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eine safrangelbe Mappe, geheime Unterlagen, damit hat im ersten Teil alles begonnen. Tomas sollte in Venedig einen Vortrag für seinen Chef halten. Die Mappe hatte er im Flieger einfach an sich genommen, weil sein Sitznachbar verschwunden ist. In der Folge entwickelt sich alles etwas arg chaotisch. Am Ende eskalierten die Ereignisse und zwei Menschen verloren ihr Leben. Tomas war nicht ganz unschuldig an ihrem Tod. Jetzt, vier Jahre später, ist durch sein unbedachtes Handeln seine Position als Oberarzt gefährdet. Er begibt sich erneut nach Venedig in eine freiwillige Verbannung, und ahnt nicht, daß er sich immer tiefer in ein Geschehen verstrickt, das er selbst mit heraufbeschworen hat. Die Folgen führen ihn über den Umweg auf die Löwenburg schließlich an die Küste von Oostende, wo er durch sein unbedachtes Handeln nicht nur sich selbst in Lebensgefahr bringt. Auf dem Weg begegnet man launischen Nashörnern, missmutigen Gorillas, einer attraktiven Galeristin mitsamt ihrer pubertierender Tochter, der maliziösen Gattin eines Kardiologen, Zwillingen, von denen die eine Schwester bereits tot ist, einem Kongress mit missgünstigen Kollegen, Gemälden von fragwürdiger Provenienz, Kunstfälschungen, einem neurotischen Diamantenhändler, seinem Leibwächter, einer geheimnisvoll lächelnden Asiatin und etlichen zwielichtigen Gestalten. Ein Rauhaardackel und Schäferhunde tauchen auf und auch eine Walther spielt eine Rolle. Anfangs treibt es Tomas voller Unruhe durch die Gassen Venedigs, er schaut sich die Biennale an, geht in Museen, trifft auf Interessante Menschen, geht am Lido baden. Schließlich erreicht ihn seine eigene Geschichte, er wird in einen Überfall mit hineingezogen und muss Venedig fluchtartig verlassen. Über das Siebengebirge verschlägt es ihn nach Ostende, wo er sich wieder in eine dubiose Geschichte hineinziehen lässt. Schliesslich endet das Ganze in den Dünen von Oostende. Ganz nebenbei erfährt man einiges historisches und kulinarisches von Venedig und Oostende. Aber auch Beziehungsgeschichten werden hier nicht ausgespart.
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SCHATTENSPIELE
von der Lagune Venedigs in die Dünen von Ostende
Martin Schmidt
In diesem Verlag sind vom Autor bereits erschienen:
Trugbilder, eine Geschichte aus Venedig
Mondlandung in Ottenhome- oder das Meer der Stille
Kontakt: [email protected]
© 2023 MARTIN SCHMIDT
Umschlaggestaltung: MARNI
ISBN Softcover: 978-3-347-98986-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-98987-0
ISBN E-Book: 978-3-347-98988-7
Druck und Distribution im Auftrag:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag, zu erreichen unter:
tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5,
22926 Ahrensburg, Deutschland.
Lektorat: Renate Barth und Nika Rossmöller-Schmidt
Mein besonderer Dank
für die freundliche
und geduldige Begleitung
geht an Nika und an Renate
There`s no beginning, there`ll be no end
Love is all around
Troggs
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11.
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
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Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt – Don`t leave your luggage unattended hallt die Stimme aus dem Lautsprecher.
Er drückt Marlene an sich, seine Lippen streifen ihr Ohrläppchen. „Danke!“ „Wofür?“ Sie löst sich aus der Umarmung. „Du weißt schon.“ „Sieh zu, dass du fortkommst, du Loser, und pass auf dich auf!“ Er verzieht sein Gesicht zu einem missglückten Grinsen, „mach ich, versprochen. Ich wünschte, du könntest mitkommen!“ „Ach ja, und wie sollte das gehen?“ Paula, ihre kleine Tochter, sonst eher schüchtern, zieht Tomas zu sich herunter und drückt ihm einen Schmatz auf die Wange. Er streicht ihr verlegen über den blonden Lockenkopf und reiht sich in die Schlange ein. Als er sich noch einmal umschaut, sind die beiden bereits verschwunden.
Der Wartebereich der Abflughalle ist voll. Kinder tollen herum, eine Gruppe schlaksiger Jungen in roten Trainingsanzügen mit dem Geißbock am Revers lümmeln sich in den Bänken. Er mustert die Mitreisenden, seine Augen bleiben an mürrisch dreinblickenden Teenagern hängen. Ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, starren sie in ständiger Erwartung auf ihre Smartphones und tippen mit flinken Fingern auf den Displays herum. Auch Selfies sind äußerst beliebt; Tomas ist nicht gerade darauf erpicht, auf einer Facebook-Seite zu landen. Ein kleines Mädchen sieht zu ihm rüber, sie schaut auch nicht weg, als er ein paar Fratzen schneidet. Sie äfft ihn nach und bleibt ihm nichts schuldig. Ihre Mutter schaut auf, Tomas versteckt sich hinter dem General Anzeiger.
Über die Lautsprecher kommt die Ansage, dass der Eurowings-Flug nach Venedig voraussichtlich eine halbe Stunde Verspätung haben wird, alle spitzen die Ohren. Von wetterbedingten Verzögerungen ist die Rede, ein Murren geht durch die Reihen.
Er schaut durch die große Panoramascheibe nach draußen. Die blasse Morgensonne versteckt sich hinter einer langen Baumreihe jenseits der Startbahn, über die in langen Schwaden milchiger Bodennebel zieht.
Auf dem Monitor laufen Kurznachrichten. Man sieht gut gelaunte Politiker auf einem Balkon, sie plauschen, telefonieren und winken in die Kamera. Der rote Blazer der Kanzlerin ist nicht zu übersehen. Dann laufen Videoclips, der Eiffelturm taucht auf, die Skyline von Manhattan, der Zuckerhut und der Markusplatz. Tomas reißt sich los und besorgt sich einen Cappuccino. Er muss an die Ereignisse der letzten Tage denken und die Worte seines Therapeuten: Sie müssen sich den Schatten der Vergangenheit stellen.
Nachdenklich nippt er an seinem Cappuccino. Das kleine Mädchen deutet schadenfroh auf den Milchschaum an seiner Oberlippe. Er wischt ihn mit dem Handrücken weg und verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse, sie verdreht gelangweilt die Augen. Als er sein Smartphone zücken will, runzelt die Mutter missbilligend die Stirn. Er kramt das Buch hervor, das Karen ihm mitgegeben hat. Eine gelungene Satire auf den derzeitigen Kunstbetrieb, meinte sie. Duell - von Joost Zwagerman. Was passiert, wenn die Faust des Museumsdirektors ein 30 Millionen teures Gemälde durchschlägt.
Der Flug wird aufgerufen, die jungen Fußballer stürmen als erste los. Die Tür des Cockpits steht offen, die Piloten gehen die Check-Listen durch. Unwillkürlich denkt Tomas an Nine-Eleven, aber auch an die Germanwings-Maschine, die vor zwei Jahren an den Hängen der Pyrenäen zerschellt ist. Der Co-Pilot hatte den Absturz in suizidaler Absicht herbeigeführt. Der Kapitän konnte die Cockpittür nicht von außen öffnen, um die Tragödie zu verhindern.
Tomas denkt an den Flug vor vier Jahren und das unerklärliche Verschwinden des ominösen Passagiers.
„Willkommen an Bord!“ Die Stewardess schenkt ihm ein unverbindliches Lächeln. Sie trägt die Uniform von Air Berlin. Als er sie darauf anspricht, erwähnt sie mit Bedauern, sie sei an Eurowings nur ausgeliehen. „In gut zwei Wochen bin ich eh arbeitslos. Vielleicht kann ich mich ja bei Ihnen bewerben?“ Ihr gewinnendes Lächeln wirkt nicht mehr ganz so selbstsicher.
Tomas greift sich eine Süddeutsche und sucht seinen Platz. Er muss sich an den Passagieren vorbei quetschen, die versuchen, ihre Utensilien in bereits überfüllten Gepäckfächern unterzubringen.
In seiner Reihe sitzt ein junges Pärchen. Der Junge trägt eine zünftige Lederhose und einen Trachtenjanker, sie, ein dralles blondes Mädchen, trägt ein fesches Dirndl. Falscher Zeitpunkt oder falscher Flieger? Er lässt sich in den Sitz am Fenster fallen, der Verschluss des Gurtes rastet mit einem Klick ein.
Die Gedanken schweifen ab zu dem Flug vor gut vier Jahren. Der Purser war dabei, die Kabinentür zu verriegeln, als noch ein verspäteter Passagier an Bord kam, ein großer schlaksiger Mann Mitte Vierzig mit handgenähten Schuhen und einer teuren Omega am Handgelenk. Ihm schien die durch ihn entstandene Verzögerung keineswegs peinlich zu sein. Mit einem nachsichtigen Lächeln auf den Lippen bedachte er die vielen vorwurfsvollen Blicke. Mit ihm begann die unselige Geschichte der safrangelben Mappe.
Die Maschine löst sich vom Flugsteig und wird rückwärts aus der Parkposition geschoben. Sie rollt vor zur Startbahn, die Flügelspitzen wippen bei jeder Bodenunebenheit. Der Nebel hat sich fast vollständig aufgelöst. Als die Freigabe aus dem Tower kommt, heulen die Turbinen auf, ein Beben geht durch den Rumpf, der Airbus setzt sich in Bewegung, nimmt rasch Fahrt auf und hebt in den verhangenen Himmel ab. Tomas spürt die gewaltige Schubkraft, die ihn in die Polster drückt. Heidi, so hat er insgeheim seine Sitznachbarin im Stillen getauft, presst ihre feuchte Hand in die des Freundes, der redet beruhigend auf sie ein. Unter ihnen zieht die Wahner Heide vorüber, die befahrene A3. Das silbrig schimmernde Band des Rheins schlängelt sich entlang des bereits herbstlich verfärbten Siebengebirges. Tomas meint, unten sein Krankenhaus ausmachen zu können, hier beginnen gerade die Visiten.
Die Maschine taucht in die Wolken ein, die Welt scheint nur noch aus Watte zu bestehen. Um ihn herum nichts, woran sich das Auge festhalten könnte. Nach einigen Minuten durchstoßen sie die Wolkendecke erneut, eine gleißende Sonne und ein makellos blauer Himmel empfangen sie. Tomas lockert den Gurt. Da er Smarttarif gebucht hat, bekommt er seinen Snack in einer schlichten Pappbox serviert. Die Flugbegleiterin beugt sich zu ihm herüber, ihre Bluse spannt. Er fragt, ob sie nach der Pleite von Air Berlin nicht von Eurowings übernommen würde. Sie schüttelt bedauernd den Kopf. „In meinem Alter nimmt mich doch keiner mehr!“ „Fishing for compliments?“ „Ihr Mitleid können Sie sich sparen! Außerdem, zu deren miesen Bedingungen ist das auch nicht gerade reizvoll!“
Mit scherzhaftem Unterton fragt er nach der Ernsthaftigkeit ihrer Bewerbung, augenzwinkernd geht sie darauf ein. „Kommt drauf an, was Sie zu bieten haben!“ Er schmunzelt, „alles Verhandlungssache, aber darüber reden wir besser unter vier Augen.“
Die Fußballer verlangen lautstark nach alkoholischen Getränken, die Flugbegleiterin verdreht die Augen und entschwindet. Er stellt die Rückenlehne in eine bequeme Position und schließt die Blende am Kabinenfenster. Er denkt an die Dinge, die er gerne ungeschehen machen würde. Die monotonen Geräusche lassen ihn einnicken.
Ist hier ein Arzt an Bord? Die Stimme aus dem Lautsprecher klingt beunruhigt, Tomas blinzelt erschrocken ins Licht. Aus dem hinteren Teil des Fliegers sind Stimmen zu hören. Ein jüngerer Mann meldet sich, folgt der Stewardess den Mittelgang entlang nach hinten. Unruhe ergreift die Passagiere, Köpfe werden verdreht. Eine aufgeregte Stimme berichtet, eine junge Frau sei kollabiert, ein Arzt kümmere sich um sie. Alle scheinen erleichtert. Für einen Moment ist Tomas versucht, sich ebenfalls zu melden. Er öffnet die Blende am Kabinenfenster. Die Wolken reißen auf. Durch eine größere Lücke sieht er die majestätische Kulisse der östlichen Alpen vorüberziehen. Er schaut auf karge Felsgrate und gewundene Saumpfade, die an kahlen, mit Flechten bewachsenen Hängen auszumachen sind. Dunkle Schluchten und grün bemooste Hochtäler. Ein Strahl der Sonne lässt einen See smaragdgrün aufleuchten.
Im hinteren Teil des Fliegers kommt erneut Unruhe auf. Tomas versucht sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass der junge Kollege schon alles im Griff habe. Ängstliche Rufe lassen ihn zusammenfahren, er malt sich alle möglichen Komplikationen aus. Eine Reanimation, die Benutzung des Defibrillators bei den beengten Verhältnissen hier oben stellt er sich nicht gerade reizvoll vor. Turbulenzen treten auf, erschüttern den Rumpf und rütteln die Passagiere durch. Die Maschine bäumt sich auf, sackt durch, fängt sich wieder, die Tragfläche wippt gefährlich weit auf und ab. Die Klappe eines Gepäckfachs springt auf, ein roter Mantel fällt heraus. Schreie sind zu hören, Heidi klammert sich an ihren Freund, der tätschelt ihr beruhigend die Wange.
Eine Flugbegleiterin hastet mit dem Notfallkoffer nach hinten, alle schauen ihr alarmiert hinterher. Mehrere Passagiere greifen nach ihren Handys, die Stewardess zieht den Vorhang zur Bordküche zu.
Tomas fährt sich nervös durchs Haar und starrt unverwandt zum Kabinenfenster raus. Für einen Moment kann er durch eine kleine Lücke im milchigen Weiß tief unten den dunkel schimmernden Gardasee ausmachen. Die hohen Berge gehen in sanfte Hügel über. Dann erstreckt sich eine Ebene aus fahlen Braun- und Grüntönen. Dazwischen einsame Landsitze und Orte, in denen sich ockerfarbene Häuser um eine Kirche drängen.
Über den Bordlautsprecher kommt erneut eine Ansage. Der Co-Pilot entschuldigt sich für die entstandene Irritation, er versichert, man habe alles im Griff. Er bittet die Passagiere, Ruhe zu bewahren, man werde in Kürze regulär auf dem Flughafen Marco Polo landen. Die Minuten verstreichen. Tomas ringt mit sich. Schließlich hält es ihn nicht mehr, er zwängt sich an den beiden Sitznachbarn vorbei.
Da meldet sich der Purser, Erleichterung ist seiner Stimme anzuhören. „Soeben hat hoch über den Wolken ein neuer Erdenbewohner das Licht der Welt erblickt.“ Ein befreites Raunen geht durch die Reihen, einige Passagiere klatschen spontan Beifall, für die jungen Fußballer ein Grund mehr, nach Alkohol zu verlangen. Tomas nimmt erleichtert seinen Platz wieder ein, vorbei an Heidis fragenden Blicken. Wieso muss man im hochschwangeren Zustand noch fliegen; und schon schämt er sich für diesen Gedanken, vor allem aber, für sein ungewohntes Zögern.
Am Horizont taucht türkisblau die Adria auf. Schließlich wird das Glitzern des Wassers unterbrochen von einer Vielzahl kleinerer und größerer Inseln, zum Meer hin abgegrenzt durch einen schmalen Küstenstrich. Tomas drückt sein Gesicht gegen die Scheibe, sieht die Lagune, die Umrisse der Serenissima in Form eines dickbauchigen Fisches und den Damm, der die Stadt wie eine Nabelschnur mit dem Festland verbindet. Neugierig geworden beugt sich Heidi über ihn, die Handykamera im Anschlag. Ihr offenherziges Dirndl gewährt tiefe Einblicke, ihr blonder Zopf streift seine Wange.
„Zum ersten Mal in Venedig?“, fragt Tomas. „Wir wollen uns hier verloben“, sie lächelt. „Wie romantisch!“ Er kann sich ein Grinsen kaum verkneifen und denkt dabei an sein erstes Mal hier mit Rita, seiner großen Liebe aus Studientagen.
Er zeigt auf die prächtigen Kuppeln von San Marco, weist auf die vielen kleinen Kanäle hin, die die Stadt wie ein feines Adergeflecht durchziehen. Heidi drückt begeistert auf den Auslöser. „Wenn man bedenkt, dass jeder Fußbreit dem Wasser abgetrotzt wurde, und jedes Gebäude, ob Palast oder Kirche, auf Tausenden von Holzpfählen im weichen Morast errichtet wurde“, versucht er zu erläutern. Die Situation erinnert ihn an seine erste Begegnung mit Isabelle van der Ecken, der attraktiven Italienerin. Auch sie war ihm in ihrer gespielten Begeisterung nahegekommen. Ah, che bello, che magnifico, er hat ihre Worte noch im Ohr und den Duft ihres Parfums in der Nase. Später, auf dem Vaporetto, sie trug einen roten Mantel und reiste mit kleinem Gepäck, hatte sie sich mit einem -bis bald- von ihm verabschiedet, da wusste er noch nicht, wer sie war.
Der Pilot fliegt eine Schleife, drosselt die Triebwerke und überfliegt die Stadt erneut, jetzt in niedriger Höhe. Alle Details werden deutlicher, man kann die Menschenmenge auf dem Markusplatz sehen. Von Schleppern begleitet passiert ein Kreuzfahrtschiff die Enge am Lido. Heidi beklagt sich über Druck auf den Ohren.
Tomas spürt eine bange Erwartung in sich aufsteigen. Der Schatten der Maschine jagt über die Piste, wird schnell größer, dann setzen sie auch schon auf der Landebahn auf und rollen parallel zur Lagune aus. Die ersten Mitreisenden zerren ihr Gepäck aus den Fächern.
Beim Blick aus dem Kabinenfenster sieht Tomas, wie sich auf dem Vorfeld eine Ambulanz nähert, eine Gangway wird an den hinteren Ausstieg geschoben. Ein Arzt und zwei Sanitäter hasten an Bord.
Nur kurz darauf wird eine junge Frau auf einer Trage in den Ambulanzwagen verfrachtet. Der Arzt folgt mit einem Bündel auf dem Arm. Dann taucht der junge Kollege auf, er wirkt überfordert.
Tomas fühlt sich beschämt, er hätte sich einmischen sollen.
„Ihnen einen schönen Aufenthalt!“ Die Flugbegleiterin schenkt ihm ihr professionelles Lächeln. Er spürt dahinter ihre Besorgnis. Ihr Make up ist nicht mehr ganz so tadellos.
„Und Ihnen alles Gute, vielleicht sieht man sich mal wieder?!“ Er zwinkert ihr aufmunternd zu. „Lassen Sie mir doch einfach Ihre Nummer da, möglicherweise komme ich auf ihr Angebot zurück!“ Ihre gespielte Lässigkeit wirkt nicht überzeugend. Er gibt ihr seine Karte. „Sie sind Arzt?!“ „Ja …ich bin hier zum Kongress …“
Er muss sich ihren Blick gefallen lassen. Sein Versuch souverän zu lächeln missglückt. Sie schaut ihm irritiert hinterher.
Der Zöllner wühlt in seinem Koffer und befördert einen einzelnen Schuh aus rotem Schlangenleder zutage. Nach einem fragenden Blick stopft er den Schuh kommentarlos zurück.
Ein Carabiniere steht lässig an eine Säule gelehnt, sein Blick geht gelangweilt ins Leere. Ein Schäferhund liegt ausgestreckt zu seinen Füßen, er beobachtet Tomas aus ruhigen bernsteinklaren Augen. Ein spitz aufgestelltes Ohr wackelt, als müsse es eine lästige Fliege verscheuchen.
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Tomas macht sich auf die Suche nach dem Landungssteg der Linea due, die außenherum durch Industriegebiet und weitläufigen Hafen, direkt in den Giudecca-Kanal führt. Ein großes Plakat weist auf den internationalen Kardiologenkongress hin; ein komisches Gefühl für ihn, vor allem, wenn er an die entwendeten Zugangsdaten denkt. Die Sekretärin muss es mal wieder ausbaden. Erinnerungen drängen sich auf; vor vier Jahren war er voller Enthusiasmus und mächtig stolz darauf, vor einem hochkarätigen Publikum einen Vortrag halten zu dürfen. Außerdem erfüllte es ihn mit Genugtuung, dass sein Chef ihm den Vorrang vor Marlene gegeben hatte.
Mildes Tageslicht spiegelt sich im träge dahinfließenden Wasser. Tomas setzt die Sonnenbrille auf, sein Blick folgt dem Schrei der Möwen in den blassblauen Himmel. Das Gefühl des Schwankens ist da, und er weiß, dass es ihn die ganze Zeit über nicht verlassen wird. Begierig saugt er den vertrauten Geruch ein, eine Mischung aus Dieselabgasen, Seeluft und Brackwasser.
Der Zwischenfall an Bord will ihm nicht aus dem Kopf; er kommt nicht darüber hinweg, nicht eingegriffen zu haben. Er denkt an die kritischen Situationen auf Intensiv, wenn es brenzlig wurde, konnten sich alle auf ihn verlassen. Er blieb immer die Ruhe selbst, anders als manch anderer Kollege, oder sein Chef, der große Zampano. Ist er am Ende doch angegriffener, als er sich selbst eingestehen mag.
Er setzt die Kopfhörer auf und sucht bei Spotify nach The Piano has been drinking. Als die Taue gerade gelöst werden, tauchen die Geißböcke auf und auf den letzten Drücker Heidi und ihr Verlobter in spe … Avanti, avanti! Hurry up! Go inside, please …
Das Pärchen taucht neben ihm an der Reling auf. Der Junge in der Krachledernen trägt seinen Janker locker über dem Arm und zeigt stolz seine Tattoos. Heidi versucht, sich mithilfe eines Stadtplans zu orientieren. Tomas fährt mit seinem Finger die Karte entlang und zeigt auf die Strecke der Linie 2. „Fahren wir denn nicht durch den Canale Grande?“ „Da hätten Sie besser die Linie 1 nehmen müssen, die führt mitten durch Venedig, vorbei an der Postkartenidylle mit prächtigen Kirchen und herrlichen Palästen aus Tausendundeiner Nacht.“ Die Enttäuschung ist ihr deutlich anzumerken.
„Übrigens … die Venezianer und der geneigte Bildungsbürger sagen Canal Grande.“ Tomas kann eine gewisse Genugtuung nicht verhehlen. „Okay, Sie Schlaumeier, ist das so wichtig?“ „Die einen sagen so, die anderen so.“ Beide müssen lachen.
Das Vaporetto gleitet vorbei am düsteren Backsteinbau der Questura. Das entspricht wohl nicht ganz dem Bild, das sich Heidi gemacht hat, die den prächtigen Palazzo aus den Donna Leon-Filmen mit Commissario Brunetti und seiner charmanten Assistentin Signorina Elettra vor Augen hat. Zwei Polizisten verlassen das schmucklose Gebäude und steigen in ein bereitliegendes Motorboot. Die Leinen werden gelöst, das Boot schießt in einer eleganten Kurve über das Wasser und prescht unter einer eisernen Brücke hindurch in einen schmalen Seitenarm. Die sich fächerförmig ausbreitenden Bugwellen bringen den behäbigen Wasserbus mächtig ins Schaukeln.
Ein Motorboot mit einem Sarg kommt ihnen in gedrosselter Fahrt entgegen. Eine schwarz gekleidete Frau hält einen Strauß weißer Lilien im Arm, ihr Blick hat etwas Verlorenes. Ungeniert gaffen die Passagiere, nur eine Frau bekreuzigt sich verstohlen.
Tomas hat seine eigenen Assoziationen, er sieht Jakob Ortis bäuchlings tot auf dem Wasser des Kanals treiben, sieht den Zinksarg, der in die Maschine nach Köln verfrachtet wird, und schließlich die kleine Clara auf der Bank vor der Galerie. Mein Papa ist tot, brachte sie unter Schluchzen hervor. Diese Erinnerungen hatte er erfolgreich verdrängt, aber Dinge wiederholen sich.
Es geht unter den Backsteinbögen einer Eisenbahnbrücke hindurch, ein Personenzug rollt donnernd über ihre Köpfe hinweg. Sie tauchen unter einem Gewirr von Strommasten und Oberleitungen hindurch. Der Kanal wird deutlich breiter.
Er hört gerade Kei Minsch, als Heidi fragend auf seine Kopfhörer deutet. Er reicht ihr einen Stöpsel. Sie wippt mit einem Fuß, dann hebt sie unschlüssig die Schultern. „Ist nicht so ganz meins!“
„Denke ich mir.“ Er lächelt verständnisvoll. „Und was machen Sie in Venedig“, fragt sie, „auch Urlaub?“ „Ich bin beruflich unterwegs.“
„Aha.“ Sie kaut nachdenklich an ihrer Unterlippe und scheint sich mit seiner ausweichenden Antwort zufriedenzugeben.
Der Weg führt sie hinein in den verzweigten Industriehafen mit den Verladepiers, großen Lagerhallen, den Anlegern für die Autofähren und den Terminals für die großen Kreuzfahrtschiffe. Kräne drehen sich, Güter werden auf Lastschiffe umgeladen oder gelöscht.
Heidi schaut auf die nüchterne Industriekulisse und spielt selbstvergessen mit ihrem Zopf. Sie hatte etwas anderes erwartet. Tomas kennt diese Enttäuschung, die aus falschen Erwartungen entsteht. Heidis Freund schlingt seinen Arm um sie, ein etwas unbeholfener Versuch, sie aufzumuntern. Tomas denkt an seine Reise mit Rita nach Venedig, obwohl ähnlich jung, ganz so naiv waren sie damals nicht.
Ein kleineres Passagierschiff, die Astoria, liegt vertäut am Quai, die Abgase aus dem Schornstein lassen die Luft flirren. Ein Boot saugt mit seinen rüsselartigen Schläuchen die Fäkalien aus den Bordtanks, Heidi rümpft die Nase. An einem mausgrauen Zerstörer der Marine werden die Taue gelöst. Am Quai stehen Angehörige und winken, die Matrosen salutieren. Ein langgezogenes heiseres Tuten begleitet das Ablegemanöver.
Aus dem Augenwinkel heraus sieht Tomas, wie einer der Fußballer versucht, Heidi anzubaggern. Sie reagiert mit einem verunsicherten Lächeln. Ihr Freund reagiert entschieden. „Schleich dich! Lass sie in Ruhe!“ Der Fußballer zeigt ein unverschämtes Grinsen, die Jungen bilden einen Halbkreis. Feixend stacheln sie ihren Kameraden an, der fühlt sich animiert. „Was willst du, Trachtenseppl?“ „Obacht, Spezl, du riskierst eine dicke Lippe!“ Der Fußballer stupst ihn unsanft gegen den Brustkorb und blickt triumphierend in die Runde. Der Freund strauchelt, fängt sich gleich wieder. „Zeig mal, was du draufhast, du Geißbock!“ reagiert er, zeigt sich kampfeslustig. Heidi schaut sich hilfesuchend um. Einige zücken ihre Smartphones.
Tomas Miene verfinstert sich. Bevor die beiden sich auf den Planken wälzen, geht er dazwischen. Auch der Trainer greift ein: „Kommt, Jungs, macht keinen Ärger!“
„Er hat angefangen“, versucht sich der Fußballer zu rechtfertigen, jemand hält ihn zurück. „Reißt euch zusammen, sonst könnt ihr gleich den Rückflug antreten!“ Die Fußballer ziehen sich murrend zurück, der Anstifter zeigt eine schuldbewusste Miene.
Tomas wechselt einen Blick mit dem Trainer. „Bestimmt keine leichte Aufgabe als Löwenbändiger…“ „Was ist schon leicht?!“
„Auch wieder wahr.“ Beide zucken mit den Achseln.
Das Vaporetto fährt aufs offene Wasser hinaus, der Fahrtwind wird heftiger. Es geht zwischen einer langen Reihe von Holzpfählen hindurch, die die Fahrrinne zu beiden Seiten flankieren. Bugwellen klatschen heftig gegen die Bordwand. Die Industrieanlagen und Raffinerien von Marghera tauchen auf. Man schaut auf hohe, rotweiß gestreifte Schornsteine und riesige Öltanks, eine bläuliche Dunstglocke steht über dem Areal. Eine Formation von Wildgänsen fliegt aufs offene Meer hinaus, sie sind bald nur noch als Silhouette vor sich auftürmenden Zirruswolken zu erkennen. Das Boot läuft in den Giudecca-Kanal ein. Heidi schiebt ihre Sonnenbrille ins Haar und rückt an Tomas heran. „Was machen Sie beruflich?“ Er druckst herum. „Lassen Sie mich raten, Künstler?!“ Er schmunzelt, „leider daneben!“ Sie schaut skeptisch, „jetzt rücken Sie schon raus.“ „Ich bin hier zu einem Medizinkongress.“ Im selben Moment bedauert er, es gesagt zu haben. Sie verzieht ungläubig das Gesicht. „Mediziner? Als man an Bord nach einem Arzt suchte…“ „Der junge Kollege hat sich doch gemeldet.“ Sie schüttelt ungläubig den Kopf, beißt sich nachdenklich auf die Lippen. „Alles reine Routine…“, versucht er zu beschwichtigen. „Ach ja?“ Sie lächelt, „Sie sind kein Arzt, oder?!“ Ihm wird es langsam peinlich, sie lässt sich nicht abwimmeln. „Sie haben recht, ich bin undercover unterwegs.“ Er führt den Zeigefinger an den Mund und schaut sich nach allen Seiten um. „Verstehe, undercover, echt cool, Mister Bond.“ „Seien Sie nicht so vorwitzig Miss Moneypenny“, er zeigt sein charmantestes Lächeln. „Oh je …“, sie verdreht die Augen.
Prossima fermata Sacca Fisola, nexte stoppe Sacca Fisola. Die Frau am Ruder drosselt den Motor, lässt die Schrauben rückwärtslaufen. Am Heck schäumt die Gischt, eine schwarze Dieselwolke steigt auf. „Wir sind da!“ Heidi wendet sich erleichtert an ihren Freund. Sie zeigt auf den ebenso imposanten wie hässlichen neogotischen Backsteinbau. Das Boot legt an. Die Taue werden belegt, es knarzt, als sich die Schlinge zuzieht. Die beiden frisch Verliebten zwängen sich an den anderen Fahrgästen vorbei. Als das Absperrgitter zurückgeschoben wird, wünscht Tomas ihnen eine wunderschöne Zeit und viel Spaß hier in Venedig.
Verloben…, er schüttelt den Kopf und denkt an die Zeit mit Rita, auf diese spießige Idee wären sie nie gekommen. Er sieht sie genau vor sich, ihr ovales Gesicht, die dunklen Augen und langen Haare. Nach dem Abitur wusste er erst einmal nichts mit sich anzufangen. Es war Rita, die ihn mit ihrer Lebensfreude, ihrer Neugier, ihren Interessen ansteckte. Sie studierte bereits Geisteswissenschaften, er begann mit der Medizin. Sie war ein paar Jahre älter als er und auch erfahrener in Sachen Liebe. Erst im Nachhinein ist ihm klargeworden, was für eine wunderbare Zeit das war.
Heidi balanciert über die schwankende Brücke, dreht sich noch einmal um: „Ciao, dottore, schöne Zeit auf dem Kongress und danke, dass Sie mich beschützt haben.“ Sie zeigt ihm ein bezauberndes Lächeln, entblößt eine kleine Zahnlücke. Dann blinzelt sie ihm verschwörerisch zu, er möchte am liebsten im Boden versinken.
Auch die Geißböcke verlassen das Boot. Die schlaksigen Jungen zerren ihre riesigen Sporttaschen über die Planken hinter sich her. Eine Horde testosterongesteuerter Pubertierender, Tomas schaut ihnen amüsiert hinterher. Der Trainer winkt zum Abschied mit einer lässigen Handbewegung.
Das Absperrgitter schließt sich wieder, das Boot setzt zurück, die Taue werden gelöst, das Schiff dreht sich elegant vom Anleger weg. Sie fahren am Ufer der Giudecca entlang. Tomas sieht die beiden frisch Verliebten über die Brücke gehen und im Eingang des Hotels verschwinden. Das vorlaute Ding, ganz schön schlau und schlagfertig, hätte er ihr gar nicht zugetraut, man sollte fesche Mädels im Dirndl niemals unterschätzen. Tomas denkt an den bajuwarischen Freund, hoffentlich ist er ihr gewachsen.
Mitleidig beobachtet er, wie der arme Kerl das Gepäck über die Schwelle wuchtet. Die Jungen in den roten Trainingsanzügen folgen den beiden dicht auf den Fersen. Das kann heiter werden.
Das Vaporetto kreuzt die viel frequentierte Fahrrinne und steuert das gegenüberliegende Ufer an. Sonnenstrahlen flimmern über das bewegte Wasser. Sie passieren die Statione Marittima, fahren am Zattere Ufer entlang, auf der Promenade drängen sich die Menschen. Prossima fermata Spirito Santo. Mit einem beklommenen Gefühl nimmt Tomas sein Gepäck und geht über die Planken.
Vor einem imposanten Bau, der ACCADEMIA DI BELLE ARTI DI VENEZIA versucht er sich anhand des Stadtplans zu orientieren.
Tomas biegt in eine schulterbreite Gasse ein. Ramo di Incurabili steht an der Ziegelsteinmauer. Er geht durch einen bogenförmigen Durchgang, der auf einem kleinen Platz mündet. Ein Wirrwarr aus Telefon- und Elektrokabeln verbindet die Fassaden unscheinbarer, meist zweistöckiger Häuser. Ein Hund liegt ausgestreckt in der Sonne; als er Tomas näherkommen sieht, streift er ihn mit einem aufmerksamen Blick, dann senkt er den Kopf auf das Pflaster und schließt müde die Augen. Zur Linken wird der kleine Platz durch einen schmalen Kanal begrenzt. Ein Boot wiegt sich unter einer blauen Persenning im Schlaf.
An einem Gebäude steht in verwaschenem Rot die Zahl 593 auf der Sandsteineinfassung. Tomas schaut die schnörkellose Fassade hinauf, der ockerfarbene Putz ist an einigen Stellen abgeblättert. Am obersten Stockwerk sind die grünen Fensterläden geschlossen.
Das ist doch das Haus, zu dem er Nora in jener Nacht gefolgt war! Er sieht sie in ihrem roten Lackledermantel vor sich, wie sie hastig nach dem Schlüssel sucht, und ohne sich noch einmal umzudrehen, im Inneren des Hauses verschwindet. Tomas ist erschrocken über die Intensität, mit der die Bilder wieder hochkommen.
ARTig-Consult steht auf dem Messingschild über dem Klingelknopf, der einer invertierten Brustwarze ähnelt.
3
Das Schloss gibt nach. Im Flur riecht es muffig. Er steigt die steilen Stufen hinauf ins oberste Geschoss. Die Tür zum Appartement ist mit einem Mehrfachschloss gesichert. Schon steht er in einem großen Wohnraum mit angrenzender halboffener Küche. Alles ist in ein dämmriges Licht getaucht, das durch die Lamellen der geschlossenen Läden dringt. Die Luft ist abgestanden, hier ist länger nicht gelüftet worden. Er streift die Schuhe von den Füßen und geht barfuß über den kühlen Terrazzoboden.
Er öffnet ein Fenster, stößt die Läden auf. Für einen Moment muss er die Augen vor dem eindringenden hellen Tageslicht schließen. Staubteilchen schweben in der Luft. Eine Brise weht herein und lässt das nahe Meer ahnen. Was für ein herrlicher Ausblick. Ockerfarbene Dächer vor einem strahlend blauen Himmel, der von einem Schwarm Möwen bevölkert wird. Ein Handwerker richtet auf einem Dach die Antenne, jemand reicht ihm Werkzeug. Zwischen zwei Häusern hängt Wäsche zum Trocknen. Aus einem Fenster dringt Radiomusik. Auf einer Dachterrasse sitzt ein junger Mann mit bloßem Oberkörper, er hat die rosafarbene Gazzetta dello Sport vor sich auf dem Tisch.
Am Boden Töpfe mit Tomatenpflanzen, Kräutern, und zwei blauen Hortensien. Eine junge Frau erscheint, sie hat einen dunklen Teint, schwarz gelockte Haare und ist mit einem dünnen Trägerkleid bekleidet. Sie blinzelt in die Sonne, schirmt ihre Augen gegen das Licht ab und fährt sich beiläufig durchs Haar. Der Mann zieht ihren Kopf zu sich herab und küsst sie auf den Mund, sie schlingt ihre Arme liebevoll um seinen Nacken. Er rückt einen Stuhl zurecht und schenkt ihr Kaffee ein.
Die Wohnung ist mit Klassikern der Moderne ausgestattet, viel Chrom, eine schwarze Ledercouch, ein Marcel Breuer-Sessel. Die Wände sind in dezentem Grau gehalten. Das dunkle Gebälk des Dachstuhls liegt frei. An einer Wand ein gut gefüllter Bücherschrank, an der anderen ein anthrazitfarbenes USM-Bord. Davor ein Stahlrohrschreibtisch der Firma Mauser. Tomas streicht über die rote Schreibtischplatte, wischt Staub weg. Eine Schreibmaschine steht da, eine Olivetti Lettera 22 im mintgrünen Gehäuse. In einer Bakelit-Schale liegen Bleistifte und ein Mont Blanc Füller.
In der Küche schnurrt der Kühlschrank. An den umliegenden Wänden hängt jede Menge Kunst. Eine Rakelarbeit von Gerhard Richter, eine Bleistiftskizze von Alberto Giacometti. Ein Gemälde in altmeisterlicher Manier gemalt, elegante Schnürschuhe auf grauem Grund. Erstaunlicherweise kein einziges Werk von Nora.
An einer Wand hängen alte Schwarz-Weiß-Fotografien. Darunter unverkennbar die Zwillinge, beide in dunklen Badeanzügen an einem weißen Sandstrand, die Haare vom Wind zerzaust. Nora lächelt unbefangen in die Kamera, während Karen einen mürrischen, gar ablehnenden Gesichtsausdruck aufgesetzt hat. Dann die beiden Mädchen bei Klimmzügen an der Reckstange, sie wirken, als wollten sie es dem Fotografen recht machen.
Auf dem Tisch stapeln sich Zeitschriften, ein Spiegel und eine Zeit, Kunstbände von Leonardo da Vinci, Caravaggio, aber auch Joseph Beuys und Luc Tymans. In einem Bildband von Michael Borremans stößt er auf die Abbildung der Schnürschuhe auf grauem Grund, das Gemälde, das hier in der Wohnung an der Wand hängt.
Tomas findet es befremdlich und reizvoll zugleich, in das Leben eines anderen Menschen einzudringen. Er öffnet die übrigen Läden. Sein Blick wandert in einen Garten mit blühendem Oleander und Geißblatt. An der Hauswand stehen Keramiktöpfe mit Agapanthus, die Blüten in einem irisierenden Blau. Ein Mann sitzt auf einer Bank und liest Zeitung, eine Tasse steht vor ihm auf den Tisch.
Rechts vom Garten verläuft der schmale Kanal. Am Ufer liegt ein Motorboot unter der blauen Persenning verborgen. In der Flucht zwischen zwei Häusern schimmert grünlich-grau das Wasser des Guidecca- Kanals. Der Bug eines Lastkahns taucht auf und schiebt sich langsam durch den Bildausschnitt. Der Mann am Ruder hält eine Kippe lässig zwischen den Lippen.
Tomas schaut in den Kühlschrank, findet eine Flasche Prosecco und eine Tüte Milch, auf der das Verfallsdatum abgelaufen ist. Mit einem Hüftschwung schließt er die Kühlschranktür, sucht nach einem Glas, lässt Leitungswasser einlaufen und leert es in einem Zug.
Im Flur stößt er auf eine verschlossene Tür. Nebenan befindet sich das Bad. Aus dem Spiegel starrt ihn sein erschöpftes Ebenbild entgegen. Er dreht den Wasserhahn auf, hält die Hände unter den kalten Strahl, klatscht sich einen Schwall ins Gesicht.
Das geräumige Schlafzimmer ist mit einem französischen Bett, einem Kleiderschrank und einer barocken Kommode mit goldenen Beschlägen ausgestattet. Das Parkett ächzt unter seinen Füßen. Mit dem vagen Gefühl, angekommen zu sein, wirft Tomas sich auf die frisch duftenden weißen Laken. Einfach hierbleiben, denkt er und schließt für einen Moment die Augen. Erleichterung will sich allerdings nicht einstellen, eine bange Ahnung begleitet ihn wie ein dunkler Schatten. Ehe er sich versieht, übermannt ihn eine bleierne Müdigkeit, er fällt in einen unruhigen Schlaf.
Lautes Hundegebell reißt ihn aus einem vagen Traum, dessen Umrisse sich schnell auflösen. Er reibt sich die Augen, findet sich in einem fremden Bett wieder. Laute Rufe dringen zu ihm durch, das Geschrei und Lachen spielender Kinder. Ein Gefühl der Traurigkeit und des Verlassenseins überkommt ihn. Er springt auf, öffnet die Flügel des bodentiefen Fensters, klappt die Läden zurück, helles Sonnenlicht dringt herein. Unversehens steht er auf einer kleinen luftigen Terrasse mit einem dunkelgrünen Metalltisch und zwei Klappstühlen. Am Boden stehen mehrere Terrakottagefäße mit vertrockneten Strünken und ein Aschenbecher von Cinzano, Zigarettenstummel schwimmen in einer braunen Brühe.
Von hier oben bietet sich eine grandiose Aussicht auf benachbarte Häuser und begrünte Hinterhöfe. Kinder spielen, ein Hund tollt herum; pechschwarzes Fell, vorne ein weißes Lätzchen, an den Hinterläufen weiße Pfoten, als trage er Socken. Sein Bellen und das Lachen der Kinder sind die einzigen Geräusche. Über den Dächern prangen die Zweige einer Schirmpinie, die Krone einer Zeder ragt blaugrün in den Himmel. Tomas schaut auf die imposante Kuppel von Santa Maria della Salute. Aus der Wohnung unter ihm dringt Gelächter und das leise Geklapper von Tellern herauf. Alles in allem ein schöner Ort für eine, wenn auch freiwillige Verbannung.
Mit dem Laptop lässt Tomas sich in den Sessel fallen und checkt seine Mails, findet keinerlei Reaktionen aus dem Krankenhaus.
Nur belanglose Nachrichten und Werbung, Booking.com bietet günstige Unterkünfte in Berlin, London und Paris an, Secret Escapes einen romantischen Kurzurlaub in Venedig und eine Belle-Èpoque- Perle in Cannes. Schnell klickt er die Portale weg, öffnet den Ordner mit seinen Aufzeichnungen, überfliegt die letzten Abschnitte und stößt dabei auf seine erste Begegnung mit Karen.
Er sah sie auf der Beerdigung von Nora auf dem Melaten-Friedhof. Die Familie rang am Grab nur mühsam um Fassung, die Mutter hielt ihre Tränen nicht zurück. Seltsam, den Ehemann bekam er nicht zu Gesicht. Tomas hat noch das Bild vor Augen, als er am Rand der Grube stand und mit der Schaufel Erde auf den mit weißen Rosen bekränzten Sarg warf. Und er hat noch das dumpfe Geräusch in den Ohren, das Aufschlagen der Klumpen auf dem Sargdeckel.
Später, er war mit Blumen auf dem Weg zu Noras Grab, kniete sie auf der Umrandung und wischte ein paar welke Blätter weg. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er eine Träne über ihre Wange laufen.
Dann, vor Kurzem tauchte Karen in der Notaufnahme auf. Er hatte Hintergrunddienst. Sie befand sich in Begleitung einer Freundin, die beunruhigt schien. Karen hätte während des Aufstiegs auf den Drachenfels Beklemmungen über dem Herzen verspürt, ihr Puls raste. Die Freundin hatte darauf bestanden, einen Arzt aufzusuchen. Das EKG war unauffällig, Tomas vermutete eine harmlose paroxysmale Tachykardie, stressbedingt, was der Freundin sofort einleuchtete. Karen habe einen verantwortungsvollen Job, und der verlange ihr in der letzten Zeit einiges ab. Und ihr Chef sei, wohlwollend ausgedrückt, eine schwierige Persönlichkeit. Tomas empfahl, Karen über Nacht dazubehalten. Nach einigem Zögern willigten beide ein. „Passen Sie mir gut auf sie auf, ich brauche sie noch“, mit den Worten verabschiedete sich die Freundin.
In der Nacht war es zum Glück ruhig, er setzte sich zu Karen ans Bett der Überwachungsstation. Er verspürte die gleiche sonderbare Vertrautheit wie Jahre zuvor Nora gegenüber, und gleichzeitig eine schwer zu benennende Befangenheit. Sie kamen gut ins Gespräch, Karen sprach über den stressigen Job im Kunsthaus, die Ansprüche von Kunden, den Erfolgsdruck, die Konkurrenzsituation unter den Kollegen, und den schwierigen Umgang mit den zeitgenössischen Künstlern, oft wahre Diven und Mimosen.
Als er auf Nora zu sprechen kam, stockte ihr Redefluss, nur ungern wollte sie über deren Tod reden; sie war überzeugt, dass es ein Unfall war. Seine Zweifel wollte sie nicht gelten lassen. Als er Jakob Ortis erwähnte, beschleunigte sich ihr Puls. Der Monitor gab einen schrillen Warnton ab, er tätschelte besänftigend ihre Hand. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorüber. Schnell zog sie ihre Hand zurück, es machte ihn verlegen. Die Nachtschwester kam, rief ihn zu einem Notfall. Als er am nächsten Morgen nach ihr schauen wollte, war sie auf eigene Verantwortung gegangen. Auf dem Nachttisch hinterließ sie ein teures silbernes Feuerzeug von Dupont mit ihren eingravierten Initialen, das er ihr, die Adresse kannte er ja jetzt, mit einem kurzen Gruß in den Briefkasten warf.
Vor einigen Wochen begegnete er ihr wieder. Er war zu einer Fortbildung in Köln, und mit Marlene zum Mittagessen im Hasen verabredet. Auch Karen verbrachte hier ihre Mittagspause. Sie grüßten sich flüchtig. Beim Hinausgehen sprach sie ihn an. Sie würde gerne noch einmal mit ihm sprechen, das Herzrasen habe sie im Griff. Sie schaute ihn mit einem vieldeutigen Lächeln an. Auch hier wirkte sie wie die dunkle Ausgabe von Nora.
Dann, vor ein paar Tagen rief sie unvermittelt an. Sie schlug ein Treffen vor, wollte nicht sagen, worum es ging. Sie trafen sich im Hasen und blieben beim Sie. Karen wirkte auffallend fahrig, erwähnte Schwierigkeiten im Kunsthaus. Sie fragte beiläufig, wie es ihm ginge, er erzählte von seinem Dilemma. Sie bot ihm ihr Pied à terre in Venedig an. Am Ende sind sie auf einen Kaffee bei ihr gelandet. Kaum in der Wohnung, ließ sie sich auf die Couch fallen, schlüpfte aus ihren Schuhen und zog die Beine an.
Als er später mit dem Schlüssel der Wohnung in Venedig nach Hause fuhr, fühlte er sich geschmeichelt und verwirrt zugleich. Er wusste partout nicht, woran er bei ihr war, und vor allem, weswegen sie ihn eigentlich hatte treffen wollen.
Verlockend war die Aussicht auf ein paar gemeinsame Tage hier in Venedig. Allerlei Fragen und Vermutungen gehen ihm durch den Kopf. ARTig-Consult steht auf dem Klingelschild. Wie artig mag es hier wohl zugegangen sein? Man sieht nichts von irgendwelchen geschäftlichen Aktivitäten, keinen PC, keinen Drucker, keinen Ordner.
Einigermaßen verwirrt klappt er den Laptop zu und macht sich auf, um im nicht weit entfernten Supermercato von Billa das Nötigste einzukaufen. Das meiste ist schnell gefunden, Toastbrot, Butter, Tomaten, Schinken, Mortadella, Pasta, Eier, eine halbe Melone und einen Montepulciano d´Abruzzo. An der Käsetheke fragt er nach Gorgonzola dolce. Da fällt es ihm wieder ein, due etti di Taleggio, die wehmütige Erinnerung an den Freund, einen guten Schwimmer, der vor Jahren im Comer See ertrunken ist, während seine Frau mit den Kindern am Ufer saß und die ganze Nacht vergeblich auf ihn gewartet hatte. Der Freund, der aus dem Job aussteigen und um die Welt segeln wollte, und der die rheinischen Originale unter den Lehrern so gut imitieren konnte … come along, boy, hol dich en` Backpfeif’ …nit dranjonn, Jong, dranjejange, ’eraus …
Nachdem Tomas die Lebensmittel verstaut hat, wirft er die Kaffeemaschine an, setzt sich in einen Sessel und nimmt die Süddeutsche zur Hand. Sein Auge bleibt an einem Artikel über eine investigative maltesische Journalistin hängen. Ihre Recherchen haben dazu beigetragen, die Verstrickung der eigenen Regierung in zweifelhafte Geschäfte aufzudecken. Mit einer ferngezündeten Autobombe hat man sie kaltblütig in die Luft gejagt. Übrig blieben ein paar verkohlte Überreste und Wrackteile, die im Umkreis von mehreren hundert Metern verstreut herumlagen. Auf dem Foto sieht man eine Frau, die voller Zuversicht in die Kamera lächelt.
Mit Unbehagen denkt Tomas an die entwendeten Unterlagen und an Jakob Ortis, der tot auf dem Wasser des Canal Grande trieb.
4
Eigentlich sollte er sich über den ersehnten Abstand freuen. Aber es kommt ihm wie ein leeres Versprechen vor. Etliche Fragen quälen ihn. War es richtig abzuhauen …. Von Zweifeln geplagt, tigert er durch die Wohnung, weiß nichts rechtes mit sich anzufangen. Weder Karen noch Marlene haben auf seine Nachrichten reagiert.
Es ist später Nachmittag, er muss dringend an die frische Luft. Facciamo un giro. Im Treppenhaus begegnet er einer mürrisch dreinblickenden alten Frau, die ihn skeptisch mustert. Draußen empfängt ihn gleißendes Licht, er setzt die Sonnenbrille auf und streift an Zattere entlang. Das Wasser schwappt über das Ufer, es bilden sich erste Pfützen. Über eine Mauer ragt grünes Blattwerk, es duftet nach Jasmin. Sein Blick schweift hinüber zur nahe gelegenen Klosterinsel von San Giorgio Maggiore. Er hätte wieder dabei sein können … Aber immerhin hat er den Ausweis und die Zugangsdaten. Von schlechtem Gewissen geplagt zieht es ihn weiter.
Eine hochgewachsene Frau mit beträchtlicher Oberweite stakst auf Plateausohlen vor ihm her. Sie trägt ein hautenges Glitzer-Shirt und eine Stretchhose aus glänzendem Material. Sie hat riesige Kopfhörer auf, die einem Presslufthammer widerstehen würden, und sie hat eine unnachahmliche Art mit dem Hintern zu wackeln, dass Tomas unwillkürlich an Frank Zappas Sheik Yerbouti denken muss … Shake your Booty … Ein älterer Mann schnalzt anzüglich mit der Zunge, macht eine obszöne Geste und lacht schallend. Schließlich verliert Tomas die Frau im Gedränge aus den Augen.
Im Schaufenster einer Galerie afrikanische und asiatische Kunst. Masken, Totems, ein goldener Buddha, ein Elefantengott, Schmuck aus schimmernden Perlen, Korallen und Elfenbein. Die Türglocke bimmelt, der Mann hinter dem Schreibtisch blickt kurz auf, dann widmet er sich wieder seinem Monitor.
Tomas klopft auf den Panzer einer Riesenschildkröte, bestimmt über zweihundert Jahre alt, hat wahrscheinlich schon die Französische Revolution miterlebt. Er sieht die hölzerne Büste eines Mädchens mit asiatischen Zügen und Zöpfen aus Pferdehaar. An der Rückseite gibt es eine verborgene Mechanik, mit der man die Zunge vorstrecken kann. Vielleicht ein Geschenk für Marlene, und Paula hätte bestimmt ihren Spaß. Im nächsten Raum empfängt ihn strenger Modergeruch, abbröckelnder Putz und Schimmel, ein deutlicher Hinweis auf das allgegenwärtige Hochwasser. An den Wänden Drucke von Eduardo Chillida. Die versteckte Kamera an der Decke blinkt.
Wieder draußen muss er Passanten ausweichen, die sich vor den Auslagen der Souvenirläden drängen. Zwischen ihnen fühlt er sich deplatziert und geschützt zugleich. Er geht an einem schmalen Kanal entlang; auf dem Wasser treibt eine Plastiktüte, sie sieht aus wie eine zerfetzte Qualle. Nach einigen Ecken steht er auf dem lichtdurchfluteten Platz vor der Basilika Santa Maria della Salute, deren prächtige Kuppel er von seiner Wohnung aus sehen kann. Der achteckige Zentralbau wartet mit einer überbordend dekorierten Fassade auf. Spötter sprechen von Zuckerbäckerstil, nennen die Basilika eine reich verzierte Torte. Die Venezianer ließen die Kirche als Dank für das Ende einer Pestepidemie erbauen. Ein Drittel der Bevölkerung wurde von der Krankheit dahingerafft. Der schwarze Tod stellte eine allgegenwärtige Bedrohung dar, sie wurde als Strafe Gottes angesehen und war eine Geißel der Menschheit. Die Juden gaben die perfekten Sündenböcke ab, man warf ihnen die Vergiftung von Brunnen vor, was zu schrecklichen Pogromen führte.
Der Erreger der Pest, Yersinia pestis konnte erst sehr viel später nachgewiesen werden. Und noch sehr viel später gab es mit dem aus Schimmelpilzen extrahierten Penicillin die erste wirklich wirksame Möglichkeit einer Behandlung.
Vor ihm breitet sich das grünlich schimmernde Wasser des großen Beckens von San Marco aus. Hier herrscht reger Verkehr. Die provisorische Pontonbrücke für den alljährlichen Marathonlauf wird errichtet, Bauteile werden mit Schleppern herangekarrt und Stück für Stück verbunden. Ein Hund sitzt wie eine Gallionsfigur am Bug einer Barke. Zwischen einem Wald aus Pfählen liegen die schlanken Gondeln fest vertäut, sie schaukeln und zerren an ihren Tauen, als würden sie den vorbeifahrenden Schiffen zunicken.
Ein Gondoliere steht lässig an einen der Pfähle gelehnt. Gondola, Gondola … wie beiläufig verlockend klingt sein Angebot.
Tomas setzt sich auf die flachen Stufen der Kirche und lässt seinen Blick schweifen, hinüber zu den prachtvollen Fassaden der Palazzi und der luxuriösen Grand Hotels, sie scheinen über dem Wasser zu schweben. Es sind noble Kulissen, die sich aus einer anderen Zeit hinübergerettet haben. Die Farben sind verblasst und die Eleganz blättert allmählich ab. Er schaut auf die Piazetta mit den zwei Granitsäulen, die von der Biblioteca Marciana und dem Dogenpalast gesäumt wird. Die strenge Fassade leuchtet zartrosa im frühen Abendlicht. Auf den Kuppeln von San Marco erscheinen die goldenen Kugeln wie die Elektronen des Atommodells von Nils Bohr.
Wehmütig muss Tomas an seine Zeit hier mit Rita denken. Sie saßen auf diesen Stufen hier und betrachteten den auf Wasser gebauten Traum, vor dem sich das Theater dieser Stadt abspielte. Sie waren glücklich, fühlten sich, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Eine schöne Illusion, die wie eine Seifenblase zerplatzte.
Das Treiben um ihn herum gibt ihm das schmerzliche Gefühl, eine kleine unwesentliche Randfigur auf dieser großen Bühne zu sein.
Am Schiavoni-Ufer liegt eine Luxusyacht. Sofort hat er wieder die unschönen Bilder vor Augen, den gemeinen Überfall. Während der eine Matrose ihn festhielt, fischte ihm der andere blitzschnell die Brieftasche aus dem Jackett. Ehe er sich aus dem Schock gelöst hatte, waren die beiden auf der Yacht verschwunden.