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Josephine ist eine obdachlose Porträtzeichnerin und entpuppt sich als blinde Passagierin auf Peters Jacht, als dieser sich von Split aus auf den Weg ins Ionische Meer macht. Peter akzeptiert Josephines Anwesenheit und gemeinsam befahren sie das östliche Mittelmeer, besuchen Inseln wie Kreta, Rhodos und Zypern. Im Laufe der Zeit öffnen sie sich einander und erzählen sich ihre Lebensgeschichten, die große Ähnlichkeiten aufweisen und doch völlig unterschiedlich zu erzählen sind. Und am Ende der Reise landen sie auf Malta … Die Geschichte vom Verlust geliebter Menschen, von Obdachlosigkeit und dem Kontrast zwischen arm und reich ist schließlich auch die Geschichte einer Liebe zwischen zwei Menschen – und zum Meer.
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2022
Anke Jablinski
Die Geschichte vom Einhandsegler, Katzen und Schmetterlingen …
ErlebnisMalta 3
Anke Jablinski
SECRET
Die Geschichte vom Einhandsegler, Katzen und Schmetterlingen …
ErlebnisMalta 3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: März 2022
p.machinery Michael Haitel
Titelfoto: Björn Koch, jojobasail.de
Fotobearbeitung: Klaus Brandt
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 272 0
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 826 5
Für die Gestrandeten und Pechvögel,
für Lebenskünstler und alle,
die das Meer lieben.
Die Jacke war ihr viel zu groß. Sie gefiel ihr auch nicht und stank nach Nikotin und Hund. Aber alles war besser, als weiter zu frieren, wie in der letzten Nacht, die sie am Ende auf der Parkbank verbracht hatte. Sie krempelte die Ärmel ein wenig hoch, fluchte in griechischer Sprache über den defekten Reißverschluss, durch den die Lederjacke keinen Schutz vor dem Dauerregen bot, spuckte einen Kaugummi aus und überlegte, was zu tun war.
Josephines letztes Quartier war abgerissen worden, wahrscheinlich rechtzeitig, bevor die Touristen in Strömen kamen und diese verfallenen und uralten Baracken zu Gesicht bekamen, die am Stadtrand von Split lagen. Wie geleckt sollten die Straßen aussehen, und reich das Land, in dem die Bevölkerung doch so arm war, und die Arbeitslosigkeit höher als in fast allen anderen europäischen Ländern.
Bald wird hier dasselbe passieren, wie in Griechenland, dachte sie, aber für Politik interessierte sie sich schon lange nicht mehr.
Es gab Wichtigeres. Ein neuer Schlafplatz musste her, ein Platz, wo sie keiner finden würde, vielleicht sogar einer, der Wärme spendete oder zumindest vor dem Regen schützte, der nun schon drei Wochen lang anhielt. Sie spuckte auf den Asphalt, blickte zum Hafen hinüber und lief zu einem Café, um sich dort wie gewohnt drei Flaschen Bier zu kaufen.
Der Kellner kannte sie seit vielen Wochen, suchte nach einer Plastiktüte, in die er die beiden anderen Flaschen steckte, die erste Flasche öffnete, und sie Josephine mit teils mitleidvollem, teils angewidertem Blick reichte, wie jedes Mal.
»Sechzig Kuna, wie immer«, sagte der junge Kellner, und Josephine murmelte »hvala«, bevor sie es sich unter einer Palme der schrecklich hübschen Promenade gemütlich machte, sich die Plastiktüte über den Kopf stülpte und das erste Bier hastig hinunterkippte.
Ihr Magen knurrte laut und erinnerte sie daran, dass sie heute noch gar nichts gegessen hatte. Sie war von den Abrissbaggern geweckt worden, mitten in der Nacht, wie es ihr vorgekommen war. Sie hatten ihre schöne, alte Bruchbude niedergewalzt, einfach so, ohne sie darauf vorzubereiten. »Scheiße«, nuschelte sie, »alles Scheiße!«
Die alte Lederjacke hatte einem Kollegen gehört, der sie in dem verfallenen Steinhaus ein- oder zweimal zum Trinken besucht hatte, und der diese zuletzt in einer Ecke des Zimmers hatte liegen lassen, nachdem er in Windeseile eine ganze Flasche Wodka getrunken hatte. Wenn sie sich begegnen würden, würde er die Jacke erkennen und zurückhaben wollen, das war ihr klar.
Schon wieder von vorne anfangen, dachte sie, wieder neue Klamotten besorgen, neue Möbel, neue Bilder malen, irgendwo einen schönen Platz finden, den keiner kennt oder leicht entdecken kann. Sie hatte sich in der alten Baracke liebevoll eingerichtet, es hatte mehrere bunte Klappstühle, einen Metalltisch, ein Regal aus sechs Holzbrettern und viele Kerzen gegeben, diverse Decken und natürlich eine Matratze und die Staffelei, die beiden wichtigsten Gegenstände in ihrem Leben. Als die Männer kamen, machten sie alles dem Boden gleich, ohne Rücksicht auf ihre Bilder aus Bleistift und Kohle, die lebenswichtig für sie waren, zu nehmen. Sie hatten sich lustig über sie gemacht, und so hatte sie lieber nur rasch die Jacke und die Flucht ergriffen, bevor Schlimmeres passierte.
Der Regen ließ ein wenig nach, und einmal blinzelte sogar die Sonne zwischen den Wolken hervor. Das Bier war ausgetrunken, und der Bauch, der immer dicker wurde, blähte sich auf und sah von oben aus wie der Bauch einer Hochschwangeren. Sie zog die Bluse provokant nach oben, zeigte ihren Bauch und lachte laut.
Schwerfällig stand sie auf, warf die leeren Flaschen in den Mülleimer, an dessen Kante sie die zwei anderen Flaschen geöffnet hatte, und zählte ihr verbliebenes Geld, das sie immer in einer Gürteltasche bei sich trug. Na, wenigstens etwas, murmelte sie in sich hinein, fast dreihundertfünfzig Kuna befanden sich zerknittert in den Ecken des kleinen, schwarzen Ledertäschchens.
Sie taumelte hinüber zu den Restaurants an der Promenade, von denen einige schon geöffnet hatten, obwohl die Saison noch nicht begonnen hatte. Lediglich zwei kroatische Paare saßen tapfer am Mittagstisch unter einem Schirm und trotzten der kühlen Aprilluft. Sie ging zur Toilette, schaute in den Spiegel und sah eine verwahrloste Gestalt. Ihre Haare waren längst zu Dreadlocks geworden, heute aber standen sie wüst in alle Richtungen; vom einst schönen kastanienbraunen Haar war nichts mehr zu sehen. Fast schon durch und durch grau sah das Haar aus, und das mit Anfang vierzig!
Sie wusch sich die Achseln, den Hals und das Gesicht. Ihre Hände blieben schwarz, vor allem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand wurden nicht mehr sauber. »Scheiße«, sagte sie wieder, »alles Scheiße, und du bist alt und hässlich geworden, meine Liebe«, verließ die Toilette und bestellte sich eine Pizza mit Meeresfrüchten zum Frühstück.
Seit einigen Monaten aß sie mit Ausnahme von Soßen und Suppen alles mit den Fingern und hatte sich den Umgang mit Messer und Gabel gänzlich abgewöhnt. Sie zog die Blicke auf sich, wenn sie mit ihren kohlschwarzen Fingern die Pizza in Stücke riss wie ein Tier, aber es kümmerte sie nicht. Auch, dass der Kellner ihr den Platz zugewiesen hatte, wo man sie kaum sehen konnte, nahm sie gleichgültig zur Kenntnis. Ihr war alles egal, alles, was zählte, war eine neue Unterkunft zu finden, die sie vor der Nässe schützte. So lief sie nach dem Frühstück von der Altstadt zum Busbahnhof, um sich in der Peripherie von Split auf die Suche zu machen.
»Josephine, Josephine, hola, qué tal?«, rief ihr ein alter Mann zu, den hier am Bahnhof alle nur den Spanier nannten. Er war einer der Gestrandeten von Split, die sich gegenseitig alle kannten, mit oder ohne Namen. Der Spanier saß bei Regen oft hier, um sich auf einer Bank der Haltestelle gegen die Nässe zu schützen. Josephine sah eine Frau neben ihm aufstehen und nahm deren Platz ein. Sie unterhielten sich in spanischer Sprache, der Josephine mächtig war.
»Reichlich feucht heute. Die blöde Jacke lässt sich nicht schließen, und ich brauche eine neue Unterkunft.«
Der Spanier lachte dreckig und hustete.
»Die brauchen wir alle, Schätzchen. Aber wo? Wo nur? Die alten Häuser werden alle abgerissen. Du weißt ja, wo ich zurzeit wohne«, sagte er, zeigte hinüber zum Berg Marjan und grapschte nach Josephines weicher, fülliger Brust.
»Ja, ja, weiß ich, Spanier, aber ich ziehe nicht bei dir ein, sonst vergewaltigst du mich jede Nacht.«
Der Spanier krümmte sich vor Lachen, trank einen Schluck Rotwein aus einer Flasche und reichte sie Josephine, die dankend ablehnte. Scheiß Billigfusel, dachte sie. Die Frau, die vorher auf ihrem Platz gesessen hatte, stieg in einen Bus und vergaß ihren Schirm, der neben der Bank stand. Josephine nahm ihn an sich, verabschiedete sich vom Spanier, stieg in den Bus Nummer 60 ein, und fuhr in eine Gegend, in der sie erst kürzlich leer stehende Häuser gesichtet hatte.
Sie hatte kein Glück gehabt, keins der Häuser hatte sich als bewohnbar herausgestellt. Die meisten waren bereits abgerissen worden, bei einigen war kein Dach mehr vorhanden, und bei wieder anderen störte sie die Nähe zu Menschen, die zur Miete wohnten. Sie war daraufhin in die Stadt zurückgekehrt, um sich in dem einzigen guten Geschäft für Künstlerbedarf neues Handwerksgerät zu kaufen, das sie dringend benötigte, um Geld zu verdienen. Sie war sehr wählerisch und pingelig und brachte die Verkäuferin fast zum Wahnsinn, die vor sich nichts als eine Irre sah. Von ihrem letzten Geld kaufte sie schließlich einen DIN-A3-Block, Radiergummi und Anspitzer, Kohlestifte und Bleistifte in vier unterschiedlichen Härten, für mehr reichte das Geld nicht, was sie verärgerte.
»Ja, ja, ich brauche unbedingt eine Tüte, Sie sehen ja, ich habe keine Tasche, geben Sie mir bitte drei Tüten, oder vier«, befahl sie der arroganten Verkäuferin genervt, die ihr schließlich mit herablassenden Augenaufschlag und zusammengepressten Lippen drei Plastiktüten mit auf den Weg gab.
»Koza«, stöhnte sie, blöde Ziege, womit die junge, arrogante Verkäuferin gemeint war. Josephine lief durch ihren neuen Regenschirm gut geschützt an der Kathedrale vorbei und fand in der Altstadt einen schönen Platz unter einem Torbogen, der sie vor dem Regen schützte und an dem sie ein wenig versteckt sitzen und zeichnen konnte. Bei Besichtigung der Baracken hatte sie sich an einem Kiosk eine Flasche Wasser und ein Boulevardmagazin gekauft, in dem die Promis von heute abgebildet waren, die sie keine Spur interessierten, die sie aber als Reklamebilder brauchte, wenn sie Touristen oder Kroaten porträtieren und Geld verdienen wollte. Miley Cyrus sah sie beim Durchblättern und Mario Mandzukic, den kroatischen Fußballhelden, der jetzt für Bayern kickte, oder auch Cate Blanchett kam infrage. Drei Bilder sollten für das Erste reichen, die blöde Cyrus mit herausgestreckter Zunge in Bleistift, die anderen beiden Promis in Kohle. Mit dem Rücken zu den Passanten begann sie mit den unterkühlten Augen von Miley und stellte mit Schrecken fest, dass bei ihren eigenen Augen die Sehschärfe nachließ. Auch das noch, dachte sie, erst der Rücken, dann der Dauerhusten und das penetrante Sodbrennen, die Zähne und jetzt auch noch die Augen, mein Kapital!
Sie hatte wegen des trockenen Hustens bereits das Rauchen aufgegeben. Einen Arzt konnte sie nicht aufsuchen, da sie nirgends gemeldet und somit auch nicht versichert war.
Als sie mit den drei Porträts fertig war, fand sie diese zwar gelungen, hatte aber nicht bedacht, dass die Bilder eine Fixierung benötigten. Verärgert darüber, keinen Firnis kaufen zu können, legte sie so vorsichtig, wie es irgend ging, jeweils ein Blankotrennblatt zwischen die Motive, war sich aber im Klaren darüber, dass die Bilder so ungeschützt nicht lange halten würden. Sie würde bereits morgen neue Bilder anfertigen müssen.
Es wehte ein leichter Wind, und später würde es womöglich wieder Regen geben. Normalerweise mussten die Ausstellungsstücke am Hafen auch durch eine große Dokumentenhülle geschützt oder einlaminiert werden. Sie brauchte ihre Staffelei zum Zeichnen und zwei Klappstühle, einen für sich, und einen für das Modell.
Genervt klappte sie den Block zu, steckte ihn in eine Tüte, und verstaute die Zeichenutensilien, die inzwischen fast leere Flasche Wasser und die Zeitschrift in die andere. Ein wenig linkisch versuchte sie, trotz der Tüten den Hosenbund festzuhalten, denn sonst würde die zu große Hose rutschen, deren Saum ausgeleiert war. Steif und ungelenk lief sie zu der Stelle am Hafen, an dem sich die Porträtzeichner trafen.
Es war bereits dunkel, und jeder hatte seine eigene Lampe aufgestellt. Fast alle hier besaßen eine Genehmigung für ihr Gewerbe, und ein Restaurantbesitzer versorgte die Zeichner mit dem nötigen Strom. Diese dankten es ihm, in dem sie nachts ausnahmslos hier zusammen aßen und tranken, denn viele von ihnen lebten wie Josephine von der Hand in den Mund, und gaben das eben verdiente Geld sofort wieder beim Essen und Trinken aus.
»Sieh an, sieh an«, wurde sie vom Serben Zlatibor begrüßt, der torkelnd mit einer Flasche Wodka in der Hand auf sie zu kam, noch bevor sie sich einen Platz gesucht hatte, »da kommt ja meine Lederjacke.«
»Halt’s Maul, geh weg, ich habe viele Probleme«, sagte sie und schubste den betrunkenen Kollegen beiseite. Die anderen begrüßten sie herzlich.
»Hat jemand einen Klappstuhl für mich? Ich brauche Hilfe, habe kein Geld und keine Bleibe mehr, nur drei neue Bilder, nicht mal einen Plastikschutz und nichts!«
»Gib mir meine Lederjacke«, schrie Zlatibor, »dann bekommst du meinen Stuhl, ich mache Feierabend!« Er rülpste laut.
»Du trägst doch eine Jacke, und ich brauche irgendeinen Schutz, sonst friere ich total durch!«
Zlatibor wechselte vom Serbischen in die englische Sprache und brüllte: »Dann hole ich die kroatischen Bullen und erzähle ihnen, dass du keine Genehmigung hast, du fette, geile Schlampe!«
Die anderen versuchten zu schlichten, und schließlich ließ sich Zlati darauf ein, Josephine die andere Jacke zu geben, die nicht stank und die ihr auch wesentlich besser passte und gefiel. Sie kicherte in sich hinein, freute sich darüber, nun weniger zu stinken, um im selben Zug einen scheußlichen Geruch vom Hafen zu vernehmen, den sie von hier genau kannte, und den sie nicht zuordnen konnte. Weiter hinten, wo es nicht stank und die ordentlichen Porträtzeichner, wie man sagte, ihre Plätze hatten, konnte Josephine die Chinesin und den Russen erkennen. Sie hatten eine feste Bleibe, wurden als Künstler gesehen und anerkannt, waren besser gekleidet, und zeichneten in einer Technik, die den anderen voraus war. Kitsch-Technik, nannte sie Josephine, die Kunden wollen belogen werden, besser aussehen als in Wirklichkeit, und je weiter östlich man kommt, umso kitschiger müssen die Porträts aussehen.
»Josie, du kannst auch noch einen Stuhl für die Kunden von mir haben«, rief Andrea, ein Italiener, mit dem sie ab und zu Sex hatte. Vor seiner Alkoholsucht musste er einmal sehr hübsch ausgesehen haben, nun aber hinterließ der Wodka seine Spuren, und seine Hände zitterten so stark, dass seine Bilder immer schlechter wurden. Seine Dogge sprang an Josephine hoch, sie küsste den Hund auf die Stirn und schickte ihn dann wieder zu seinem Besitzer. Sie versuchte, ihre drei Reklamebilder mit Flaschen der Kollegen zu beschweren, sodass sie nicht wegfliegen konnten und doch einigermaßen gut zu sehen waren.
Sie hatte Glück. Eine junge Kundin sah sogleich das Bild von der Cyrus und wollte sich derart zeichnen lassen, dass auch sie ihre Zunge zeigte.
»Klar mach ich das, aber du kannst nicht zwanzig Minuten lang die Zunge rausstrecken, oder?«, lachte Josephine, und tat, was die Kleine wollte. Beim Verwischen der Kohle mit den Fingern brannte sich die Kohle weiter in die tiefen Hautschichten hinein und hatte die Farbe der Finger beinahe unwiderruflich verfärbt.
Oft zog Josephine den Neid der anderen Zeichner auf sich, da sie immer schnell Kunden fand, egal, wie sie selbst ausschaute und roch. Heute aber hatten alle Zeichenkünstler etwas zu tun, obwohl die Saison erst in zwei Wochen beginnen würde. Es war Wochenende, und viele kroatische Familien unternahmen einen Ausflug nach Split.
Die fertige Kohlezeichnung, die ausschaute wie eine Mischung aus dem Mädchen und Miley, wurde von deren Mutter bestaunt, und das Mädchen rollte es begeistert ein, nachdem Josephines Kollegen es mit Haarspray fixiert hatten. Josephine hatte jetzt zweihundertfünfzig Kuna in der Tasche und ging zum Restaurant von Dado, um sich eine gute Flasche Rotwein zu kaufen, die sie für die Nacht zum Zeichnen brauchte. Ein oder zwei Liter trank sie jeden Abend, je weniger sie zu tun hatte, umso leichter floss der Alkohol. Ihre männlichen Kollegen tranken meist Wodka und Bier, aber auf Bier hatte sie nachts keinen Appetit, und Schnäpse mochte sie nicht mehr, seit die Speiseröhre schmerzte.
Sie waren heute zu viert hier, Andrea, der Serbe Zlati und zwei Kroaten aus dem Umland. Der Serbe verließ bald betrunken den Platz, dafür gesellten sich einige Gestrandete zu ihnen, die sich dadurch aufgewertet fühlten, bei den Künstlern zu sitzen und zusammen mit ihnen zu trinken. So auch der alte Spanier.
Der hat mir jetzt noch gefehlt, dachte Josephine, aber vielleicht spendiert er mir Wein oder Wasser.
Als sie mit dem zweiten Bild fertig war, griff ihr der Spanier wie so oft an die Brüste, und da sie den BH in ihrem alten Haus hatte liegen lassen müssen, kullerten die Brüste aus der Bluse, als der Spanier nach ihr grapschte.
»Para!«, rief sie und gab ihm eine Backpfeife, hör auf, aber er lachte und lachte, so wie die anderen auch, mit Ausnahme von Andrea. Auch die gut gekleideten Passanten verfolgten die Szene der verrückten Künstler, sie bekamen ganz umsonst immer ein kleines Theaterstück zu sehen, wenn sie hierher kamen, abends zum Hafen von Split.
»Cheers!«, sagte Peter mit kräftiger, männlicher Stimme, die zu seinem auf den ersten Blick scheuen Wesen und seiner sportlichen und dennoch zarten Gestalt eigentlich gar nicht so recht passte. Die anderen erwiderten den Trinkspruch, hoben ihre Gläser und setzen zum Genuss des hochwertigen Champagners an. Als Freunde konnte er die elf anderen, die er um sich versammelt hatte, nicht bezeichnen, aber es war nett, nach langer Zeit wieder einmal in Gesellschaft zu sein, und so hatte er spontan einige Leute im Restaurant am Jachthafen zu einem Gläschen der Marke Moët & Chandon eingeladen.
»Bringen Sie uns bitte auch verschiedene Platten Antipasti«, rief er dem Kellner zu.
»Gerne, was soll es sein?«
»Alles, was Sie anzubieten haben. Meeresfrüchte auf jeden Fall, Garnelen sind wichtig, dazu bitte diverse Salatplatten. Sie können auch gerne drei Platten gemischten Fisch und ein paar Platten Käse bringen. Stellen Sie bitte einfach etwas für zwölf Personen zusammen, Sie machen das schon«, sagte Peter und zwinkerte dem Kellner zu.
Der Kellner wusste, was zu tun war. Er arbeitete lange genug in der Marina und wusste, dass Geld hier keine Rolle spielte. Zwar gab es geizige Reiche, aber es gab auch solche wie Peter, denen es eine Freude war, ihr vieles Geld zum Fenster hinauszuwerfen oder einfach mit Fremden zu teilen. Mittlerweile erkannte er an der Nasenspitze, um welche Sorte Millionär es sich handelte, sobald der Gast den Raum betrat. Der schlanke, weißblonde Mann mittleren Alters, der fließend Englisch sprach und einen deutschen Akzent hatte, war einer von diesen sympathischen Reichen, die viel Trinkgeld gaben, und denen es darauf ankam, zu genießen und vom Essen nicht enttäuscht zu werden. Er ging in die Küche, wo der Chef kochte, und flüsterte ihm zu: »Platten vom Feinsten, bitte, für zwölf Leute, mit allem, was wir zu bieten haben.«
»Okay, hvala. Dann können wir endlich unseren besten Tintenfisch servieren, und die Riesengarnelen. Die Leute haben Glück, besser als heute geht es nicht!«
»Es hat endlich aufgehört zu regnen«, rief ein Ire aus der bunt gemischten Runde, »wollen wir draußen sitzen? Die Sonne lacht, es ist warm, was meint ihr?«
Sofort eilte ein anderer Kellner herbei, rückte drei Tische zusammen, legte rote Tischdecken auf und deckte den Tisch mit Oliven, Pistazien, Besteck, Gläsern und Servietten in den kroatischen Farben Blau, Weiss und Rot.
»Bevorzugen die Herrschaften, die Mahlzeit unter der Markise einzunehmen?«, fragte er in die Runde, schaute Peter zielgenau dabei an, der antwortete: »Nein, nein, danke, ich glaube, wir alle freuen uns in diesen Tagen über ein wenig Sonne, oder?«
Man war sich einig und nahm Platz, es wurde laut, alle lachten, tranken und nannten ihre Namen und das Land, aus dem sie kamen. Peter mochte eine solch bunte Gesellschaft und mehr noch liebte er es, derjenige zu sein, der alle einlud. Nach langer selbst gewählter Einsamkeit endlich wieder unter Menschen zu sein, tat ihm so gut, dass er sich mitunter dabei ertappte, alle Menschen zu mögen, denen er begegnete. Zwar war er der einzige Single in der Runde, denn die meisten Skipper waren in Begleitung unterwegs, aber auch das störte ihn wenig. Er lauschte den Geschichten der Paare, die fast alle der englischen Sprache mächtig waren, genoss den Champagner und den fantastischen Wein, den er nun servieren ließ, und sonnte sich anschließend ein wenig, indem er die Beine ausstreckte und den Kopf nach hinten fallen ließ. Das Leben war schön!
Nach dem ausgiebigen Mittagessen verabschiedete man sich herzlich, tauschte Visitenkarten aus, um sich vielleicht irgendwann einmal woanders auf der Welt wieder zu begegnen.
Es war längst noch nicht so heiß, dass man einen Sonnenschutz benötigte, Peter aber kramte einen Hut aus seiner Tennistasche und setzte ihn auf, denn er bekam jetzt eine Glatze, und seine Kopfhaut war empfindlich. Zu seinem hellblonden Haar gehörte diese helle Haut, die ihm oft schon das Leben ein wenig schwerer gemacht hatte, aber das alles war nicht der Rede wert.
Er schlenderte am Meer entlang und kam zu einem der wenigen Hotels, die es in der Umgebung von Split gab. Sein Herz schien zu hüpfen, oh ja, dachte er, ich werde mir mal wieder ein Hotelzimmer nehmen.
Vom Strand aus musste er eine hohe, alte Treppe emporsteigen, um zum Eingang zu gelangen, und schaute auf das Schild. Hotel Split. Vier Sterne. Peter machte sich nichts aus den Sternen eines Hotels. Zwei, drei, vier oder fünf, das waren nur Zahlen, die niemals die Atmosphäre der jeweiligen Unterkunft widerspiegelten, und daher keine Rolle spielten. Freundlich sollte es sein, er wollte mit fremden Menschen reden und abends in geselliger Runde an der Bar sitzen. Dinge wie Ausstattung oder Sauberkeit interessierten ihn wenig. Umso größer war die Freude über die Wände, die in Violett gehalten waren. Zufälle gab es bekanntlich nicht, und ein Zimmer in Weiß und Violett war ihm mehr als nur vertraut. Auf dem Bett lagen Handtücher in den Farben Pink und Violett. Besonders hier in Kroatien konnte die Wahl für ihn nicht besser sein. Volltreffer! Die Freude nahm noch zu, als er bemerkte, dass die Balustrade durchsichtig war, und man nichts anderes als das Meer sah. »Memories, memories, …, wo ich bin, ist das Meer, das Meer, das Meer, das schöne Meer«, sang er, öffnete alle Türen, legte sich auf das große Bett und schlief durch die Wirkung des Weins sofort ein.
Als er erwachte, dämmerte es, und Peter schaute zu den kroatischen Inseln hinüber, sah den roten Himmel über ihnen liegen, und war einfach nur glücklich. Dieses Land gefiel ihm, er würde sich einige der Inseln anschauen, vielleicht sogar die eine oder andere Stadt, obwohl er Städte nur in Ausnahmefällen besichtigte. Sie mussten klein sein, und die Straßen leer, nur so mochte er sie.
Er ging duschen, begutachtete seinen weißlich gelben Dreitagebart, zog sich an und ging in die Bar, um anderen Menschen zu begegnen. Die Bar aber war noch leer, und zu Peters Bedauern hörte er vom Rezeptionsmitarbeiter, dass es außer ihm hier zurzeit nur vier Gäste gab. Er hatte nicht an die Vorsaison gedacht. Er schaute sich den Fitnessraum im Keller an, denn er wollte gerne eine Hantelbank und einige Geräte für die Arme benutzen, aber die Geräte waren in keinem guten Zustand. Einen Tennisplatz gab es nicht, und so ging er erneut auf sein Zimmer, machte einige Yogaübungen, kramte Sportkleidung hervor und ging die lange Promenade entlangjoggen, drei oder vier Kilometer Richtung Süden und wieder zurück. Am Jachthafen, der einen Kilometer von seinem Hotel entfernt lag, herrschte reger Betrieb.
Peter hatte keine Lust, sich extra umzuziehen, blieb in seinen Sportsachen, und holte nur rasch ein Büchlein aus seiner Kabine. Er nahm im selben Restaurant wie zur Mittagszeit Platz und bestellte einen Kaffee, eine Dorade und eine Karaffe des guten Weißweins vom Mittag.
»Schön, dich wiederzusehen, wo sind die anderen?«, fragte der Kellner.
»Oh, keine Ahnung. Wir sind uns alle nur zufällig hier begegnet. Wir wollten alle gut essen, und das nicht allein. Bald sind wir alle wieder in der Welt verstreut«, lachte er.
Ein wenig geknickt darüber, nun allein zu Abend essen zu müssen, beobachtete er wie so oft die Leute in den unterschiedlichen Bars und Restaurants. An einem Tisch saß eine Gruppe kroatischer Mädchen. Sie alle trugen dieselbe Frisur, langes, gefärbtes Haar, alle waren stark geschminkt, sogar die Augenbrauen, und die Fingernägel sowieso. Das gab es nicht, als wir jung waren, dachte er, damals waren die Mädchen viel natürlicher. Schöner war das, es hatte etwas Wirkliches, die Mädchen waren keine Barbiepuppen. Die Globalisierung gefiel ihm, denn die Menschen mischten sich; weniger aber gefiel ihm daran, dass alles immer gleicher wurde, auch das Aussehen der Menschen, die Mode.
Die Mädchen am Tisch kicherten, und jedes spielte an einem der kleinen Spielzeuge herum, wie immer sie auch hießen, Tablets, Smartphones oder iPhones, all die Dinger, die er noch nie besessen hatte. Neben jedem Stuhl stand ein kitschiges Handtäschchen. Die Brüste der Mädels fielen fast aus den Blusen und Shirts heraus. Den Kopf fassungslos wiegend, trank Peter seinen Kaffee. An einem anderen Tisch saßen zwei junge Männer, die bekifft aussahen und es wahrscheinlich auch waren. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, denn auch sie sprachen Kroatisch.
Wo ich mich auch aufhalte, überall sitzen Mädchen und Jungs getrennt, dachte er. Was sind das für Entwicklungen? Als wir Teenager waren, saßen wir oft in gemischten Gruppen zusammen, schön war das. Die Mädchen wollten sich befreien von all dem Druck, immer gut auszusehen, gestylt, geschminkt, zurechtgemacht. Sie trugen Jeans und Shirts, wie die Jungs. Ist das alles nun vorbei?
So war es wohl. Wo er auch hinschaute, sah er entweder kroatische Männer oder kroatische Frauen an einem Tisch sitzen. Von Touristen war weit und breit keine Spur. In der hintersten Ecke saß eine verwahrloste Frau undefinierbarer Herkunft in einer zu großen Hose und mit wüst abstehendem Haar, trank Wein und starrte in sich gekehrt und leer in die Luft.
Peters Fisch wurde serviert, seine Leibspeise. Er genehmigte sich ein Eis zum Nachtisch, öffnete das in rote Rohleinen gebundene Büchlein und schrieb:
Endlich in Kroatien, wie oft hatte ich das schon vor? Immer habe ich mich davor gedrückt. Nun aber ist viel Zeit vergangen, mein Lieber. Ich habe nicht mehr das Gefühl, es nicht zu dürfen. Das Wetter wird endlich besser, es klart auf und ich freue mich auf einen griechischen Frühling. Heute sitze ich schon wieder alleine beim Dinner. So sehr ich die Einsamkeit suchte und liebte, die einsamen Abende nagen an mir. Ich habe mir ein Hotelzimmer genommen, um ein paar Leute einzuladen, aber das Hotel ist leer. Mein Glas auch. Tschüss! Bis bald!
Er schlenderte in Richtung Hotel zurück und verweilte noch ein paar Minuten nachdenklich auf einem Felsen. Wenig später zog er seine Chipkarte hervor, die er zum Öffnen seines Zimmers brauchte. Im Flur des Hotels sah er eine Frau an sich vorbei huschen, ganz flüchtig, wie einen Schatten. Neugierig schlich er ihr nach, denn es schien sich um die heruntergekommene Frau zu handeln, die er am Jachthafen aus der Ferne gesehen hatte.
Sie war um die Ecke gebogen. Peter versteckte sich, nahm aber ihren Geruch wahr. Sie roch ungepflegt und ein wenig nach Hund. Das Licht ging aus. Peter hörte es rascheln, die Frau schien etwas in Plastiktüten zu stecken. Vorsichtig schaute er um die Ecke. Tatsächlich. Die Frau war dabei, etliche Proben Shampoo von dem hier vergessenen Wagen der Putzkolonne einzustecken, ein Handtuch verschwand bald in einer Tüte, und auch eine Rolle Toilettenpapier.
Peter schlich den Flur zurück und ging auf sein Zimmer. Die Frau schien ihn nicht bemerkt zu haben, oder es war ihr egal. Im Hotelzimmer ließ er das Licht aus, schenkte sich wie jeden Abend ein großes Glas Wasser ein, und nahm auf seinem geräumigen Balkon Platz.
Es war ein milder Abend, und klar war der Himmel, er konnte den Stuhl zurückklappen und die Sterne betrachten. Neugierig stand er auf, als er hörte, dass dort unten jemand im Meer zu schwimmen schien. Er hatte ein lautes Planschen vernommen, und hörte nun eine Frau vor Kälte stöhnen. Ihm war sofort klar, dass es sich wieder um die Frau mit dem wüsten Haar handelte, deren Namen er nicht kannte. Sein Zimmer befand sich im zweiten Stock, sodass er alles gut erkennen konnte. Die Frau riss mehrere Shampooproben auf, seifte sich übergründlich ein, sichtlich froh darüber, endlich wieder ein Seifenbad zu nehmen. Sie stöhnte immer wieder, denn das Meer war noch sehr kalt, Peter schätzte die nächtliche Temperatur auf elf oder zwölf Grad, und er kannte sich diesbezüglich bestens aus. Die Frau schüttelte sich wie ein Hund, als sie aus dem Wasser kam. Sie trocknete sich ab, zog sich warm an und band sich eine Gürteltasche um die Hüfte. Dann setzte sie sich beim kleinen Kieselsteinstrand auf ein Handtuch. Mit einem weiteren Handtuch auf dem Kopf sah sie zum Meer hinaus.
Nun konnte er sehen, dass sie eine Flasche Wein mitgebracht hatte, die schon entkorkt worden war. Sie trank in großen Schlucken aus der Flasche, so wie es nur Menschen tun, die an reichlich Alkohol gewöhnt sind. Peter holte sich ein zweites Glas Wasser, um die Frau weiter zu beobachten. Sie sprach, schimpfte lauthals und haderte mit sich selbst, und da hörte er, dass sie deutsch sprach, so wie er selbst auch vor langer Zeit und heute mit sich selbst.
Alles wurde immer auswegloser. Josephine atmete genervt aus. Sie hatte eine Nacht am Strand von Podstrana unter geklauten Handtüchern geschlafen, eine weitere auf einer Parkbank, nun aber plagten sie unerträgliche Rückenschmerzen, gegen die sie Unmengen Wein trank, was zur Folge hatte, dass sie verkatert oder betrunken zu arbeiten versuchte, was nur misslingen konnte. Zum ersten Mal seit langer Zeit wollten die Kunden nicht von ihr porträtiert werden, obwohl sie neue Reklamebilder gemalt und von Andrea Schutzhüllen geschenkt bekommen hatte, und nach ihrem Bad im Meer auch nicht mehr so ungewaschen roch. Vom Alkoholkater bekam sie zusätzlich Kopfschmerzen, und die Augen bereiteten ihr beim Zeichnen mehr Probleme, als sie sich anfänglich hatte eingestehen wollen. Zwar hatte sie für nur fünfzehn Kuna eine Lesebrille erworben, diese war aber gleich wieder kaputtgegangen, wie auch der Schirm der Frau, über den sie sich so sehr gefreut hatte.
Sie wunderte sich längst schon nicht mehr darüber, dass so viele Dinge bei ihr immer gleich wieder verschwanden oder kaputtgingen. Es machte einen Unterschied, ob man Anfang dreißig oder Anfang vierzig war, musste sie sich eingestehen, und zum ersten Mal bekam sie ernst zu nehmende Zukunftsängste. Während sie sonst immer versuchte, ihre gegenwärtigen Probleme in den Griff zu bekommen, und gar keine Zeit fand, lange über die Zukunft nachzudenken, rissen sie ihre Ängste seit zwei Tagen geradezu aus der Gegenwart heraus, sodass sie erstarrte und unfähig war, sich beim Porträtieren zu konzentrieren und Mühe zu geben. Die Kunden waren unzufrieden mit ihren Bildern, fanden sich in ihnen nicht wieder, ja, es gab sogar solche, die schimpften und die Bilder zerrissen, natürlich ohne zu zahlen. Sie wurde gedemütigt, beleidigt und einmal auch getreten, und so kam es, dass sie vom Porträtieren auf der Straße innerlich Abstand nahm.
Ja, plötzlich fragte sie sich, warum sie so viele Jahre nichts anderes zustande gebracht hatte, obwohl sie die Antwort eigentlich kannte. Sie hatte es satt. Sie konnte die anderen Porträtzeichner nicht mehr ertragen, wollte keinem von ihnen begegnen, und erst recht keine Kunden mehr zeichnen. Sie zerknüllte ihre Kohle- und Bleistiftzeichnungen, und warf sie mit den Worten »Scheiß Promis« zum anderen Müll im Hafenbecken. Sie wollte sich sammeln, endlich einmal nachdenken, ohne vom Alkohol benebelt zu sein, obgleich sie sich fragte, ob sie dazu überhaupt noch in der Lage war.
Sie lief den Hafen in Richtung Norden entlang und machte sich auf den Weg, um den kleinen Berg zu besteigen, den jeder mit der Stadt in Verbindung brachte, und von dem aus man Split von oben betrachten konnte. Insgeheim wollte sie sich selbst von oben betrachten, mit einem Abstand, der es möglich macht, neue Pläne zu schmieden.
Sie atmete schwer, denn es ging steiler bergauf, als sie es in Erinnerung hatte. Nun fingen auch noch ihre Knie zu schmerzen an, der Körper schien mit ihrem Leben nicht mehr einverstanden zu sein und rebellierte. Endlich oben angekommen setzte sie sich in das Café und bestellte einen Kaffee und ein Glas Leitungswasser.
Nachdenklich schaute sie hinab zur schönen Stadt Split, die sie einst so sehr geliebt hatte, nun aber nicht mehr mochte. Auch die schöne Aussicht, bei der die Touristen ins Schwärmen gerieten, konnte nichts dagegen tun. Es war mild, die Sonne hatte sich endlich durchgesetzt, es roch nach Nadelbäumen, und die Vögel sangen. Sie wünschte sich, auch singen und fliegen zu können, weit fort, neu anzufangen, leicht sein, federleicht, vogelfrei.
Sie aber wurde immer schwerer, und das, obwohl sie oft Hunger und nichts zu essen hatte. Sie aß manchmal einen Tag lang gar nichts, auch heute hatte sie nichts als eine Banane zum Frühstück gehabt, die ihr am Obststand geschenkt worden war.
Sie spuckte ihren Kaugummi aus, als der Kellner die Getränke brachte. Spatzen kamen und flogen frustriert wieder fort, als sie merkten, dass der Kaugummi nichts für sie war. Josephine lächelte müde.
»Habt ihr ein paar alte Brotreste, womit ich die Spatzen füttern kann?«, fragte sie den Kellner, der verneinte. Sie sah wohl zu heruntergekommen aus, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen.
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, jedenfalls keinen, der sie weiterbrachte. Sie fühlte sich wie in einem Gefängnis und wollte fort von hier, ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, wo sie hin wollte. Neu anfangen, aber wie? Wo?
»Merda«, sagte sie immer wieder und schimpfte und haderte in verschiedenen Sprachen mit sich und der Welt, wobei ein Kauderwelsch aus Kroatisch, Englisch, Deutsch, Italienisch, Griechisch und Spanisch herauskam. Vielleicht könnte sie in Zukunft mit ihren Sprachkenntnissen etwas anfangen? Ach, nein, sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder, das war Unsinn ohne jegliche Ausbildung und mit Kenntnissen, die für Übersetzungen nicht ausreichend waren. Ich müsste mich mit irgendetwas selbstständig machen, dachte sie, wohl wissend, dass sie zu kaputt hierzu war und nicht in der Lage, so viel Geld zu sparen, um überhaupt eine Chance zu haben. Selbstständig hatte sie sich anfangs auch beim Zeichnen der Porträts gefühlt; in letzter Zeit aber fühlte sich die Arbeit weder nach ihr selbst an, noch wollte sie dies ständig und auf Dauer weiter betreiben. Nein, es war endgültig vorbei. Dieser Entschluss stand fest. Kein einziges Porträt würde sie noch zeichnen. Nie wieder Menschen …
Sie erwachte auf einer der Bänke der Aussichtsplattform, auf die sie sich nach dem Kaffee gelegt hatte, um ein wenig Sonne zu tanken. Eine Uhr besaß sie nicht mehr, seitdem ihr Mobiltelefon zwei Tage nach dem Kauf spurlos verschwunden war. Dem Licht nach zu urteilen, musste es bereits vier oder fünf Uhr nachmittags sein. Sie hatte Hunger, kramte einen Kaugummi aus der Gürteltasche hervor und fluchte leise auf Deutsch vor sich hin, weil ihr auch der Schlaf keine Erleuchtung hinsichtlich ihrer Zukunft gebracht hatte. Sie hatte einfach keine Idee, wie sie ihr Leben in den Griff bekommen sollte, und schaute mit leeren Augen zum Himmel hinauf.
Durch einen groben Schlag mit der Handfläche auf ihren Rücken wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. An der Lache erkannte sie, dass es sich bei dem Störenfried um den alten Spanier handelte, der sie entdeckt hatte. Auch das noch!
»Hola, qué tal?«, fragte er wie immer, sie aber antwortete nicht, sondern nuschelte Undeutliches vor sich hin, um ihm zu vermitteln, dass er hier zurzeit nicht erwünscht war. Er aber ignorierte ihre kläglichen Versuche und schubste sie zur Seite, um es sich neben ihr gemütlich zu machen.
»Geh nach Hause«, sagte sie und zeigte in Richtung der Hütte, die er sich neben einem kleinen Zoo aus Brettern gezimmert hatte, so gut unter Büschen und Bäumen versteckt, dass sie seit Monaten nicht entdeckt worden war.
»No, no, da komme ich doch gerade erst her, meine Süße, ich habe dir aber ein Bier mitgebracht, hier, salud!«
Die beiden tranken ein paar Biere, wobei der Spanier es absichtlich ordentlich spritzen ließ, bei jeder Dose, die er öffnete. Laut lachend freute er sich über diese sexuelle Anspielung, die er mit unterschiedlichen Gesten unterstrich. Josephine ärgerte sich darüber, dass sie ihre guten Vorsätze so schnell über Bord warf, genoss aber das Bier, das ihr das quälende Hungergefühl nahm, dennoch in vollen Zügen.
Der Spanier war eigentlich ganz nett, manchmal sogar lustig, vor allem spendierte er ihr seit langer Zeit Getränke, aber er war ein unverbesserlicher Grapscher. Seine Lüsternheit wurde von Bier zu Bier größer, und es kam vor, dass er sich hemmungslos befriedigte, während er trank und versuchte, dabei ihre Brust zu spüren oder diese zumindest zu sehen. Manchmal zeigte sie ihm ihre Brüste freiwillig, damit er nicht nach ihnen grapschte. Es war ein Tauschgeschäft, auf das sie sich eingelassen hatte, als er sie einmal völlig durstig und hungrig vorgefunden hatte, vor vielen Monaten.
Er hatte ihr sein Leid geklagt, seit Jahren keine Frau mehr besitzen zu können, wie er es genannt hatte, und der Gestrandete hatte ihr irgendwie leidgetan. Der Spanier hatte ihr damals angeboten, für sie zu sorgen, wenn sie regelmäßig Sex hätten, darauf jedoch hatte sie sich nicht eingelassen. Er war alt und hässlich, und sie war in einem anderen Leben einmal eine Schönheit gewesen, zumindest gut aussehend.
Wie so oft wurde der Nachmittag quasi einfach weggetrunken. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre habe ich nun schon zum Zeitvertreib und zum Vergessen getrunken, dachte sie, als sie die Sonne untergehen sah, traurig über ihr Leben und wütend auf den Spanier und auf alle anderen in Split.
»Ich fahre jetzt nach Podstrana«, sagte sie entschlossen und stand auf.
»Was zum Teufel willst du denn da?«, lachte der Spanier, »etwa Porträts für die Millionäre zeichnen?«
»Ach, halt’s Maul. Ich will am Hafen sitzen und etwas essen, wenn du mir ein bisschen Geld gibst.«
Der Spanier griff in seine ausgebeulten Hosentaschen, und es kamen genug Scheine zum Vorschein, um gemeinsam essen zu gehen. Weder Josephine noch irgendjemand am Hafen konnte sich einen Reim darauf machen, woher der Spanier sein Geld hatte. Vermutlich ging er betteln, aber niemand konnte das bestätigen. Er schien ein Geheimnis in sich zu tragen, denn niemand kannte seinen Namen oder wusste, wo genau er herkam und was ihn nach Split verschlagen hatte. Er war älter als die anderen am Hafen, sein Haar war bereits ergraut und wurde immer länger.
»Ich komme mit und lade dich ein«, sagte er und erhaschte ihre linke Brust, als er ihr aufhalf.
»Na gut«, antwortete sie wohl wissend, dass es ohne seine Gesellschaft kein Abendessen geben würde.
Sie schlenderten die Hafenpromenade entlang, grüßten die Porträtzeichner. Andrea streckte ihr wütend die Zunge entgegen, wie immer, wenn er sie mit dem Alten sah. Heute konnte es sich Josephine nicht verkneifen, ihm »Grazie, Cyrus!« entgegen zu schmettern, und alle lachten über diese gelungene Retourkutsche, selbst Andrea.
Der Bus Nummer 60 war voll, und viele der Sitze dem Vandalismus zum Opfer gefallen, sodass die Menschen stehen mussten. Der Spanier ergriff die Gelegenheit der Nähe zum Schmusen, wie er es nannte.
In Podstrana liefen sie eine große Treppe hinab zum Jachthafen und zu dem Restaurant, in dem man Josephine schon einmal bedient hatte, und auch heute trotz ihres ungepflegten Äußeren freundlich grüßte, was bei Weitem nicht immer der Fall war. Sie teilten sich ein Nudelgericht und bestellten einen Tafelwein, und da Josephine sich über die Gesellschaft des Spaniers ärgerte, trank sie die erste Karaffe in einem Zug aus, sodass der Spanier danach einen Liter Rotwein bestellte, den billigsten, der hier zu bekommen war. Bald stritten sie sich, und da forderte der Kellner die beiden doch auf, das Restaurant zu verlassen.
Nachdem sie den Spanier endlich losgeworden war, steckte sie sich einen Kaugummi in den Mund, der ihr gegen das Sodbrennen half, das zwangsläufig nach so viel Rotwein auftrat. Elend fühlte sie sich, schon wieder betrunken! Sie torkelte hinüber zu den Jachten. Ihre Beine waren schwer und spiegelten ihre Stimmung wider. Sie setzte sich eine Zeit lang auf die Hafenmauer, schaute zum Meer hinaus, um bald darauf wieder aufzustehen. Beide Kniegelenke knacksten.
Sie schaute zu den Jachten, lief zu ihnen hinüber, und las die Namen leise vor. Eine große Motorjacht hieß Joy. Unpassend. Daneben lag eine schöne, kleinere Jacht namens Valletta. Sie kannte Valletta nicht, nicht einmal Malta, und konnte damit nichts anfangen. Nun kam sie zu einer Segeljacht, die sie auf mindestens vierzehn Meter schätzte, ein Schmuckstück. Secret las sie. Secret in schöner, geschwungener Schrift. Darüber war ein bunter Schmetterling zu sehen. Das gefiel ihr.
»Hello?«, rief sie fragend. Niemand antwortete, obwohl die Tür zum Salon offen stand. Kein Licht brannte. Sie kletterte auf das Boot, torkelte über das Deck zur Reling und sah dort eine knallrote Fleecedecke liegen. Diese kam wie gerufen! Sie war aus dickem Stoff, weich und sauber. Sie kuschelte sich in die Decke, legte sich ihre Jacke als Kopfkissen unter, und schlief sofort ein, glücklich, einen schönen Schlafplatz unter dem Sternenhimmel gefunden zu haben.
Peter war ein Frühaufsteher. Kein überzeugter, sondern vielmehr einer, der abends zu früh ins Bett ging, um bis in den Tag hinein schlafen zu können. Als er zum Kajütenfenster hinausschaute, hatte der Tag sich gerade erst angekündigt. Er gähnte, reckte sich und wollte die Straßenkatze noch vor dem Duschen füttern. Die hatte es sich seit einigen Tagen am Bug seiner Jacht gemütlich gemacht und es sichtlich genossen, ein Deckchen und täglich die leckersten Essensreste aus einer Schüssel zu erhalten. Die zarte, grau getigerte Katze mit ihren großen Ohren hatte hier auch ein Versteck vor den anderen Katzen gefunden, die sich auf Schiffen normalerweise nicht so schnell wohlfühlten.
Peter lief barfuß in die Pantry, wo er seine Essensreste für die Katze sorgfältig in einer Tupperdose aufbewahrte. Nachdem ihm kein anderer, passender Name für das Kätzchen eingefallen war, taufte er sie nun in Gedanken einfach Kleine Katze, denn entweder war sie zarter als die anderen oder noch ein Jungtier, was wahrscheinlicher war.
»Kleine Katze«, rief er, als er mit der gefüllten Schüssel den Salon verließ, und traute seinen Augen nicht. Die Katze hatte sich erbrochen und lag beleidigt zwei Meter von ihrer Decke entfernt, in der sich ein Mensch eingewickelt hatte. Nun miaute sie, und als Peter ihr die Schüssel hinstellte, schien sie wieder versöhnt zu sein, denn es gab allerlei gemischtes Eiweiß vom Feinsten.
Peter ging auf die Fleecedecke zu, es regte sich nichts. Er vernahm den Geruch einer Alkoholfahne, der aus der Decke strömte, und als er sich dem Kopfende näherte, sah er Dreadlocks aus der Decke lugen.
Die Frau aus dem Meer, schoss es ihm durch den Kopf, das ist sie! Er weckte sie nicht, sondern spannte einen Sonnenschutz über ihren Körper. Laut der Wettervorhersage sollte heute der bisher wärmste Tag des Jahres werden, der Himmel war blau, und die Sonne schien bereits. Die Frau konnte im Schatten weiter schlafen. Die Katze legte sich an das Fußende der Decke, schmollte noch ein wenig, ließ sich aber schnurrend von Peter streicheln.
»Kleine Katze«, sagte er liebevoll zu ihr, »hier liegt jetzt auch eine große Katze, so ist das nun mal. Damit müssen wir leben.«
Er ging duschen, cremte sich mit reichlich Sonnencreme ein und verließ in Jeans und Poloshirt seine Jacht, um in einem der Cafés an der Marina zu frühstücken. Von hier aus würde er die seltsame Frau an Bord beobachten können. Anders, als es hier Sitte war, bestellte er ein ausgiebiges Frühstück mit Baguette, Käse, Schinken, Oliven und einem starken Mokka dazu.
Nach zwei Stunden hatte sich noch immer nichts getan, keine einzige Bewegung der vermeintlichen Deutschen hatte er zur Kenntnis genommen. Er sah Kleine Katze vorsichtig vom Schiff springen, sonst nichts. Bald verlor er die Geduld, zog sich im Salon seine Joggingsachen an, und lief wie jeden Tag die Promenade in Richtung Dubrovnik entlang.