessiert und angetörnt. Augenblicklich hatte ich das Bedürfnis, ihm zu gefallen. Als er mir dann eines Morgens das Frühstück brachte, berührten sich unsere Hände. Was für eine warme Hand! Es war das schönste Gefühl, das ich seit Langem gehabt habe! Mir wurde heiß und kalt, und er verweilte eine Sekunde länger in dieser Stellung, als es nötig gewesen wäre, um den Teller auf den Tisch zu stellen. Wenig später trafen wir uns im Fahrstuhl wieder, und es knisterte. Ja, es knisterte, wie sonst sollte ich diese merkwürdige Spannung benennen, die herrschte, als er zu mir in den Aufzug stieg? Ich sagte: »Hello«, und er fragte: »Alright?« Sonst sagte keiner ein Wort, aber das Knistern sprach Bände … Dieser Mann verfügt über Charme und Humor. Ich glaube, das ist es, was mir so sehr an ihm gefällt.
Ina
Malta, 6. April 1987
Dieser Mann heißt übrigens Philip, wie ich inzwischen erfahren konnte. Gestern Abend war ich noch in der Bar des Hotel Pace, in dem ich seit fünf Tagen wohne und – wie ich die Dinge so sehe – wohl auch wohnen bleiben werde. Das Hotel ist nämlich billig und urig: Es liegt versteckt hinter ein paar Häusern, hat zwanzig Zimmer, und von der Dachterrasse kann man die Bucht sehen. Alles ist hier etwas chaotisch, aber das Personal ist süß …
Philip machte mich ziemlich an, gab mir einen aus, woraus schnell mehrere Gläser Wein wurden, die mich ziemlich beschwipst machten, da ich zuvor ja fünf Tage nichts getrunken hatte. Wieder ertappte ich mich dabei, ihm gefallen zu wollen. Wir erzählten und lachten. Ich war die einzige Frau in der Bar, außer mir noch Philip, drei andere maltesische Männer vom Personal und ein Schotte. Natürlich stand ich dementsprechend schnell im Mittelpunkt des Geschehens und flirtete eigentlich mit allen, obwohl mein Interesse ausschließlich Philip galt (es ist schon sonderbar, wie ich mich manchmal verhalte!)
Ich erzählte von Berlin und auch von Andreas. Einer der Malteser fragte mich, ob ich meinen Freund lieben würde, woraufhin ich etwas nervös und unsicher wurde, was an Phils Gegenwart lag. »Ja …«, sagte ich schließlich peinlich unschlüssig und zögernd, »aber im Moment stecken wir gerade in einer … Krise!«
»That’s life«, meinte Philip in seiner typischen ›Take it easy‹-Art, und mir fiel doch glatt nichts Besseres ein, als festzustellen: »It's not easy …«
Die Männer lachten und meinten wohl, mir Komplimente zu machen, indem sie behaupteten, ein so fröhliches und schönes Mädchen, wie ich es sei, könne im Leben doch gar keine Probleme haben! »Wenn das so simpel wäre …«, sagte ich schnell undeutlich und dachte: Wenn die wüssten …!
Heute Morgen hatte ich einen Kater, mein Orientierungssinn war völlig durcheinander. Ich rief an der Rezeption an, um nach Frühstück auf dem Zimmer zu fragen. Philip war am Apparat. Als ich seine Stimme hörte, wurden meine Kopfschmerzen augenblicklich von einem starken Herzklopfen abgelöst. »Good morning«, sagte eine für einen Mann außergewöhnlich weiche und trotzdem nicht hoch oder lächerlich klingende Stimme. Selbstverständlich würde er mir gerne das Frühstück ans Bett bringen, und ob ich Tee oder Kaffee wolle, hat er noch gefragt. »Tea, please«, sagte ich, worauf er mit maltesischem Akzent wiederholte: »One breakfast wid tea. Alright? I’ll bring it to you in a second. Tank you. Bye.«
Ich war aufgeregt und schwitzte vor Freude, doch als es klopfte und ich die Tür öffnete, stand ein anderer, junger, im Übrigen sehr lieber und hübscher Malteser, der ebenfalls Philip hieß, mit dem Tablett vor mir. Ich setzte mich auf meinen kleinen dunkelgrün gestrichenen Balkon, schaute auf das Blumenfeld unter mir, und aß etwas enttäuscht den Toast, als es nach einer Weile wieder an der Tür klopfte. »Yes, come in«, rief ich, und diesmal stand mein Philip in der Tür. »You want some extras?«, fragte er, worauf ich in meiner schmutzigen Fantasie köstlich zu lachen anfing, denn mit Extras verbinde ich das Sexgeschäft! Er verstand sofort, weshalb ich lachte, und sagte grinsend und zweideutig: »Lass mich deine Extrawünsche wissen, ich werde dir jeden auf dieser Welt erfüllen.« Ich lachte weiter, und er fuhr fort, von jeglicher Zweideutigkeit sofort wieder abgekommen: »Wenn du Orangensaft willst, sag Bescheid.« Dann verschwand er ohne ein Wort oder einen Blick. Strange guy indeed!
Jetzt sitze ich auf der Jylland und mache eine Schiffsfahrt einmal rund um Malta. Die Sonne scheint, und alle Passagiere scheinen guter Dinge zu sein. Die Jylland ist zum Glück nicht überfüllt, sodass ich schon beinahe mit jedem hier an Bord ein paar Worte gewechselt habe: Mit den zwei lebenslustigen deutschen Damen über sechzig, die zusammen eine Weltreise machen, und denen Malta genauso gut gefällt wie mir, mit einem Franzosen, der es bedauert, alleine hier zu sein und dem das Essen nicht schmeckt, und mit einer gemischten Gruppe von Engländern und Schotten, die mir nicht glauben wollten, dass ich erstens deutsch und zweitens schon dreiundzwanzig bin. Beides höre ich immer wieder auf Reisen. Ersteres schmeichelt mir ein wenig, denn wer ist schon gerne deutsch?, Letzteres geht mir ein bisschen auf den Geist. Nicht, dass ich gerne alt aussehen würde, im Gegenteil. Gerade jetzt, da ich Angst haben muss, durch die sehr wahrscheinliche Verkrümmung der Wirbelsäule früher als andere alt auszusehen, freue ich mich über Komplimente solcher Art. Der Nachteil besteht allerdings darin, ständig von halben Kindern angemacht zu werden, und ich stehe auf alles andere als auf junge und unerfahrene Typen, die sich zudem meist noch besonders toll vorkommen und es gar nicht fassen können, dass man etwas Besseres vor hat, als den Abend mit ihnen in der Disco zu verbringen. Dass ich dazu auch noch Spaziergänge allein in der Natur vorziehe, verkraften sie meist überhaupt nicht, und es schreckt sie meist so ab, dass sie mich daraufhin endgültig in Ruhe lassen.
Eigentlich wollte ich hier auf dem Schiff endlich meine Rolle lernen, und auch einen Brief an Andi schreiben, aber anscheinend fehlt mir zu allen ernsteren Dingen immer noch die Motivation. Stattdessen werde ich mir jetzt ein Bier kaufen und mich in die Sonne legen, basta! Ich liege nämlich als Einzige ganz oben und kann von hier so richtig gut die tolle Steilküste Maltas bestaunen. Wahnsinn! Eine so hohe Steilküste habe ich noch nie gesehen, noch dazu in so leuchtenden, goldenen Farbtönen!
Später (nachts), St. Julian’s, Hotel: Bin unglücklich, habe Mist gebaut! Bin gerade aus irgendeiner verwirrten Stimmung heraus mit einem italienischen Seemann ins Bett gegangen, der zu allem Überfluss nicht mal ein guter Liebhaber war! So was Idiotisches! Typisch, mal wieder …
Das kam so: Nach der wunderschönen Schiffsrundfahrt hatte ich mich wie verrückt auf Philip gefreut. Ich duschte, zog mich um und ging gestylt in die Bar, um etwas zu trinken und – ehrlich gesagt – vor allem, um in Phils Nähe zu sein. Aber er war nicht da. Aus Frust trank ich immer mehr und ging, da er auch später nicht kam, einen Abendspaziergang an der Küste entlang zum Nachbarort Sliema machen, wo Ciro mich ansprach. Dieser Ciro ist ein Macho. Er sieht ganz gut aus, erinnert etwas an einen Stanley Kowalski in Endstation Sehnsucht, also quasi an Marlon Brando. Ansonsten überhaupt nicht mein Typ! Er fährt zur See, sagt er, und arbeitet am Großen Hafen an der Werft oder so. Jedenfalls nahm ich ihn mit ins Hotel! Wir tranken noch ein Glas Wein in der Bar und gingen anschließend auf mein Zimmer. Scheiße, das hätte ich mir doch nun wirklich sparen können!
Jetzt liege ich hier geknickt auf meinem Bett und frage mich, ob ich jemals erwachsen werde: Ich bin dreiundzwanzig, habe einen Freund in Berlin, bin verliebt in einen maltesischen Ehemann (Philip ist Familienvater!), und gehe aus Angst, bald zu verkümmern und dann nicht mehr attraktiv zu sein, mit einem primitiven, unsensiblen Idioten ins Bett! Ich bin so wütend! Dieser Ciro sollte, so wie er sich angestellt hat, passenderweise lieber Zero heißen! Und von mir selbst bin ich auch (und vor allem!) enttäuscht.
Morgen werde ich versuchen, mich zu besinnen, nichts trinken und Andi anrufen. Und ich werde endlich damit anfangen, meine Rolle einzustudieren. Ich kann ja schlecht zurückkommen, ohne was drauf zu haben! Nein, nein, nein!
Philip
San Gwann, 6-4-87
Jetzt ist es fast zehn Jahre her, dass ich Tagebuch geschrieben habe. Damals war George noch nicht einmal auf der Welt, aber Marija und ich waren noch glücklich. Marija war jung und wir waren verliebt.
Inzwischen sind wir nicht mehr glücklich. Wir leben zusammen und doch leben wir aneinander vorbei. Marija ist nervös und streng mit den Kindern. Sie geht mit anderen Männern aus, ohne sich darum zu kümmern, von wem sie gesehen wird! So oft habe ich sie gebeten, sich zumindest dort zu verabreden, wo uns nicht jeder kennt, aber sie bringt es fertig, Männer im Hotel zu treffen. Langsam fange auch ich an, an der Ehe zu zweifeln, wie Marija. Schon oft äußerte sie, sie hätte nie heiraten sollen, was mich allen Zweifeln zum Trotz kränkt und traurig stimmt.
Marija will frei sein, so sagt sie, ohne zu merken, dass ich ihr so viel Freiheit wie möglich lasse. Zu nichts habe ich sie jemals gezwungen. Sie kann wirklich nicht behaupten, ein schlechtes Leben zu führen.
Auch unser Sexualleben ist schon lange nicht mehr das, was es einmal war. Wenn man zehn Jahre verheiratet ist, passiert das wohl fast zwangsläufig. Aus Sex wird Routine. Trotzdem bin ich immer dafür gewesen, dass man es weiterhin zusammen versucht, anstatt es sich einfach zu machen und ständig fremd zu gehen.
Als Marija und ich einmal einen Streit hatten, schlug ich vor, es einmal mit einer zweiten Frau zu dritt zu probieren. Erst wollte sie nichts davon wissen, wurde noch wütender und schrie rum, schien später aber doch daran interessiert zu sein, es einmal auszuprobieren, unter der Bedingung, dass sie sich die Frau aussuchen könne. Das ist jetzt zwei oder drei Monate her, und wir hatten wohl nie die richtige Frau getroffen, denn die Idee war schon fast wieder in Vergessenheit geraten, wäre da nicht vor ein paar Tagen dieses deutsche Mädchen namens Ina in unserem Hotel aufgetaucht, die es mir sofort angetan hatte. Ich fand sie sexy vom ersten Moment an. Sie trägt meistens Hotpants und hat immer gute Laune. Oft lacht sie laut und lange. Ich liebe ihr Lachen!
Sie sieht eigentlich gar nicht aus wie eine Deutsche, denn Haar und Haut sind sehr dunkel. Ihre Mutter ist allerdings auch Spanierin, war zu erfahren.
Ina ist hübsch und ein bisschen verrückt. Sicher hat sie nie ein langweiliges Leben geführt. Neulich sah ich sie in Shorts alleine durch den langen Tunnel bei Ta’ Giorni joggen, bei dieser Hitze! Ich fuhr an ihr vorbei und hupte, aber sie reagierte nicht. Alle Männer sahen ihr nach und pfiffen aus den Autos raus.
Sie erzählt, dass sie ganz Malta zu Fuß abliefe, obwohl sie einen Mietwagen hat. Auch der Linksverkehr scheint ihr keine Probleme zu bereiten, vielmehr gibt sie an, hier lieber zu fahren als in Deutschland. Am späten Nachmittag sonnt sie sich meist oben auf der Dachterrasse des Hotels. Und immer, wenn man sie sieht, strahlt sie, als sei das Leben eine einzige Freude. Vielleicht ist das Leben für sie eine einzige Freude. Alle mögen sie. Jeder einzelne meiner Angestellten ist scharf auf sie. Und ich … ich habe mich sogar richtig ein bisschen in sie verliebt!
Ich erzählte Marija von ihr, und dass ich glaube, Ina könnte die Richtige für unser Experiment sein.
Heute Abend nahm ich Marija also mit ins Hotel, um Ina und Marija miteinander bekannt zu machen. Als wir das Hotel betraten, sahen wir gerade Ina mit einem Mann auf ihr Zimmer gehen! Der Mann sprach italienisch mit sizilianischem Akzent und lief wild gestikulierend die Treppe hoch, wobei er auf Inas Po starrte. Ina hat uns nicht gesehen. Sie scheint sich gut zu amüsieren in ihrem Urlaub, wahrscheinlich nimmt sie viele Männer mit auf ihr Zimmer. Ich muss zugeben, eifersüchtig geworden zu sein!
Ob aus unserem Vorhaben wohl was wird? Marija hat Ina vorhin ja nur kurz von hinten gesehen. Ich zumindest habe mir diese Idee schon fest in den Kopf gesetzt. Ich will Ina!
Ina
St. Julian’s, 7. April 1987
War das wieder ein traumhafter Tag! Trotz des Alkohols und der schlechten Erinnerung an dieses überflüssige, flüchtige Italo-Abenteuer, stand ich ganz früh morgens auf und fühlte mich unerwartet frisch. Das Licht war so zauberhaft, dass es mich rauszog, und so bummelte ich in der Morgensonne bis zur Balluta Bay entlang. An dieser Bucht steht ein unglaublich großes, schönes Haus aus der Kolonialzeit neben einer Kirche. Es gibt auch ein paar Restaurants mit Terrasse direkt über dem Meer, aber sie wirken alle recht nobel auf mich, sodass ich allein nicht dort hingehen werde.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, und so herrschte Ruhe. Ich setzte mich auf eine breite Treppe, die ins Meer führt, ließ meine Füße ins Wasser baumeln, schloss die Augen und lauschte dem Wind und den Vögeln. Danach rannte ich vom Übermut gepackt den ganzen Weg zurück, bis zur Spinola Bay, wo es bergauf geht. Eigentlich haben mir die Ärzte vom Joggen und Rennen ganz und gar abgeraten. Die Erschütterungen seien zu extrem, sodass ich nur noch spazieren gehen soll. Aber so lange es noch ohne starke Schmerzen geht, will ich mich noch ein bisschen austoben und den Spaß an der Bewegung auskosten. Ich bin doch noch so jung! Wer weiß, wie lange ich überhaupt noch rennen kann?
An der Spinola-Bucht stehen noch einige ganz alte Häuser mit kleinen roten und grünen Balkonen, die verglast sind. Vor den Häusern hingen Frauen Wäsche auf, ein paar Meter weiter am Hafen legten die Fischer ihre Netze aus, und die streunenden Katzen suchten nach etwas Essbarem. Auf dem Meer lagen kleine, bunt bemalte Boote und schaukelten sanft hin und her. Diese Boote mit den wachsamen Augen links und rechts sollen noch aus der Zeit der Phönizier stammen. In den frühen Morgenstunden sieht diese Bucht im wahrsten Sinne des Wortes malerisch aus. Ich ärgere mich darüber, kein Malzeug mitgenommen zu haben. Ich sehe andauernd Motive, die ich gerne malen würde!
Im Hotel machte ich es mir mit Frühstück auf der Dachterrasse gemütlich und lernte endlich meine Rolle. Ich war gut in Form. Wieder einmal konnte ich feststellen, wie sehr doch Ausgeglichenheit die Konzentrationsfähigkeit erhöht.
Es war noch Vormittag, als ich fertig mit dem Lernen war, und trotz starker Schmerzen im ganzen Rücken zufrieden auf mein Zimmer ging. Auf dem Flur hörte ich Phils Stimme, die von der Rezeption bis zum obersten Stockwerk zu hören war, weil es hier im Hotel unheimlich hellhörig ist. Ach ja, ich liebe diese einfachen Hotels, in denen es manchmal laut ist, wo es nur ein Bett und einen Stuhl gibt, dafür aber alles erlaubt ist, und eine lockere, ja beinahe familiäre Atmosphäre herrscht, so wie hier.
Ich freute mich, Phils Stimme zu hören, hatte mich diese Stimme doch von Anfang an so angemacht! Beim letzten Mal bekam ich von seiner Stimme noch eine Gänsehaut, aber diesmal ging sie mir regelrecht zwischen die Beine! Philip telefonierte. Ich hörte ihn sagen: »Alright?«
Dieses ›Alright‹ ist ständig auf Malta zu hören. ›Alright‹ sagt man zur Begrüßung, zum Abschied, als Feststellung oder als Frage, je nachdem. Es heißt alles und nichts. Ich habe nie die Briten so oft ›alright‹ sagen hören, eher ähnelt es dem amerikanischen ›Okay‹. Ich mag dieses ›Alright‹ jedenfalls und habe es mir auch schon angewöhnt! »Alright« mit rollendem R …
Überhaupt gefällt mir Malti, die maltesische Sprache, so gut wie das Land selbst. Auch die Sprache stammt aus der Zeit der Phönizier. Sie klingt so ähnlich wie arabisch, aber es gibt auch einige italienische und englische Wörter. Geschrieben wird in lateinischen Buchstaben, allerdings gibt es in dem Alphabet noch einige komische Zeichen, was die Aussprache so schwierig macht. Die Sprache klingt jedenfalls sympathisch. Deshalb (deshalb???) genoss ich es, Philip beim Telefonieren zu belauschen.
Später fuhr ich im Auto nach Marsascala. Mein Mietwagen ist ebenso behindert wie ich. Das Auto ist echt ein einziger Gag und passt gut in die Landschaft: Ein azurblauer Honda älteren Modells, der beinahe auseinanderfällt! Aber da ich sowieso lieber unangeschnallt fahre und eher selten auf die Bremse trete, macht es nichts, dass keine Sicherheitsgurte vorhanden sind, und die Bremsen kaum bremsen. Ich passe mich dem Fahrstil hier ganz an. Es gibt hier ja keine Ampeln, wenige Schilder und kaum einen Mittelstreifen. So kam es wohl auch zu dem maltesischen Witz, dass die Malteser immer da fahren, wo es gerade schattig ist. Ich komme hier prima zurecht, die Deutschen fahren mir eh zu stur!
Marsascala ist ein kleiner Ort an der Küste im Osten der Insel. Es war gerade Mittagszeit und vollkommen ruhig. Nicht weit vom Ort fand ich schöne Gegenden zum Spazierengehen: Wege mit rotgelb gemischten Blumenfeldern links und rechts und bizarr geformten Felsen neben Salzpfannen am Meer. Dort wehte ein heftiger Wind und die See tobte. Die Krebse retteten sich in das stehende, warme Wasser der Salinen. Ich flüchtete in Träume. Als ich erwachte, standen drei Jäger hinter mir, die auf mich einredeten. Man begegnet an den Küsten Maltas vielen Jägern, und leider schießen sie auch auf wunderschöne Singvögel, um sie auszustopfen. Andere legen Netze aus, um die Vögel später in winzigen Käfigen als Haustiere zu halten!
Als ich vom Wind durchgefroren und von den Jägern genervt aufstand, rannten die Krebse in winzige Schächte und Gänge. Ich rannte vorsichtig am Meer entlang zum Auto. Die Jäger dachten bestimmt, dass ich Angst vor ihnen hatte!
Später in der Hotelbar passierte etwas ganz Komisches, und ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll:
Ich hatte gerade mit Claudia telefoniert und furchtbar mit ihr rumgealbert (wie Freundinnen es nun mal an sich haben, musste ich ihr natürlich erst mal alles ausführlichst erzählen und tratschen …), als Philip mich plötzlich zur Seite zog und mit erotischem Tonfall in mein Ohr flüsterte: »Meine Frau ist verrückt nach dir!« Ich lachte laut, da ich es für einen seiner typischen Witze hielt, aber er sagte: »No, no, I’m not joking! Meine Frau hat dich gesehen und mir gesagt, dass sie verrückt nach dir sei. Das ist kein Witz, glaub mir.« Ich lachte immer noch, inzwischen aber hauptsächlich aus Verlegenheit! Am liebsten hätte ich geantwortet: »Und ich bin verrückt nach dir, das ist auch kein Witz«, aber mir fehlte leider der Mut.
Dieser Satz ging mir total unter die Haut, und jetzt geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Was soll ich davon halten? Sind hier denn alle verrückt (aufeinander)?
Philip
San Gwann, 7-4-87
Habe Ina erzählt, dass Marija scharf auf sie ist. Sie hat gelacht und es für einen Witz gehalten. Und doch hat sie verstanden, glaube ich. Sie ist clever. Zum Glück war sie nicht total entsetzt, was auch hätte passieren können, aber ich denke, Ina ist sehr offen. Ich habe immer mehr Lust auf sie! Jeden Morgen hole ich mir einen runter, wenn ich an sie denke. Vorhin rief ihr Freund aus Berlin an, ein Musiker. Ina erzählte mir später, dass er gerade krank sei und sie sehr vermisse. Aber so weit ich weiß, wohnen die beiden eh nicht zusammen. Ja, Ina liebt ihre Freiheit über alles. Sie macht, was sie will, und das ist gut so.
Ina
St. Andrew’s, 8. April 1987
Liege bei Sonnenuntergang und einer Flasche Rotwein auf den Klippen am Meer. Hab keine Lust mehr, wenig oder gar nichts zu trinken. Zu gesund zu leben erscheint mir nicht gesund.
Ich bin an der St. George’s Bay entlang gelaufen, die hinter Paceville liegt, das wiederum hinter St. Julian’s liegt. Ein Ort geht in den anderen über. Früher waren das sicher mal einzelne Dörfer, die jetzt zusammengewachsen sind. Hier in St. Andrew’s kann man noch viele alte, hübsche Häuser aus der Kolonialzeit sehen. Ich kam an den St. George’s Barracks vorbei, und bin schließlich über einen Reitplatz gerannt. Dort standen alte, verrostete Fässer herum, über die ich so oft sprang, bis mein Rücken schmerzte. Übermut tut so gut!
Wie sehr ich das Meer liebe! Uferlos, diese Kraft! Diese Freiheit! Das Leben ist so schön!
Später, St. Julian’s: Sitze inzwischen wieder mal auf meinem Balkon. Der Himmel ist voller Sterne. Rotwein kann einen so richtig schön sentimental stimmen! Ich höre Want you more von Robert Palmer im Walkman und muss plötzlich heulen! Close my eyes – oh, here you are … Stop before we go too far …
Tatsächlich will ich Philip immer mehr, auf der anderen Seite habe ich vorhin mit Andi telefoniert und ihn sehr lieb gehabt. Es geht ihm nicht gut und er vermisst mich. Natürlich fragte er, ob es mir auch so ginge (schon wieder dieses Thema!), und ich antwortete nicht. Andreas verstand. Er kennt mich. Von Philip habe ich kein Wort erwähnt. Was gibt es da auch bisher zu erwähnen?
Heute Nachmittag habe ich Marija, Phils Frau, kennengelernt. Ich fiel aus allen Wolken, als Philip mir Marija als seine Frau vorstellte! Ich hatte Marija schon des Öfteren kurz gesehen und hätte Philip und Marija niemals als Ehepaar eingeordnet. Ich hatte mir Phils Frau erstens älter, und zweitens seriöser oder spießiger vorgestellt. Marija ist bestimmt zehn Jahre jünger als Philip und zieht sich – wie übrigens viele Malteserinnen – gerne sexy an. Sie ist eine von den ganz typischen, etwas pummligen oder untersetzten Malteserinnen, und hat pechschwarzes, beinahe blaues Haar. Sie sieht interessant aus.
Wir plauderten über dies und das, über Nationalitäten, Sternzeichen (sie ist Widder, Philip Fische), über Autos, Krankheiten (ich verschwieg meinen Bechterew!) und schließlich über Männer.
Mir fiel ein, was Philip mir ins Ohr geflüstert hatte und bei dem, was Marija in unserem Gespräch über Männer so von sich gab, hatte ich Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass sie verrückt nach mir sei, wie Philip gemeint hatte. Vielmehr scheint sie verrückt nach Männern zu sein, armer Philip!
Philip kam gerade in dem Augenblick dazu, als Marija meinte, Araber seien gut (was immer sie damit gemeint haben mag …). Philip fragte mich daraufhin, welche Männer ich gut fände. Um besonders schlagfertig zu wirken, antwortete ich sofort: »Maltesische Männer«, und ärgerte mich im nächsten Augenblick schon über diese Bemerkung, da sie so klang, als habe ich maltesische Männer schon ›getestet‹. Philip lachte und sagte augenzwinkernd in seiner typisch ironischen Art, die ich so liebe: »Sei vorsichtig auf Malta! Malta ist ein sehr katholisches Land, im Vergleich zu England oder Deutschland. Lass dich besser nicht mit maltesischen Männern ein! Die sind hier alle verheiratet, gefährlich!«
Ich erfuhr bei der Gelegenheit, dass die Kirche hier noch eine sehr große Rolle spielt: Scheidung gibt es nicht, Nacktbaden ist streng verboten, und es gibt keinerlei Sexshops, Peep Shows, Nachtclubs oder ähnliches. Ich habe hier auch bisher nirgends Nutten gesehen! Komisch …
Aber zurück zu Philip und Marija. Ein lustiges Paar sind die beiden: Marija sieht nicht nur so südländisch aus, sie hat auch diese tiefe, rauchige Stimme. Sie hat Temperament, kann launisch sein und ist streng zu den Kindern. Philip scheint niemals streng zu sein, er ist ein sehr liebevoller Vater. Überhaupt stellt er den Ruhepol dar: Er ist immer sanft und ruhig, Marija eher nervös. Philip raucht und trinkt nicht, Marija raucht wie ein Schlot und trinkt auch nicht gerade wenig. Die zwei scheinen sich gut zu ergänzen. Ich mag sie beide.
Noch mal später: Über mir dieser leuchtende Sternenhimmel und in meinen Ohren Blind love von Tom Waits. I wonder where you are … I whisper your name … I’ll find you with my blind love …
Die Sterne scheinen zu schmelzen, wenn man sie länger betrachtet. Die warme Aprilluft, das Zirpen der Grillen, der Duft der Pflanzen vor meinem Balkon und der billige, erdig schmeckende San-Paolo-Rotwein dazu stimmen mich melancholisch-glücklich. Gibt es das? Ja, und ich habe Grund genug, beides zugleich zu sein: Eben klingelte mein Telefon. Ich dachte, es seien die lieben Eltern oder vielleicht Claudia, aber Philip war am Apparat. Er atmete schnell und teilte mir in wenigen Worten mit, dass sie, Marija und er, mich morgen Abend um halb elf abholen würden zu ihnen nach Hause, ich würde schon verstehen. Und ich verstand. »Alright«, war alles, was ich sagte. Wozu sollte ich viele Worte verlieren, und vor allem: was für Worte? Es gibt Situationen, in denen Worte überflüssig sind.
Jetzt bin ich aufgeregt. Ich freue mich auf morgen Abend, aber was werde ich Andi erzählen? Wenn ich an ihn denke, wird mir ganz schwer ums Herz. Ich möchte ihm nicht wehtun, und doch will ich das machen, was mir Spaß macht. Ist das egoistisch?
Ob mein Fremdgehen nun zum Vor -oder Nachteil für Andreas und meine sexuellen Unstimmigkeiten ist, bleibt Ansichtssache und sei erst mal dahingestellt. Eines aber ist sicher: Andi wird unglücklich darüber sein, aber ich will nicht lügen!
Philip
San Gwann, 8-4-87
Vorhin habe ich mich dazu durchgerungen, Ina anzurufen, um sie einzuladen. Ich war ganz aufgeregt dabei, hoffentlich hat sie es nicht gemerkt! Jedenfalls hat sie wieder sofort verstanden und zugesagt. Ich freue mich! Marija und Ina mögen sich, sie haben sich gut verstanden.
Marija schläft schon. Eigentlich müsste auch ich müde sein, aber ich fühle mich aufgedreht, obwohl ich Kopfschmerzen habe und gerne schlafen würde. Hoffentlich habe ich nicht ausgerechnet morgen Abend wieder diese Kopfschmerzen! Ich habe so viel um die Ohren! Das Hotel, Hochzeiten hier und da und dort, die anderen Geschäfte … Mir wird das alles zu viel seit einiger Zeit. Und dann auch noch die Schwierigkeiten mit Marija! Ich brauche mal wieder was Schönes!
Ina
St. Julian’s, 10. April 1987
Oh, what a night!
Ich kann das, was gestern passiert ist, noch gar nicht richtig fassen! Aber mal von vorne:
Philip rief mich im Hotel an, als ich gerade bei einem (warmen!) Bier mit diesem prolligen Schotten in der Bar saß. Als Philip zum ersten Mal meinen Namen aussprach, merkte ich, dass ich richtig doll verknallt bin, obwohl ich versucht hatte, mich dagegen zu wehren. Er ließ mich wissen, dass er mich zu verabredeter Zeit mit dem Auto abholen würde, ich sollte auf dem Balkon warten und auf sein Pfeifzeichen runter kommen.
Gesagt, getan. Ein bisschen aufgeregt, aber viel mehr glücklich, stieg ich in Phils schwarzen Daimler. Stumm saßen wir zu zweit im Wagen, die Straßen waren schlecht, und es polterte unter uns. Die Schlaglöcher lockerten die Situation ein wenig auf, wir mussten lachen, und als ich feststellte, dass Philip kein Licht anhatte, erst recht, denn er antwortete, dass seit einiger Zeit nur sein Standlicht funktionieren würde. Erst als wir nach kurzer Fahrt in dem großen Haus der beiden ankamen, erfuhr ich, dass Philip nicht etwa ein Angestellter, wie ich geglaubt hatte, sondern der Besitzer des Hotels ist. Das wunderschöne Haus der beiden heißt Fox, benannt nach ihrem Nachnamen. Die Malteser, die in der Mehrzahl in Häusern oder Maisonettes anstatt in Mietwohnungen leben, geben ihren Häusern nämlich immer Namen. Manchmal heißen sie Sun oder Fun, manchmal stehen Namen diverser Städte oder Länder an der Klingel. Oft gibt es einen Türklopfer aus Messing an der Tür. Im Fox fühlte ich mich sofort frei und unbefangen und hatte gar keine Angst vor dieser für mich neuen Erfahrung. Das Haus ist groß. Unten sind ein unordentliches Arbeitszimmer und eine große Küche. Überall hängen die unterschiedlichsten Bilder an den Wänden, von religiösen Motiven bis zu Postern von Kino-Stars, die wohl der Sohn angebracht hat. In der Küche brannte Neonlicht, in den anderen Zimmern Kerzen. Philip und ich gingen auf einer Marmortreppe nach oben. In einem der Räume im ersten Stock saß Marija auf einem großen Bett. Kerzen und Räucherstäbchen brannten, und im Fernsehen lief eine italienische Schnulze. Was mich verwunderte und auch ein bisschen störte, war, dass die beiden Kinder im selben Zimmer schliefen, in dem wir uns amüsieren wollten! Die kleine Angie ist zwar erst drei, aber George ist immerhin acht oder neun und könnte ja schon einiges mitkriegen! Philip aber meinte, er habe einen ungeheuer guten Schlaf.
Philip verschwand im Nebenzimmer und ließ Marija und mich erst mal allein. Wir tranken ziemlich viel Wein aus einer wunderschönen Karaffe und unterhielten uns. Als Philip das merkte, kam er etwas gereizt und ungeduldig in Unterhosen herbei (in dieser Nacht störten mich nicht mal hässliche Unterhosen!) und befahl uns, endlich anzufangen. Wir fingen etwas unbeholfen an und es war schön. Ich war allerdings etwas nervös, denn ich hatte ja noch nie vorher eine andere Frau befriedigt. Erst dann gesellte sich Philip wieder zu uns. Schnell bekam ich spitz, wie sehr Philip visuell zu erregen ist (wie die meisten Männer). Es törnte ihn extrem an, bei Marijas und meinen Liebesspielen zuzusehen, um sich dann auf mich zu stürzen und mich verrückt zu machen mit seinen geschickten Fingern. Philip hat einen kleinen Schwanz und kommt schnell, aber er weiß das und gibt sich Mühe, die Frau(en) mit viel Fantasie glücklich zu machen. Meistens wollte er nur zusehen, wie ich es mir selbst oder Marija besorgte. Geiler Bock!
Nach langen Liebesspielen zu dritt hatte ich Schmerzen im Rücken, und die Rheumamittel nicht parat. Daher legte ich mich in das Nebenzimmer, denn da gab es ein Bett mit einer günstigeren Matratze. Ich wollte auch nicht, dass jemand was merkt, denn ich bewegte mich bereits anders als davor! Philip kam mir hinterher. Plötzlich, als Philip quasi sein Ehebett verließ, um zu mir zu steigen, überfielen mich Gefühle der Scham, moralische Bedenken, die ich, als wir zu dritt unseren Spaß hatten, gar nicht gehabt hatte. Andererseits überkam mich das wohl größte Glücksgefühl dieser Nacht, als Philip und ich eins wurden und ich danach seinen warmen Körper und Atem neben mir spürte, bis ich einschlief.
Morgens klingelte andauernd das beschissene Telefon. Wir tranken etwas hektisch Tee mit viel zu viel Zucker und fuhren gemeinsam ins Hotel. Keiner von uns sagte ein Wort.
Jetzt fühle ich mich übermüdet. Die Luft riecht nach Diesel, Benzin, Salz, Meer, Blumen und Frühling. Ein Malteser draußen auf der Straße regt sich über irgendetwas auf und schreit seit fünf Minuten rum. An der Rezeption, wo Philip jetzt sitzt, klingelt auch wieder ununterbrochen das Telefon. Ich bin müde, aber ich werde meine Tür ein wenig öffnen, um dieser sanften Stimme zu lauschen!
Philip
San Gwann, 11-4-87
Heute ist Ina nach Gozo gefahren. Ich wünschte, sie wäre hier geblieben. Seit Ina vorgestern Nacht nun tatsächlich bei uns war, vergeht kaum ein Augenblick, in dem ich nicht an diese Nacht denke.
Ich hatte weder Rücken- noch Kopfschmerzen und mein ›bester Freund‹ ließ mich auch nicht im Stich. Alles klappte wie am Schnürchen.
Ich holte Ina ab und wir fuhren zu uns. Auf dem Hinweg war es peinlich still im Auto, bis ich sie fragte, ob sie so etwas öfters mache. Sie verneinte. Ich bin mir dessen allerdings nicht so sicher. Manchmal glaube ich, Ina lügt wie gedruckt! Marija fragte Ina beispielsweise, ob sie hier auf Malta schon andere Männer hatte, und sie verneinte auch das. Von diesem Italiener kein Wort!
Marija hat alles ohne einen Anflug von Eifersucht mitgemacht. Mitgemacht? War das Ganze nicht ursprünglich als Abwechslung für uns beide gedacht? Ist jetzt alles ganz anders gekommen? Morgens hatte ich mich schon zu Ina ins Bett gelegt und Marija gesagt, sie solle Tee kochen. Ich genoss es, mit Ina allein zu sein und an ihr zu schlecken. Sie riecht so gut! Leider klingelte ununterbrochen das Telefon, wie jeden Morgen. Die Geschäfte laufen bestens …
Ina
Gozo, Marsalforn, 11. April 1987
Ist das hier eine Ruhe! Die Schwesterinsel Gozo ist kleiner und auch noch viel ruhiger als Malta, und überall grünt und blüht es. Das Meer tobt und die Buchten werden regelrecht überflutet. An den Steilküsten im Süden brechen sich die Wellen erst in unglaublichen Höhen! Trotz dieser enormen Naturgewalt, die in diesen Tagen auf Gozo herrscht, scheint die Zeit hier stehen geblieben zu sein: Die Alten sitzen in aller Ruhe vor ihren Häusern, die Frauen klöppeln mitunter sogar noch wie in alten Zeiten, die Männer rauchen und trinken Kaffee. Süden, wie er im Buche steht. Immerhin ist Malta ja auch so ziemlich das südlichste Fleckchen Europas …
Ab und zu läuten Kirchenglocken oder ein Hund bellt, sonst hört man nur die Wellen und den Wind.
Ich habe mir ein kleines, billiges Zimmer genommen (ein Witz: Hotel Ritz!) und kann von dort aus über die Dächer Marsalforns schauen, einem Ort im Norden Gozos. Es gibt hier nur ein größeres Hotel, ansonsten ist der Ort sehr niedlich, und alles ist flach gebaut. Von hier aus kann ich auf all die vielen Flachdächer schauen …
Als Erstes habe ich mir heute die Ggantija, Maltas gewaltigste Tempelanlage, die 5500 Jahre alt ist, angesehen. Ich war vollkommen beeindruckt! Ich wusste vorher nicht, dass es hier die ältesten Tempelanlagen der Welt gibt! Man spricht immer nur über Stonehenge oder über die Pyramiden von Gizeh, aber diese rundlich gebauten und gigantischen Gebäude sind fantastisch! Diese alten Tempel strahlen eine unglaubliche Ruhe aus, und wenn man alleine ist und entspannt, fühlt man sich Jahrtausende zurückversetzt. Die Sonne! Die Hitze! Mir wurde ganz anders! Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte das Orakel befragt, was auf mich zukommen wird, vor allem in Sachen Philip und Andreas …
Philip
San Gwann, 12-4-87
Ina ist noch nicht aus Gozo zurück! Soweit ich weiß, fliegt sie in zwei oder drei Tagen schon wieder zurück nach Deutschland. Mein Gott, wie schnell die Zeit vergangen ist! Hoffentlich lässt sich unser Erlebnis noch einmal wiederholen. Ich muss ständig an Ina denken, und heute Nacht hatte ich einen Traum.
Ich sah sie in ihren schwarzen Leder-Hotpants lachend auf dem Dach des Hotels stehen, wie in Wirklichkeit. Dieses Lachen hat es mir angetan: Einerseits ist es unbeschwert, fast kindlich, andererseits hat es etwas Dreckiges. In meinem Traum verwandelte sich dieses Lachen plötzlich in ein höhnisches Lachen! Ich fühlte mich ausgelacht und bekam furchtbare Angst, während Inas Lache lauter und lauter wurde, bis ich mit einem Schreck aus dem Traum erwachte.
Marija fragte: »Was hast du geträumt?«
»Hmm … merkwürdige Dinge«, antwortete ich nur.
»Aber was für merkwürdige Dinge?«, wollte sie wissen.
»Ach, Geschäfte«, murmelte ich. Komisch. Sonst fragt Marija nie, was ich geträumt habe.