Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Copyright
Für meinen Mann
1
»Nebenan ist ein Anruf für Sie.«
»Nicht jetzt, Menschenskind!«
»Es ist Ihr Großvater!«
»Mein … Großvater? - Jetzt?«
»Tut mir leid. Er sagte, es sei dringend.«
Zitternd begebe ich mich in den Probensaal, wo der Hörer auf dem Tisch liegt.
»Großvater?«
»Ja.«
»Hallo! Wie geht es dir?«
»Schlecht.«
»Großvater, ich habe gleich Premiere, kann sich Frau Bär um dich kümmern?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Schweigen.
Angespannt presse ich den Hörer ans Ohr.
»Großvater? Ich hör dich ganz schlecht, hier ist so ein Lärm, ich bin im Festspielhaus, und eigentlich dürfen wir so kurz vor dem Auftritt keine Anrufe mehr entgegennehmen … Also warum geht es dir schlecht?«
Schweigen. Dann, in Verbindung mit einem Seufzer: »Frau Bär ist wohl tot.«
»Wie, Frau Bär ist wohl tot? Ich meine, ist das eine vage Vermutung, oder ist sie tot im Sinne von tot?«
Seufzen. Dann: »Sie bewegt sich nicht mehr.«
Okay. Keine Panik. Keine Panik. Das kriegen wir hin. Sie schläft vielleicht nur. Ich meine, so eine Haushälterin muss sich ja auch mal ausruhen. Besonders wenn sie einen so schwierigen Pflegefall wie meinen Großvater hat. Seit fünf Jahren ist Frau Bär rund um die Uhr für ihn da. Und sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste. Ich hole tief Luft:
»Wo … ist sie denn?«
»Auf dem Sofa.«
»Na also. Großväterchen!« Ich lache erleichtert auf. »Die macht ein Schläfchen!«
»Nein.«
»Nein? Sie macht … kein … Was macht sie denn?«
»Sie atmet nicht.«
»Seit wann?!« Mir bricht der Schweiß aus.
»Seit heute Morgen.«
»Seit heute Morgen sitzt sie auf dem Sofa und atmet nicht?«
»Nein.«
Also für Eingeweihte ist die Sache klar. Leute, die stundenlang auf dem Sofa sitzen und dabei nicht atmen, sind in der Regel tot.
Und da Großvater nur noch mich hat, weil meine Eltern vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind und Großmutter auch schon lange im Nirwana weilt, hat Großvater mich angerufen.
Aber ich will das nicht wahrhaben. Nicht hier und nicht jetzt. In drei Stunden kann die meinetwegen tot sein, aber nicht vor der Carmen-Premiere. Nicht vor meinem großen Auftritt!
Ein letzter Hoffnungsschimmer keimt in mir auf.
»Großvater? Rüttel sie doch mal.«
Ist das ein guter Vorschlag? Wenn sie wirklich tot ist, kippt sie jetzt womöglich kopfüber auf den Glastisch.
Es kommt jetzt nur darauf an, ruhig weiterzuatmen. Ich nestle den Hörer aus der schwarzlockigen Zigeunerinnenperücke, die mir die Maskenbildnerin gerade mit viel Geduld und Spucke aufgesetzt hat, und reiße mir den klappernden Riesenohrring wieder ab. Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr.
»So, Großvater. Jetzt noch mal von vorn. Du sagst also, sie bewegt sich nicht mehr.«
Die Tür fliegt auf und Dutzende von geschminkten und verkleideten Darstellern sowie Musikern im Frack strömen aufgeregt in den Saal. Um mich herum setzt freudiges Gefiedel und Geflöte ein. Premierenfieber. Normalerweise liebe ich das. Dieser Adrenalinschub. Aber doch nicht jetzt, Leute! Ruhe doch mal!
Ich presse den Hörer ans Ohr. »Großvater? Bist du noch da?«
Am anderen Ende der Leitung entsteht eine lange Pause. »Großvater?« Meine Stimme klingt leider hysterisch statt tonrein.
»Ja.«
»Ist sie … wirklich und unmissverständlich … tot?« Schweigen. Ich werde wahnsinnig.
Ich presse den Hörer an mein Ohr, bis er sich beinahe daran festsaugt.
»Großvater?! Bist du noch dran?«
Pause, dann: »Ja.«
»Aha.« O Gott, bitte. Bitte alles, aber nicht das.
Mein Herz rast und hämmert, der kalte Schweiß steht mir auf der Stirn. Die gepuderten Perücken um mich herum bewegen sich wie in Zeitlupe, die staubigen Kostüme, die Schminke, die Kollegen. Das geschäftige Gewusel, das Lampenfieber, die letzten Klänge von den sich einspielenden Orchestermitgliedern.
Neben mir bläst einer rücksichtslos in sein Fagott, als ob ich hier nur zum Spaß telefonieren würde. Und der Don Escamillo schmettert keine zwei Meter neben mir: »Auf in den Kampf, Toreheheherooo!« Die Kinder vom Chor toben aufgeregt durcheinander, der Chordirektor klatscht in die Hände, der Inspizient mustert mich besorgt.
»Frau Bär ist … also wirklich und unmissverständlich … tot?«, brülle ich in den Krach hinein. Als wenn sie davon wieder lebendig würde.
»Ja«, kommt es ganz leise und kraftlos aus dem Hörer.
Ich atme so tief ich kann in meinen bebenden und hämmernden Brustkorb.
Wilde Stiche durchzucken meine Schläfen, Adrenalin schießt mir bis in die Fußspitzen.
Frau Bär.
Aber das kann doch gar nicht sein. Wir haben doch erst gestern telefoniert, sie hat mir noch Toi, toi, toi gewünscht für meine Premiere und sagte, sie würde sich die Übertragung im Fernsehen ansehen.
Opas geliebte alte treue Frau Bär kann doch nicht einfach …
Obwohl, ihr Herz hatte schon häufig verrückt gespielt …
Sie wollte nur noch den Großvater überleben, hat sie immer gesagt.
Ja, ohne Frau Bär ist mein Großvater …
Hilflos. Aufgeschmissen.
Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe: Mein Großvater sitzt im Rollstuhl!
Sie kann doch nicht einfach so sterben! Ich meine, doch nicht jetzt! Nicht in diesem Moment!
»Orchester, bitte auf die Plätze! Die Vorstellung beginnt in fünfzehn Minuten!«
Die Stimme des Inspizienten erreicht mich wie durch eine dicke Wattewolke.
Ich presse das Telefon ans Ohr und fahre mir mit der anderen Hand wie wild durch die lange schwarze Perücke, unter der mir so unerträglich heiß geworden ist.
Okay. Ruhe bewahren. Keine Panik. Mir fällt schon was ein. In fünfzehn Minuten kann man viel organisieren. Das haben wir gleich.
Außerdem fangen sie ohne mich nicht an. Hahaha, das nenn ich Galgenhumor.
»Großvater?! Wer ist denn jetzt bei dir?!«
Ich meine, außer der toten Frau Bär?, denke ich. Mich friert, und alle Härchen auf meiner Haut stehen senkrecht.
Lange Pause.
»Niemand.«
Aha, niemand also.
Okay. Das muss ich jetzt mal kurz überdenken.
Zwischen uns liegen siebenhundert Kilometer, aber ich werde das jetzt hier regeln. Es ist ja nicht so, dass ich keine Erfahrung im Improvisieren habe, als um die Welt reisende Opernsängerin und geschiedene Mutter von zwei Kindern.
»Großvater, warte, das haben wir gleich. Ich lass mir was einfallen!«
Ich schaffe das. Ich bin eine starke Frau.
»Was ist denn mit den Renners von nebenan?«, frage ich so sachlich wie möglich. Okay, ich weiß, dass Renners und mein Großvater seit dreißig Jahren nicht mehr miteinander reden, aber es gibt Situationen, in denen kann man ja mal eine Ausnahme machen.
Langes Schweigen.
»Hallo, Großvater?!« Mein Gott, was brüllen die hier alle so! Wenn dieses verdammte Telefon nicht fest installiert wäre, könnte ich es mit in meine Garderobe nehmen, aber hier sind wir im Chorsaal!
»Die sind im Urlaub.«
»Und die anderen Nachbarn? Hermanns?!« Ich werde langsam hysterisch.
»Die sind auf den Festspielen.«
Ich möchte weinen. Die Hermanns, die den Schlüssel zum Reihenhaus meines Großvaters in Oer-Erkenschwick haben, sitzen jetzt hier im Festspielhaus und scharren mit den Füßen, weil sie mich sehen wollen, Ella Herbst, das einstige Mädchen von nebenan, das es zur erfolgreichen Sängerin gebracht hat. O Gott, denke ich. Bitte, Gott. Vorhang. Ende des ersten Aktes. Pause.
Irgendwas. Denk dir was aus. Du führst doch sonst immer so genial Regie. Fast völlig pannenfrei. Also, Pannen gab es schon viele, aber doch keine Katastrophe!
»Frau Herbst? Sie müssten jetzt auflegen«, sagt mir der Inspizient, der besorgt auf mich herabsieht. »Sie müssen auf die Bühne.«
»Hat sie die Kastagnetten?«, brüllt er nach hinten. »Wo sind die verdammten Kastagnetten?«
»Was ist mit dem Roten Kreuz?«, schreie ich in den Hörer. »Ärztlicher Notdienst?!«
Jemand bringt diensteifrig die Kastagnetten und hält sie mir kokett klappernd vor die Nase. Nicht doch! Ich winke verzweifelt ab. »Großvater?«
Pause. Schweigen.
Jemand anders reicht mir ein Glas Wasser.
»Großvater?!« Ich spüre, wie mir das Glas aus der schweißnassen Hand rutscht. Wasser spritzt auf mein Kostüm. Ich fasse mir zitternd an den Hals. Wie soll ich gleich singen?
Wie soll ich gleich auf dem Tisch tanzen, barfuß, mit Kastagnetten in den Händen, die Hüften schwingen und »tralalalala - die Liebe ist wie ein bunter Vogel« gurren? Vor laufender Fernsehkamera, vor dem anspruchsvollen Festspielpublikum, vor der … Welt? Während mein Großvater neben seiner toten Haushälterin im Reihenhaus in Oer-Erkenschwick sitzt?
Ich kann nicht.
Ruhig werden. Durchatmen. Keine Panik. Eins nach dem anderen. Jetzt gehe ich auf die Bühne und singe. Das ist der Auftritt meines Lebens.
Gleich morgen früh werde ich nach Düsseldorf fliegen.
Die zweite Vorstellung kann auch jemand anders singen. Die Russin, wenn es sein muss.
Nein. Jetzt nicht darüber nachdenken. Für diese Rolle habe ich mein Leben lang gekämpft. Sie ist mein absoluter Lebenstraum. Und der wird sich in zehn Minuten erfüllen.
Wen kann ich denn jetzt verdammt noch mal anrufen?
Ich räuspere mich. »Und die Hengstenbergs von gegenüber?« Ich weiß, dass er die nicht leiden kann, weil sie seiner Meinung nach Proleten sind. Aber da muss er jetzt eben mal über seinen Schatten …
»Da sind seit Tagen die Rollläden runter.«
»Die Caritas? Essen auf Rädern?!«
»Ja.«
»Da müssen doch irgendwelche Nummern am Küchenbrett hängen! Frau Bär hat doch immer alle Nummern aufgeschrieben, für den Notfall …!«, kreische ich ins Telefon.
»Ja.«
»Kannst du die wählen?«
Pause.
»Großvater! Kannst du jetzt die Notfallnummer wählen? Was für Nummern stehen denn am Schwarzen Brett?«
Pause. Seufzen. Dann: »Deine.«
Jemand schiebt mir einen Stuhl in die Kniekehlen.
Mein Gott, wie ich mich schäme. Ich kann doch meinen Großvater jetzt nicht im Stich lassen!
Mein Mund schmeckt nach totem Biber.
»Frau Herbst?!« Der Inspizient hat den Dirigenten geholt. Beide reden auf mich ein, aber ich sehe nur, wie sie ihre Münder auf- und zumachen, wie Fische im Aquarium. Kein Ton von dem, was sie sagen, dringt zu mir durch.
Plötzlich durchzuckt mich ein sehr klarer, sehr realer Gedanke.
Die große Uhr über der Garderobentür zeigt sieben Minuten vor sechs.
Es klingelt zum zweiten Mal.
Die Geräuschkulisse um mich herum hat sich zu einem unangenehmen Dauerton in meinem Innenohr verdichtet. Es dröhnt und scheppert und pfeift und rauscht.
Wie durch dicken Nebel sehe ich jetzt Dieter Fux in die Garderobe stürmen, meinen Manager. Er hat rote Flecken am Hals und zupft nervös an seiner Krawatte.
Die Menschen, die sich besorgt um mich scharen, reden auf ihn ein. Er wird puterrot, der Schweiß steht ihm auf der Stirn, er rauft sich die Haare, brüllt mich an, dass ich jetzt sofort meinen Arsch auf die Bühne bewegen soll, um meinen Opa könne sich doch irgendein Wehrdienstverweigerer oder eine barmherzige Tante kümmern, der sei doch jetzt wirklich nicht unser Problem!
Da sehe ich in der amorphen Masse derer, die sich um mich scharen, ganz deutlich das liebe, gütige Gesicht von Frau Bär. Sie nickt mir aufmunternd zu.
Plötzlich durchzuckt mich ein sehr klarer, sehr realer Gedanke. Ich frage mich, was ich hier eigentlich noch mache.
Mit einer ruckartigen Bewegung reiße ich mir die Perücke vom Kopf.
2
Im »Stillen Frieden« ist es so harmonisch, als hätten Jürgen und ich uns nie getrennt. Wir sitzen mit Großvater und den Kindern beim Essen und unterhalten uns so freundschaftlich und nett wie immer.
»Und die Carmen hast du nun abgesagt?«, erkundigt sich Jürgen lächelnd und trinkt einen Schluck Kaffee.
»Abgesagt trifft es nicht ganz«, muss ich zugeben. »Abgehauen kommt der Sache schon näher.« Die Diva sackt schuldbewusst in sich zusammen.
Das war zwar ein bühnenreifer Abgang, aber leider nicht auf der Bühne.
Vom Manager Dieter Fux seitdem kein Wort. Ich schätze, der ist beleidigt.
Dafür viele liebe Worte von meinem mich bestimmt immer noch liebenden Ex.
Ich meine, ich liebe ihn ja auch immer noch. Irgendwie.
»Es hat ja diese junge Russin gesungen.«
»Ja.« Plötzlich bin ich so einsilbig wie Großvater, der bleich und wächsern am Tischende hockt und ins Leere starrt.
»Die hat ja ganz tolle Kritiken gekriegt.«
»Hm.«
Jürgen weiß immer alles, bevor der Rest der Welt es weiß.
Mit Sicherheit hat er schon heute Morgen um sechs seine Nase ins Internet gesteckt. Damit er mir von den tollen Kritiken berichten kann. Wie gesagt, meine Gefühle für Jürgen sind immer noch … dieselben wie früher.
Ich versinke erst mal in meinem Glas.
Das ist eines meiner schlimmsten Laster: Ich trinke wahnsinnig gern Champagner. Das Zeug hilft erstens gegen Lampenfieber und verleiht einem zweitens bis tausendstens auch in anderen Situationen das Gefühl, dass das Leben schön ist.
Auch wenn es das manchmal gar nicht ist.
Wie jetzt zum Beispiel.
»Die soll ja noch blutjung sein«, setzt Jürgen das unerfreuliche Thema mit hassenswerter Penetranz fort. »Und bildhübsch.«
Bestimmt hat er sich sämtliche Fotos von ihr runtergeladen.
»Kann schon sein«, murmle ich verdrossen. Ich bin in Trauer. Wie soll ich mich für eine junge Kollegin freuen, die den plötzlichen Herztod der Pflegerin meines Großvaters für ihren Karrieresprung benutzt hat? Das ist doch im höchsten Grade unmoralisch!
»Mama, die sieht echt geil aus«, mischt sich Robby mit überkieksender Stimme ein. »Voll die langen schwarzen Haare und die supergute Figur.«
Ich werde mich doch nicht aus der Fassung bringen lassen. Von einem pubertierenden Rotzbuben, der auch noch mein Sohn ist. Also unser Sohn, um der Wahrheit Genüge zu tun.
»Das hier ist eine Trauerfeier«, zische ich ihn wütend an. »Nimm bitte Rücksicht auf Großvater!«
Und der Großvater blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.
Robby grinst genauso zynisch wie eben Jürgen. »Alles klar Mamski, wir trauern alle um Frau Bär. Und du um deine Karriere. Die kannst du heute in Champagner ertränken.«
»Jürgen«, sage ich streng. »Hau ihm eine.« Das meine ich natürlich nicht so.
»Die junge Russin wird noch Weltkarriere machen«, entgegnet Jürgen stattdessen genüsslich. »Das Sprungbrett dafür hast du ihr gegeben.«
Selbstgefällig stopft er Streuselkuchen in sich rein.
Ich stoße ein unfrohes Lachen aus. Ich bin so fassungslos, dass mir ganz schwindelig wird. Nein. Jürgen hat sich nicht geändert.
Nun gönn ihm doch den kleinen inneren Triumph, sage ich mir.
Er nimmt doch während der Festspielzeit die Kinder, damit du Karriere machen kannst. Nun hat das Schicksal dir einen kleinen Tritt versetzt, und er freut sich darüber. So ist Jürgen.
Da stehst du doch drüber. Und nächste Woche stehst du wieder im Festspielhaus und zeigst allen, was’ne Harke ist.
Apropos Neid: nicht dass der Eindruck entsteht, ich gönne der jungen Russin diesen Karrieresprung nicht. Ich kenne gar keinen Neid. Also fast keinen.
»Die hat sich ins gemachte Nest gesetzt«, höre ich Jürgen genüsslich sagen.
Plötzlich wird mir ganz anders.
Das mit der Russin, das wird doch kein … Dauerzustand werden?
Ich meine, sie ist nur mal kurzfristig eingesprungen.
Nicht?
Ich reiße der Kellnerin ein Glas Champagner vom Tablett und kippe es hastig hinunter. Mit einem bösen Blick auf Robby zische ich: »Wehe, du kommentierst das jetzt!«
Robby legt seine Riesenpranke um meine Schultern und drückt mich an sich. »Mamski! Du lachst dich doch sonst kaputt, wenn wir dich verarschen.«
»Besonders auf Beerdigungen lache ich gern«, gebe ich düster von mir.
»Du wirst dich wohl jetzt erst mal um deinen Großvater kümmern müssen«, stellt Jürgen mit gönnerhaftem Lächeln fest. »Schließlich bist du seine einzige Angehörige.«
Genau so hat Jürgen mich immer beim Schachspielen angelächelt. Wenn er mal wieder alle meine Läufer und Türme und Pferde und Bauern und Stallknechte und Damen und Herren und was da noch so rumspringt gnadenlos ausradiert hatte. Und ich das Wutpipi nur mühsam einhalten konnte.
Mit welchem Genuss er die Worte »Schach« und »matt!« immer ausgesprochen hat! Ich musste mich dann mühsam beherrschen, nicht wie ein trotziges Kleinkind alle Schachfiguren zornig vom Tisch zu fegen. Um der Wahrheit Genüge zu tun: Ich bin leider schlecht im Verlieren.
Um nicht zu sagen sehr schlecht.
»Diesen Sommer kannst du die Festspiele getrost vergessen«, merkt Jürgen milde lächelnd an. »Oder wo willst du deinen Großvater kurzfristig unterbringen?«
Neuerliche Panik durchzuckt mich wie ein Blitzschlag.
Ich werde auch die nächste Vorstellung nicht singen?
Und die übernächste auch nicht? Ich werde diesen Festspielsommer womöglich … gar nicht … mehr …?
Jetzt reiß dich zusammen, Ella. Es geht nicht immer nur um dich.
So gefasst wie möglich stelle ich das Glas ab und gehe zu Großvater. Mit reglosem Gesicht sitzt er in seinem Rollstuhl und starrt ins Leere.
Hm. Meiner neuen Aufgabe als Altenpflegerin fühle ich mich keineswegs gewachsen. So eine Rolle habe ich noch nie einstudiert. Das war ja immer Frau Bärs Partie.
»Großvater? Geht es dir gut?«
Was für eine blöde Frage. So etwas Bescheuertes ist mir schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen.
»Nein.« »Kann ich etwas für dich tun?«
Schweigen. Seine Lippen sind ganz schmal.
»Großvater?«
»Ich möchte jetzt was essen.«
Müde sieht er mich an. Seine Augen sind klein und grau und leuchten schon lange nicht mehr.
Ich blinzle ein paar Tränen weg und räuspere mich tapfer. Jetzt wird nicht schlappgemacht, junge Frau.
»Na klar, Großvater!«, gebe ich mich salopp. »Hau rein!«
Ich schnappe mir einen Löffel und binde ihm ungelenk die Serviette um den Hals. Das kann doch alles nicht so schwer sein. Schließlich habe ich auch mal Kinder gefüttert. Dabei habe ich ihnen immer was vorgesungen, und dann ging das wunderbar!
Die Kinder beobachten mein ungeschicktes Tun argwöhnisch. Jenny ist elf, Robby fünfzehn. Jürgen beäugt mich mit sadistischer Grausamkeit, hochinteressiert, wie einen lahmen Vogel, der nur noch hilflos mit den Flügeln flattern und sowieso nicht mehr fliegen kann.
»Na dann mal los.« Ein Löffelchen für Frau Bär … möchte ich sagen, verkneife es mir aber gerade noch.
»Großvater, das Leben geht weiter«, höre ich mich stumpfe Phrasen dreschen. »Wir packen das schon.«
Dabei habe ich selbst keine Ahnung, wovon ich da rede.
Pause. Er schluckt. Dann: »Ja.«
»Na also«, sage ich und denke, wenn jetzt nicht bald der Regisseur kommt und »Danke!« ruft, springe ich in den Orchestergraben und entleibe mich.
Das darf doch alles nicht wahr sein.
Bis Freitag war ich die gefeierte Diva! Wein, Weib und Gesang! Proben, Kostüme, Perücken, Arien, Liebesszenen, fette Gagen, Blumen am Bühnenausgang, Luxushotels, Weltreisen und super Kritiken in der Süddeutschen!
Dieses Leben scheint mir Lichtjahre entfernt.
Jetzt sitze ich in Oer-Erkenschwick in einem oberspießigen, deprimierenden Lokal neben dem städtischen Friedhof, direkt an den Straßenbahngleisen und füttere meinen greisen Großvater mit Kartoffelbrei. Jürgen beobachtet mich dabei mit diesem zufriedenen Lächeln, das er immer drauf hat, wenn ich was nicht kann und er sich mir überlegen fühlt. Selbst als er noch mein Steuerberater war und ganz schnell geschnallt hatte, dass ich nichts, aber auch gar nichts von Finanzen verstehe, hat er schon so gegrinst. So haben wir uns ja kennengelernt: Ich war das nichts ahnende, aber süße Dummchen, das seine Kanzlei aufsuchte, als der Geldsegen eintraf, und er war der große Durchblicker, der zwar nicht gut aussah, aber sofort meine Finanzangelegenheiten und später auch der Vollständigkeit halber mein ganzes Leben in die Hand genommen hat.
Er hat mir immer gönnerhaft das Kreuzchen dahin gemacht, wo ich unterschreiben sollte. Tja, mit logischem Denken habe ich es nicht so. Meine Gehirnhälften sind zwei müde alte Herren, die vor vielen Jahren mal versucht haben, eine Firma zu gründen, die sie »Ego-und-Co-GmbH« nennen wollten. Und auf dem Papier besteht diese Firma auch. Aber nur zum Schein. Herr Dr. Vernunft, der Geschäftsführer, kränkelt genauso vor sich hin wie Herr Direktor Logik. Nur bei Frau Bauch-Gefühl, Frau Spaß-Hab, Herr Karriere-Geil und Herr Ego-Schwein, dem Juniorchef in den unteren Räumen, geht immer die Post ab.
Also meine Gehirnzellen sind eigentlich immer nur am Singen und am Feiern. Bis auf Frau Gewissen. Die mäkelt ständig dazwischen. Eine schreckliche Spießerin. Ich weiß auch nicht, wer die in der Firma Ego-und-Co-GmbH eingestellt hat. Aber wegen ihr bin ich jetzt bei Großvater in Oer-Erkenschwick und nicht bei den Festspielen.
Da sieht es in Jürgens Oberstübchen schon ganz anders aus. Seine Gehirnzellen sind straff organisiert, tragen Seitenscheitel, gebügelte Hosen und sitzen alle artig an ihrem Platz im Großraumbüro.
Irgendwie fühle ich mich wieder so, als hätte er »Schach« gesagt.
Als hätte er mich mit diesem Jürgen-Würgen-Lächeln vom Brett gekickt.
Gut, okay. Ich packe das. Ich bin eine... ähm... sehr flexible und anpassungsfähige und spontane und … nun ja … Frau.
Also, nicht dass ich mich nicht gern um meinen Großvater kümmere.
Großvater und ich, wir waren immer … also wir haben uns im Wesentlichen …
Na ja, eigentlich gar nicht so oft gesehen. Wir leben ja in ganz verschiedenen Welten. Es liegen fast fünfzig Jahre zwischen uns.
Ich bin Ende dreißig, und er ist irgendwas in der Nähe von neunzig. Aber er ist ja auch aus einem anderen Jahrtausend. Sein Frauenbild hat mit dem meinen so viel zu tun wie der Louvre mit Fantasialand. Er war wirklich not amused, als ich Jürgen damals verließ, nur weil ich mich in Felix verliebt hatte.
Frauen verlassen ihre Männer nicht.
Andersherum ist das natürlich was ganz anderes.
Großvater empfindet das alles bestimmt als Zumutung. Ausgerechnet auf mich angewiesen zu sein.
Aber wir arrangieren uns schon.
»Der Papa hat’ne neue Freundin!« Jenny schaut mich triumphierend über ihre Cola light hinweg an.
»Ähm … wie?« Ich war gerade so in Gedanken versunken, dass …
Nanu, wird Jürgen etwa rot? Das kann doch nicht … Er hat sich doch sonst immer unter Kontrolle!
Bis jetzt, das gebe ich ehrlich zu, hatte ich immer so unterschwellig das Gefühl, dass ich in meiner einmaligen Originalität sowieso nicht zu ersetzen bin.
Hör ich richtig?
Ungläubig glotze ich Jürgen an. »Du hast eine Freundin?!«
»Jenny! Du solltest doch nichts sagen«, zischt Jürgen unsere Tochter an.
Am Grad seiner Verlegenheit ist zu ermessen, wie ernst es ihm mit der besagten Dame ist.
»Wieso denn nicht? Ich finde das großartig!«, behaupte ich. »Wie - wer - ich meine, was macht sie denn?«
»Die hat’nen ganz abgefahrenen Job«, fängt Robby an, und seine Stimme kiekst wieder über vor lauter Sensationslust, »Mamski, darauf kommst du nie«, aber Jürgen unterbricht ihn: »Ja, die ist nämlich … Hausfrau.«
»Was ist denn daran abgefahren?«, wundere ich mich.
Angespanntes Schweigen. Mir wird ganz heiß im Gesicht. Habe ich jetzt schon wieder was … Falsches … gesagt? Ich lache, um zu signalisieren, dass ich mich wirklich freue über die Nachricht. Aber Jürgen verzieht keine Miene.
»Nicht dass ich damit Probleme hätte, wenn eine Frau heutzutage Hausfrau ist«, versuche ich das Feuer zu löschen, gieße aber offensichtlich nur noch mehr Öl hinein. »Ich meine, ähm … natürlich gibt es auch Frauen, die etwas Richtiges können …« Mein Großvater hebt den Kopf und starrt an die Wand. Ich halte vorsichtshalber den Mund. Meine Aufregung verpufft schlagartig. Eigentlich bin ich sprachlos. Jürgen hat mich … Er hat tatsächlich Ersatz für mich gefunden.
»Wie sieht sie aus?«, wage ich mich schließlich auf dünnes Eis.
»Ganz anders als du, Mamski!« Jenny kringelt meine Haare zu kleinen Locken, was ich nicht zu deuten weiß. Will sie mich aufmuntern oder … trösten?
»Nämlich?«, ringe ich mir schließlich ab. »Dick oder dünn? Groß oder klein? Hübsch oder ähm … sehr hübsch?«
Meine zwei Gehirnhälften stecken müde die Köpfe zusammen:
»Jetzt bloß nichts Falsches sagen«, brabbeln sie in ihre Bärte, »es könnte ganz schön viel Porzellan zertrümmert werden.«
»Sie ist … unauffällig«, teilt Jürgen mir mit plötzlicher Entschlossenheit mit. »Das ist der Hauptunterschied zu dir.«
Ähm, wie soll ich denn das verstehen? Da ich mir auf diese Worte keinen Reim machen kann, sehe ich ihn mit wachsender Bestürzung an. Ich verspüre einen Stich im Herzen, weiß aber nicht genau, woher er rührt.
»Geht’s dir gut, Jürgen? Ich meine, du hast eine neue Freundin, und das freut mich auch … riesig, aber du scheinst es als absoluten Triumph zu empfinden, dass sie das Gegenteil von mir ist … Aber dein Frauengeschmack war ja schon immer zum Weinen …«, versuche ich einen Scherz.
O mein Gott. Das war gar nicht gut. Und schon gar nicht vor Großvater. Der hätte gewollt, dass ich bei Jürgen bleibe, bis der Tod uns scheidet. Aber der Scheidungsrichter ist ihm zuvorgekommen, dem Tod.
Mensch Ella, so halt doch mal den Mund, schreien die paar Gehirnzellen, die noch im Dienst sind.
»Sie hat sehr kurze graue Haare«, verrät Jenny, als spielten wir hier »Ich sehe was, was du nicht siehst«. »Und sie trägt am liebsten braune Cordhosen und Flanellhemden. Und flache Schuhe und kein Make-up.«
»Aber sie sieht nett aus, nicht wahr, Großvater?«, wendet sich Jürgen an meinen Großvater, der zusammengesunken im Rollstuhl sitzt.
Schweigen. Dann: »Sie ist ein zurückhaltendes Mädchen.«
Okay, registriere ich heimlich. Mein Großvater kennt sie also schon. Mir wird ganz kalt.
Und dass sie zurückhaltend ist, findet er wahrscheinlich erstrebenswert. Für ein »Mädchen«. Wie alt mag sie sein? Darf ich wagen, das zu fragen?
Besser nicht. Wenn sie graue Haare hat … Schlimmstenfalls ist sie schon in den Wechseljahren. Gütiger Himmel. Was hat Jürgen vor? Ist das wieder einer seiner … ähm … Schachzüge?
»Okay«, sprudelt es umgehend aus mir hervor. »So was nennt man wohl … natürlichen Chic. Und für eine Hausfrau ist das ja auch praktisch, nicht wahr?«
Ähm. Das war jetzt nicht im Geringsten ironisch gemeint.
Ich freue mich wirklich für Jürgen, dass er eine Nachfolgerin für mich gefunden hat! Was ja praktisch unmöglich war!
Obwohl … Souverän lächelnd versuche ich, die in mir aufwallenden Gefühlsregungen zu verbergen.
Sie ist tatsächlich meine Nachfolgerin. Sie tritt in meine Fußstapfen. Bildlich gesehen. Sie übernimmt meine Rolle. Auch mit den Kindern und so. Und rein Jürgen-mäßig. Also werde ich, Frau von Welt, die ich bin, auf sie zugehen, sie in unserer Familie willkommen heißen und ihr … meine Freundschaft anbieten. Ja, das werde ich tun. Sie selbst ist dazu sicherlich zu schüchtern. Wahrscheinlich hat sie schon viel von mir gehört … nicht nur von Jürgen meine ich, aber auch. Der hat mit Sicherheit nur von mir geschwärmt. Und die Kinder auch, und Frau Bär und mein Großvater … und jetzt traut sie sich nicht, den ersten Schritt zu machen, zumal sie eben eine … nichts für ungut … Hausfrau ist. Eine grauhaarige Flanellhemdträgerin.
Da ist es doch völlig verständlich, dass es an mir ist, auf sie zuzugehen.
»Ich freue mich so für dich, Jürgen«, juble ich mit perfekt geschulter Stimme ein bisschen zu laut, dass alle schwarz gekleideten Trauereulen im Restaurant, die Sahnetorte in ihre traurigen Schnäbel stopfen, rübergucken. »Ein neues Mitglied in unserer wunderbaren, lustigen, toleranten und modernen Patchworkfamilie! Ich werde sie sofort zum Essen einladen.«
Jetzt schweigen schon wieder alle. Mein Gott, warum sind die denn alle so verkrampft? Wir können doch völlig locker und ungezwungen miteinander umgehen!
»Also nicht zu einem Essen, das ich gekocht hätte«, kichere ich, um political correctness bemüht. »Ins Restaurant lade ich sie natürlich ein! Zum Goldenen Hirschen! Ganz stilvoll!« Ich bin plötzlich ganz aufgeregt. »Wir werden hoffentlich Freundinnen, von mir aus schon mal ganz sicher!«
Bestimmt werden wir zwei Flaschen Champagner leeren und die Köpfe zusammenstecken - sie ihren völlig naturbelassenen grauen und ich meinen blondgesträhnten - und über die kleinen liebenswerten Schwächen von Jürgen kichern. Dann werde ich sie fragen, ob sie links oder rechts schläft in unserem ehemaligen Ehebett und ob er immer noch im Bad regelmäßig mit dem Kopf gegen die Dachschräge knallt, wenn er aus der Wanne steigt, weil die Dachschräge bei ihm angeblich im toten Winkel ist.
Welch heiterer Abend kommt da auf uns zu!
Triumphierend sehe ich Jürgen an, der lediglich die Augen senkt.
»Ella«, bemerkt Jürgen schließlich und knibbelt an seinem Ellbogen. Das tut er immer, wenn er verlegen ist.
»Hanne-Marie ist meine Freundin. Nicht deine.«
»Aber natürlich ist Annemarie deine Freundin, aber sie kann doch auch meine Freundin werden, und dann sind alle eine glückliche Familie.«
»HHHHHanne-Marie«, trumpft Robby auf. »Mit H wie Hammer.«
»Wow«, sage ich. Hanne-Marie. Das ist ja was ganz Abgefahrenes.«
Ich hebe das Champagnerglas.
»Auf Hammer-Marie!«, gluckse ich begeistert.
»Ich glaube, dein Großvater will etwas sagen«, sagt Jürgen.
Ich schaue Großvater an. Und richtig. Großvater öffnet den Mund und spricht:
»Ich will ins Bett.«
3
»Prinzessin, mach dir überhaupt keine Sorgen«, ruft mein geliebter Felix in den Hörer, als ich ihn endlich - endlich! - erreiche und ihm das Dilemma mit Großvater erzählt habe. Felix ist sehr erfolgreicher Unternehmensberater und so gut wie dauernd unterwegs. Vielleicht ist unsere Beziehung deshalb so aufregend.
»Felix! Wo warst du denn?«
Ich liebe es, wenn er mich Prinzessin nennt. Ist das nicht süß?
Nur zum Vergleich: Jürgen hat mich »Brausebienchen« genannt.
So. Es ist ja nicht so, dass ich ihn grundlos verlassen hätte.
»In Grönland!«, ruft Felix fröhlich. »Ich hab mit einer Tiefkühlfirma einen Wahnsinnsdeal gemacht! Wir vertreiben jetzt Gefrierkost an die Eskimos!« Er lacht mit seiner warmen, tiefen Stimme, bei der ich immer noch Herzklopfen bekomme.
Ja, so ist mein Felix. Der würde auch den Wüstenbewohnern Sand verkaufen, den Schweden Knäckebrot und den Lappen Lappen.
Es knackt in der Leitung, was beweist, dass Felix wirklich sehr weit weg ist. »Tut mir leid, dass ich nicht eher zurückgerufen habe. Da oben sind ja alle im totalen Funkloch!«
Mein Felix ist das Glück meines Lebens. Er trägt seinen Namen völlig zu Recht. Er ist der fröhlichste, sorgloseste, positivste, optimistischste, witzigste, originellste, ideenreichste, leidenschaftlichste, zärtlichste, appetitlichste … ähm.
Das tut jetzt nichts zur Sache. Er macht wahnsinnig tolle Deals, die irre viel Geld bringen. Meistens im Ausland.
Er spricht acht Sprachen. Und er sieht einfach toll aus.
Also, nicht dass Jürgen nicht toll aussähe, aber …
Okay. Jürgen sieht nicht toll aus. Er hat nicht wirklich »Hier!« geschrien, als Männlichkeit, Breitschultrigkeit, Lässigkeit, Abgebrühtheit, Coolheit, Sportlichkeit und all das verteilt wurden.
Der stand eher in der Schlange »Gediegenheit, Häuslichkeit, Zuverlässigkeit«, »Geldanlagen«, »Steuerersparnisse« und »Bedienungsanleitungen«.
Ganz anders Felix: Er ist das Bild von einem Mann. Ein durchtrainierter Athlet mit dichten schwarzen Locken, wundervollen Grübchen und strahlend weißen Zähnen. Eigentlich viel zu schön für mich …
Seine dunkelbraunen Augen haben grüne Sprenkel und … was mich völlig verrückt macht: Das rechte schielt ein bisschen. Aber nur eine Spur.
Unsere erste Begegnung läuft immer wieder wie ein Film vor mir ab:
Wir haben uns beim Skifahren kennengelernt, in Moritz.
Ja ich weiß, dass es eigentlich Sankt Moritz heißt, aber Insider sagen nur ganz cool: Moritz.
Ich hatte auf einer Gala im Palace Hotel einen gut bezahlten Auftritt und war sogar mit dem Privatflieger eingeflogen worden. Und er stand an der Bar dieses Fünf-Sterne-Schuppens und hörte mir zu … obwohl, ehrlich gesagt, plauderte er die ganze Zeit mit diesem Multimillionär, der mich engagiert hatte. Ich glaube, er hat sich erkundigt, wer ich bin … aber nachher lud er mich zum Skifahren ein.
Es ist nicht so, dass ich nicht Skifahren kann. Also einen Babylift schaffe ich schon. Da steckt man sich so einen roten Teller an den Hintern und muss aufpassen, dass man nicht auf die Schnauze fällt, wenn der in halsbrecherischer Geschwindigkeit plötzlich steil nach oben schnellt. Dann muss man tierisch die Zähne zusammenbeißen, um in dieser spaghettischmalen Spur zu bleiben, denn wenn man die verlässt, versinkt man in meterhohen Schneebergen, die da lebensgefährlich aufgetürmt sind und einen für immer verschlucken. Ich meine, wie oft hat man schon gelesen, dass ganze Schulklassen, die im Babylift aus der Spur gekommen sind, im Tiefschnee verschwunden sind? Da stehen doch überall Gedenksteine …
Nur zum besseren Verständnis: Nach sechzehn Jahren Ehe mit einem übergewichtigen Steuerberater, der deshalb und wegen seiner Größe nicht Ski fährt, war ich ein bisschen aus der Übung.
Insofern habe ich Felix strahlend angelächelt und so getan, als hätte ich nur zufällig meine perfekte Skiausrüstung im Opernhaus stehen lassen!
Aber da kannte ich meinen Felix noch nicht.
Er hat nämlich im Handumdrehen genau so eine organisiert!
Und ehe ich mich’s versah, saßen wir zwei in einer süßen schnuckeligen Gondel und schaukelten höchst romantisch auf irgendein »Teufelsriff« oder »Höllenkar« hinauf. Er half mir, die Skischuhschnallen zuzumachen, wobei er mich ganz zufällig am Bein berührte, und oben stiegen wir aus.
Lässig schaute ich unverbindlich über den Pistenrand.
»Das macht Ihnen doch keine Probleme?«, rief Felix, der in seinem knallroten coolen Spider-Turbo-Anzug bereits zweihundert Meter senkrecht unter mir stand und mich mit seinen strahlend weißen Zähnen im braun gebrannten Gesicht fröhlich anlachte.
»Aber nein!«, rief ich genauso fröhlich. »Wo denken Sie hin, haha?«
Meine Gehirnzellen in der Firma Ego-und-Co-GmbH steckten ihre Häupter zusammen und murmelten was von »gefährlich« und »völlig untrainiert«, aber Herr Spaß-Hab und Frau Bauch-Gefühl aus der unteren Abteilung winkten mir aufmunternd zu und schrien liebestrunken: »Nur zu, Mädel! So jung kommt ihr nicht mehr zusammen!«
Und dann ging ich ein wenig in die Knie, die zu meiner grenzenlosen Verwunderung ein bisschen zitterten.
Also, nicht dass ich Höhenangst hätte.
Ich bin da total relaxt.
Ich kneife doch nicht vor so einem bisschen Pulverschnee!
Also fuhr ich beherzt los.
Nur dass meine Beine sich in Sekundenschnelle komplett verknotet hatten.
Und ich mit dem Gesicht zuunterst in einer nicht präparierten Piste lag.
Aber Felix hat mich gerettet.
Er zog mich lachend aus dem Schnee und klopfte mich ab.
Ich lachte auch … oder habe ich geweint …? Ich weiß es gar nicht mehr so genau. Auf jeden Fall nahm er mich huckepack und sauste mit mir zu Tal.
Ich kreischte und quietschte - aber nicht dass ich Todesangst gehabt hätte!
Wegen so was doch nicht!
Nein, es war die pure Lebensfreude, der Nervenkitzel, dieses geile Gefühl, mit einem schmucken Robert Redford in Jung zu Tal zu rasen, der noch nicht mal Anstalten machte, ins Stolpern zu geraten.
Als wir unten waren, bremste er mit unglaublich gekonntem Schwung, wobei er die umstehenden Skifahrer mit Pulverschnee bestäubte, und pflückte mich anschließend von sich ab.
Ich hätte natürlich auch ganz grazil runterspringen können. Glaube ich zumindest aus heutiger Sicht. Aber …
Er stellte mich auf die Beine, die einzuknicken drohten, weil sie zitterten wie Espenlaub.
Er schloss mich fest in seine Arme und hinderte mich irgendwie daran, das Bewusstsein zu verlieren.
Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein.
Indem er mich küsste.
»Prinzessin! Mach dir keine Sorgen! Ich komme mit der nächsten Maschine nach Hause, und dann kümmern wir uns um deinen alten Herrn!«
»Das willst du wirklich tun?«
Ich stehe in dem handtuchschmalen Garten des grauen Reihenhauses meines Großvaters in Oer-Erkenschwick und versuche, mit den spitzen Absätzen meiner schwarzen Beerdigungspumps nicht im feuchten Gras einzusacken.
»Er braucht Pflege rund um die Uhr«, raune ich in mein Handy. »Um ehrlich zu sein, er muss sogar …« Ich sehe mich vorsichtig um, ob auch niemand in den Nachbargärten an der Hecke lauscht, aber die sind ja alle in Urlaub, die Schweine. »Er braucht sogar …«
»Das mache ich alles bei uns zu Hause in der Parkallee!«, ruft Felix, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
Die Parkallee am Sophienberg ist das Oberluxusviertel der Stadt. Rund um den Schlosspark stehen die tollsten Villen. Eine davon haben wir vor drei Jahren spontan gekauft, und Felix hat sie perfekt umgebaut und eingerichtet. Felix kann einfach alles.
»Aber er ist ein schwerer Pflegefall!«, gebe ich zu bedenken. Ich spreche leise, denn Großvaters Schlafzimmerfenster ist direkt neben mir.
»Ich muss sehen,dass ich wieder auf die Bühne komme! Sonst ist die Saison vorbei, und dann …« Ich wage nicht, das Unaussprechliche auch nur zu denken.
»Prinzessin! Das mache alles ich! Mach dir keine Sorgen! Du singst, und ich kümmere mich um den alten Großvater!«
Ja, so ist mein Felix. Jürgen hätte stundenlang das Für und Wider abgewägt, so lange, bis mein Großvater längst im Himmel gewesen wäre.
»Felix? Seit wann bist du Altenpfleger?«
»Das kann man alles lernen!« Mein Felix lässt sich unter keinen Umständen von seinem Optimismus abbringen. Ich habe noch nie, niemals einen so positiven, heiteren und sorglosen Menschen erlebt. Er kennt einfach keine Probleme. »Deinen Großvater kriegen wir schon wieder hin«, ruft Felix aufgeräumt ins Handy. »In ein paar Wochen schreit der vor Glück!«
Na ja, also … ähm … mein Großvater schreit eigentlich nie. Und schon gar nicht vor Glück. Frau Bär hat ihn mit ihrer Engelsgeduld und Ausgeglichenheit ab und zu mal zum Anheben seiner Mundwinkel bewegen können.
»Du hast doch überhaupt keine Zeit«, wiegle ich ab. »Du bist doch ständig im Ausland unterwegs, du machst deine sagenhaften Deals und so …«
»Dann bleib ich eben mal ein paar Jahre zu Hause«, ruft mein Mann leichthin, so als hätte er gerade beschlossen, heute mal nicht golfen zu gehen. »Prinzessin! Mach dir keine Sorgen! Wir ziehen das durch!«
»Ja, aber du verdienst richtig Geld«, setze ich dagegen. »Du bist gerade in einer unglaublich erfolgreichen Phase!«
»Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so.«
Ach, mein Felix ist immer so lässig!
»Sonst stecken wir ihn eben ins Altersheim«, sprudelt es freudig aus dem Hörer.
»Da organisiere ich ihm schon eine feine Bude. Und eine schnuckelige Pflegerin obendrein!«
Mein Schuh sackt abrupt in den schlammigen Boden. »Altersheim?«, rufe ich entrüstet. »Mein Großvater?! - Nie!«
4
»So, hier entlang, bitte!« Die dralle Person im hellblau-weiß gestreiften Kittel eiert auf ihren ausgelatschten Birkenstock-Sandalen vor uns her.
Es riecht nach Bohnerwachs und Blumenkohl, nach Urin und Meister Proper.
»Sie können von Glück sagen, dass wir für Ihren Herrn Großvater auf die Schnelle noch ein Einzelzimmer organisieren konnten«, ruft die Heimleiterin aufgekratzt über die Schulter. »Aber wir sagen auch Dankeschön für die großzügige Spende.«
»Wie viel hast du ihnen gegeben?«, zische ich Felix zu, der munter den Rollstuhl über die Gänge schiebt. Ich kann ihn gerade noch daran hindern, mit dem apathischen Großvater Schlangenlinien um die Gummibäume zu fahren.
»Zwanzig Riesen.«
»Zwanzig … tausend … Euro?«
»Für den Großvater von Ella Herbst ist nichts zu teuer«, konstatiert Felix aufgeräumt, während er Großvater kumpelhaft auf die Schulter klopft. »Gell, Großvatta!!«, brüllt er dem alten Mann ins Ohr.
»Mein Großvater ist nicht schwerhörig«, ermahne ich mild. »Nur weil er nicht viel redet, heißt das nicht, dass er taub ist!«
Im Gegenteil. Mein Großvater ist äußerst geräuschempfindlich. Vielleicht hat er sich deshalb nie mit meinem Beruf anfreunden können. Er hat immer die Stille gesucht. Und ich den Lärm des Lebens.
»Da wären wir!«, schreit die Heimleiterin Theresia Hierzberger und beugt sich zu meinem Großvater hinunter. »Gell, Herr Professor! Das Kammerl ist klein, aber mein!«
Ich habe der Heimleiterin schon unten im Büro gesagt, dass mein Großvater nicht mit »Ernst« angesprochen werden will, auch wenn das hier auf dem Land so Sitte ist. Mein Großvater ist ein pensionierter Universitätsprofessor für Latein und frühe Kirchengeschichte, und er wünscht mit »Herr Professor« angesprochen zu werden.
Und ich habe ihr auch gesagt, dass mein Großvater nicht taub ist.
»Jetzt schaun mer mal!«, schreit Theresia Hierzberger meinen armen Großvater an. »Immer herein in die gute Stuben! Gell!«
»Na bitte«, freut sich Felix, als wir die muffige Dachkammer betreten. »Ist doch’ne geile Bude!«
Also eigentlich liebe ich die frische jugendliche Art von Felix. Ich meine, er ist noch so … ungezwungen, so … herrlich … unkonventionell. Deswegen bin ich ja so fasziniert von ihm.
Aber manchmal kann er sich auch im Ton vergreifen.
Doch ein bisschen frischer Wind tut diesen alten Mauern auch mal ganz gut. Und meinem Großvater auch. Seien wir doch mal ehrlich.
Das Leben geht weiter.
Und alles ist gut.
»Und jetzt machen wir erst mal richtig Urlaub«, schlägt Felix vor, als wir endlich wieder im Auto sitzen.
Obwohl - Auto - das ist glaube ich ein unpassendes Wort für diesen riesigen, metallicfarbenen, weich gepolsterten, leise schnurrenden, wie eine Rakete abgehenden … was ist denn das hier überhaupt? Ich versuche, irgendein Zeichen auf dem Lenkrad oder Armaturenbrett zu erkennen.
Porsche Cayenne.
Wir haben ihn quasi geschenkt gekriegt. Sagt Felix. Von Herrn oder Frau Porsche persönlich. Ich weiß das nicht so genau, weil ich da gerade bei den Proben für Carmen war. Aber Felix hat den Wagen mal eben klargemacht.
»Es war den Porsches eine Ehre, einer Ella Herbst den Wagen zu überlassen. Sie wollten nur eine Premierenkarte für die Carmen.«
»Aber ich war nicht bei der Premiere die Carmen!«
»Wurscht!«, freut sich Felix. »Ist das nicht ein Wahnsinns-Sound aus der Stereoanlage?«
Er dreht das Radio auf volle Lautstärke, und zu meinem Entsetzen tönt mir die »Habanera« aus Carmen entgegen. Allerdings von der jungen Russin.
Nicht von mir.
»Hey, das kenn ich doch!«, ruft Felix begeistert. Er fuchtelt dirigierend in der Gegend herum, als wäre es ihm völlig egal, wer da meinen Gehörgang beleidigt. Also, nicht dass ich da genau hinhören würde, aber …
Die Russin singt leider gut.
Um genau zu sein - sie singt fantastisch. Ich bin ja völlig neidlos. Ich kann das ohne Probleme zugeben. Sie singt gut.
Meine müden Gehirnhälften nicken wohlwollend mit den ergrauten Köpfen. Jaja, murmelt Herr Dr. Vernunft. Das muss man der Jugend lassen. Die kennt noch keine Angst. Die singt einfach. Die ist ein Naturtalent.
Jetzt kommt das hohe H.
Ich zucke zusammen und presse mich in den Ledersitz.
Das ist so was von unfair!
Herr Karriere-Geil in der unteren Büroetage wird ganz grün im Gesicht. Ich meine, das kann die doch nicht bringen!
Mal eben am Premierentag um zehn vor sechs einspringen und dann auch noch volle Wäsche im Radio rumplärren! Die hat ja kaum ihr Ausreisevisum gehabt! Und kann kein Deutsch und nichts! Die hat doch meines Wissens letztes Jahr noch als Putzfrau gearbeitet, in der Oper von Nowosibirsk oder so. Das haben sie in der Kantine erzählt.
Aber was schert uns die Russin.
Viel wichtiger ist doch jetzt, wie es meinem Großvater geht, nicht wahr?
Im Moment schläft er. Felix hat ihn in diesem Riesenauto aus Oer-Erkenschwick abgeholt und ihn mitsamt Rollstuhl und Habseligkeiten mit 240 Sachen zu uns nach Sophienhöh gebracht. Also … in das liebe kleine Altersheim.
Erste Sahne. Wirklich. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Der Blick aus seinem Dachfenster ist auch ganz schön.
Über das Schloss Sophienhöh, den See, die Berge und alles.
Aber wenn man im Rollstuhl sitzt, sieht man natürlich nur ein Stück Himmel und einen Ast von der Kastanie, die im Altersheimgarten steht.
Aber ich werde ihn ja jeden Tag an die frische Luft schieben. Versprochen.
Das kriegen wir schon hin. Ich wollte sowieso öfter spazieren gehen. Und wenn ich demnächst mit Carmen auf Welttournee gehe, dann erledigt Felix das. Die werden schon Spaß haben, die zwei. Ich weiß es. Das sagt mir meine weibliche Intuition.
Plötzlich schießt mir das Adrenalin nur so in die Adern.
Wenn ich auf die Welttournee gehe …
Verdammt. Warum singt die denn so … schamlos gut?!
Die ist doch gerade erst fünfundzwanzig oder so?! Die kann ja überhaupt noch keine Ausstrahlung haben. Und keine Erotik. Woher denn auch. Ich meine, die Carmen ist eine reife Frau, die die Männer an der Nase herumführt, die sich nimmt, wen sie will, die nur mit den Fingern schnippen oder mit den Kastagnetten klappern muss, und den Offizieren und Toreros steht schon das Messer in der Hose. Und so was bringt eben kein russisches Chormädchen, das vorgestern noch in Nowosibirsk die Kantine geputzt hat. Dazu braucht es einfach … Lebenserfahrung, weibliche Reife, Erfahrung, Raffinesse. Reden wir doch mal Klartext, Leute.
Als die Arie auf dem hohen Fis endet, kneife ich die Augen zusammen.
Bitte jetzt keinen Beifall. Jedenfalls nicht allzu viel.
Bitte nicht. Ihr fandet sie nicht gut.
Beifall rauscht, dass es die Boxen der Stereoanlage sprengt. Das Publikum brüllt und johlt und pfeift, Füßegetrappel, Da-capo-Rufe, und das im hochheiligen Festspielhaus.
Mir schießen die Tränen in die Augen, aber das macht bestimmt der...
Gegenwind. Ich meine, dieser Porsche hier hat ein Schiebedach, und das ist offen.
Nicht dass ich ihr das nicht gönne, dieser … wie heißt sie überhaupt.
Olga Irgendwer.
»Die Krasnenko hat ja’ne Wahnsinnsröhre!«, freut sich Felix und drückt noch fester aufs Gaspedal.
Ich schweige eisern.
Er riskiert einen Seitenblick. »Aber an dich reicht sie noch lange nicht heran!«
»Felix, du verstehst doch gar nichts von Musik!«
Er legt liebevoll die Hand auf mein Bein: »Prinzessin! Du bist die Größte!«
»Ich weiß«, knirsche ich zwischen den Zähnen hervor. Können wir jetzt mal das Thema wechseln?
»Die Kleine singt auch die nächsten Vorstellungen, habe ich in der Zeitung gelesen.«
»Ich weiß.«
»Sie nehmen nur Rücksicht auf dich! Du hattest einen Todesfall in der Familie! Du brauchst Zeit, um in Ruhe zu trauern!«
»Felix, ich trauere in Ruhe!!«, schreie ich genervt.
»Na bitte! Dann haben wir endlich mal Zeit!«
Ich schaue Felix mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Ärger an.
Ich will nicht trauern. Ich will singen! Und zwar sofort!!
Die Carmen ist die Partie meines Lebens, und im Festspielhaus wäre ich zum Höhepunkt gekommen. Meiner Karriere, natürlich.
Kann sich eigentlich überhaupt jemand vorstellen, wie frustrierend es ist, kurz vor dem Karriereorgasmus von einer fünfzehn Jahre jüngeren Kollegin abgelöst zu werden?
»Weinst du etwa?«
»Nein. Ich halte mir den Bauch vor Lachen.«
»Du bist traurig. Sag’s.«
»Gut, okay, ich geb’s zu. Ich bin traurig.«
»Ich lade dich ein!«, ruft Felix begeistert. »Auf eine Traumreise! Nach Venedig! Da lachen wir den ganzen Tag!«
»Nach Venedig?«, jaule ich auf. »Wir haben gerade meinen Großvater ins Altersheim gebracht und ihm versprochen, ihn jeden Tag zu besuchen!«
Wenn ich schon nicht die nächsten Vorstellungen singe, verdammte Scheiße.
»Dann nehmen wir ihn mit!« Felix tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch und überholt mit lustvollem Schwenk einen Trecker, der mit Heuballen beladen ist. Einzelne Strohhalme flattern auf unsere Windschutzscheibe und klammern sich vergeblich an den Scheibenwischern fest, bis der Gegenwind sie gnadenlos wegpeitscht. Wie mich.
»Wir nehmen meinen Großvater mit nach Venedig?« Verwirrt glotze ich meinen Felix an. »Was soll er denn da?«
»Venedig sehen und sterben«, lacht Felix.
Na, der hat Humor.
»Weißt du, über wie viele Treppen wir ihn mit dem Rollstuhl tragen müssten?« Genervt mache ich das Radio aus. »Ausgerechnet Venedig ist kein bisschen behindertengerecht!«
»Ich dachte, Venedig könnte ihn ein bisschen ablenken.«
»Nein, mit Sicherheit nicht!«
Die Stadt ist eh so morbid. Da bringen mich keine zehn Pferde hin.
Ich war da mit Jürgen an unserem Hochzeitstag und verbinde nur traurige Erinnerungen damit. Endzeitstimmung. November. Ein Mozart-Requiem in der Markuskirche. Ein letzter Versuch, etwas zu beleben, was schon längst gestorben ist.
»Aber du musst mal raus hier! Du gehst mir ja zugrunde!« Felix macht das Radio wieder an. Die Krasnenko trällert ungehindert weiter. Jetzt tanzt sie barfuß mit den Kastagnetten auf dem Tisch.
Das ist mein Job! Ich könnte sie umbringen.
Das war mein Tisch. Meine Kastagnetten. Meine Arien. Mein Publikum. Mein Don José. Meine Gage!
Tralallala lala … lalala lallalala …
Ich habe diese Stelle geliebt. Ich fühlte mich immer so … einzigartig. Erotisch. Unwiderstehlich. Männermordend. Jung. An dieser Stelle vergaß ich immer, dass ich bald vierzig werde.
Und jetzt wird es mir grausam bewusst.
»Na, Großvater, wie geht es dir heute?«
Seufzen. Schweigen. Großvater sitzt im Rollstuhl und starrt vor sich hin.
»Ist das nicht ein toller Breitbildfernseher? Felix hat ihn extra mit dem Hausmeister hergeschleppt.«
Kein Kommentar.
War ganz schön teuer, das Dolby-Surround-Monstrum mit zweihundertachtzig Kanälen, möchte ich noch hinzufügen, aber über Geld spricht man nicht. Das hat man.
»Da kannst du dir jeden Tag Reich und Schön reinziehen«, gebe ich mich jovial. »In Lebensgröße.«
Großvater schweigt.
»Das ist meine Lieblingsserie«, plaudere ich betont heiter weiter. »Die gucke ich immer beim Turnen. Ich muss mich nämlich fit halten, wenn ich abends auf der Bühne barfuß auf dem Tisch tanzen will …«, scherze ich locker. Tja, denke ich kokett. Vielleicht wirft er jetzt mal einen Blick auf meine mühsam instand gehaltene Figur.
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