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Witzig, mit einer Prise Ironie und viel Gefühl
Zugegeben, der Sparkassendirektor Jürgen war nie Lottas Traummann. Aber ihm hat sie drei entzückende Kinder und die eigene Musikschule zu verdanken. Das hält so lange, bis der Flötist Christian auftaucht und Lotta vor Augen führt, in welch ausgetretenen Schuhen sie durchs Leben geht. Jürgen schießt in seiner Eifersucht ein Eigentor nach dem anderen. Aber hat Lotta den Mut, die alten Latschen gegen die High Heels einzutauschen?
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Seitenzahl: 475
HERA
LIND
Männer
sind wie
Schuhe
ROMAN
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Copyright © 2012 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Satz | Leingärtner, Nabburg
Covergestaltung: t.mutzenbach design, München
Covermotiv: Shutterstock.com (lyeyee, Yulia Sribna, Whitevector, Anya D)
ISBN 978-3-641-07388-6 V004
www.diana-verlag.de
Für meine wundervollen Wanderschuh-Freundinnen: Monika und Brigitte, die auch in Pumps eine tolle Figur machen!
Männer sind wie Schuhe.
Sie können uns größer und schöner wirken lassen, unsere positiven Seiten unterstreichen. Sie können uns bei Wind und Wetter über Stock und Stein tragen. Sie können uns den Rücken stärken, uns wunderbar wärmen und Halt geben. Sie können solide sein, aus unverwüstlichem Material. Sie können so kostbar sein, dass wir für sie auf vieles andere verzichten.
Oft wissen wir schon von Weitem, dass wir sie unbedingt besitzen wollen. Oder wir sehen sie an einer anderen Frau und könnten sie dafür erschießen. Andere sehen wir im Regal und wissen, dass wir sie niemals haben können. Von ihnen träumen wir bis ans Ende unseres Lebens.
Manchmal sind sie uns eine Nummer zu groß, dann wirken wir vergleichsweise plump. Wir riskieren ständig, sie zu verlieren, versuchen, so würdevoll wie möglich damit auszusehen, machen uns aber einfach nur lächerlich.
Andere sehen fantastisch aus, hinterlassen aber böse Spuren. Doch trotz der Schmerzen gehen wir mit ihnen weiter: Weil wir mit ihnen in der Öffentlichkeit gut dastehen. Weil wir einfach keine Besseren finden oder weil wir sie nun mal an der Hacke haben. Obwohl wir schon schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht haben und die Wunden gerade erst verheilt sind, kommen wir immer wieder in Versuchung, ihnen noch eine Chance zu geben.
Mit wieder anderen halten wir es nicht lange aus. Schon nach kurzer Zeit werfen wir sie in die Ecke und verfluchen sie. Oft fragen wir uns im Nachhinein, wie wir ausgerechnet an sie geraten konnten.
Wenn sie spitz sind und einen schlanken Fuß machen, hat man zwar aufregende Momente mit ihnen, aber im Alltag bewähren sie sich nicht. Die Bequemen wiederum sind meistens flach und langweilig. Die gefallen unserer Mutter.
Manche sind alt und ausgetreten. Irgendwann hilft dann auch die größte Liebe nicht mehr, und wir müssen sie schweren Herzens entsorgen.
Männer sind wie Schuhe.
Die perfekten sind nicht leicht zu finden. Aber wenn wir sie gefunden haben, wollen wir sie gleich anbehalten.
»Nebenan sitzt schon wieder der Bäckermeister!« Nach zögerlichem Klopfen steckte meine Sekretärin Brunhilde Zweifel ihren Kopf mit der grau melierten Kurzhaarfrisur zur Tür herein. Ihre Stimme klang verschwörerisch, und sie verdrehte genervt die Augen. »Sie wissen schon, der Gerngroß!«
»Ich kann jetzt nicht!« Mir brach der Schweiß aus. »Schicken Sie ihn weg. Sagen Sie ihm, ich bin in einer wichtigen Besprechung.«
»Frau von Thalgau.« Die Sekretärin zwängte ihre füllige Gestalt durch den Türspalt und parkte sie quasi im eingeschränkten Halteverbot zwischen Tür und Angel.
»Frau Zweifel, bitte! Sie sehen doch: Ich bin nicht allein.«
Ja, das tat sie allerdings. Wohlwollend ließ sie ihren Blick über den männlichen Besucher gleiten, der bei mir im Büro saß. Ihr Gesicht sprach Bände: Was für ein Prachtexemplar!, sagte es anerkennend. Und ich konnte ihr nur stumm recht geben. Der Soloflötist von den Wiener Philharmonikern war mir regelrecht zugeflogen! Sein Name war Christian Meran. Er hatte sich in unsere abgelegene Kleinstadt verirrt wie eine Nachtigall an einen Froschtümpel. Brunhilde Zweifel stand Bewunderung, aber auch Neid in den Augen.
»Liebe Frau Zweifel!«, sagte ich würdevoll. »Bitte! Tür zu und kein Bäckermeister heute!«
Heute war ein besonderer Tag, das spürte ich. Ein seltsames Gefühl keimte in mir auf, so ein leichtes, angenehmes Prickeln, das mich in diesen nach Bohnerwachs und Schülerschweiß riechenden Räumlichkeiten schon lange nicht mehr heimgesucht hatte. Vielleicht sogar noch nie.
Brunhilde Zweifel schüttelte bedauernd den Kopf. »Der Bäckermeister ist … Sie wissen ja, nicht abzuschütteln.« Ein Recht, das sich Brunhilde ebenfalls herausnahm.
»Frau Zweifel. Bitte. Das ist Ihr Job. Schicken Sie ihn weg. Ich möchte jetzt nicht gestört werden.« Mein Blick wanderte unmissverständlich zur Tür. Am liebsten hätte ich ihre unförmige Gestalt eigenhändig wieder nach draußen geschubst. Aber sie sah mich an, als hätte ich einen Teller Kekse vor mir und würde mich weigern, ihr einen davon anzubieten.
»Wie gesagt, ich bin nicht zu sprechen. Für NIEMANDEN!«, zischte ich nachdrücklich, um meinen Gast Christian Meran gleich darauf strahlend anzulächeln. Der verfolgte den kleinen Disput interessiert, und um seine Mundwinkel zuckte es amüsiert. Mir wurde plötzlich schwach in den Knien.
»Und jetzt gehen Sie. Tür – von – außen – zu!«
»Aber Frau von Thalgau«, widersprach Frau Zweifel energisch. »Jeden kann ich wegschicken. Auch den amerikanischen Präsidenten. Aber den – den kriegen keine zehn Pferde aus dieser Musikschule! Sie wissen ja: der penetranteste Vater der ganzen Stadt.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war mir peinlich, so ratlos zu sein!
»Er will, dass seine Viktoria beim Konzert heute Abend neben dem Wiener Philharmoniker auf der Bühne sitzt!«
»Woher weiß er denn überhaupt, dass der Wiener Philharmoniker hier ist?«
»Keine Ahnung, aber Sie wissen ja: Er hört das Gras wachsen!«
Das Grinsen des Wiener Philharmonikers wurde immer breiter. Aber was der schöne Fremde nicht wissen konnte: Frau Zweifel hatte leider recht. Ich hatte noch nie in meinem Leben mit einem penetranteren Menschen zu tun gehabt als mit Bäckermeister Gerngroß. Der war felsenfest davon überzeugt, seine Tochter Viktoria habe mit ihrer Klarinette das Zeug zum Weltstar, doch ich würde ihr Talent aus Bösartigkeit oder Ignoranz einfach nicht anerkennen. Aber es gibt Momente im Leben, die kommen nicht wieder. Und das war so einer.
»Frau Zweifel, sagen Sie dem Bäckermeister, ich bin heute Morgen mit Blaulicht abgeholt worden. Ihnen wird schon irgendwas einfallen.« Ich schickte ein Lachen hinterher, das eine klitzekleine Spur zu schrill geriet.
»Der Bäckermeister hat Ihre Stimme schon gehört. Er wartet auf dem Flur und weiß, dass Sie im Hause sind.«
Ich stand entschlossen auf: »Der Bäckermeister hat jetzt keinen Termin.« Mit diesen Worten schloss ich energisch die Tür. Brunhilde Zweifel konnte gerade noch ihre wogenden Weichteile in Sicherheit bringen.
»Es tut mir leid«, sagte ich endlich wieder an Christian Meran gewandt und schluckte nervös. »Das sind so die Probleme einer Kleinstadtmusikschulleiterin.«
»Lassen Sie den Bäckermeister doch rein!« Der Flötist lächelte mich aufmunternd an. »Wenn er frische Brötchen dabeihat?«
»Sie kennen den Herrn nicht«, sagte ich dumpf. »Aber wenn Sie ihn kennen, machen Sie lieber eine Nulldiät.«
Der Bäckermeister litt eindeutig unter Größenwahn, was seine Tochter Viktoria anbelangte. Dabei war die Zwölfjährige wirklich begabt, und ich mochte das Mädchen auch sehr. Aber ihr Vater war das reinste Brechmittel. Die arme Vicki hätte wirklich einen anderen Vater verdient, nach allem, was sie schon hatte durchmachen müssen.
»Ich bin beeindruckt, wie Sie das hier alles managen!« Und das sagte ausgerechnet Christian Meran, die »goldene Flöte«! Ich hatte sie schon oft im Fernsehen gesehen, also alle beide, den Mann und seine Flöte, ganz groß in Nahaufnahme. Der Mann musizierte nicht nur hinreißend, er sah auch noch außergewöhnlich gut aus. Christian Meran hatte volles dunkles Haar, das ihm beim Spielen in die Stirn fiel wie in der Shampoowerbung. Und nun saß er hier bei mir in dieser muffigen Musikschule und war bereit, heute Abend spontan im Konzert mitzuspielen! In meinem Schülerkonzert! Ich lehnte mich Halt suchend ans Fenster. Meine roten Haare, die sich heute noch weniger bändigen ließen als sonst, umloderten förmlich mein Gesicht. Und das war schon rot genug vor lauter Aufregung.
Draußen ragte der weihnachtlich beleuchtete Kirchturm von Heilewelt in den Himmel. Schnee fiel lautlos auf das Blechdach der gegenüberliegenden Sparkasse und blieb dort liegen wie Puderzucker. So schön der Anblick auch war, erinnerte er mich doch an meine Hausfrauenpflichten. Jetzt hatte ich es noch nicht mal mehr geschafft, für den morgigen Heiligabend einzukaufen! Geschweige denn Vanillekipferl und Zimtsterne zu backen wie jede andere Hausfrau in Heilewelt. Mein Leben verlief hektisch bis chaotisch, ich tanzte auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig. Aber welche berufstätige Mutter tut das nicht? Dafür hatte ich einen echten Wiener Philharmoniker in unsere Musikschule locken können! Und nicht nur irgendeinen, sondern DEN Soloflötisten! Man kann eben nicht alles haben. Die Herren der Schöpfung beschimpft auch keiner als schlechte Hausmänner, nur weil sie beruflich aufgehalten werden. Hätte mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel beispielsweise Penelope Cruz für einen Bauspar-Werbespotin seine Sparkasse gelockt, hätte ICH da auf seinen Haushaltspflichten bestanden? So nach dem Motto: Wo warst du, warum hast du nicht eingekauft und gekocht? Warum haben die Kinder Rotznasen, und wo sind die Geschenke? Warum steht der Baum noch nicht, und was guckst du so gestresst? Nur von uns Frauen wird das alles erwartet. Berufstätig, eine tolle Mutter und Hausfrau sein, super aussehen und immer gute Laune haben. Die Welt ist so was von unfair!
Aber Moment mal, warum schaute mich dieser Flötist denn so belustigt an? Hatte ich etwa Selbstgespräche geführt? Ich räusperte mich verlegen und klammerte mich an den Heizkörper hinter mir. Oh Gott! Heute Abend war DAS Konzert. Das Konzert, von dem die ganze Stadt seit Wochen sprach, ach, was sage ich: seit Monaten. Und ich hatte mich noch nicht mal geschminkt und meine tausend Sommersprossen abgedeckt, wo doch dieser schöne Musikus hier war. Leider auch der unsägliche Bäckermeister! Auf einmal herrschte Totenstille. Das Klimpern und Geigenkratzen, das Tröten und Blasen der Übenden schien wie auf Kommando verstummt zu sein. Nur mein Herzklopfen war weithin zu hören.
»Also … wo waren wir stehen geblieben?« Ich fuhr mir nervös über die Stirn. »Wie gesagt, ich bin überglücklich, dass Sie in unsere schöne kleine Stadt Heilewelt gekommen sind und uns bei unserem Konzert heute Abend unterstützen wollen.«
Ich fröstelte und schwitzte zugleich. Wir hatten überhaupt noch nicht über das Honorar geredet! Es würde hoffentlich nicht fünfstellig sein?! Panik erfasste mich. Dieser Weltklassemusiker war sicher nichts anderes gewöhnt. Ich würde mir seine goldene Flöte nie leisten können! Auch wenn die Heilewelter Sparkasse der Sponsor der Musikschule war – genauer gesagt mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel, der Direktor ebenjener Sparkasse –, musste ich mit diesem Geld gut haushalten.
»Es macht mir Spaß, mit Kindern zu musizieren«, erwiderte Christian Meran lächelnd. »Erstens liebe ich ›Peter und der Wolf‹. Und zweitens … unter so charmanter Leitung!«
Er schenkte mir einen vielsagenden Blick, und mein Magen zog sich plötzlich ganz komisch zusammen.
»Ich habe Sie während der Proben beobachtet«, sagte er mit einem warmen Unterton. »Mit welchem Temperament und mit welch ansteckender Begeisterung Sie da ein Orchester aus hundert Kindern dirigieren!« In seinen braunen Augen lag Anerkennung. »Diese Kleinstadt kann sich glücklich schätzen, Sie zu haben.«
Ich machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Das hatte noch niemand zu mir gesagt. Im Gegenteil. Alle ließen mich immer spüren, wie dankbar ich sein müsse, diese Musikschule leiten zu dürfen. Mit dem Geld der Heilewelter Sparkasse, bei der ich dafür einen riesigen Kredit aufgenommen hatte. Verlegen massierte ich mir die Schläfen. Unfassbar, dass mir dieser Weltklassemusiker tatsächlich so zauberhafte Komplimente machte. Wenn der wüsste, was das für ein täglicher Nahkampf war! Die Schüler bekam ich inzwischen gut in den Griff – wenn nur die überehrgeizigen Eltern nicht wären! Ich dachte da vor allem an einen ganz bestimmten Bäckermeister, der im Begriff war, mir meinen Wiener Philharmoniker wegzunehmen. Er würde ihm viel Geld bieten, damit er seiner Vicki Privatstunden gab und sie dann als Meisterschülerin … Abrupt schüttelte ich den Kopf.
»Ich weiß gar nicht, ob wir uns das überhaupt leisten können«, brachte ich schließlich krächzend hervor. Besser, man sprach die unangenehmen Dinge sofort an. »Unser Budget ist ebenso klein wie unsere Stadt«, stotterte ich mit glühenden Wangen.
Christian Meran gluckste. »Machen Sie sich wegen der Gage mal keine Sorgen. Ich sehe das als Benefiz-Auftritt. Morgen ist schließlich Weihnachten.« Er bekam jede Menge entzückende Lachfältchen, als er schelmisch hinzufügte: »Früher war ich bei den Pfadfindern, und unser Motto war: ›Jeden Tag eine gute Tat.‹«
Mein Herz machte einen nervösen Hopser, und ich strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Er spielte umsonst! Wie cool war das denn! Ich konnte mein Glück kaum fassen. Das machte unser Konzert zum Jahrhundert-Event! Das war etwas ganz anderes als das Gequietsche aus spuckedurchtränkten Schülerflöten, das ich meinem Publikum sonst zumutete! Am liebsten wäre ich dem Mann um den Hals gefallen! »Sie machen das gratis?«
Der Wiener Philharmoniker schielte auf den Briefkopf auf dem Schreibtisch, um meinen Namen noch einmal zu lesen: »Liebe Frau … von Thalgau, es ist mir ein Vergnügen! Nachdem ich hier in der Nähe einen Meisterkurs abgehalten habe, kann ich auch noch einen Abend dranhängen.« Er sah mich aus seinen dunkelbraunen Augen warmherzig an. »Als ich auf der Durchreise Ihr Plakat sah, dachte ich: Toll, dass Sie als Direktorin einer Musikschule so ein anspruchsvolles Konzert auf die Beine stellen. Das unterstütze ich gern.«
Oh Gott, dachte ich. IST der süß! Den würde ich gern näher kennenlernen. Aber die Nachtigall war zu spät zum Froschtümpel gekommen. Da schwamm schon jede Menge Laich drin herum, ein Froschkönig schwang bereits das Zepter, und ich alte Kröte … Ich musste mich dringend zusammenreißen! Schließlich war ich Mutter von drei kleinen Kindern! Und in festen Sparkassendirektor-Händen!
Der Flötist war noch nicht fertig: »Sie haben begabte Schüler.«
Ja!, dachte ich. Besonders die Klarinette spielende Tochter vom Bäckermeister. Der mich bestimmt gleich nerven wird bis zum Wahnsinn. »Na ja, all das habe ich nur aufbauen können, weil die Stadtsparkasse von Heilewelt diese Musikschule großzügig unterstützt!« Ich wies mit dem Kinn auf das Haus gegenüber mit dem grellen Sparkassenschild. Und dem Plakat »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft«. Dort saß jetzt mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel an seinem Schreibtisch und kümmerte sich um seine Zahlen. Ich hatte ihn noch nie etwas anderes tun sehen. Na, gut, von ein paar wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.
»Großartig«, sagte der Querflötist. Er hatte ein entzückendes Grübchen am Kinn. »Sie haben da was auf die Beine gestellt, was man dieser … ähm … abgelegenen Kleinstadt gar nicht zutrauen würde.«
»Kleinstadt ist ja noch geschmeichelt für Heilewelt«, beeilte ich mich zu sagen. »Eigentlich ist das eher eine Nachkriegssiedlung vom Reißbrett, die im Lauf der Jahre an die fünfzig Dörfer eingemeindet hat.« Ich rieb mir verlegen die eiskalten Hände. »Aber die Arbeit hier macht wirklich Spaß. Ich kann schalten und walten, wie ich will, habe engagierte Lehrer, hoch motivierte Eltern« – was erst recht geschmeichelt war, wenn man an den größenwahnsinnigen Bäckermeister dachte –, »und es gibt vielversprechenden Nachwuchs.« Ich ertappte mich dabei, wie ich versuchte, das Gespräch in die Länge zu ziehen.
Christian Merans Lippen kräuselten sich freundlich. »Sogar Ihre drei Kinder sind mit dabei, wie ich dem Programmheft entnommen habe?«
Ich errötete noch mehr. »Na ja, meine Zwillinge hauen auf Triangel und Trommel herum, und Paul, mein Achtjähriger, spielt schon ganz ordentlich Cello.«
»Da ist Ihr Mann sicher mächtig stolz auf seine Familie.«
»Ja. Das ist er.«
Ich überlegte gerade, ob ich es doch noch schaffen würde, einen Gänsebraten im Supermarkt zu erbeuten, als es klopfte. Ich wusste es! Der Größenwahnsinnige. Der Bäckermeister. Am liebsten hätte ich ihn umgebracht. Noch lieber hätte ich noch stundenlang mit diesem gebildeten und überaus gut aussehenden Flötisten geplaudert.
Frau Brunhilde Zweifel zwängte sich erneut zur Tür herein. »Frau von Thalgau, er lässt sich nicht abwimmeln!«
Nein. Das hatte er noch nie getan. Im Gegenteil. Ich musste den Beckenboden anspannen, um das Wutpipi zu unterdrücken. Und da stand er auch schon, mit seinem starren Blick und der Hitlerfrisur. Seine unverwechselbare Gestalt überragte meine Sekretärin wie ein Leuchtturm eine dicke Düne.
»Lodda, nur zwei Minudn!«, schnarrte er in seinem scheußlichen fränkischen Dialekt.
Meine Halsschlagader pulsierte. Warum hatte es ihn nur ausgerechnet zu uns nach Niedersachsen verschlagen müssen? Und wie konnte er es wagen, einfach so hereinzuplatzen? Und mich »Lodda« zu nennen wie eine … dahergelaufene Fußballergattin? Jetzt, wo ich wirklich wichtigen Besuch hatte? Zwei Minuten bedeuteten bei ihm zwei Stunden. Er würde uns gleich einen Vortrag über das unglaubliche Talent seiner Tochter halten, darüber, dass sie eine sensationelle Weltkarriere hinlegen und damit Millionen und Abermillionen verdienen könne. Geld, das doch letztlich der ganzen Stadt, dem ganzen Land, ja dem Universum zugutekäme. Ich war mir sicher, dass er seit dem Unfalltod seiner Frau wahnsinnig geworden war. Im Grunde musste man Mitleid mit ihm haben. Erschöpft drückte ich den Rücken durch.
»Gerngroß, das geht jetzt nicht!« Seinen Vornamen hatte ich vor langer Zeit als unnützes Wissen verbucht. Ich hatte echt Wichtigeres im Kopf! Leider duzten wir uns, wie das zwischen den meisten Eltern und mir so üblich war. »Du siehst doch, ich bin in einer Besprechung! Mit einem Wiener Philharmoniker!«
Doch davon ließ sich der Bäckermeister nicht abschrecken. Im Gegenteil. Jetzt hatte er ein neues Opfer gefunden.
»Des passt mir ganz genau. Des will ich ja grad erraichn. Des mer mit den internationalen Stars zusammenarbeidn. Da samma ganz vorrn dabai!« Er steckte meinem Gast die fleischige Hand hin: »Gerngroß. Ich bin der Vadda von der Viktoria. Die Vicki spielt die Klarinedde. Haben Sie die schon bemerkt?«
»Ich weiß nicht …«
»Die Vicki kann man gar nicht übersehen, die sitzt nämlich …«
»Gerngroß!«, zischte ich und ballte die Hände heimlich zu Fäusten.
»Ich mach die besten Bauernkrapfen im Umkreis von hundert Kilometern. Außerdem bin ich CDU-Mitglied und wär fast schon mal Börchermaister von Heilewelt geworden.«
Ich verdrehte genervt die Augen. Das wäre definitiv das Aus für unsere liebe Kleinstadt gewesen. Bäckermeister Gerngroß würde nicht mal davor zurückschrecken, einen Weltkrieg anzuzetteln, wenn seine Viktoria dadurch Karriere machen konnte. Mein Blick glitt ebenso Hilfe suchend wie wütend zu Brunhilde Zweifel, aber die hatte sich bereits mit erstaunlicher Wendigkeit aus der Gefahrenzone gebracht.
Christian Meran warf mir einen verständnisvollen Blick zu. »Auf Ihre Krapfen bin ich gespannt«, sagte er höflich zum aufgeregten Bäckermeister. »Und auf Ihre Tochter Vicki natürlich auch. Ich wollte sowieso gerade gehen.« Er griff nach seinem Flötenkoffer und wandte sich zur Tür.
Am liebsten hätte ich den Koffer genommen und ihn dem Bäckermeister über den Schädel gezogen! Er hatte es tatsächlich geschafft, meinen Besuch zu vertreiben!
Freundlich lächelnd gab Christian Meran mir die Hand: »Frau von Thalgau, wir sehen uns ja heute Abend im Konzert. Die Tempi haben wir besprochen, und wenn Sie so dirigieren, wie Sie die Musikschule leiten, werden wir nicht in Turbulenzen kommen.«
Ich wollte aber mit diesem Mann in Turbulenzen kommen! Allzu gern! Doch wer kommt in Heilewelt schon in Turbulenzen, wenn er drei Kinder und einen biederen Sparkassenleiter zu Hause hat? Der Einzige, der mir hier Turbulenzen machte, war ein größenwahnsinniger Bäcker, der sein behindertes Kind der Weltöffentlichkeit zum Fraß vorwerfen wollte. Aber das war doch kein Grund, einen Kinderstar aus ihr zu machen? Wenn Heilewelt ein Froschtümpel war, dann war der Bäckermeister der lauteste Frosch mit der größten Kehlkopfblase. Irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, sein vom Schicksal gebeuteltes Mädchen ins grelle Scheinwerferlicht zu zerren. Der Bäckermeister sollte lieber weiterhin kleine Brötchen backen – was er wirklich gut konnte – und hinter seinen Ofen gehen!
Gern hätte ich die filigrane Flötistenhand länger festgehalten, doch wieder wurde ich vom Bäckermeister verdrängt.
»Sagn S’ mal.« Der Bäckermeister hinderte den Flötisten am Gehen und klopfte ihm jovial auf die Brust: »Sie sind doch bei einem Weltklasseorchester. Sie haben doch die besten Kontakte.«
Christian Meran schaute mich fragend an. Ich verdrehte die Augen. Ich wusste genau, was jetzt kam.
»Meine Vicki ist was ganz Besonderes. Man könnt sie weltweit vermarkten und richtig Kohle mit ihr machen. Sie sitzt nämlich …«
»Sie sitzt im Orchester«, unterbrach ich ihn mit schneidendem Ton. »Wie viele andere Kinder auch.«
»Ja, aber sie spielt ausgesprochen gut Klarinedde. Und sie ist eben anders als die anderen. Des kommt gut rüber. Auch wer klassische Musik nicht mag, schaut hin, wenn des Mädel spielt.«
»Gerngroß!« Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, ihm eine Stimmgabel an den Kopf zu werfen.
»Bildhübsch isse. Blonde lange Haare, ganz zartes Mädchen, wiegt kaum vierzig Kilo. Was könn mer denn da machn?«
Christian trat instinktiv einen Schritt zurück. »Das wird Frau von Thalgau Ihnen sicher sagen können. Schließlich ist sie die Direktorin dieser Musikschule.« Er zuckte hilflos mit den Achseln, als er mein wütendes Gesicht sah.
»Naa, die unterstützt mich net!« Der Bäckermeister war aufrichtig erbost. »Meine Vicki ist das Beste, was diese Musikschul zu biedn hat. Heilewelt könnte weltweit berühmt werden! Wir könnten die internationale Presse kriegn! Aber die Lodda will des net!«
»Ich will nur deine Tochter nicht in die Öffentlichkeit zerren, Gerngroß! Die soll hier eine schöne Kindheit haben, nach alldem, was ihr widerfahren ist!«
Christian Meran sah von einem zum anderen. Was ist ihr denn widerfahren?, schienen seine braunen Augen besorgt zu fragen. Außer diesem Vater? Kann es da noch eine Steigerung geben?
Der Bäckermeister wischte meine Einwände beiseite. »Sie als Profi müssen doch ihr Talent und ihr Vermarktungspotenzial erkennen. Des hat mit Mitleid nix zum tun! Die Vicki spielt heut Abend die Ende.«
»Das Ende?«, versuchte Christian Meran das Fränkische zu korrigieren.
»Die Ente«, übersetzte ich. »Nein, sie spielt die Katze. Die KATZE, Gerngroß. Die Oboe ist die Ente.«
»Wieso Mitleid?«, fragte Christian irritiert. »Wenn sie so begabt ist und so gut spielt?«
»Ihre Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, sagte ich mit belegter Stimme. »Und sie selbst wurde schwer verletzt.«
»Ende, Katse, des is doch wurscht!« Gerngroß baute sich vor Christian Meran auf: »Meine Vicki ist hochbegabt, auch ohne Beine! Mer ham en Test machn lassn, da war se drrraai! Da konnt se schon ›Alle maine Entchen‹ auf dem Klavier spieln! Fehläfrai!« Er packte Christian Meran an den Schultern. »Und jetzt nach dem Unfall könn mer se ganz toll vermarktn, das wär ein subber Image für die Musikschul. Da käm richtig Kohle rein.«
»Gerngroß!«, zischte ich warnend. »Es reicht.«
Der Bäckermeister klammerte sich am Flötisten fest: »Ich möcht Ihr fachmännisches Urteil einholn. Schaun S’ sich des Madla an. Wie s’ dasitzt. Ein Publikumsmagnet. Alle guggn nur auf meine Vicki. Sie muss zu ›Weddn dass‹!«
›Wetten, dass?‹ Christian Meran war sichtlich irritiert. »Als was?«
»Als Klarinettistin«, sagte ich trocken. »Die Noten lesen kann.«
»Meine Tochtä hat das Zeug zum Weltstar!« Der Bäckermeister packte den Flötisten am Ärmel. »Sie könne das doch bestimmt arrangiern! Sie kenne doch sichä den Gottschalk und die ganzen Leut vom ZDF!«
»Äh … nein.« Christian Meran machte sich sanft los und trat noch einen Schritt zurück. Mehr ging nicht, denn dann kamen ich und das Fenster.
»Gerngroß, du vertreibst mir noch unseren wirklichen Weltstar«, stammelte ich betont fröhlich. »Nachher fliegt unser Vogel davon, noch bevor das Konzert begonnen hat!«
»Ach was! Ich lass mich nicht mehr ausbremsen von dir, Lodda! Du willst ja das Potenzial meiner Tochter net anerkenne!« Wütend funkelte mich der Bäckermeister an. »Du tust so, als wär sie irgendeine dahergelaufene kleine Schülerin wie alle andern, die von Tudn un Blasn keine Ahnung ham!« Ich schämte mich entsetzlich. Ich spürte, wie es in mir brodelte.
»Gerngroß, lass unseren Gast los!«
»Der will net kapiern! Genau wie du, Lodda! Mei Madla kann Weltkarriere machn! Aber nur solang se noch so klein ist! Die muss man JETZT vermarkten, JETZT! Später, wenn se aussieht wie alle anderen Rollstuhlfahrer, ist unser Pulver verschossen!« Er wandte sich erhitzt an den Flötisten, der sich hinter meinem Schreibtisch in Sicherheit gebracht hatte, während Frau Zweifel entsetzt durch den Türspalt spähte: »Ich hab schon alle Bäckerei-Großmärkte und Backwaren-Konzerne mit im Boot! Wenn meine Vicki erst berühmt ist, gibt es das Vicki-Mohn-Hörnchen, das Vicki-Vollkorn-Brötchen und das Vicki-Schwatzbrot in jedem Supermarkt! Für den Knochenaufbau! Da steig mer ganz groß in die Werbung ein!«
»Gerngroß, das ist dermaßen deplatziert und geschmacklos …« Ich schluckte.
»Vitamin B!« Der Bäckermeister hieb mit der Faust auf den Tisch. »Beziehunge! Meine Vicki braucht den Auftritt bei Weddn dass! Mit den Wiener Philharmonigern! Des lässt sich doch sichä ainrichtn! Sie kriegen von mir dafür lebenslang die Berliner gratis!«
»Wie? Die Berliner Philharmoniker?« Christian Meran war wirklich schlagfertig.
»Nein, Sie Witzbold. Die Berliner Krapfen!«
Ich atmete schwer. Mir war die Situation völlig entglitten.
Christian Meran winkte ab: »Ach nein, vielen Dank. Ich versuche doch, in Form zu bleiben …«
»Jetzt stellen S’ sich doch nicht so stur!«, fiel ihm der Bäckermeister ins Wort. »Ich verköstige Ihr gesamtes Orchester lebenslang mit allen Backwaren, die Sie wollen. Vorausgesetzt, ihr lasst meine Vicki mit euch auftreten!«
Das artete fast in ein Handgemenge aus. Frau Zweifel überlegte bestimmt schon, die Polizei zu rufen. Ich schob mich zwischen die beiden Männer und versuchte meinen Gast zu schützen. Der legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter.
Erklärend drehte ich mich zu Christian Meran um: »Sie ist zwölf, und sie sitzt im Rollstuhl.«
»Ja, des isses ja gerade!« Der Bäckermeister raufte sich die Haare. »Kapiert des denn niemand hier in dieser verschissenen Kleinstadt? Mit den richtigen Partnern kann man die ideal vermarkten. Da kriegen wir viele Prominente mit ins Boot! Alle wollen doch was für behinderte Kinder tun, jetzt packen wir die Promis am Kragen!«
»Nur weil deine Vicki behindert ist, macht sie noch lange keine Weltkarriere!«
»Aber dieses Contergankind mit die kurzn Ärmchen! Der Sänger! Und die blinde Corinna! Behinderung sells!«
»Gerngroß, es REICHT!«
»Ich werde ganz sicher ein Ohr für Ihre Tochter haben.« Christian Meran zog seinen Anzug glatt und klopfte dem Bäckermeister tröstend auf die Schulter. »Aber aufgrund einer Behinderung pflegen die Wiener Philharmoniker niemanden einzustellen.«
»Weil die dumm sind!«, regte sich der Bäckermeister auf. »Wer will denn so einen Haufen langweiliger Männer im Frack fiedeln sehen? Ein blondes zartes Geschöpf im Rollstuhl dagegen …«
»Herr Meran, danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, machte ich dem Spuk endgültig ein Ende.
Christian Meran schaffte es bis zur Tür. Bevor er ging, sagte er: »Bis heute Abend also. Und jetzt ruhen Sie sich so kurz vor dem Konzert noch ein bisschen aus.« Gelassen drehte er sich zum Bäckermeister um: »Kommen Sie, lassen wir die Dame allein.« Dankbar sah ich zu, wie Gerngroß hinter ihm her trottete, während mir mein Retter vielsagend zuzwinkerte.
Nebenan schepperte das Gartentor. Ich schluckte und wagte nicht aufzublicken. Mist! Da kam Ursula Kobalik aus der Nachbarvilla angestapft. Sie würde doch jetzt nicht … Warum musste sie denn immer … Ja, hatte die denn überhaupt kein … Da war sie schon.
»Wo ist er denn mal wieder, dein treuer Göttergatte?« Meine resolute Nachbarin aus der Villa schräg oberhalb unseres Hauses kam durch die offen stehende Terrassentür herein und steckte ihre Nase neugierig in meinen Kühlschrank. Ganz so, als würde Christian sich dort vor ihr verstecken!
Ich sah sie ratlos an. »Kann ich dir behilflich sein?« Irgendwie störte es mich, dass die robuste Ursula so tat, als gehörte ihr das Haus. Sie war meine Nachbarin, hielt sich sicherlich auch für meine Freundin. Aber wann hatte ich eigentlich vergessen, sie darauf hinzuweisen, dass es auf der Hausvorderseite auch eine Klingel gab?
»Hast du keinen Champagner da?«
»Doch, natürlich«, erklärte ich würdevoll. »Hier.« Ich öffnete den Getränkekühlschrank, der in die Bar integriert war. »Dom Perignon oder Moët & Chandon?« Ich drehte mich um und holte tief Luft. Ich würde sie ohnehin nicht so bald wieder loswerden, also konnte ich sie mir auch schöntrinken. »Ich hätte hier auch noch eine Piper Heidsieck, die hat Christian von einem Konzert mitgebracht. Oder einen ganz ordinären Mumm, den hat ihm eine Schülerin nach einem Meisterkurs geschenkt.« Irgendwie schaffte ich es, mir ein strahlendes Lächeln abzuringen.
Ursula lehnte sich erfreut an die Arbeitsplatte und rieb sich die Hände. »Och, gib mal her, was offen ist.« Dann ließ sie sich mit ihrem ausladenden Hintern auf einen Barhocker sinken und sah sich suchend um: »Ist er wieder auf Konzerttournee?«
»Ja, was denkst denn du!« Ich seufzte. »Einen Tag vor Heiligabend ist mein lieber Mann leider immer noch unterwegs.«
»Und du Arme musst hier ganz allein den Weihnachtsbaum aufstellen?«
»Also, wenn Christian bis morgen Vormittag nicht zurück ist …« Ich schenkte der neugierigen Ursula ein Glas Champagner ein und prostete ihr zu. »Fröhliche Weihnachten jedenfalls.«
»Du, ich schick dir meinen Jarek rüber, der macht das!« Im Nu hatte Ursula Kobalik ihr Handy aus den Untiefen ihrer kaschierenden Gewänder gezogen und schrie hinein: »Jarek, wenn du bei uns drüben fertig bist, kommst du gleich rüber zu Frau Meran und stellst ihr den Baum auf! Aber zieh dir vorher die Stiefel aus, ihr Parkett ist schon geputzt!«
Sie grinste mich triumphierend an und leerte ihr Glas auf einen Zug. »Wer ist denn deine Putzfrau? Die ist ja wirklich klasse!«
»Also, ehrlich gesagt, habe ich das selbst gemacht.«
»Spinnst du? Du putzt selbst?«
»Na ja, meine letzte Perle hat mich verlassen.«
»Wieso hat die dich verlassen?«
Ursula Kobalik stützte die Hände in ihre massigen Hüften und sah mich an wie ein General einen kleinen Gefreiten, der nicht anständig gegrüßt hatte. Für den Moment schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben.
»Sie hat geheiratet«, entschuldigte ich meine treue Perle Annegret. »Ihr Mann möchte nicht, dass sie putzt.«
»Was ist denn das für ein eingebildeter Schnösel?« Wütend steckte sich Ursula eine Zigarette an und qualmte mir die Küche voll. »Den Leuten geht’s einfach zu gut!« Auf ihren Wangen erschienen hektische rote Flecken. Erneut wühlte Ursula Kobalik nach ihrem Handy und schnauzte hinein: »Olga? Du kommst mir bitte zum Putzen! Nein, nicht bei mir, sondern bei meiner Nachbarin, Frau Anita Meran! Die hellgelbe Villa rechts neben uns! Du weißt schon, die mit den Bremer Stadtmusikanten im Garten!«
Die Skulptur war ein Geschenk der Kobaliks gewesen. Zum Einzug. Sie fanden das stilvoll. Die Bremer Stadtmusikanten aus Marmor. Weil Christian ja Flötist war.
»Aber ich brauche gar nicht unbedingt …«
»Pscht!« Ursula Kobalik legte ihren Finger auf die Lippen und bedeutete mir, sie nicht zu unterbrechen. »Ich weiß, dass morgen Heiligabend ist!«, schnauzte sie weiter ins Handy. »Aber diese arme Frau wurde von ihrer Putzfrau verlassen! Ja, was soll sie denn da machen! Was? Ja, meinetwegen, bring deine Schwester mit. Aber nur für den groben Dreck, den Rest machst du.« Triumphierend hielt sie mir ihr Glas hin, das ich gleich wieder füllte. »Hunde und Putzfrauen«, sagte sie zufrieden, »brauchen den gleichen klaren Ton.«
Moment mal! Wieso organisierte Ursula Kobalik mein Leben? Ich hatte sie schließlich nicht darum gebeten! Mir fiel kurzfristig keine Antwort ein. Ich legte den Kopf schräg wie ein Hund oder vielleicht auch wie eine Putzfrau, die nicht genau verstanden hat, was sie tun soll.
»Es soll doch alles wunderschön sein, wenn dein Mann wiederkommt!« Ursula Kobalik grinste breit, sodass ich einen Blick auf ihre weiß gebleichten Zähne werfen konnte. Mütterlich tätschelte sie mir die Schulter: »Du brauchst doch morgen Zeit, dich selbst schön zu machen. Also nicht, dass du nicht schön WÄRST! Aber ich wette, für deinen Christian machst du das ganze Programm: Beine rasieren, Duftmaske, Maniküre, Pediküre, Haare schön, Möpse schön …« Sie lachte fett.
»Ach, Ursula!« Ich lachte auch. Was blieb mir auch anderes übrig? »Meinst du, das mache ich nur an Weihnachten und Ostern?«
»Nee. Ick weeß ja, dass de früher mal Model warst.« Wenn Ursula Kobalik ihre Vornehmheit vergaß, verfiel sie wieder in ihren Berliner Dialekt. »Und ’n Topmodel gleich dazu! Wenn ick heute die Heidi Klum und diese kleenen ordinären Jänse im Fernsehen sehe, denn denk ick imma, die hätten mal die Anita sehen sollen, als se jung und ledig war, wa!«
Sie lachte, dass ihr Doppelkinn schwabbelte. »Na ja, und jetzt sind deine Gören schon so hübsch wie de Mutta, wa! Die Große hat ja ’n Buuuusn! Det is ja der Hamma!«
Sie warf einen Blick auf unseren Konzertflügel, auf dem die gold gerahmten Fotos von unseren Töchtern standen: Grazia, die gerade strahlend ihren Golfpokal entgegennahm, und Gloria, die ganz verliebt ihr Pferd streichelte. »Wo sind se denn, die zwee Küken?«
»Bei ihren Freunden«, sagte ich lahm. »Vorglühen.«
»Wat issn det?« Ursula Kobalik nahm die Champagnerflasche und bediente sich einfachheitshalber selbst.
Das, was du gerade tust!, dachte ich leicht genervt. Aber ich traute mich nicht, das zu sagen. Ursula meinte es gut, das wusste ich, und sie hatte es auch nicht gerade leicht mit ihrem Wolfgang. So kam sie immer mal wieder auf ein Schwätzchen vorbei. Leider ging sie nie freiwillig. Ich musste mir immer einen Trick einfallen lassen, um sie wieder loszuwerden. Sie zog fragend eine Braue hoch, sodass ich mich gleich wieder wie in der Schule fühlte. Ein bisschen ertappt irgendwie.
»Wat machen die Mädels?« Ihre Stimme hatte einen entrüsteten Unterton.
»Sie trinken sich warm«, erwiderte ich lasch. »Für eine Party.«
»Und det erlaubste?!«
Ich kniff die Lippen zusammen. »Sie sind sechzehn und vierzehn, also was soll ich ihnen da noch verbieten? Außerdem vertraue ich ihnen.«
»Aba Sex ham se keenen, wa?!«
»Natürlich nicht«, erwiderte ich hastig. Also, alles musste Ursula Kobalik ja nun auch nicht wissen! Wenn sie allerdings weiterhin scheinbar zufällig sämtliche Schubladen öffnete, wie sie das gern beim Plaudern tat, würde sie bestimmt noch die Pille meiner Ältesten finden. Die ließ sie nämlich völlig ungehemmt überall herumliegen, genau wie ihren Nagellack, ihre Stringtangas und ihre Hygieneartikel. Wir waren ein moderner Frauenhaushalt – warum auch nicht? Deswegen störte es mich auch so, dass gleich ein fremder Jarek und morgen eine fremde Olga hier anrücken würden, um »unseren Dreck wegzumachen«. Das konnten wir selbst. Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben: ICH selbst. Ich hatte ja sonst nichts zu tun.
»Das wäre auch fatal, wenn du jetzt schon Großmutter würdest«, sagte Ursula Kobalik und nahm das Foto von Christian und mir von der antiken Truhe, auf dem wir mit der Fürstin Seyn oder nicht Seyn auf dem Wiener Opernball zu sehen waren. »Dann hätte det schöne Leben hier ein Ende.«
»Aber Ursula, wo denkst du hin!« Ich schenkte ihr erneut das Glas voll, während ich immer noch beim ersten war.
»Ick wünsch dir jedenfalls nich so ’n überfressenen Enkel, wie ick een hab.« Ursula prostete mir fröhlich zu. »Meine Tochter hat sich gerade scheiden lassen, und nun steht se mit ihrem dicken Bengel quasi auf der Straße. Jetzt müssen wir ein Haus für sie finden.« Sie winkte ab, als sei das kein Thema für mich. »Und wo isser nu, der schöne Christian?« Ursula Kobalik musterte mich kontrollsüchtig.
»In irgend so einem Kaff namens Heilewelt«, sagte ich matt. »Da gibt er heute Abend noch ein Konzert in einer Musikschule.«
»Wat? In so einem Provinznest? Hat der det nötig?« Fragend rieb Ursula Kobalik Daumen und Zeigefinger aneinander. »Geht es euch etwa so schlecht?«
»Quatsch! Er fand den Namen lustig. Heilewelt.« Ich leerte hastig mein Glas. »Erst dachte ich, den Namen hat er sich nur ausgedacht, um mich zum Lachen zu bringen. Du weißt ja, wie Christian ist.«
»Na klar. Immer ’n lockeren Spruch auf den Lippen.«
»Aber es gibt diesen Ort wirklich. Und da er auf dem Weg lag, dachte er, er tut noch was Gutes.«
»Aha«, sagte Ursula Kobalik. »Na, Hauptsache, der Lauser kommt morgen pünktlich zum Fest.«
Der Lauser! Ich schluckte trocken. Aber sie war nun mal eine typische Berlinerin mit Kodderschnauze. Die reden so. Sie meinte es nicht böse, also überhörte ich es einfach.
»Natürlich«, sagte ich resigniert und hielt fragend die leere Flasche hoch. »Sollen wir noch eine aufmachen?«
Um fünf vor acht stand ich in meiner Künstlergarderobe, bereit für den Auftritt. Hundert aufgeregte Kinder saßen bereits auf der Bühne und stimmten ihre Instrumente. Ich verzog schmerzlich das Gesicht. Wie viele Möglichkeiten es doch gab, einen Ton zu verfehlen! War ich froh, dass ich wenigstens einen Profi dabeihatte! Christian Meran würde das Konzert auf jeden Fall retten, selbst wenn alles aus den Fugen geriet. Wenn er seinen »Vogel« so bravourös spielte, wie ich ihn aus dem Fernsehen kannte, konnten die anderen die reinste Kakofonie anstimmen. Nervös trippelte ich vor dem Spiegel herum und versuchte, meine Rückseite zu betrachten: Schließlich war es dieser Anblick, den das Publikum im Saal von mir bekommen würde. Wie sagte meine Mutter Margot immer? Du müsstest dich mal von hinten sehen, Kind! Kaschiere deinen Hintern. Mutter Margot meinte es nicht so: »Es ist ja nur zu deinem Besten. Man muss auch mal ein bisschen Kritik einstecken können.« Und das tat ich zur Genüge: Von Mutter Margot steckte ich Kritik ein, seit ich denken, sprechen und Tränen runterschlucken konnte. Und versuchte ihr mit meinen fünfunddreißig Jahren immer noch zu gefallen. Ihr etwas anderes abzuringen als »berechtigte Kritik«, für die ich »dankbar sein« könne. Ein banger Seufzer entrang sich meiner Brust. NEIN, ich war kein Model. Mein Hosenanzug von C &A hatte Größe vierzig. Na und? Und der länger geschnittene Blazer konnte meine, sagen wir mal, weiblichen Rundungen auch nicht komplett verbergen. Mein Hintern hielt zu mir – mit einer Treue und Loyalität, die mir nicht einmal meine nächsten Verwandten entgegenbrachten. Hatte ich mir da nicht zu viel zugemutet? Würden wir dieses schwierige Stück wirklich schaffen? Immerhin würde die örtliche Presse anwesend sein. Justus Schaumschläger vom Heilewelter Tagblatt wuselte jetzt schon in seiner unsäglichen Lederjacke hier herum und machte Fotos. Alle Eltern und Kinder zusammengenommen, die bereits im überfüllten Saal saßen, waren bestimmt nicht halb so aufgeregt wie ich. Das war das erste wirklich große Konzert in meiner eigenen Musikschule, und ich wollte es allen beweisen. Nicht zuletzt Jürgen Immekeppel, meinem Lebensgefährten, der mir damals den Kredit für meine Musikschule gewährt hatte.
Als es klopfte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Oh Gott, jetzt bitte nicht irgendein Kind: »Frau von Thaaaaalgau, meine Geigensaite ist gerissen«, oder: »Ich kann mein Cello nicht finden!«, oder: »Meine Oma hat keinen Sitzplatz!«, oder: »Ich muss noch mal aufs Klo!« Cool bleiben. Ich war hier die Chefin. Ich räusperte mir die Angst von den Stimmbändern: »Herein?«
Wehe, wenn das jetzt wieder der Bäckermeister war! Der brachte es fertig, noch eine Minute vor dem Auftritt zu nerven! Ich würde ihn mit meinem Dirigentenstab erdolchen! Doch zu meiner Überraschung war es Jürgen. Er trug zur Feier des Tages seinen etwas knapp sitzenden braunen Sparkassenanzug mit dem blasslila Hemd und der grauen Krawatte. Er hatte sich einen akkuraten Seitenscheitel gezogen, was ihn noch biederer aussehen ließ als sonst. Irgendwie machte auch er einen erstaunlich nervösen Eindruck, was er rührend ungeschickt zu verbergen suchte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Mit ihm waren noch ein Dutzend gelbe Sparkassenluftballons zur Tür hereingequollen. »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft.« Und ein riesiger Blumenstrauß. Was sollte ich denn jetzt damit? Ach, er meinte es ja nur gut. Mutter Margot hätte gesagt: »Kind, stell die Blumen höflich in die Vase und bedank dich damenhaft. Nach so einem Mann kannst du dir alle zehn Finger ablecken!«
»Na, mein rattenscharfes Weib!«, begrüßte mich Jürgen bemüht cool.
Offensichtlich wollte er auf diese Weise meinem Lampenfieber entgegenwirken. Komisch, dass er damit genau das Gegenteil bewirkte! »Alles fit im Schritt?«, fragte er salopp.
Er wollte mich lässig an sich ziehen, aber seine vielen Luftballons und Blumen waren im Weg. Loriot hätte seine helle Freude gehabt. Und ich hatte im Moment überhaupt keinen Nerv für schlüpfriges Wortgeplänkel! »Ähm, hallo Jürgen, ich dachte, du sitzt schon im Saal?« Ich hatte gleich ein schwieriges Konzert zu dirigieren, und den Text des musikalischen Märchens würde ich auch sprechen. Wie ging der noch gleich?
»Peter hatte das Gartentor offen gelassen, und der Großvater hielt ein Schläfchen, woraufhin die Ente neugierig zum Teich watschelte, und der Vogel …« Warum geriet mein Herz an dieser Stelle plötzlich ins Stolpern? Ich würde alles falsch machen!
»Du hast mir hoffentlich in der ersten Reihe vier Plätze reserviert?« Jürgen wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Für mich und die Luftballons?«
Ich schenkte ihm ein nervöses Lächeln. »Ich habe es Frau Zweifel gesagt, ja. Wieso brauchst du denn so viel Platz für die Luftballons?«
»Weil du die ja nach dem Konzert verteilen sollst!« Jürgen griff nach meinem Arm. »Du weißt doch, dass das die beste Werbemaßnahme für meine Sparkasse ist! ›Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft!‹«
»Jürgen, ich habe im Moment keinen Sinn für deine Luftballons. Bitte! In drei Minuten beginnt die Vorstellung. Sei so lieb und lass mich jetzt …« Ich machte mich sanft los. Jürgen hatte noch nie ein Gespür für meine Künstlerseele gehabt. So liebevoll wie möglich wollte ich ihn zur Türe hinausschieben. Mein Herz polterte vor Angst. Gleich würde ich da rausgehen! Die Heilewelter Bürger würden höflichen Applaus spenden, und dann würde ich den Dirigierstab heben, die volle Konzentration meiner hundert Kinder heraufbeschwören. Wir hatten ein ganzes Jahr hart geprobt. Und ein Weltstar beehrte uns!
»Ich habe dir noch etwas Wichtiges zu sagen.« Ich spürte Jürgens bohrenden Blick, obwohl ich den Kopf bereits abgewandt hatte. Oh, bitte nicht. Bitte nicht jetzt! Nicht schon wieder. Er würde doch nicht ausgerechnet jetzt … Ich schluckte einen dicken Kloß herunter. Wir hatten das Thema doch schon so oft besprochen!
Auf einmal ging Jürgen auf die Knie. »Lotta«, stieß er atemlos hervor. »Ich habe dich schon oft gefragt, und jetzt frage ich dich wieder.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, sodass die Luftballons kurzfristig sein Gesicht verdeckten. »Willst du meine Frau werden?!«
Ich blickte auf sein gerötetes Gesicht hinab und konnte nicht anders: Ich war gerührt von seiner hilflosen Art, mit der er mir genau im falschen Moment, am falschen Ort, mit den absolut falschen Worten einen Heiratsantrag machte. Hätte ich doch heute bloß nicht diesen Wiener Philharmoniker kennengelernt! Ich kam mir vor, als stünde ich mit peinlichen Schnürschuhen vor der Auslage einer Designerschuhboutique … Meine Kehle war wie ausgedörrt. »Jürgen«, sagte ich beschwörend. »Können wir das nachher besprechen?« Irgendwie schaffte ich es, mein Lächeln nicht aus dem Gesicht rutschen zu lassen.
»Nein, können wir nicht!« Trotzig stemmte sich Jürgen wieder hoch, wobei seine Gelenke laut knackten. »Ich will es nämlich nach dem Konzert öffentlich machen! Das wäre doch eine tolle Gelegenheit!« Wieder klammerte er sich an meinen Arm. »Ich komme mit den Luftballons auf die Bühne und … Lotta, jetzt sag doch was! Die Sparkasse und die Musikschule sind Partner! In Liebe vereint! Die Leute WARTEN darauf! Es macht wirklich einen besseren Eindruck, wenn wir verheiratet sind! Das ist solide, und dann vertrauen die Leute uns auch ihre Bausparverträge an! Und jetzt um Weihnachten können wir noch eine Menge davon abschließen! Der Saal ist voller Großeltern, und die schenken so was!«
Ein vertrautes Gefühl von Resignation machte sich in mir breit. Wieso prickelte es einfach nicht, wenn ich von Jürgen einen Heiratsantrag bekam? Wir hatten drei entzückende Kinder, Paul und die Zwillinge Stella und Luna, die das Schicksal uns als Zugabe beschert hatte. Wir kamen miteinander aus und konnten uns aufeinander verlassen. Zu Hause im Borkenkäferweg unterstützte mich meine Mutter, die früher eine Haushaltsschule geleitet hatte und sich auf diese Weise selbstverwirklichen konnte. Außerdem hatten wir neuerdings einen Au-pair-Jungen aus Südafrika. Er hieß Caspar. Warum sollten wir das ändern? Ich meine, besser konnte es nicht werden. Nur schlechter! Wie oft hört man von Leuten, die zusammen einigermaßen glücklich waren, bis sie auf die dämliche Idee kamen, zu heiraten? Kurz darauf trennen sie sich meist, und dann geht das Elend los. Jäh zog ich die Notbremse.
»Jürgen, wir sind doch schon zusammen! Und ich bin doch auch irgendwie deine Frau seit acht Jahren. So wie es ist, läuft es doch prima!«
Und doch wollte ich mir ein letztes Zipfelchen Freiheit bewahren. Nicht, dass ich auf jemand anderen wartete, nein, Blödsinn! Wer sollte denn da schon kommen. Aber es MUSSTE doch einfach nicht sein. Man soll an seinem Glück nicht rütteln. Schließlich waren wir ein modernes Paar, jeder mit einem eigenständigen Beruf und Einkommen. Man muss sich doch nicht gegenseitig als Versorgungsinstitut betrachten! Außerdem platzte meine Blase gerade vor Aufregung. Ich schielte zur erbarmungslos tickenden Uhr an der Wand hinüber. Ein kurzer Einkehrschwung zum Panik-WC musste noch drin sein, bevor ich auf die Bühne eilte! Hach, dass Jürgen das auch nie kapierte! Er kannte mich doch nun schon so lange! Ich suchte ihn doch auch nicht in seinem Sparkassensitzungssaal auf und nötigte ihn vor seinen Kunden, mich zu heiraten!
Ich bemühte mich, gefasst zu bleiben. »Jürgen, das ist wirklich rührend von dir, aber ich finde nicht, dass wir anderen zuliebe heiraten sollten! Auch das Wort ›solide‹ haut mich jetzt nicht gerade vom Hocker.« Ich wollte nicht solide sein. Schnürschuhe sind solide. Ich fing seinen betroffenen Blick auf. Er war wirklich furchtbar enttäuscht. »Tut mir schrecklich leid«, sagte ich so zerknirscht wie möglich. »Aber ich habe jetzt dafür einfach keinen Kopf!« Meine Hände zitterten, als ich ihm tröstend über die kratzige Wange strich. »Vielleicht ein andermal.«
»Du hältst dir ein Hintertürchen offen!« Jürgens Augen füllten sich mit Tränen. »Hast du mich denn gar nicht ein bisschen gern?!«
Oh Gott, nicht schon wieder. Nicht JETZT! Ich merkte, wie ich gereizt wurde, ohne es zu wollen. Ich HATTE ihn gern. Er war mein Lebensgefährte. NATÜRLICH hatte ich ihn gern! Ohne ein bisschen Gernhaben kriegt man ja auch keine drei Kinder. Aber ich wollte ihn nicht heiraten, jedenfalls nicht jetzt. Und schon gar nicht den Einwohnern von Heilewelt zuliebe.
»Bitte, Jürgen!«, stieß ich schließlich hervor. »Wir besprechen das alles später«, beschwor ich ihn, als ich schon wieder kräftige Männerschritte vor der Tür hörte. Wenn das jetzt der Bäckermeister war, der wollte, dass ich seine Vicki vermarktete, dann …
Es klopfte kurz und kräftig an die Tür. Wenn Jürgen mich doch wenigstens vor diesem Kerl beschützen würde! Aber er klammerte sich bloß verletzt an seine Luftballons.
Es klopfte eindringlicher.
»Herein!«, stieß ich drohend hervor.
Es war jedoch Christian Meran in Frack und Fliege, der seinen Kopf zur Tür hereinstreckte. Als er sah, dass ich wieder mal nicht allein war, sagte er schnell: »Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören.«
»Sie stören doch nicht«, rief ich fast erleichtert aus. »Darf ich vorstellen? Herr Meran, mein … äh, also DER Soloflötist von den Wiener Philharmonikern … Und das ist mein … ähm … Sponsor. Jürgen Immekeppel. Von der städtischen Sparkasse Heilewelt.«
»Ah«, sagte Christian Meran, und seine Augen funkelten schelmisch, als er den Pulk Luftballons sah. »Das ist also der berühmte Partner, der Frau von Thalgau so tatkräftig unterstützt.«
»Finanziell«, murmelte ich und tat so, als müsse ich mich räuspern.
Die beiden gaben einander die Hand, und ich zupfte mir vor dem Spiegel noch schnell ein paar Strähnen zurecht. Mutter Margot verglich meine Haare gern mit »angefaultem Stroh«, was mich nicht gerade froh stimmte. »Wir müssen dann wohl mal!«, sagte ich an Jürgen gewandt und wies mit dem Kopf auf die Wanduhr: »Es ist schon fünf nach acht, und da drinnen brummt es bereits wie in einem Wespennest!«
»Dann Hals- und Stimmbruch«, machte Jürgen gute Miene zum bösen Spiel und rang sich ein verbittertes Lachen ab: »Oder wie sagt man in eurem Fall?!«
»Toi, toi, toi«, erwiderte Christian schlicht und hielt mir galant die Tür auf. »Und niemals Danke sagen, denn das bringt Unglück. Aber das wissen Sie ja sicherlich.«
Als Ursula endlich weg war, saß ich erschöpft an der Hausbar. Sie hatte mir noch endlos von ihrer geschiedenen Tochter Rosie erzählt, die diesmal mit ihnen Weihnachten feiern würde, weil sie kein Haus mehr hatte. Von ihrem dicken Enkel Raffael, der mit acht Jahren schon fünfundsechzig Kilo wog und gleich nach den Feiertagen zu einer Fastenkur für adipöse Kinder ins Burgenland geschickt werden würde. »Aber vorher kriegt der Junge noch ne anständje Weihnachtsjans!«, verkündete Ursula unerbittlich. Dann erzählte sie mir ausführlich von dem tollen Anwalt, den die Tochter bei ihrer Scheidung gehabt hatte. Ein echt scharfer Hund namens Ralf Steiner (ich gähnte heimlich hinter vorgehaltener Hand). Danach waren die Prostatabeschwerden ihres Mannes Wolfgang Kobalik dran. (Ich hörte anstandshalber auf zu gähnen.) »Weißt du, Kindchen, det mitm Sex is ooch nüscht mehr«, hatte sie mir nach dem x-ten Glas anvertraut, doch bevor sie nun fragen konnte: »Wie ist es denn mit euch?«, hatte ich zu meinem üblichen Trick gegriffen und meiner Ältesten heimlich unter der Bar eine SMS geschickt: »Ursula-Alarm!« Anschließend hatten wir die Nummer abgezogen, die wir immer abzogen, wenn ich meine Nachbarin loswerden wollte: Prompt rief Grazia mich an und bat, augenblicklich abgeholt zu werden. In diesem Punkt hielten wir eisern zusammen.
»Ach, ich soll dich abholen, Süße?«, flötete ich erleichtert ins Telefon. »Ja wo bist du denn, mein armer Schatz? Was, in dieser üblen Gegend? Na, da mache ich mich doch gleich auf den Weg! Entschuldige, Ursula, aber ich müsste jetzt …«
»Ja, kannste denn noch fahn?«, hatte Ursula Kobalik schwankend gefragt, nachdem ich sie in die klirrende Kälte hinausgeschoben hatte. Dann war ich vor ihren Augen in die Garage gegangen, nur um unbemerkt wieder ins Haus zu schlüpfen. Dort ließ ich die Rollläden herunter und schmückte den Baum, den Jarek mir inzwischen aufgestellt hatte. Ich nahm die mattsilbernen Kugeln, die Christian letztes Jahr von seiner Japantournee mitgebracht hatte. Sie sahen sehr stilvoll aus. Immer wieder brachte er tolle Antiquitäten, kostbare Teppiche, schöne Gemälde und allerhand alte Instrumente von seinen Reisen mit. Aber Ursulas bohrende Fragen, wo er denn sei, warum er sich denn einen Tag vor Weihnachten noch in der Provinz herumtreiben müsse und ob er denn gar keine Sehnsucht nach seiner schönen Frau und seinen hübschen Töchtern habe, fraßen sich in meine einsame Seele. Die Lichter des Weihnachtsbaumes verschwammen vor meinen tränenblinden Augen, als ich mir schon zum dritten Mal den zweiten Satz meines Lieblingsflötenkonzerts von Poulenc anhörte:
Unser Stück. Unsere erste gemeinsame Nacht.
Dieses Stück hatte er mir damals immer wieder vorgespielt. Im Luxushotel in Bangkok. Auf seiner goldenen Flöte. Eingehüllt in die Seidendecke hatte ich mit angezogenen Beinen auf dem Bett gesessen, Champagner geschlürft und das exklusive Privatkonzert genossen. Damals hatte ich von klassischer Musik noch nicht das Geringste verstanden. Erst nach und nach war sie mir etwas vertrauter geworden. Christians Solostücke kannte ich alle. Heute gab er den Vogel aus »Peter und der Wolf«. Ich sah regelrecht vor mir, wie er den ganzen Saal verzückte mit seinem lebendigen Spiel. Mir entfuhr ein abgrundtiefer Seufzer. Christian zog es einfach nicht nach Hause. War ich ihm zu langweilig geworden? Er war so jungenhaft verliebt gewesen, damals in Bangkok. Der Anblick seines schlanken durchtrainierten Körpers hatte mich mindestens ebenso entzückt wie sein Flötenspiel. Im Grunde hatte ich mich schon in den Mann verknallt, als ich ihn in der ersten Klasse der Boing 737 zum ersten Mal sah. »Der gehört mir!«, hatte ich der Kollegin zugezischt, die sich daraufhin anderen Passagieren zugewandt hatte.
»Darf ich zum Start Ihr Handgepäck verstauen?« Ich hatte die Hände ausgestreckt und ihn mit meinem schönsten Lächeln angesehen.
Er hatte seinen Flötenkasten an die Brust gedrückt und zwinkernd erwidert: »Bis jetzt hat noch niemand gemerkt, dass da eine Kalaschnikow drin ist! Und ausgerechnet Sie wollen sie mir wegnehmen?«
Wir waren ins Gespräch gekommen, und ich hatte während des Nachtfluges immer wieder seine Nähe gesucht.
»Eine Flöte? Wirklich? Was für eine?«
»Eine Zauberflöte.«
»Wo spielen Sie denn?«
»Bei den Wiener Philharmonikern. Gestern in Singapur, morgen in Bangkok, übermorgen in Tokio.«
»Und heute?«
»Heute haben wir frei …«
Ja, so hatte das alles angefangen. Wir hatten uns auf Anhieb total ineinander verknallt. Immer wieder hatte er mich mit seinen dunklen Augen angesehen und gesagt: »Du bist meine Traumfrau! Du arbeitest zwar als Stewardess, könntest aber ein Topmodel sein!«
Ja, Christian stand auf große blonde schlanke Frauen. Bald darauf jobbte ich tatsächlich als Model und war ein Jahr bei einer Agentur in New York. Dort bekam ich als Tagesgage locker meine fünftausend Dollar. Christian vergötterte mich und begleitete mich zu meinen Jobs, wann immer er konnte. Aber er hatte weltweit Auftritte, und ich fühlte mich als Stewardess letztlich sicherer. Denn Schönheit vergeht bekanntlich. Als ich an diesem Abend vor Weihnachten in den Spiegel sah – und das öfter, als mir guttat –, verschwammen darin zwei Anitas. Beide waren zwar noch immer schlank und blond, aber eine davon war eben doch sichtbar zweiundvierzig. Natürlich gab ich mir Mühe, mein »Kapital« zu pflegen. Doch inzwischen kostete mich mein Aussehen eindeutig mehr, als es mir einbrachte. Und Stewardess war ich schon lange nicht mehr.
Zum Glück verdiente Christian bei seinen Wiener Philharmonikern als Soloflötist genug, um uns diese Villa mit den Bremer Stadtmusikanten davor und das Leben darin ermöglichen zu können. Eine Villa, die wir übrigens den Kobaliks zu verdanken hatten. (Was hatten wir den Kobaliks eigentlich nicht zu verdanken?!) Deswegen waren wir ja auch Nachbarn. Sie, Wolfgang und Ursula, waren nämlich »Freunde und Förderer« der Wiener Philharmoniker, was bedeutete, dass sie das Orchester finanziell großzügig unterstützten. Wolfgang hatte sich in Berlin mit einer Firma für Privathonorar-Rechnungswesen für Ärzte, Anwälte und Steuerberater eine goldene Nase verdient und sich jetzt in Wien mit seiner dritten Gattin Ursula zur Ruhe gesetzt. Als Freunde und Förderer konnten sie an vielen Konzerttourneen teilnehmen, hatten freien Eintritt bei den Premieren und trieben sich natürlich gern auf den Gala-Empfängen herum, die zu Ehren der Wiener Philharmoniker gegeben wurden. Sprich, die lieben Kobaliks hatten sich auf diese Weise in die feine Wiener Gesellschaft eingekauft. Und weil die beiden so ein Helfersyndrom hatten, hatten sie uns auch gleich ihre Nachbarvilla vermittelt.
»Anita, da müsst ihr zuschlagen! So wat Feinet kriegt ihr in janz Wien nicht mehr! Wir regeln das für euch, wir kennen den Makler!«
Wir hatten uns auf besagter Japantournee kennengelernt, wo sie als Freunde und Förderer mitgefahren waren. Wolfgang hatte in der Bar des Luxushotels eine Runde nach der anderen ausgegeben, und Ursula hatte sich um mich gekümmert. Ich glaube, sie hatte auf Anhieb einen Narren an mir gefressen. Vielleicht, weil sie sich immer so eine Tochter gewünscht hatte. Ihre eigene, Rosie, war wenig glamourös. Bei ihr hörte sich der Berliner Akzent noch schrecklicher an als bei Ursula. Und wie der dicke Bengel sprach, wollte ich mir gar nicht erst vorstellen.
Unsere Mädchen dagegen hatten einen richtig charmanten Wiener Akzent. Gloria und Grazia besuchten das französische Lycée und spielten Harfe und Oboe. Gloria hatte ihr eigenes Pferd bei den Lipizzanern, und Grazia war Mitglied im angesagten Golfclub Süßenbrunn. Wir hatten ein Premierenabonnement in der Wiener Staatsoper und kauften grundsätzlich nur bei den exklusivsten Designern Wiens. Meine Töchter wollten später auch modeln. Wir waren eine Traumfamilie. Aber so eine heile Welt kann auch Risse bekommen. Wann das geschehen war, wusste ich nicht zu sagen. Aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Wie sagt Scarlett O’Hara in »Vom Winde verweht« immer so schön? »Verschieben wir es auf morgen!« Traurig räumte ich die leeren Gläser in die Spülmaschine. Ich wusste nur eines, nämlich dass ich bei der nächsten neugierigen Frage von Ursula Kobalik in Tränen ausgebrochen wäre.
Ich war schweißgebadet, als ich mich endlich tief verbeugte und den Beifall aus dem überfüllten Festsaal entgegennahm. Was für ein Glücksmoment! So etwas hatte diese Kleinstadt noch nicht erlebt! Christian Meran hatte seiner goldenen Querflöte Töne entlockt, die diese Musikschule noch nie gehört hatte. Als ich ihn bat, sich zu verbeugen, sprangen die Leute von ihren Sitzen auf. Da standen wir, Hand in Hand – Christian Meran und ich –, und verbeugten uns immer wieder. Der Jubel schwoll zu einem Pfeifen und Kreischen an, als meine drei Kinder aus dem Orchester nach vorn liefen und mir den bereits bekannten überdimensionalen Blumenstrauß überreichten, an dem viele gelbe Luftballons befestigt waren. »Wir sichern Ihren Kindern eine Zukunft!« Das wäre der Moment gewesen, in dem wir unsere Verlobung hätten bekanntgeben müssen. Eine winzige Sekunde lang zögerte ich. Ich brauchte nur die Hand zu heben, und dann würde der Beifall verstummen. Ich brauchte Jürgen nur das Zeichen zu geben, auf die Bühne zu kommen. Dann würde er die Stufen hinaufkeuchen, besitzerstolz den Arm um mich legen und laut verkünden: »Die Heilewelter Sparkasse und die Heilewelter Musikschule werden ihre erfolgreiche Partnerschaft nun auch noch mit dem Bund der Ehe besiegeln!« Und dann würde der brechend volle, festlich beleuchtete Saal noch mehr toben …
Nein. Der Moment war alles andere als perfekt.
Es war Christian Meran, mit dem ich auf der Bühne stand und mich verbeugte. Er strahlte und genoss den Applaus genauso wie ich. Er beklatschte anerkennend meine Schüler, darunter auch die zarte, schmale Viktoria im Rollstuhl, die wirklich beeindruckend tonrein Klarinette gespielt hatte. Ich ließ den Blick über das Publikum schweifen: In der ersten Reihe applaudierte stehend mein Lebensgefährte Jürgen Immekeppel. Er hatte stolz alles gefilmt und fuhr sich jetzt mit einem zerknüllten Taschentuch über die glänzende Stirn und die stoppeligen Wangen. Ein paar Taschentuchfusseln blieben darin hängen. Neben ihm saßen meine Eltern, die zwar nicht euphorisch klatschten, aber immerhin anwesend waren. Ich hatte auch schon Konzerte erlebt, da war Mutter Margot kopfschüttelnd durch den Mittelgang rausgegangen. Immerhin tippten ihre Zeigefinger wiederholt aneinander, und das war schon fast zu viel an Anerkennung. Mein Vater Dietrich nickte mir wohlwollend zu, während er sich die Ohren zuhielt. Er hasste Lärm jeder Art. Mutter Margot sprach bereits mit einer Dame hinter ihr. Es war Frau Ehrenreich, unsere Nachbarin. Wahrscheinlich spendete sie ihr das einzig seligmachende Sakrament kompetenter Konzertkritik.
Seitlich von der Bühne stand natürlich Bäckermeister Gerngroß, der so laut »Bravo, Vicki!« und »Zugabe, Klarinedde« brüllte, dass andere schon missbilligend zu ihm hinübersahen.
Das Blitzlichtgewitter der örtlichen Presse zuckte über unseren Köpfen, und immer wieder rief Justus Schaumschläger, der Fotograf und Reporter des Heilewelter Tagblatts