Schlafwandeln - Gudrun Rogge-Wiest - E-Book

Schlafwandeln E-Book

Gudrun Rogge-Wiest

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Beschreibung

Schlafwandeln ist eine Sammlung tatsächlich geträumter Träume in Form von kurzen Erzählungen. Sie sind ein Versuch, das Flüchtige und Unheimliche, das Fantastische und das Absurde der nächtlichen Traumwelt einzufangen. Dabei lassen sie die faszinierende Arbeit des Bewusstseins erahnen, das Elemente aus dem wirklichen Leben zum Ausgangspunkt einer Assoziationskette von Bildern macht. Nicht zuletzt durch die mal albtraumhaften, mal humoristischen Wendungen wird Schlafwandeln zur unterhaltsamen Lektüre.

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Für meine Familie

und

für meine Freundin Gudrun

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Mai bis August 2021

Evaluation

In Gesellschaft

Tiefflieger

Ein Bad im See

Gemeinderatssitzung

Ein Workshop

September bis Dezember 2021

Am Bodensee

Schwerkraft

Das Getränk

In der Felswand

Auf Skiern

Das Fagott

Ein Treffen mit einer Freundin

Vorbereitung auf einen Krieg

Chaos

Dunkle Wolken

Betriebsausflug

Chemieunterricht

Im Pool

Das Hotelzimmer

Balkonszene

In der Hölle

Was noch fehlt

Vor Gericht

Das Erbe

Unglück

Verwirrt

Ein Protestmarsch

Januar bis April 2022

Gestrandet

Frühling

Auseinandergefallen

Verloren und wieder Gefunden

Langlaufen im Schwarzwald

In einer Berghütte

In Indien

Hafenmanöver

Bergwanderung

Kommunikation

Vor der Rückreise

Zimmer mit Aussicht

Beim Arzt

Ein Familienfest

Zweifel

Geschenke

Die Lösung

Geburt

Ein sicherer Ort

Vorahnung

Ein Beratungsbesuch

Der Schimmel

Nur ein Traum

Ein Kriminalfall

Shopping

Gottesdienst

Im Café

Eine Begegnung

Verletzt

Zahnpflege

Armer Sascha

Beim Stadtfest

Zugreise

Raserei

Ein Besuch in Norwich

Nach einer Probe

Ein Vorfall im Foyer

Die falsche Zeit

Ein verfängliches Foto

Hungrig

Ein Spektakel

In Spanien

Der Berechtigungsschein

Schuldgefühle

Putzaktion

Ein Ende

Sonntag

Durchwachte Nacht

Ein geheimnisvolles Auto

Englischunterricht

Das passende Outfit

Plötzlicher Tod

Anruf zu Hause

Zwischenmahlzeit

Wiedersehen

Segeln

Aktivistin

Beim Bäcker

Hintendran

Nonnen

Urlaubspläne

Wer ist zuständig?

Ein steiler Berg

Das richtige Medikament

Vor dem Pferderennen

Matheabitur

Ende des Sommers

Bruder und Schwester

In der Spielzeugabteilung

Tag der offenen Tür

Trauerfeier

Das Klohäuschen

Ausgeschlossen

Frühstück im Jugendhaus

Geschlossen

Ein Brief

Mai bis August 2022

Eine Busfahrt

Am Tag der Prüfung

In der Bibliothek

Ein neuer Anfang

Inspektion

Der Riss

Geschichte

Geburtstag

Musik hören

Familienleben

In einer Sommernacht im Wald

Stromausfall

Spät dran

Erfolgserlebnis

Johannisbeerkuchen

Nach dem Skifahren

Jahrgangstreffen

Blut

Das blau-weiße Buch

Das Findelkind

Die Frage

Veränderung

Kein Umweg

Die Modelleisenbahn

Die Pflanze

Gefahr

Zurückgelassen

Die Zecke

Abrechnung

Ein Unfall

Krokodile

Das Bücherregal

Auf einem Bauernhof

Nachwort

Vorwort

Über ein Jahr lang, von Mai 2021 bis August 2022 habe ich von meinen nächtlichen Träumen das in Worte gefasst, was beim morgendlichen Erwachen davon übrig war. Gleich nach dem Aufstehen setzte ich mich an den Schreibtisch, manchmal schrieb ich auch im Bett. Dabei kämpfte ich gegen die Auflösung zunächst noch scharf erscheinender Bilder. Während beim Versuch der verbalen Repräsentation ausgewählte Bildelemente in den Fokus kamen, verschwammen andere gleichzeitig oder verschwanden ganz. Obwohl seit dem Muttertag 2021 ein Traumfänger über meinem Bett hängt, ein Geschenk meiner älteren Tochter, musste ich mich weiter mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Immer wieder erlebte ich, dass ein zunächst reichhaltig erscheinender Traum durch eine diffuse Erinnerung nur unvollständig festgehalten werden konnte.

In Träumen ist manchmal mehr los als im wirklichen Leben. Sie sind faszinierend, weil sie latente Zusammenhänge und Befindlichkeiten freilegen können. Beim Schreiben bemühte ich mich, Geschehnisse und Empfindungen möglichst genau zu beschreiben und darzustellen, um die Traumwelt in der Vorstellung der Lesenden zum Leben erwecken zu können. Dabei werde ich, das Subjekt der Traumwirklichkeit, zur nicht mit der Autorin identischen Ich-Erzählerin.

Nach Sigmund Freud ist ein Traum, der manifeste Trauminhalt, das Resultat von Prozessen der Verdichtung und Verschiebung und darin vergleichbar mit literarischen Texten, mit Dichtung.1 Beim Träumen greift der Verstand nicht ein. Nicht Zusammenhängendes steht unvermittelt nebeneinander. Die Handlung kann ins Absurde kippen oder geht ins Fantastische und Übernatürliche über. Es kommt vor, dass eine Figur vermeintlich eine bestimmte Person darstellt, sich dann aber tatsächlich als eine andere erweist.

Dass das Erzähler-Ich von einem Traum zum anderen zwischen verschiedenen Lebensaltern wechselt, könnte verwirrend sein. Ich habe aber von einer Umstrukturierung abgesehen, da ich die für die chronologische Anordnung charakteristische, beliebige Aneinanderreihung von Szenen beibehalten wollte. So entstand im Lauf von über einem Jahr eine Sammlung von Kurzprosatexten mit anekdotischem Charakter.

Mir geht es ähnlich wie Freud, der sein Unbehagen davor, der Öffentlichkeit Einblick in die eigene Seele zu geben, mit den folgenden Worten zum Ausdruck brachte:

Man hat eine begreifliche Scheu, soviel Intimes aus seinem Seelenleben preiszugeben, weiß sich dabei auch nicht gesichert vor der Mißdeutung der Fremden. Aber darüber muß man sich hinwegsetzen können.2

Im Unterschied zu Freud ist es nicht mein Ziel, die Träume zu analysieren. Natürlich erzählen sie über meine Erfahrungen. Sie decken ein erstaunlich großes Spektrum an Lebensbereichen ab, und gelegentlich scheinen aktuelle Themen auf. Manchmal stammt das Material aus viel früheren Lebensphasen. Die Ich-Erzählerin kann einmal eine Studentin, ein anderes Mal eine junge oder eine ältere Erwachsene sein.

Die Scheu davor, die Traumerzählungen einem Lesepublikum zugänglich zu machen, wird weniger durch die Inhalte an sich hervorgerufen, denn die Träume sind ja, ähnlich wie fiktionale Texte, kein Abbild der Wirklichkeit, sondern nehmen nur indirekt Bezug auf sie. Nichts ist so geschehen, wie es in den Träumen erscheint, die Charaktere sind nicht identisch mit den Personen und dennoch reflektieren sie auch das, was mich geprägt hat und beschäftigt.

Mehr Kopfzerbrechen bereiteten mir die Charaktere, die Familienmitgliedern, Freund*innen und Kolleg*innen entsprechen. Die Erzählungen können durchaus von Aspekten der tatsächlich bestehenden Beziehungen handeln. Deshalb kann ich für sie nicht guten Gewissens die übliche Formel Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt verwenden. Dennoch besteht häufig eine Distanz zu den wahren Personen. Die Charaktere kommen meist mit einzelnen Eigenschaften und Verhaltensweisen vor, nicht als Individuen. Manchmal treten sie sogar nur als Anwesende auf.

Um die Privatsphäre der vorkommenden Personen zu schützen, habe ich mich entschieden, Buchstaben zu verwenden anstatt Namen zu erfinden. So sind die Spuren hoffentlich genügend verwischt und der Bezug bleibt trotzdem gewahrt.

1 z.B. https://literaturkritik.de/id/15167, Anmerkung der Redaktion: Der Essay ist eine gekürzte Fassung von Joachim Pfeiffers Beitrag „Sigmund Freud (1856-1939)“ in: Matias Martinez / Michael Scheffel (Hg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. Verlag C. H. Beck, München 2010. S. 11-32.

2 Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900), Sigmund Freud Studienausgabe Bd. II, Frankfurt am Main, 1972,125.

Liste häufig vorkommender Charaktere

A

älterer Bruder

C

jüngere Tochter

F

Freund während des Studiums

H

Ehemann

J

ältere Tochter

W

jüngerer Bruder

Mai bis August 2021

Evaluation

14. Mai

In den letzten Minuten einer Fortbildung sollen wir auf ein Din A4-Papier an der Wand in einer Ecke des großen Raums einen kurzen Kommentar oder eine Evaluation schreiben. Ich stehe vor dem Blatt und überlege. Mir ist als hätte ich gar kein Recht darauf zu urteilen. Außerdem gibt es Dinge, die die anderen Teilnehmer auf keinen Fall erfahren sollen. Was kann ich also schreiben?

Hinter mir stellen sich immer mehr Menschen an, die darauf warten, dass ich den Platz für sie frei mache. Obwohl ich mich normalerweise unter Zeitdruck schlecht konzentrieren kann, kommt mir die rettende Idee: Ich schreibe eine Frage auf. Als mir dies fehlerlos und ohne Störung gelingt, bin ich sehr erleichtert. Selbstbewusster geworden nehme ich mir noch etwas Zeit, um zu entscheiden, ob ich unterschreiben soll oder nicht. Eigentlich werden Evaluationen ja anonym abgegeben, aber ich setze nun trotzdem mein Kürzel dahinter: Rw. Jeder kennt es. Ich lese noch einmal durch, was ich geschrieben habe und finde, dass ich zu meinem Werk stehen kann.

In Gesellschaft

15. Mai

Ich gehe neben einer ungefähr gleichaltrigen Kollegin. Wir gehören zu einer gemischten Gruppe, die auf dem Rückweg von einem Ausflug einen Zug erreichen muss, der von einem kleinen Bahnhof irgendwo auf dem Land abfährt. Es ist die Endstation einer eingleisigen Strecke. Der Zug wartet schon. Die Waggons stammen aus einer früheren Zeit. Sie sind beige und kantig mit einem gewölbten, überhängenden Blechdach. Obwohl noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt bleiben, drängt meine Kollegin dazu, schon einzusteigen, da der Zug nur zwei Wagen hat.

Drinnen ist es sehr eng. Ich quetsche mich auf einen Platz im Gang. Um bequemer zu sitzen, neige ich meinen Oberkörper nach vorne, komme aber mit dem Kopf gleich an die Plexiglasscheibe des gegenüber liegenden Abteils. Wie um alle Welt sollen die anderen Fahrgäste an uns vorbei und in die Abteile gelangen?

Auf einmal sitze ich in einem geräumigen Abteil am Kopfende eines Tisches in Gesellschaft mehrerer älterer Personen. Auf dem Tisch stehen zwei Kuchen in Kastenform. Der eine ist aufgeschnitten. Zwischen Schichten aus dunklem Rührteig sieht man dicke Schichten von Schokoladencreme. Sie wird mir kühlend auf der Zunge zergehen, wobei sich der bittersüß-schokoladige Kakaogeschmack allmählich über die Geschmacksknospen ausbreitet. Aber es ist noch nicht Zeit, zuzugreifen.

Inzwischen habe ich mich an eine Längsseite des Tisches gesetzt neben einen älteren Mann, mit dem ich seit kurzem zusammen bin. Er erzählt mir von seiner verstorbenen ersten Frau. Ich stelle sie mir jung und sehr schön vor. Umso mehr erschrecke ich, als er mir ein Foto zeigt, auf dem sie mit weißen, dünnen Haaren und einem verwelkten Gesicht zu sehen ist. Sie sieht kränklich und unglücklich aus.

Schnell wechselt er es gegen eines aus, auf dem ihr Gesicht jünger ist. Ihre Haare sind weiß und so dicht und lockig, dass ich mich frage, ob sie in ihrer Jugend vielleicht rot waren. Er habe seine Frau so im Gedächtnis behalten, wie sie als junge Frau war, sagt er. Sicher hat er mein Entsetzen bemerkt und möchte mich beruhigen. Doch ich empfinde auf einmal nichts mehr für ihn und beginne, mich zu fragen, warum ich mich mit ihm eingelassen habe.

Nun sitze ich wieder am Kopf des Tisches, aber der Cremekuchen ist weg, aufgegessen. Man sieht noch seinen Platz auf dem Holzbrett. Seine Form ist durch Krümel angedeutet. Der zweite Kuchen ist nur angeschnitten. Es ist aber ein trockener Kuchen, der mich nicht so anspricht. Daher fällt es mir nicht schwer, nichts von ihm zu nehmen. Wir kommen ja außerdem gleich an.

Tiefflieger

20. August

Ich bin in meinem Elternhaus in St. Georgen, gebaut 1938 von meinem Opa, und schaue aus dem Fenster über das Brigachtal in Richtung Peterzell. Es ist Sommer. Über mir erstreckt sich ein klarer blauer Himmel, wolkenlos bis zum Horizont. Auf einmal höre ich den dumpfen Knall einer Explosion, spüre ihre Druckwelle, ein Vibrieren der Wände. Das Flugzeug, das über das Haus geflogen war, erscheint nun vor dem Fenster, riesig groß und in leuchtendem Orange und sinkt noch einmal tiefer, der Rumpf, die Flügel, surreal übergroß. Gleich stürzt es in die nächste Häuserreihe in der Friedrich-Ebert-Straße, ein Ball aus Feuer und Trümmern wird alles Umgebende mitreißen und niederbrennen. Vorbei.

Aber das Flugzeug berührt die Gebäude nicht. Es fliegt zwar in geringer Höhe über das Tal weiter, so dass ich kurz erwarte, dass es im Brigachtal notlandet, aber es entfernt sich schnell, wird leiser. Stille tritt ein. Mein Haus, meine Umgebung, meine Welt sind für diesmal unversehrt geblieben.

Ein Bad im See

Ich schwimme in einem Baggersee auf das andere Ufer zu, das in erreichbarer Nähe scheint. Das Wasser ist angenehm mild. Ich spüre wie es an meinem Körper entlanggleitet, mir sanft Widerstand bietet. Dabei fühle ich mich leicht und glücklich.

Gemeinderatssitzung

25. August

Nach einigen Jahren Pause werde ich wieder in den Gemeinderat gewählt. Bei der konstituierenden Sitzung ist der große Saal voll besetzt. Aber statt der erwarteten Zeremonie wird sofort eine Abstimmung angekündigt, ohne dass wir dazu weitere Informationen erhalten. Ich frage die Kolleg*innen um mich herum, um in Erfahrung zu bringen, was genau zur Abstimmung steht, aber vergeblich. Die Situation ist mir extrem unangenehm. Schließlich habe ich das Amt mit den besten Vorsätzen, mich gründlich vorzubereiten, angenommen. So stimme ich weder dafür noch dagegen, und bei den Enthaltungen melde ich mich auch nicht, in der Hoffnung, dass niemand meine Verwirrung bemerkt.

Ein Workshop

28. August

Ich nehme an einem Workshop teil. Zu den Teilnehmer*innen gehört F. Wir haben die Aufgabe, den Vortrag eines Gedichts oder eines anderen passenden Texts vorzubereiten. Mitten in der Probe erhalte ich die Nachricht, ich sei disqualifiziert. Darüber bin ich sehr enttäuscht und niedergeschlagen. Die genannten Gründe bleiben mir unverständlich. Da sie mir auch nicht näher erklärt werden, lehne ich mich innerlich gegen die Entscheidung auf. Ich bin mir noch immer