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Schlafwandeln ist eine Sammlung tatsächlich geträumter Träume in Form von kurzen Erzählungen. Sie sind ein Versuch, das Flüchtige und Unheimliche, das Fantastische und das Absurde der nächtlichen Traumwelt einzufangen. Dabei lassen sie die faszinierende Arbeit des Bewusstseins erahnen, das Elemente aus dem wirklichen Leben zum Ausgangspunkt einer Assoziationskette von Bildern macht. Nicht zuletzt durch die mal albtraumhaften, mal humoristischen Wendungen wird Schlafwandeln zur unterhaltsamen Lektüre.
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Seitenzahl: 105
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Für meine Familie
und
für meine Freundin Gudrun
Vorwort
Mai bis August 2021
Evaluation
In Gesellschaft
Tiefflieger
Ein Bad im See
Gemeinderatssitzung
Ein Workshop
September bis Dezember 2021
Am Bodensee
Schwerkraft
Das Getränk
In der Felswand
Auf Skiern
Das Fagott
Ein Treffen mit einer Freundin
Vorbereitung auf einen Krieg
Chaos
Dunkle Wolken
Betriebsausflug
Chemieunterricht
Im Pool
Das Hotelzimmer
Balkonszene
In der Hölle
Was noch fehlt
Vor Gericht
Das Erbe
Unglück
Verwirrt
Ein Protestmarsch
Januar bis April 2022
Gestrandet
Frühling
Auseinandergefallen
Verloren und wieder Gefunden
Langlaufen im Schwarzwald
In einer Berghütte
In Indien
Hafenmanöver
Bergwanderung
Kommunikation
Vor der Rückreise
Zimmer mit Aussicht
Beim Arzt
Ein Familienfest
Zweifel
Geschenke
Die Lösung
Geburt
Ein sicherer Ort
Vorahnung
Ein Beratungsbesuch
Der Schimmel
Nur ein Traum
Ein Kriminalfall
Shopping
Gottesdienst
Im Café
Eine Begegnung
Verletzt
Zahnpflege
Armer Sascha
Beim Stadtfest
Zugreise
Raserei
Ein Besuch in Norwich
Nach einer Probe
Ein Vorfall im Foyer
Die falsche Zeit
Ein verfängliches Foto
Hungrig
Ein Spektakel
In Spanien
Der Berechtigungsschein
Schuldgefühle
Putzaktion
Ein Ende
Sonntag
Durchwachte Nacht
Ein geheimnisvolles Auto
Englischunterricht
Das passende Outfit
Plötzlicher Tod
Anruf zu Hause
Zwischenmahlzeit
Wiedersehen
Segeln
Aktivistin
Beim Bäcker
Hintendran
Nonnen
Urlaubspläne
Wer ist zuständig?
Ein steiler Berg
Das richtige Medikament
Vor dem Pferderennen
Matheabitur
Ende des Sommers
Bruder und Schwester
In der Spielzeugabteilung
Tag der offenen Tür
Trauerfeier
Das Klohäuschen
Ausgeschlossen
Frühstück im Jugendhaus
Geschlossen
Ein Brief
Mai bis August 2022
Eine Busfahrt
Am Tag der Prüfung
In der Bibliothek
Ein neuer Anfang
Inspektion
Der Riss
Geschichte
Geburtstag
Musik hören
Familienleben
In einer Sommernacht im Wald
Stromausfall
Spät dran
Erfolgserlebnis
Johannisbeerkuchen
Nach dem Skifahren
Jahrgangstreffen
Blut
Das blau-weiße Buch
Das Findelkind
Die Frage
Veränderung
Kein Umweg
Die Modelleisenbahn
Die Pflanze
Gefahr
Zurückgelassen
Die Zecke
Abrechnung
Ein Unfall
Krokodile
Das Bücherregal
Auf einem Bauernhof
Nachwort
Über ein Jahr lang, von Mai 2021 bis August 2022 habe ich von meinen nächtlichen Träumen das in Worte gefasst, was beim morgendlichen Erwachen davon übrig war. Gleich nach dem Aufstehen setzte ich mich an den Schreibtisch, manchmal schrieb ich auch im Bett. Dabei kämpfte ich gegen die Auflösung zunächst noch scharf erscheinender Bilder. Während beim Versuch der verbalen Repräsentation ausgewählte Bildelemente in den Fokus kamen, verschwammen andere gleichzeitig oder verschwanden ganz. Obwohl seit dem Muttertag 2021 ein Traumfänger über meinem Bett hängt, ein Geschenk meiner älteren Tochter, musste ich mich weiter mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Immer wieder erlebte ich, dass ein zunächst reichhaltig erscheinender Traum durch eine diffuse Erinnerung nur unvollständig festgehalten werden konnte.
In Träumen ist manchmal mehr los als im wirklichen Leben. Sie sind faszinierend, weil sie latente Zusammenhänge und Befindlichkeiten freilegen können. Beim Schreiben bemühte ich mich, Geschehnisse und Empfindungen möglichst genau zu beschreiben und darzustellen, um die Traumwelt in der Vorstellung der Lesenden zum Leben erwecken zu können. Dabei werde ich, das Subjekt der Traumwirklichkeit, zur nicht mit der Autorin identischen Ich-Erzählerin.
Nach Sigmund Freud ist ein Traum, der manifeste Trauminhalt, das Resultat von Prozessen der Verdichtung und Verschiebung und darin vergleichbar mit literarischen Texten, mit Dichtung.1 Beim Träumen greift der Verstand nicht ein. Nicht Zusammenhängendes steht unvermittelt nebeneinander. Die Handlung kann ins Absurde kippen oder geht ins Fantastische und Übernatürliche über. Es kommt vor, dass eine Figur vermeintlich eine bestimmte Person darstellt, sich dann aber tatsächlich als eine andere erweist.
Dass das Erzähler-Ich von einem Traum zum anderen zwischen verschiedenen Lebensaltern wechselt, könnte verwirrend sein. Ich habe aber von einer Umstrukturierung abgesehen, da ich die für die chronologische Anordnung charakteristische, beliebige Aneinanderreihung von Szenen beibehalten wollte. So entstand im Lauf von über einem Jahr eine Sammlung von Kurzprosatexten mit anekdotischem Charakter.
Mir geht es ähnlich wie Freud, der sein Unbehagen davor, der Öffentlichkeit Einblick in die eigene Seele zu geben, mit den folgenden Worten zum Ausdruck brachte:
Man hat eine begreifliche Scheu, soviel Intimes aus seinem Seelenleben preiszugeben, weiß sich dabei auch nicht gesichert vor der Mißdeutung der Fremden. Aber darüber muß man sich hinwegsetzen können.2
Im Unterschied zu Freud ist es nicht mein Ziel, die Träume zu analysieren. Natürlich erzählen sie über meine Erfahrungen. Sie decken ein erstaunlich großes Spektrum an Lebensbereichen ab, und gelegentlich scheinen aktuelle Themen auf. Manchmal stammt das Material aus viel früheren Lebensphasen. Die Ich-Erzählerin kann einmal eine Studentin, ein anderes Mal eine junge oder eine ältere Erwachsene sein.
Die Scheu davor, die Traumerzählungen einem Lesepublikum zugänglich zu machen, wird weniger durch die Inhalte an sich hervorgerufen, denn die Träume sind ja, ähnlich wie fiktionale Texte, kein Abbild der Wirklichkeit, sondern nehmen nur indirekt Bezug auf sie. Nichts ist so geschehen, wie es in den Träumen erscheint, die Charaktere sind nicht identisch mit den Personen und dennoch reflektieren sie auch das, was mich geprägt hat und beschäftigt.
Mehr Kopfzerbrechen bereiteten mir die Charaktere, die Familienmitgliedern, Freund*innen und Kolleg*innen entsprechen. Die Erzählungen können durchaus von Aspekten der tatsächlich bestehenden Beziehungen handeln. Deshalb kann ich für sie nicht guten Gewissens die übliche Formel Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt verwenden. Dennoch besteht häufig eine Distanz zu den wahren Personen. Die Charaktere kommen meist mit einzelnen Eigenschaften und Verhaltensweisen vor, nicht als Individuen. Manchmal treten sie sogar nur als Anwesende auf.
Um die Privatsphäre der vorkommenden Personen zu schützen, habe ich mich entschieden, Buchstaben zu verwenden anstatt Namen zu erfinden. So sind die Spuren hoffentlich genügend verwischt und der Bezug bleibt trotzdem gewahrt.
1 z.B. https://literaturkritik.de/id/15167, Anmerkung der Redaktion: Der Essay ist eine gekürzte Fassung von Joachim Pfeiffers Beitrag „Sigmund Freud (1856-1939)“ in: Matias Martinez / Michael Scheffel (Hg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. Verlag C. H. Beck, München 2010. S. 11-32.
2 Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900), Sigmund Freud Studienausgabe Bd. II, Frankfurt am Main, 1972,125.
A
älterer Bruder
C
jüngere Tochter
F
Freund während des Studiums
H
Ehemann
J
ältere Tochter
W
jüngerer Bruder
14. Mai
In den letzten Minuten einer Fortbildung sollen wir auf ein Din A4-Papier an der Wand in einer Ecke des großen Raums einen kurzen Kommentar oder eine Evaluation schreiben. Ich stehe vor dem Blatt und überlege. Mir ist als hätte ich gar kein Recht darauf zu urteilen. Außerdem gibt es Dinge, die die anderen Teilnehmer auf keinen Fall erfahren sollen. Was kann ich also schreiben?
Hinter mir stellen sich immer mehr Menschen an, die darauf warten, dass ich den Platz für sie frei mache. Obwohl ich mich normalerweise unter Zeitdruck schlecht konzentrieren kann, kommt mir die rettende Idee: Ich schreibe eine Frage auf. Als mir dies fehlerlos und ohne Störung gelingt, bin ich sehr erleichtert. Selbstbewusster geworden nehme ich mir noch etwas Zeit, um zu entscheiden, ob ich unterschreiben soll oder nicht. Eigentlich werden Evaluationen ja anonym abgegeben, aber ich setze nun trotzdem mein Kürzel dahinter: Rw. Jeder kennt es. Ich lese noch einmal durch, was ich geschrieben habe und finde, dass ich zu meinem Werk stehen kann.
15. Mai
Ich gehe neben einer ungefähr gleichaltrigen Kollegin. Wir gehören zu einer gemischten Gruppe, die auf dem Rückweg von einem Ausflug einen Zug erreichen muss, der von einem kleinen Bahnhof irgendwo auf dem Land abfährt. Es ist die Endstation einer eingleisigen Strecke. Der Zug wartet schon. Die Waggons stammen aus einer früheren Zeit. Sie sind beige und kantig mit einem gewölbten, überhängenden Blechdach. Obwohl noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt bleiben, drängt meine Kollegin dazu, schon einzusteigen, da der Zug nur zwei Wagen hat.
Drinnen ist es sehr eng. Ich quetsche mich auf einen Platz im Gang. Um bequemer zu sitzen, neige ich meinen Oberkörper nach vorne, komme aber mit dem Kopf gleich an die Plexiglasscheibe des gegenüber liegenden Abteils. Wie um alle Welt sollen die anderen Fahrgäste an uns vorbei und in die Abteile gelangen?
Auf einmal sitze ich in einem geräumigen Abteil am Kopfende eines Tisches in Gesellschaft mehrerer älterer Personen. Auf dem Tisch stehen zwei Kuchen in Kastenform. Der eine ist aufgeschnitten. Zwischen Schichten aus dunklem Rührteig sieht man dicke Schichten von Schokoladencreme. Sie wird mir kühlend auf der Zunge zergehen, wobei sich der bittersüß-schokoladige Kakaogeschmack allmählich über die Geschmacksknospen ausbreitet. Aber es ist noch nicht Zeit, zuzugreifen.
Inzwischen habe ich mich an eine Längsseite des Tisches gesetzt neben einen älteren Mann, mit dem ich seit kurzem zusammen bin. Er erzählt mir von seiner verstorbenen ersten Frau. Ich stelle sie mir jung und sehr schön vor. Umso mehr erschrecke ich, als er mir ein Foto zeigt, auf dem sie mit weißen, dünnen Haaren und einem verwelkten Gesicht zu sehen ist. Sie sieht kränklich und unglücklich aus.
Schnell wechselt er es gegen eines aus, auf dem ihr Gesicht jünger ist. Ihre Haare sind weiß und so dicht und lockig, dass ich mich frage, ob sie in ihrer Jugend vielleicht rot waren. Er habe seine Frau so im Gedächtnis behalten, wie sie als junge Frau war, sagt er. Sicher hat er mein Entsetzen bemerkt und möchte mich beruhigen. Doch ich empfinde auf einmal nichts mehr für ihn und beginne, mich zu fragen, warum ich mich mit ihm eingelassen habe.
Nun sitze ich wieder am Kopf des Tisches, aber der Cremekuchen ist weg, aufgegessen. Man sieht noch seinen Platz auf dem Holzbrett. Seine Form ist durch Krümel angedeutet. Der zweite Kuchen ist nur angeschnitten. Es ist aber ein trockener Kuchen, der mich nicht so anspricht. Daher fällt es mir nicht schwer, nichts von ihm zu nehmen. Wir kommen ja außerdem gleich an.
20. August
Ich bin in meinem Elternhaus in St. Georgen, gebaut 1938 von meinem Opa, und schaue aus dem Fenster über das Brigachtal in Richtung Peterzell. Es ist Sommer. Über mir erstreckt sich ein klarer blauer Himmel, wolkenlos bis zum Horizont. Auf einmal höre ich den dumpfen Knall einer Explosion, spüre ihre Druckwelle, ein Vibrieren der Wände. Das Flugzeug, das über das Haus geflogen war, erscheint nun vor dem Fenster, riesig groß und in leuchtendem Orange und sinkt noch einmal tiefer, der Rumpf, die Flügel, surreal übergroß. Gleich stürzt es in die nächste Häuserreihe in der Friedrich-Ebert-Straße, ein Ball aus Feuer und Trümmern wird alles Umgebende mitreißen und niederbrennen. Vorbei.
Aber das Flugzeug berührt die Gebäude nicht. Es fliegt zwar in geringer Höhe über das Tal weiter, so dass ich kurz erwarte, dass es im Brigachtal notlandet, aber es entfernt sich schnell, wird leiser. Stille tritt ein. Mein Haus, meine Umgebung, meine Welt sind für diesmal unversehrt geblieben.
Ich schwimme in einem Baggersee auf das andere Ufer zu, das in erreichbarer Nähe scheint. Das Wasser ist angenehm mild. Ich spüre wie es an meinem Körper entlanggleitet, mir sanft Widerstand bietet. Dabei fühle ich mich leicht und glücklich.
25. August
Nach einigen Jahren Pause werde ich wieder in den Gemeinderat gewählt. Bei der konstituierenden Sitzung ist der große Saal voll besetzt. Aber statt der erwarteten Zeremonie wird sofort eine Abstimmung angekündigt, ohne dass wir dazu weitere Informationen erhalten. Ich frage die Kolleg*innen um mich herum, um in Erfahrung zu bringen, was genau zur Abstimmung steht, aber vergeblich. Die Situation ist mir extrem unangenehm. Schließlich habe ich das Amt mit den besten Vorsätzen, mich gründlich vorzubereiten, angenommen. So stimme ich weder dafür noch dagegen, und bei den Enthaltungen melde ich mich auch nicht, in der Hoffnung, dass niemand meine Verwirrung bemerkt.
28. August
Ich nehme an einem Workshop teil. Zu den Teilnehmer*innen gehört F. Wir haben die Aufgabe, den Vortrag eines Gedichts oder eines anderen passenden Texts vorzubereiten. Mitten in der Probe erhalte ich die Nachricht, ich sei disqualifiziert. Darüber bin ich sehr enttäuscht und niedergeschlagen. Die genannten Gründe bleiben mir unverständlich. Da sie mir auch nicht näher erklärt werden, lehne ich mich innerlich gegen die Entscheidung auf. Ich bin mir noch immer