Schlagwetter - Mike Steinhausen - E-Book

Schlagwetter E-Book

Mike Steinhausen

4,9

Beschreibung

Im Essener Norden fallen Sperlinge tot vom Himmel. Kurz darauf sackt eine Straße ein. Während die Behörden eine Schlagwetterexplosion vermuten, gerät der Ex-Bulle Robert Kettner nach einer zufälligen Begegnung ins Visier russischer Agenten. Unter Mordverdacht stehend, gejagt vom Feind und der Polizei, führen ihn seine Ermittlungen auf die Spur eines perfiden Plans:. Ein Attentat auf die Zeche Zollverein.

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Mike Steinhausen

Schlagwetter

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © pottworks / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4520-0

Gedicht

Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt.

|: Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, :|

|: schon angezündt’ :|

(Steigerlied, 1. Strophe)

1. Kapitel

Die Luft war erfüllt von dem Zwitschern der Sperlinge, den Geringsten unter den Vögeln. Die Morgensonne kletterte die roten Backsteinziegel der alten Waschkaue empor und warf ihre wärmenden Strahlen auf das grau-braune Federkleid des kleinen unscheinbaren Vogels, der auf einem Sims sitzend mit heiserer Kehle die Aufmerksamkeit seiner Artgenossen forderte. Diese erhoben sich mit hektischen Flügelschlägen, um sich einen Augenblick später als eine lärmende Wolke auf der staubigen Fläche vor dem Gebäude niederzulassen.

Der zierliche Vogel legte seinen Kopf zur Seite, hüpfte nervös mit durchgestreckten Beinen vor der Mauernische auf und ab und folgte mit seinen dunklen Augen dem erneut aufsteigenden, wild umherflatternden Schwarm, der einer unsichtbaren Kraft folgend in einer wellenförmigen Bewegung emporstieg. Der Sperling breitete die Flügel aus, ließ sich fallen und flog dem Schwarm nach, dessen Anziehung einer unerklärbaren Gravitationskraft glich, die jedes Individuum mitriss und zu einem Bestandteil eines Kollektivs werden ließ.

Wie zufällig änderte die Formation ihre Richtung. Die Vögel flogen höher, wendeten, steuerten zurück zu der Kaue, Brutstätte unzähliger Generationen, um sich abrupt auf das Brachgelände der Zeche auszurichten. Deren spärliche Vegetation bildete die Nahrungsgrundlage für die Jungtiere, die in den Nestern in den Spalten der Zechenmauern hungrig warteten.

Der Schwarm ging nieder, erfüllte das Brachland mit den charakteristischen Lauten aus hunderten Kehlen und tauchte ein in das hohe Wildgras.

Der Sperling folgte dem Schwarm, setzte sich auf einen Birkenzweig, betrachtete das Treiben unter sich, suchte mit hektischen Kopfbewegungen nach verräterischen Schatten am Himmel, um anschließend mit wenigen Flügelschlägen die Distanz zu überwinden, die ihn von den unzähligen Grassamen trennte.

Wäre der Schwarm schlagartig aufgestiegen, hätte der Sperling die warnenden Rufe seiner gefiederten Artgenossen vernommen, er wäre umgekehrt. Hätte Schutz in der Flucht oder im angrenzenden Dickicht gesucht. Aber sein Instinkt konnte mit der plötzlichen Ruhe unter ihm nichts anfangen, verstand die Signale der zuckenden, krampfenden Körper nicht.

Dem simplen Reiz des sich im Wind biegenden Grases folgend, steuerte er auf den Boden zu. Die fehlende Thermik verwandelte seine Landung in einen Sturz. Das Herz, welches mit über 200 Schlägen in der Minute eine immense Menge an Sauerstoff für seine großen Brustmuskel forderte, verweigerte seinen Dienst, erhielt keine eindeutigen Anweisungen mehr von dem vegetativen Nervensystem, dessen Synapsen ihre Informationen zu wirren und ungeordneten Befehlen verwandelten. Seine Muskulatur entzog sich jeglicher Kontrolle, der Sperling warf seinen Kopf in den Nacken, sein gesamter Körper zuckte heftig, bis seine Gliedmaßen erschlafften. Sein Kopf löste sich aus der Verkrampfung und kippte zur Seite. In leichten Böen fuhr der Wind über das Federkleid der toten Sperlinge, richtete es auf und ließ es sanft im Takt der Halme tanzen.

*

Es kündigte sich nicht an. Kein verräterisches Beben. Kein Zittern des Mobiliars mit tanzenden Tassen und Tellern. Keine Haustiere, die einer nicht erklärbaren, ja mitunter als unheimlich zu bezeichnenden Eingebung folgend Schutz suchten. Dem dunklen Grollen folgte ein dumpfer Knall, der unzählige Tonnen Gestein anhob und Richtung Oberfläche drückte. Die Asphaltdecke riss auf. Ihre spröde Konsistenz glich einer dünnen Haut, die unter dem enormen Druck aufplatzte. Felsbrocken schleuderten wie Geschosse durch die Luft und durchschlugen die Außenmauern der angrenzenden Häuser wie Pergamentpapier. Fensterscheiben prasselten in einem klirrenden Scherbenregen auf die Straße und Dachpfannen fielen mit ungeheurer Wucht auf parkende Autos herab. Die gewaltige Kraft hob mühelos einen Lkw an, ließ ihn zur Seite kippen.

Dann sackte die Erde ein. Die Bruchkante dehnte sich wie eine Tsunamiwelle rasend schnell in alle Richtungen aus. Wie ein schwarzes Loch sog der aufgetane Schlund alles um sich herum auf. Der Lkw, zu einem Spielzeug degradiert, fiel mit dem Führerhaus in den Krater, der so tief war, dass von ihm nicht viel mehr als ein Teil des Hecks in einer undurchsichtigen Wolke schweren Staubes zu erkennen war. Die Ruhe, die folgte, wurde nur unterbrochen von dem hohen Ton einer Alarmanlage und dem Plätschern des Wassers eines zerborstenen Hydranten. Wenige Minuten später war die Luft erfüllt von dem Geräusch unzähliger Martinshörner der Rettungskräfte.

2. Kapitel

Der junge Mann saß auf seinem Motorrad, die Hände auf dem Tank gefaltet, und beobachtete die Straße. Es war eine dieser japanischen Geländemaschinen, eine Enduro, mattschwarz lackiert, mit hoch aufragender Sitzbank, verkratzten Schutzkappen an den Griffstücken und dem typischen Reifenprofil eines Offroaders. Der verrostete Auspuff und die schäbigen Felgen ließen unschwer erkennen, dass der Besitzer dieses Zweirades es in erster Linie als Gebrauchsgegenstand betrachtete und nicht die Leidenschaft vieler Biker teilte, deren auf Hochglanz polierte Liebhaberstücke zu Saisonbeginn um die Wette strahlten. Während seine Augen hektisch über die bewegte Hauptstraße blickten, verhärmten sich seine noch jungen Gesichtszüge. Verdammter Dreckskerl, dachte er. Als er vor einigen Tagen den Tipp bekommen hatte, war er voller Zweifel, die nun einer unerschütterlichen Gewissheit gewichen waren. Schon bald, da war er sich sicher, würde er seine Chance erhalten. Gnade ihm Gott. All seine Macht, sein Einfluss … man würde ihn fallen lassen wie die sprichwörtlich heiße Kartoffel. Noch saß er zu fest im Sattel, aber das würde sich in naher Zukunft ändern. In Kürze würde er die notwendigen Beweise vorlegen, daran bestand kein Zweifel. Vorher galt es, sich in Zurückhaltung zu üben.

Eine Zeit lang stand die Limousine eines deutschen Premiumherstellers auf der Straße vor dem Gehweg des freistehenden Gründerzeit-Hauses. In anderen Vororten wäre es mit seiner beinahe herrschaftlichen Fassade sicher aufgefallen, im Stadtteil Essen-Bredeney war es eines von vielen. Seit nunmehr einer Stunde harrte er auf seinem Beobachtungsposten aus und jede Bewegung hinter den Gardinen hatte zu einer beschleunigten Pulsfrequenz geführt, wobei er selbst nicht einzuschätzen vermochte, ob diese Emotion einem Jagdtrieb oder vielleicht doch einer Art Lampenfieber zuzuschreiben war.

Plötzlich erschien ein Mann an einem Fenster im Dachgeschoss des dreistöckigen Hauses und blickte für einen flüchtigen Moment auf die Straße. Der Motorradfahrer hob seine digitale Spiegelreflexkamera an und schoss wie ein Maschinengewehrschütze eine Salve Bilder. Wenige Minuten später öffnete sich die Haustür und für einen Augenblick war der Mann zu sehen, den er zu Fall bringen würde. Nochmals fertigte der Biker einige Fotos und setzte anschließend seinen Helm auf. Er klappte das Visier herunter, drehte den Zündschlüssel um, betätigte den Anlasser und trat mit der Spitze seines Stiefels auf das Pedal. Sogleich teilte ihm das Getriebe mit einem Geräusch mit, dass der Gang eingelegt war. Sekunden später fuhr er von dem Parkplatz, von dem aus er die Szene beobachtet hatte, und folgte dem Audi A 6 in Richtung Norden.

*

Der Wagen fuhr jenseits der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, wenn der Verkehrsfluss es zuließ. Der Kradfahrer hatte Mühe dranzubleiben, da sich immer wieder Autos zwischen ihn und das Zielfahrzeug drängten. Der junge Mann wusste, die Distanz durfte nicht zu gering, gleichzeitig nicht zu groß sein, was in Anbetracht der vielen Ampeln im Innenstadtbereich, dem sie sich stetig näherten, nicht einfach war. Mehr als einmal musste er sich zwischen anderen Pkw hindurchschlängeln, um den Anschluss nicht zu verlieren, immer darauf bedacht, nicht aufzufallen. Der Wagen passierte den Hauptbahnhof, fuhr anschließend am neuen Einkaufscenter des Limbecker Platzes vorbei und bog an der nächsten Kreuzung nach rechts in Fahrtrichtung Bottrop ab. Eine Zeit lang folgte er dem Straßenverlauf, bis der Audi den Blinker setzte und rechts in eine Nebenstraße bog. Auf der linken Seite tauchten unzählige Lagerhallen und Firmengelände auf, die sichtgeschützt hinter hohen Zäunen und Mauern lagen und alles andere als den Anschein von Seriosität vermittelten. Es war – auf den Punkt gebracht – eine Drecksgegend. Der Endurofahrer hielt in einiger Entfernung und sah der Luxuskarosse nach, wie sie durch ein breites Tor auf einem nicht einsehbaren Bereich dahinter verschwand. Der Mann stellte seine Maschine auf den Seitenständer, streifte seinen Helm vom Kopf, hängte ihn einfach an den Lenker, nahm anschließend seinen Rucksack ab und schritt langsam auf das Gelände zu. Eines war gewiss: Dies war nicht der Ort, wo man sich traf, um rechtschaffene Geschäfte zu tätigen. Aber egal, was sich auf dem Areal hinter diesem Zaun zutrug, er würde es herausfinden.

Verdammter Dreckskerl …

*

»Wissen Sie, was das Schlimmste am Altern ist? Ich will es Ihnen sagen. Nicht die körperlichen Beschwerden. All die Krankheiten, die zu einem festen Bestandteil des Lebens werden, wobei man sich gedanklich mit nichts anderem mehr zu beschäftigen scheint. Das ist es nicht. Es ist die Art, wie man behandelt wird. Stück für Stück, scheibchenweise wird man entmündigt. Man redet mit dir, aber es ist im Grunde genommen oberflächliches Geschwätz. Man spricht mit dir, weil es sich so gehört. Weil der Anstand es gebietet und man ein freundliches Gesicht aufsetzt, wenn ein alter Trottel meint, etwas sagen zu müssen. Dieser Tonfall. Dieser Ausdruck ist es, was so widerlich ist. Es steigert sich bis hin zu diesem Gebrabbel, welches man benutzt, wenn man mit einem Kleinkind redet. Der Begriff Altwerden verkommt zu einem stigmatisierten Etikett. Zu einem Sinnbild für eine global auszugrenzende Erkrankung, welche ihre Finger nach uns ausstreckt und auch uns beide schon bald einholen wird.«

Der andere Mann trug einen feinen Anzug, hatte die Hände in den Manteltaschen und sah sich in aller Ruhe in der Fabrikhalle um, als wäre sein Gegenüber, das mit ihm sprach, nicht existent. Er war ein teures Stück, dieser Mantel. Ein schwerer, dicht gewebter dunkler Stoff, dessen Qualität deutlich erkennbar war. Wie die auf Hochglanz polierten Schuhe aus schwarzem Glattleder.

Das Dach des Gebäudes wies großflächige Löcher auf, sodass das Licht der Morgensonne ins Innere drang. Er roch diese modrige Luft, diese Komposition aus Staub, Schimmelpilzen und rostigem Metall, wobei er leicht angewidert das Gesicht verzog, als hätte er Angst, dieser Geruch könnte sich in seine Kleidung fressen. Von irgendwoher vernahm er das leise Gurren einer Taube und das hektische Flattern ihrer Flügel. Seine Augen wanderten zu den unzähligen Graffiti an den Hallenwänden, vornehmlich in silberner und schwarzer Farbe, die in ihrer eigenen, codierten Sprache verfasst waren, stiegen auf zu den Resten der Fabriklampen und betrachteten die Spinnenfäden daran, die unter der Last des Staubes wie schlaffe Seile durchhingen. Dann wandte er sich wieder seinem Gegenüber zu, blickte vorbei an den vier Männern, die zu dessen Schutz da waren und die sich trotz ihrer Präsenz im Hintergrund hielten, darauf bedacht, die beiden nicht zu stören. Der Mann nahm die Hände für einen Augenblick aus den Taschen und zog den Kragen seines Mantels enger.

»Bedauerlich. Aber das wird wohl kaum der Grund sein, warum Sie mich erpressen.«

Der andere lachte laut auf und die helle und aggressiv klingende Lautäußerung brach sich an den Wänden wider. Er lief einige Schritte vor dem Mann auf und ab, und trotz der steifen Bewegungen war die einstige Geschmeidigkeit in seinem Gang noch zu erahnen.

»Erpressen? Ich bitte Sie. Das hört sich so … kriminell an. Ich betrachte mich mehr als Kaufmann. Ich biete eine Ware an und sollte mein Geschäftspartner kein Interesse haben, wende ich mich einem anderen Kunden zu. Das nennt man freie Marktwirtschaft. Wie lange haben wir uns jetzt nicht gesehen, mein lieber Andrej Malinkow? 25 Jahre? Bestimmt. Eine Ewigkeit, wie mir scheint. Wir sind beide alt geworden.«

»Lassen wir das«, sagte Malinkow, trat einige Schritte auf seinen Gesprächspartner zu und blickte diesen durch die randlosen Gläser seiner entspiegelten Gleitsichtbrille hinweg an. Er griff in die rechte Außentasche seines Mantels und holte eine Packung Zigaretten sowie ein edles Dupont-Feuerzeug hervor. Gekonnt schnippte er mit den Fingern gegen den metallenen, gravurverzierten Deckel, der sofort aufsprang. Mit dem Auflodern der Flamme breitete sich der Geruch von Feuerzeugbenzin aus, der sich mit dem des Zigarettenrauchs vermischte und das Eau de Toilette verdrängte, das ihn umgab.

»Sehen Sie es mir nach. Manchmal habe ich das Gefühl, ich werde auf meine alten Tage hin sentimental«, sagte der andere.

»Warum, glauben Sie, sollte mich Ihre … Ware interessieren?«, fragte Malinkow.

»Weil es ein Geschäft ist, von dem wir beide profitieren.«

»Wir beide, oder in erster Linie Sie?«, fragte Andrej Malinkow, wobei er auf die Spitze seiner Zigarette pustete und die hellrote Glut betrachtete, von der sich einzelne Aschepartikel lösten.

»Ich bin überzeugt, Sie werden dieses Angebot nicht ablehnen«, fuhr der andere fort. Er griff in die Innentasche seiner Lederjacke, während er den Mann vor sich weiter fixierte. Seine blutunterlaufenen Augen wirkten argwöhnisch und die Kälte in seinem Blick war fast spürbar. Sein Gesicht wirkte unnatürlich blass. Es war nicht zu sagen, ob sein Zustand auf Schlafmangel oder eine Erkrankung zurückzuführen war. Sein Äußeres stand in einem krassen Widerspruch zu dem seines Gesprächspartners, dessen Haar dicht, voll und offensichtlich gefärbt war und neben der maßgeschneiderten Kleidung seinen Hang zur Eitelkeit unterstrich.

Langsam zog der Mann einen braunen Umschlag hervor, den er seinem Gegenüber hinhielt. Der Mann in dem feinen Anzug nahm das Kuvert, öffnete die Lasche, die nur eingesteckt war, zog den Inhalt hervor und begutachtete ihn kurz.

»Sie sind ein mieses Stück Scheiße!«, sagte er sodann und sah den anderen mit unverhohlener Verachtung an, während er den Zigarettenstummel wegschnippte.

»Nicht doch«, sagte Malinkows Gegenüber und hob in einer fast theatralisch wirkenden Geste beschwichtigend die Hände. »Ein Mann wie Sie sollte stets die Contenance wahren. Verurteilen Sie mich bitte nicht dafür, meinem Weg treu geblieben zu sein, obwohl sich Ihre Einstellung offenkundig geändert hat. Aus welchen Beweggründen auch immer.« Er griff erneut in die Innentasche seiner Jacke. »Hier. Nehmen Sie das.«

Der Anzugträger streckte langsam den Arm vor, als gelte es, eine schwere Last zu heben. Für einen Moment verharrten seine Finger unter dem Papier, bis er den Umschlag an sich riss, die Lasche öffnete und die beschrifteten Seiten herauszog.

»Sie haben exakt 72 Stunden«, sagte der Mann in der beigen Lederjacke.

Der feine Herr betrachtete ihn genau. Anschließend schob er die Dokumente zurück in den Umschlag und ließ sie im Innern seines Mantels verschwinden.

»Merken Sie sich eins, Malinkow. In genau 72 Stunden enden unsere geschäftlichen Beziehungen. Ich werde mich nun zurückziehen. Seien Sie sich sicher, ich habe ausreichend Vorsorge für den Fall getroffen, sollten Sie versuchen, mich hinters Licht zu führen.«

»Wer gibt mir die Garantie …?«

»Es gibt nur eine einzige Garantie!«, unterbrach ihn der Mann in der beigen Lederjacke.

»Die einzige Garantie, die Sie haben, ist die, bei der Ablehnung einer Zusammenarbeit die Konsequenzen tragen zu müssen.«

*

Das Gelände hinter den Mauern und Zäunen hatte man in viele unterschiedliche Parzellen aufgeteilt, die mit Holzzäunen, Blech, Kunststoffplatten oder anderen Materialien voneinander getrennt waren. Die Anzahl der Grundstücke und Lauben konnte der Motorradfahrer nicht annähernd erahnen, trotzdem hatte ihn die Weitläufigkeit dieses Gebietes überrascht. Die Limousine stand vor einer heruntergekommenen Werkshalle. Von dem Fahrer fehlte jede Spur. Der Kradfahrer lief geduckt zur linken Seite der Halle. Sie glich einer Ruine, deren von Brombeerhecken und dünnen Birken umgebene Stahlkonstruktion sich verzweifelt gegen den Verfall aufbäumte. Die Zufahrtstraße bestand aus alten Pflastersteinen, die irgendwann mit einer Asphaltdecke überzogen worden und nun großflächig aufgerissen war. Das Regenwasser der vergangenen Tage sammelte sich in schmutzigen Pfützen. Hinter der Halle erkannte er einige ausgeschlachtete Fahrzeuge, deren Einzelteile man wahrscheinlich in Containern Richtung Afrika verschifft hatte, einen Berg an Altreifen sowie einen alten Tankzug. Der junge Mann hatte ein ungutes Gefühl, als er sich näherte. Schon mehrfach war es ihm in den Sinn gekommen, sich durch seine Ermittlungen in Gefahr zu bringen. Aber es war doch etwas anderes, sich eine solche Szene auszumalen, als sie tatsächlich zu durchleben. Seine Atmung wollte sich seiner Kontrolle entziehen, als er sich der verrosteten Stahltür an der Gebäudeseite näherte. Er spürte sein Herz bis zum Hals pochen. Die Tür, deren grauer Lack abblätterte, stand einen Spaltbreit offen und war anscheinend seit Jahren nicht mehr bewegt worden, wie das Unkraut davor zeigte.

Vorsichtig streckte er den Oberkörper durch die Öffnung, um einen flüchtigen Blick in das Gebäude zu werfen. Anders als erwartet, führte der Zugang zu einem Vorraum, dessen ehemalige großflächige Fensterfront schon vor langer Zeit den Witterungseinflüssen oder der Zerstörungswut irgendwelcher Jugendlicher zum Opfer gefallen war. Als er gänzlich durch die Tür geschritten war, hörte er Stimmen. Der Dreck unter dem Grobprofil seiner Kradstiefel knirschte aufdringlich. Sofort verharrte er in der Bewegung und lauschte in den unbekannten Raum vor sich. Er schlich behutsam zu einer der Zwischenwände und spähte durch den glaslosen Fensterrahmen in das Innere der Halle, wo er zwei Männer erkannte, von denen er einen zuvor noch nie gesehen hatte. Vorsichtig öffnete er seinen Rucksack und entnahm seinen Fotoapparat. Er zoomte die beiden Personen heran, betrachtete sie durch den Sucher und schoss einige Bilder. Der Unbekannte reichte dem Fahrer des Audis einen DIN-A4-Umschlag. Nachdem die beiden Personen einige Worte gewechselt hatten, trennten sie sich.

Der Motorradfahrer nahm seine Kamera. »Bald hab ich dich, und dann bist du dran«, sagte er zu sich.

*

Das Wetter an diesem Maitag war sogar für deutsche Verhältnisse gut. Trotzdem vermochte der blaue Himmel an diesem Morgen die Laune von Robert Kettner, alias Steiger, nicht zu heben. Vielleicht lag es an dem Grau der zurückliegenden Monate, das noch nicht aus seinem Gemüt wollte. Viel wahrscheinlicher war der Grund, dass in den vergangenen Wochen offensichtlich niemand ein aufrichtiges Interesse daran gehabt hatte, ihm einen Fall anzuvertrauen. Und einen solchen brauchte er dringend, denn um seine Finanzen stand es nicht besonders gut. Steiger blickte durch das Fenster seines Arbeitszimmers nach oben, als ob ihm das Blau des Himmels erst jetzt auffiel. Er hörte auf zu treten, stieg von dem Ergometer und wischte sich auf dem Weg zum Badezimmer mit seinem Handtuch die Stirn und den Nacken ab. Sein Backenzahn pochte unangenehm. Er würde um einen Arzttermin nicht mehr lange herumkommen. Steiger stellte sich vor das Waschbecken, nahm seine elektrische Zahnbürste und gab einen Tropfen der weißen Paste auf die ausgefransten Kunststoffborsten. Während der Rotationskopf seinen Dienst tat, betrachtete er sich im Spiegel. Er musste sich eingestehen, der Typ, der ihm entgegenstarrte, entsprach genau dem Bild, das die gängige Trivialliteratur und all die B-Movies von einem Privatschnüffler zeichneten. Ein abgefuckter Versager mit Falten, die ihm wie die Jahresringe eines Baumes für immer ins Gesicht gemeißelt waren. Eine Falte für jede Sauftour und jede filtertlose Kippe. Er war geschieden, denn es gehörte sich für einen langgedienten Polizisten, Ex-Polizisten, auf eine gescheiterte Ehe zurückzublicken, ja man erwartete es irgendwie sogar. Ein Typ, ständig auf der Suche nach einer Beziehung, die ihm zumindest ein Minimum an seelischem Halt bot, einen Sinn gab, um ihn letztendlich immer wieder in die Arme irgendeiner vom Leben enttäuschten Mittvierzigerin zu treiben. Die ihm, sich wie eine Ertrinkende an den sprichwörtlichen Strohhalm klammernd, jede seiner Missetaten verzieh, nur um sich der Illusion einer gemeinsamen Zukunft hinzugeben. Steiger musste einsehen, diesem Klischee durchaus zu entsprechen. Seine zwei Minuten Putzzeit waren um, wie ihm der Vibrationsalarm seiner Bürste mitteilte. Er spie ins Waschbecken, nahm beiläufig zur Kenntnis, dass sich die weiße Creme in seinem Mund rosa gefärbt hatte, ließ etwas Wasser nachlaufen und stützte sich dann mit beiden Armen an den Rändern des Beckens ab, während er weiter sein Spiegelbild betrachtete. Er war jetzt Anfang 40, durchaus athletisch, körperlich noch gut drauf. Trotz allem kam er zu einer ernüchternden Erkenntnis: Der erste Lack war ab. Bis auf die Grundierung. Er drehte sich vor dem Spiegel, suchte vergeblich nach einem Rest des jugendlichen Charmes, dem man ihm immer nachgesagt hatte, fand ihn jedoch nicht, was nicht nur an seinen zwar langsam, aber stetig wachsenden Geheimratsecken lag. Das Leben zeichnet einen Menschen, arbeitet Konturen und Kanten heraus, und auch Steiger wusste, mit dem jungen Burschen, der sich gesegnet mit einer grenzenlosen Naivität aufgemacht hatte, die Welt zu verändern, hatte er nichts mehr gemein. »Guck nicht so wehleidig und ertrag dein Schicksal wie ein Mann. Oder bist du ’ne Muschi?«, sagte er zu seinem Spiegelbild, wobei er mit zwei Fingern die Fältchen unter seinen Augen etwas glattzog. Er wartete auf eine Antwort, aber sein Gegenüber sah ihn nur an. »Leck mich!«, sagte er, wandte sich ab und ließ Wasser in die Wanne ein. Er zog sein verschwitztes T-Shirt aus, warf es auf den Boden zur Wäsche des Vortages und ging wieder in sein Arbeitszimmer. Die Luft roch abgestanden, etwas nach Schweiß. Steiger öffnete das Fenster und sah gedankenverloren nach draußen. Er betrachtete die Menschen, die in ihren Autos fuhren, oder wie seelenlose Gestalten die Gehwege entlangliefen. Tagtäglich in einer Spirale gefangen ihren Tätigkeiten nachgingen, um die Existenz ihres erbärmlichen Lebens zu sichern. Ein Leben, welches einem Hamsterrad glich, in dem sie eingesperrt waren. Tag für Tag, Jahr für Jahr, sich in einer übertakteten Gesellschaft behauptend, geradewegs auf einen Seeleninfarkt zusteuernd.

Es hatte den Anschein, auch das Sonnenlicht konnte das Ruhrgebiet nicht von der dicht gesponnenen Decke der Schwermut befreien, in welcher dieser Sektor eingehüllt war. Wie der Rest der Region schien auch die Stadt Essen unter dem Grau einer fortwährenden inflationäreren Depression zu liegen, die sich wie Mehltau über alles und jeden legte. Obwohl die Zeiten der Kohle und stahlverarbeitenden Industrie vorbei waren, liefen die Menschen wie unter einer Last, die Blicke zu Boden geneigt und weit von der Unbeschwertheit und der Verbundenheit zu ihrer Stadt entfernt, wie beispielsweise ein Rheinländer es vermochte. Es gab keinen Stolz, mit dem man sich zum Ruhrgebiet bekannte. Vielmehr glaubten die Menschen hier, sich für ihre Herkunft rechtfertigen, ja sogar entschuldigen zu müssen. Vergebliche Propagandalügen, die den Wandel heraufbeschworen, Selbstbewusstsein propagierten. Kulturhauptstadt! Pah! Es war nichts weiter als ein verzweifelter und letztendlich untauglicher Versuch gegen den sozialen Verfall ganzer Stadtteile, deren einfache Bevölkerung niemals die auf Pump finanzierten Sehenswürdigkeiten einer hoffnungslos verschuldeten, selbsternannten Metropole zu Gesicht bekommen würde. Die Menschen des Ruhrgebietes eigneten sich nicht für Sozialromantik. Sie flüchteten sich in die Sicherheit ihrer Bedeutungslosigkeit. Hüllten sich ein in ihre Depression, die sich wie ein psychologischer Schutzmantel an sie schmiegte. Er riss sich aus seinen Gedanken, um sich nicht mit der Tatsache auseinandersetzen zu müssen, dass er genauso empfand, ein Teil dessen war.

Ein digitaler Signalton erweckte seine Aufmerksamkeit. Steiger setzte sich auf seinen Drehstuhl und überflog den Maileingang auf seinem Smartphone. Lange Zeit hatte er sich gegen diese Geräte gewehrt, musste sich aber nun eingestehen, dass er dem Suchtfaktor seines mobilen Minicomputers zumindest ein Stück weit verfallen war. Er berührte den Touchscreen und scrollte sich durch die neuen Mails. Er öffnete eine Bestellbestätigung eines großen Onlinekaufhauses, löschte einige Spammails und las anschließend die Nachricht eines ehemaligen Kollegen. Er war einer der wenigen, zu denen Steiger noch sporadisch Kontakt pflegte. In der Mail beschwerte er sich darüber, dass eine kameraüberwachte Rund um die Uhr-Observation einer alten Werkstatthalle in Essen-Kupferdreh nicht enden wollte, bei der es um die Aufdeckung eines europaweit agierenden Fahrzeugschmugglerrings ging, deren Mitglieder gestohlene Pkw der gehobenen Klasse in der Halle zerlegten und die Einzelteile über die Grenzen schafften. Steiger legte das Gerät beiseite und ging zurück ins Bad. Er war spät dran und konnte es sich nicht erlauben, einen Kunden warten zu lassen. Er beeilte sich, nicht wissend, dass die nächsten Stunden sein Leben erschüttern sollten.

Steiger fuhr mit seinem alten, silbergrauen BMW auf die A 40. Das Wetter schlug um und der beginnende Nieselregen tauchte die Stadt in ein farbloses Einerlei, welches die Straßen, alle Gebäude und alles um sich herum erfasste, es zusammenschmolz und auf den Gesichtern der Menschen widerspiegelte. Er zog an dem Hebel für das Spritzwasser und beobachtete, wie die kraftlosen Strahlen der Düsen von den porösen Wischblättern erfasst wurden, die mehr über das Glas rubbelten als glitten und die den Dreck anschließend in einen grauen Schmierfilm verwandelten, der ihm die Sicht nahm.

Er befuhr die Autobahn weiter westwärts, wurde mitgerissen von der nicht enden wollenden Blechlawine, Stoßstange an Stoßstange, so dicht gedrängt, dass Konturen ineinander übergingen. Das Meer aus Fahrzeugen wirkte wie eine durchgehende, metallene Masse, die ein Eigenleben entwickelte.

Steiger setzte den Blinker. Sein Klient würde zufrieden sein. Er zog das Foto aus seiner Innentasche und sein Blick wechselte hektisch zwischen dem Bild und der Fahrbahn. Er betrachtete die Frau. Ihre weichen Gesichtszüge. Das lange brünette Haar, die Sünde versprechenden Lippen ihres künstlich aufgewerteten Schmollmundes, das verheißungsvolle, pralle Dekolleté. Jeder halbwegs normale Kerl auf diesem Planeten würde für eine solche Frau Kopf und Kragen riskieren. Ausgerechnet seinen Klienten traf die Erkenntnis völlig unerwartet, als er sich mit der Vermutung konfrontiert sah, die Dame könnte es mit der Treue offensichtlich nicht so genau nehmen. Er war 20 Jahre älter, sein Kopf kahl, und darüber hinaus hatte er eine Figur wie eine Tüte rostiger Schrauben. Was glaubte dieser Kerl? Dass er sie mit seinem grandiosen Wissen über Politik und Wirtschaft, seiner beeindruckenden Rhetorik und seiner verschwenderischen Großzügigkeit für alle Zeiten an sich binden konnte? Was für ein Vollidiot! Aber Steiger war es recht. Er präsentierte ihm nur das, was er bereits wusste. Und er zahlte gut.

Steiger beschleunigte, da die Ausfahrt frei war. Das Motorrad erschien wie aus dem Nichts. Er erschrak und zog automatisch nach rechts. Für einen flüchtigen Moment vernahm er das ungefilterte Dröhnen des Motors, als der Fahrer den Gasgriff aufdrehte und versuchte, Steigers BMW in der Ausfahrt links zu überholen. Der Mann trug keinen Helm und seine Geschwindigkeit war deutlich zu hoch. Das Hinterrad des Motorrades rutschte weg und die Maschine legte sich auf die rechte Seite, um anschließend zur Mitte der Fahrbahn zu schlittern. Steiger lenkte nach rechts auf den Standstreifen, trat auf die Bremse und spürte dieses ruckende Eingreifen des ABS. Sein Herz schlug bis zum Hals, als er unmittelbar vor dem Zweirad zum Stehen kam. Steiger löste den Sicherheitsgurt, schaltete das Warnblinklicht ein und griff zum Türöffner, als er erkannte, wie der Fahrer sein Bein unter der Maschine hervorzog, aufsprang, auf Steiger zulief und unmittelbar darauf die Beifahrertür seines BMW aufriss. Der Mann zog die Tür zu, blickte panisch nach hinten und schrie: »Fahr!«

»Wie, fahr? Wat bist du denn für einer?«

»Mein Gott, fahr doch los! Fahr!«

Steiger wollte gerade etwas erwidern, als er einen Knall hörte. Er schien ihm vertraut, doch er konnte ihn nicht zuordnen. Irgendetwas in ihm schrie auf. Wollte ihn warnen. Doch Steiger begriff nicht. Sein Blick hing nach wie vor an dem Gesicht des jungen Mannes neben sich, der noch immer entsetzt nach hinten blickte.

Plötzlich war ihm klar, was das für ein Geräusch war. Er fuhr herum und blickte durch die Heckscheibe. Steiger legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch, während er im Rückspiegel einen Mann sah, der mit gezogener Pistole hinter seinem Wagen her rannte.

Der BMW schoss über die Kreuzung und Steiger hatte das Gefühl, seine Gesichtsmuskeln würden in Anbetracht der Beschleunigung geschlossen den Weg zu seinem Hinterkopf antreten. Die flüchtigen Blicke, die er während seiner halsbrecherischen Fahrt auf seinen ungebetenen Fahrgast werfen konnte, reichten, um zu erkennen, der Mann litt unter Todesangst. Sein Haar klebte nass am Kopf und Steiger konnte dessen Furcht riechen. Ein herber, stechender Angstschweiß, beißend wie Ammoniak.

»Gib Gas, Mann!«

Steigers Hände umklammerten das Lenkrad, während sein Blick hektisch zwischen der Fahrbahn und dem Rückspiegel hin und her sprang. Sein BMW hob ab und setzte wieder auf. Die Stoßdämpfer hatten der Wucht nichts entgegenzusetzen und das Heck drohte auszubrechen. Dann sah er seinen Verfolger. Die dunkle Limousine war wenige Fahrzeuge hinter ihnen. Mehrfach scherte der Wagen aus, setzte zum Überholen an, raste in einem mörderischen Tempo und mit hektisch blinkender Lichthupe auf der Gegenfahrbahn ihm hinterher, um sich direkt hinter seinen Wagen zu setzen.

Steiger spürte diese so typische Bewegung, die jeder Körper bei einem Auffahrunfall vollführte. Der ruckartige Zusammenstoß des Hinterkopfes mit der Kopfstütze des Sitzes und die anschließende abrupte Vorwärtsbeschleunigung, die erst in dem arretierten Sicherheitsgurt endete. Automatisch stieß er seinen Fuß auf das Bremspedal, während seine Augen den Rückspiegel suchten. Steiger sah das verzogene Blech der Motorhaube des Fahrzeuges hinter sich. Die zerstörten Scheinwerfer. Und noch etwas bemerkte er. Der Wagen beschleunigte wieder. Steiger verkrampfte sich, streckte die Arme geradeaus und umfasste das Lenkrad. Die Knöchel seiner Hände traten weiß hervor und er starrte gebannt weiter in den Rückspiegel. Wieder fuhr der Wagen auf. Und wieder durchfuhr ihn dieser brutale Ruck. Der Wagen setzte etwas zurück, dann gab der Fahrer erneut Gas. Steiger nahm den Fuß von der Bremse und trat das Pedal bis aufs Bodenblech durch. Seine Augen wechselten hektisch in alle Richtungen. Nach vorn, zur Seite und wieder in den Rückspiegel. Er suchte nach einer Möglichkeit auszuweichen, der Situation zu entkommen. Doch er wusste nicht wie.

Die Ampel an der nächsten Kreuzung zeigte Rot. Steiger sah nach links und erkannte einen Sattelschlepper, der zügig auf den Kreuzungsbereich zufuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde schaute er nochmals in den Außenspiegel. Er schaltete einen Gang runter, trat das Gaspedal durch, sodass sein Wagen sich nach vorn katapultierte. Der Unbekannte neben ihm krallte sich mit beiden Händen an dem Haltegriff des Dachhimmels fest, seine Augen weiteten sich. Steiger hörte das ohrenbetäubende Signalhorn der Zugmaschine. Er vernahm auch das brutale Quietschen, welches entstand, wenn blockierte Pneus mit einer enormen Energie über eine Asphaltdecke rutschten. Einen kurzen Moment schloss Steiger die Augen. Seine Kiefermuskeln verhärteten sich und der gewaltige Adrenalinausstoß schien all seine Empfindungen auf den winzigen Bereich oberhalb seines Magens zu fokussieren. Der Moment dehnte sich unendlich lang und Steiger erwartete das widerliche Geräusch, das er immer hörte, wenn zwei metallene Karosserien mit großer Wucht ineinander verschmolzen. Doch es blieb aus. Sie hatten es geschafft. Er sah in den Rückspiegel und erkannte den Sattelschlepper, der sich quer auf die Kreuzung gestellt hatte. Steiger riss das Lenkrad nach rechts und trat auf die Bremse. Er hatte jegliches Gefühl für die Geschwindigkeit verloren. Der Wagen rutschte mit quietschenden Reifen, prallte mit der Hinterachse gegen den Bordstein. Als Steiger erneut beschleunigte, spürte er das Ausbrechen des Hecks. Gleichzeitig vernahm er das Geräusch der Felge, die sich in den Asphalt fraß, und sah im Außenspiegel den Funkenflug des Aluminiums, begleitet von einem hohen, metallenen Kreischen.

»Fuck!«

»Was ist los?«, schrie der Fremde.

»Der Reifen ist platt!«

Der Wagen schlingerte hin und her und Steiger versuchte, ihn durch hektische Lenkbewegungen unter Kontrolle zu halten. Er bremste den BMW ab und blickte erneut in den Rückspiegel. Exakt in dem Moment riss der Fremde die Tür auf und sprang aus dem fahrenden Wagen.

Steiger fuhr über den abgesenkten Bordstein und öffnete das Tor zur Sammelgarage mit seiner Fernbedienung, wobei er ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte, bis er endlich einfahren und den Wagen abstellen konnte.

Eine Zeit lang blieb er sitzen und sortierte seine Gedanken. Es stand außer Frage, dass sein beschädigter Wagen bei seinen allzu neugierigen Nachbarn auffallen würde. Er musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, jemand aus dem Haus könnte die Polizei informieren, wenn diese nicht ohnehin schon auf dem Weg zu ihm war. Diese abgedrehte Geschichte auf der Autobahn und die stuntreife Verfolgungsfahrt hatten mit Sicherheit unzählige Augenzeugen auf ihn aufmerksam gemacht. So oder so. Er würde sicher die eine oder andere Frage beantworten müssen. Aber bevor er sich entschied, wie er weiter vorging, musste er nachdenken. Vor allen Dingen brauchte er eine Dusche und frische Klamotten. Steiger fluchte innerlich. Er hätte längst bei seinem Kunden sein müssen. Der Tag hatte so unbedeutend begonnen. So verflucht unspektakulär. Mit einem Schlag wurde er aus der Lethargie seines Alltages gerissen, aber auf eine Art, die er sich nicht hatte vorstellen können.

Nachdem der Unbekannte aus seinem BMW gesprungen war, hatte er den Wagen in eine Hofeinfahrt gesteuert und den Reifen gewechselt. Er war durchgeschwitzt und seine Sachen waren verdreckt.

In seiner Wohnung wusch sich Steiger zunächst die Hände, öffnete den Kühlschrank, nahm eine Dose Bier heraus, trank die erste Hälfte in einem Zug, setzte sich an seinen Rechner und startete das Gerät, welches mit einem Rauschen hochfuhr.

»Mal sehen, ob die Pressefuzzis schon was gebracht haben«, sagte er zu sich. Steiger klickte sich durch die Websites der örtlichen Reporter, die dank des analogen und somit problemlos abhörbaren Funks in der Regel schneller an einem Einsatzort waren, als ein Blitz einschlagen konnte. Zu seiner Verwunderung berichtete keine Agentur von einem Unfall und einer anschließenden Verfolgungsjagd. Das Hauptaugenmerk lag nach wie vor auf dem Tagesbruch in Essen-Katernberg, bei dem in unmittelbarer Nähe der Zeche Zollverein eine Nebenstraße großflächig weggesackt war.

Steiger leerte den Rest des Bieres und stellte die Dose, begleitet von einem säuerlichen Aufstoßen, auf seinen Schreibtisch. Er würde sich umziehen und zur Polizei gehen. Steiger lief ins Schlafzimmer, nahm frische Wäsche aus dem Schrank und betrat das Bad. Sein Backenzahn pochte erneut, und die Beschwerden wuchsen sich allmählich zu einem leichten Kopfschmerz aus. Er fügte einen Tropfen Zahnpasta auf den Rotationskopf, stellte die elektrische Bürste auf die Ablage in der Duschkabine, betätigte den Mischarmhebel und trat anschließend unter den warmen Wasserstrahl.

Das Wasser tat ihm gut. Sein Spannungskopfschmerz, der aus Richtung Oberkiefer kroch und sich in seinen Schläfen zunehmend ausgebreitet hatte, besserte sich. Eine Schmerztablette im Anschluss würde ihm Linderung verschaffen. Steiger spürte, wie sich der Duschvorhang in seine Richtung bewegte und wie gewöhnlich das Bestreben hatte, sich aus für ihn unerklärlichen Gründen zart an seinen Hintern zu schmiegen. Steiger lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen, während das warme Wasser an seinem Körper herunterrann. Binnen eines Sekundenbruchteils presste eine Hand von hinten den Vorhang gegen sein Gesicht und verschloss seinen Mund. Steiger geriet in Rückenlage. Seine Hände versuchten vergeblich, irgendwo Halt zu finden. Er fiel rückwärts auf seinen Angreifer, der geschickt nach hinten auswich, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der eiserne Griff, der seine untere Gesichtshälfte umklammerte und sich über seinen Mund und seine Nase gelegt hatte, löste sich für einen kurzen Augenblick. Ehe er reagieren konnte, wickelte der Angreifer einen Teil des Vorhangs um seinen Kopf und zog zu. Instinktiv wollte Steiger Luft holen, aber das Einzige, was in seine Mundhöhle drang, war das Kunststoffmaterial des Vorhanges. Panik. Jegliches rationales Denken war ausgeschaltet. Mit unkoordinierten Bewegungen fasste er nach hinten, versuchte, seinen Angreifer zu packen, der geschickt auswich. Steigers Hände griffen zu dem Duschvorhang, der sich um seinen Kopf gewickelt hatte. Er sackte tiefer, fand keinen Halt an den nassen Wandfliesen, rutschte aus und fühlte die Keramik der Duschtasse unter seinem Gesäß. Plötzlich stieß seine Hand gegen etwas. Automatisch umschlossen seine Finger den Gegenstand. Er war länglich. Steiger führte seine Arme zusammen, seine linke Hand riss den Rotationskopf von der Bürste und legte den wenige Zentimeter langen Metallstab frei. Mehrfach schlug er in Richtung seines Angreifers hinter sich aus, merkte, wie die Zahnbürste sich einschaltete und in seinem Griff vibrierte, bis er auf einen Widerstand stieß. Den Schmerzensschrei der Person nahm Steiger nicht wahr. Er riss sich die Folie vom Kopf und nahm den tiefsten Atemzug seines Lebens. Immer wieder holte er Luft. Kämpfte gegen die schwarzen Flecken an, die vor seinen Augen tanzten. Steiger setzte sich und lehnte sich mit den Rücken gegen die Wand. Das Wasser der Dusche lief weiterhin und rann über sein Gesicht. Seine Lungen sogen die Luft ein, er drehte den Kopf und suchte nach seinem Gegner. Wo blieb er? Warum gab er ihm nicht den Rest? Steiger fasste den Vorhang, der ihm die Sicht nahm, und zog ihn kraftlos zur Seite. Die Halterung war aus der Decke gebrochen und fiel nun mitsamt dem Vorhang zu Boden.

Er sah verschwommen etwas durch das herunterprasselnde Wasser. Eine Person, die am Boden lag. Schwerfällig erhob sich Steiger, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Er schaltete die Dusche aus und das Erste, was er außer dem abfließenden Wasser vernahm, war das Summen seiner elektrischen Zahnbürste, deren Spitze in der linken Augenhöhle des Mannes steckte, der rücklings auf dem Badezimmerboden lag. Sein Angreifer würde sich nicht mehr rühren. Steiger trat näher heran. Der Handtuchhalter gegenüber der Duschkabine war abgeknickt, und er erkannte einige Haare an der scharfen Bruchkante sowie eine dünne Blutspur, die sich auf den beigen Kacheln abzeichnete. Von diesem Fremden ging keine Gefahr mehr aus. Er legte Zeige- und Mittelfinger an den Hals seines Gegners, fühlte aber keinen Puls. Er zog die elektrische Zahnbürste aus dem Auge des Mannes, schaltete das Gerät mit zitternden Händen aus, drehte den Kopf der Leiche etwas und fühlte Knochensplitter an der Stelle des Hinterkopfes, an dem sich der Unbekannte den Schädel gebrochen hatte. Die Kopfschwarte war aufgerissen und noch immer sickerte Blut aus der Wunde des Angreifers, welches sich zu einer Lache auf den Bodenkacheln ausbreitete und sich mit dem Wasser vermischte. Steiger beugte sich über den Toten und tastete dessen Kleidung ab, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Er überlegte einen Moment, dann wurde ihm aber bewusst, was ihn irritierte. Er roch etwas. Und er kannte diesen Geruch. Steiger trat über den leblosen Körper hinweg und öffnete die Badezimmertür. Augenblicklich schlug ihm beißender Qualm entgegen, der ihm die Sicht nahm. Er warf sich auf den Boden, hielt die Luft an und robbte durch das Schlafzimmer, dessen Einrichtung lichterloh brannte. Steiger spürte die enorme Hitze in seinem Gesicht, als würde er seinen Kopf vor die Luke eines Hochofens halten. So schnell er konnte, bewegte er sich weiter, bis er die Diele vor seinem Schlafzimmer erreichte. Steiger musste dringend Luft holen, aber er wusste, wenige Atemzüge von diesem toxischen Rauch konnten tödlich sein. Er stand auf, schloss die Tür hinter sich und stolperte einige Meter weiter in sein Wohnzimmer. Auch dieser Raum war voller Qualm, doch es gelang ihm, den Balkon zu erreichen. Er öffnete die Balkontür und zog sie direkt wieder hinter sich zu. Seine Augen brannten fürchterlich und der Hustenreiz war unerträglich. In der Ferne hörte er die Signaltöne der Feuerwehr; es bestand für ihn kein Zweifel daran, dass sie zu ihm unterwegs waren. Steigers Gedanken rotierten. Er befand sich nackt auf dem Balkon in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses. Nicht mal eine Stunde zuvor hatte man auf ihn geschossen und nun lag in seinem Bad ein Toter. Steiger war klar, er hatte nicht die Zeit, diese Umstände der Polizei in epischer Breite zu erklären. Er musste handeln. Sofort. Mehrmals atmete er tief ein. Dann stieß Steiger die Balkontür auf.

Das Kohlenmonoxid, welches sich in seiner Blutbahn angereichert hatte, verdrängte den Sauerstoff und bescherte ihm ein Feuerwerk aus Millionen tanzender Lichtblitze, die sein Sichtfeld auf einen nichtigen Bereich zusammenschrumpften. Die Beine hatten Mühe, die trägen Befehle seiner gelähmten Nervenbahnen in die notwendigen Muskelkontraktionen umzusetzen, um seine 85 Kilogramm Körpergewicht in einer halbwegs koordinierten Vorwärtsbewegung die steile Treppe sturzfrei hinunterzutragen. Vergeblich suchten seine Lungen nach dem gewohnten Rhythmus gleichmäßiger Atemzüge, um einer drohenden Bewusstlosigkeit zu entkommen, und der hohe Signalton des Rauchmelders, der exakt in dem Moment angesprungen war, als er verfolgt von einer schwarzen Rauchwand aus seiner Wohnung in den Hausflur gestolpert war, klang wie das Geschrei eines Denunzianten, das ihn verriet.

Steiger umfasste reflexartig mit der rechten Hand das Geländer, zog sich taumelnd wie ein Trunksüchtiger um jeden Treppenabsatz herunter, rutschte auf einem Stapel Werbeprospekte aus, prallte gegen einen abgestellten Kinderwagen, den er beiseite stieß, und öffnete anschließend die schwere Brandschutztür zu den Kellerräumen, die mit einem dumpfen Laut hinter ihm zufiel.

Der Bewegungsmelder reagierte und mit einem leicht verzögerten Flackern sprang die Leuchtstoffröhre an, die den Raum in ein kaltes Licht tauchte. Steiger stolperte mit bleischweren Schritten zu einer defekten Waschmaschine, die mit weiterem Hausrat unter einer schriftlichen Aufforderung der Hausverwaltung zur Sperrmüllbeseitigung stand, stützte seine Arme darauf ab und kämpfte, geschüttelt von heftigen Hustenattacken, gegen den Schwindel an, der sich in seiner Magengegend zu fokussieren schien. Er wehrte sich gegen die aufsteigende Übelkeit, schmeckte den säuerlichen Brei, der seine Speiseröhre hinaufstieg, bis er nicht mehr an sich halten konnte und sich übergab.