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Volker ist ein Volltreffer von Ehemann, zu dem sich Barbara immer wieder selbst gratuliert. Und sie hält ihm den Rücken frei, wenn er als beliebter und fürsorglicher Arzt Tag und Nacht im Einsatz ist. Denn auf Barbara ist Verlass, das weiß auch ihre junge Freundin Lisa. Während diese ihrer Karriere nachgeht, hütet Barbara das Kind und versprüht auch noch als Fremdenführerin in Salzburg gute Laune. Bis sie zu ihrer Überraschung feststellt, dass sie das Wort ›Nächstenliebe‹ anders interpretiert als ihr Mann ...
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Seitenzahl: 463
Hera Lind| Der Überraschungsmann
Hera Lind
Der Überraschungsmann
Roman
Herzlichen Dank an Renate Just und den Kunstmann Verlag für die freundliche Genehmigung der Zitate auf Seite 220:
Renate Just, Salzburg. Auf krummen Touren durch die Stadt
© Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2010
Copyright © 2011 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Herstellung | Gabriele Kutscha
Satz | Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ePub-ISBN 978-3-641-06213-2
www.diana-verlag.de
Für Franzi und Fritzi in Liebe
Nebenan steht ja plötzlich ein Haus!«, rief Pauline mit vollem Mund. Sie zeigte mit ihrem Löffel auf die Fensterfront zum Garten. »Schaut doch nur!«
Wir reckten den Hals. Tatsächlich! Hinter der blühenden Holunderhecke war wie aus dem Nichts ein Fertighaus aufgestellt worden. Junge Leute schleppten Kartons aus einem Möbelwagen ins Haus. Sie agierten so schnell und lautlos, dass man meinte, fleißige Heinzelmännchen seien am Werk.
»Das ist ja direkt neben unserer Einfahrt!«, stellte Volker gereizt fest und wischte sich den Mund mit der Damastserviette ab. »Ich hatte ja gehofft, auf diesem Gründstück würde nie gebaut.« Er verzog missbilligend das Gesicht.
»Ach, Liebster! Vielleicht sind die neuen Nachbarn nett!« Liebevoll legte ich meine Hand auf die seine. Ich sah uns schon alle zusammen im Garten grillen, plaudern und lachen. Endlich Nachbarn! Ich fühlte mich schon viel zu lange etwas einsam in unserem Landhaus oberhalb von Salzburg.
»Volker, hast du auch noch Brot?« Schwiegermutter Leonore sprang geschäftig auf und rannte diensteifrig in die Küche, als ob ich miserable Hausfrau mal wieder nicht in der Lage gewesen wäre, meinen Mann zu verköstigen. Dabei türmten sich die Brotscheiben und Semmeln im Körbchen. In Wahrheit konnte sie nur nicht ertragen, dass ich ihren Sohn »Liebster« nannte.
»Leonore, es ist noch alles da«, presste ich mit einem Mindestmaß an Höflichkeit hervor.
»Jetzt kann ich gar nicht mehr den Wendekreis nutzen und muss umständlich rückwärts ausparken!« Volker war kein bisschen erfreut über die Baustelle da drüben.
»Dass das so schnell geht«, wunderte ich mich und reichte Pauline unauffällig die Serviette. Wenn meine neunjährige Tochter Cornflakes mampfte, nahm sie es mit ihren Manieren nicht so genau. Sofort erntete ich von Leonore einen »Du-kannst-sie-wirklich-nicht-erziehen«-Blick.
»Als die Jungen in diesem Alter waren, konnten sie sich bei Tisch schon benehmen«, sagte Leonore spitz, während sie sich umständlich wieder setzte und Volker zwei Scheiben Brot auf den Teller legte. »Wiebke war wenigstens konsequent.«
Bäh! Trockenpflaume Wiebke! Volkers erste Ehefrau, eine Apothekerin aus Flensburg, die gern zerknitterte naturbelassene schlammfarbene Sackkleider aus dem Dritte-Welt-Laden trug und statt einer Handtasche einen recycelten Kartoffelsack aus Jute benutzte. Eine, die zum Lachen in den Keller ging und meinen Volker kein bisschen glücklich gemacht hatte mit ihrem freudlosen Früchte- und Kräutertee. Von wegen Gute-Laune-Tee, dass ich nicht lache! Bei Trockenpflaume Wiebke gab es nur ökologisch angebautes Vollkornmüsli mit garantiertem Verdauungseffekt, das »vorher« und »nachher« genau gleich aussah. So! Das hätte ich Schwiegermutter Leonore gern mal in aller Deutlichkeit gesagt. Tat ich aber nicht, weil mir der Familienfrieden wichtiger war.
»Ein Kran hat gestern die Einzelteile gebracht«, unterbrach Charlotte meine Frustgedanken und wedelte genervt mit den Armen in der Luft herum: »Hallo, hört mir hier mal einer zu?«
»Natürlich hören wir dir zu, Liebes.«
»Kinder haben bei Tisch NICHT das Wort zu führen«, belehrte mich Leonore. Ihre stahlgraue Turmfrisur saß heute wieder eins a. Ob sie darin wohl eine Kranichfamilie beherbergte oder zumindest ein Nudelsieb, das ihr zu diesem Stand verhalf? Heimlich nannte ich die Frisur den »schiefen Turm von Pisa«.
»Wir haben uns früher bei Tisch GEMELDET, wenn wir etwas sagen wollten.« Sie sandte mir einen Adlerblick, in dem Triumph glomm. Tja, Leonore. Du damals. Wie toll!
»Wir sind aber nicht mehr im Mittelalter«, giftete Charlotte ihre Großmutter an. Meine Dreizehnjährige hielt zu mir. Dafür liebte ich sie. Dafür durfte das Monster Pubertät an ihr herumzerren, so viel es wollte.
Betretenes Schweigen machte sich breit. Leonore und ich hatten, gelinde gesagt, recht unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle der Frau. Auch in Erziehungsfragen waren wir nicht immer einer Meinung. Sie hatte sich für Volker »aufgeopfert«, wie sie nicht müde wurde zu betonen, und ihre Operettenkarriere aus lauter Mutterliebe an den Nagel gehängt. Und da hing sie seitdem und starrte uns böse an. Welche Karriere will schon gern an einem Nagel hängen? Wir, Volker, die Kinder und ich, waren die Opfer ihrer am Nagel hängenden Karriere. Immer wenn Leonore bei uns zu Besuch war – und das war sie bei Gott oft! –, nahm sie die Karriere vom Nagel und begann, uns ganze Operetten auf dem Flügel vorzuspielen. Dann durfte sich keiner rühren, geschweige denn räuspern oder die Augen verdrehen und »langweilig« murmeln.
Ganz schlimm wurde es, wenn sie dazu auch noch SANG! Leonore war siebenundsiebzig, was für sie noch lange kein Grund war, ein wenig leiser zu treten. Nun ja. Im Moment hatte sie den Mund voll. Da war keine unmittelbare Gefahr im Verzug.
»KUCKT DOCH MAAAAL!« Paulinchen zerrte an meinem Ärmel.
Unauffällig spähten wir wieder aus dem Panoramafenster. Die Heinzelmännchen eilten fleißig wie die Ameisen zwischen Möbelwagen und Haus hin und her.
»Hoffentlich sind das keine Spießer!«, brummte Volkers Sohn Nathan missmutig. Der zwanzigjährige lange Lulatsch hing über dem Tisch wie ein Bär, den man mit Stockschlägen gezwungen hat, mit Messer und Gabel zu essen. Also wenn Wiebke DEN zu guten Tischmanieren erzogen hatte, war ich die Königin von England! (Nein. Falscher Vergleich. Für die hielt sich ja schon Leonore.)
»Von wegen keine laute Musik machen, kein Motorrad frisieren und sonntags nicht Rasenmähen!«
»Als ob DU jemals Rasen mähen würdest«, sagte sein jüngerer Bruder Emil lachend.
Der Bursche lümmelte wie immer in seiner geblümten Boss-Unterhose, die er uns eiskalt als Sportshorts verkaufte, in seinem Rippenunterhemd, aber mit Strickmütze am Tisch herum. Toll erzogen. Wirklich, Wiebke, klasse Tischmanieren! Aber ich mochte Emil. Der Kerl hatte so was Herzerfrischendes, Entwaffnendes im Gegensatz zu seinem arroganten Bruder Nathan, der die ganze Welt wissen ließ, wie blöd sie war.
»Ach, halt doch die Klappe!« Nathan schaufelte sein Rührei in sich hinein. »Du mähst ihn genauso wenig!«
»Ich mähe ihn öfter als du!«
»ICH mähe ihn!«, trumpfte Charlotte auf. »Ihr faulen Säcke mäht ja nie!«
»Mäh, mäh!«, machte Pauline kleinkindhaft. Dabei tropfte Milch aus dem zahnspangenbewehrten Mäulchen.
»Sie ist neun!«, sagte Leonore und funkelte mich aus ihren stahlgrauen Augen an. »NEUN.«
Ich fing Leonores starren Blick auf. Es folgte ein so unangenehmes Schweigen, dass ich den Tisch am liebsten verlassen hätte.
»Na und? Und ich bin achtzehn«, lachte Emil mit vollem Mund. »ACHTZEHN, OMAAAAA.«
»Kinder, bitte!«, sagte ich nachsichtig und wischte an meinem jüngeren Töchterchen herum. »Wir wollen doch unser Sonntagsfrühstück in Ruhe genießen.« Das war wieder mal einer der Momente, in denen ich mir vorkam wie eine dieser weichgespülten Vorzeigemuttis aus dem Werbefernsehen. Die bringt entweder diplomatisch geschickt Toffifee ins Spiel oder verzieht sich – weil sie es sich wert ist – klammheimlich mit einem Kinderschokoriegel in die Hängematte. Ein ganz kleiner fieser innerer Schweinehund sehnte sich nach meinem früheren Leben als Reiseleiterin in fernen Landen zurück. Ach, früher, seufz! Da nervten nur die Pauschaltouristen. Und die fuhren irgendwann wieder nach Hause. Dies hier war mein zweites Leben, mein Zuhause. Und daraus konnte ich nicht wieder in die Ferne flüchten. Außerdem hatte ich es ja so gewollt: Volker war mein Traummann. Ich wollte ihn, und ich hatte ihn. Der ganze Familienballast war im Hauptgewinn mit inbegriffen.
Volker, mein Mr Perfect, spähte immer noch besorgt zu dem neuen kleinen Nachbarhaus hinüber.
»Jetzt haben wir jahrelang ohne Nachbarn gelebt. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, dass wir hier niemandem Rechenschaft schuldig sind …«
»Aber das sind wir doch auch so nicht!« Neugierig schaute ich über die Hecke. »Die scheinen jung zu sein! Sehen doch nett aus!«
»Jetzt ist es vorbei mit eurer Ruhe«, machte Leonore meinen schwachen Versuch zunichte, Volker bei Laune zu halten. »Dabei musst du doch arbeiten und deine FAMILIE ernähren.« Wieder dieser stechende Blick in meine Richtung. Ja, ich war schon ein dicker Parasit in Leonores Leben. In ihren Augen war es nur meine Schuld, dass »die Familie zerbrochen« war. Dass »die arme Wiebke nun jeden Abend in ihren Kamillentee weinen muss«. Und dass Volker jetzt »noch drei weitere Mäuler zu stopfen hat«.
Als ob ICH meine Familie NICHT ernähren würde! Immerhin arbeitete ich noch als Stadtführerin. Natürlich verdiente ich nicht so viel wie Volker, der eine eigene Internistenpraxis hatte. Aber MEIN Maul musste er nicht stopfen. Wie gern hätte ich stattdessen Leonores Maul gestopft! Ihre fiesen Verbalattacken prallten nicht IMMER an mir ab, sosehr ich mir auch selbst stoische Gelassenheit verschrieben hatte. Ja, Volker HATTEvier Kinder von zwei Frauen – na und? Das war doch heutzutage völlig normal! Wir waren halt eine nette, große, wilde Patchworkfamilie. Klar ging es da turbulent zu!
Fassen wir doch mal zusammen: ein toller, erfolgreicher, gut aussehender Ehemann, ein ARZT mit eigener Praxis, den jeder in der Stadt kennt und schätzt – was kann sich eine durchschnittlich begabte und durchschnittlich aussehende Frau wie ich da mehr vom Schicksal erhoffen? Auf der anderen Waagschale befanden sich eine herrische, geltungssüchtige Schwiegermutter, die ständig ihrer Operettenkarriere nachweinte. Ein arroganter, fauler Stiefsohn, der fast nie mit mir sprach. Noch ein wilder Stiefsohn, der keine Manieren hatte, aber wenigstens heimlich zu mir hielt. Eine Exfrau, die kein bisschen meine Freundin sein wollte (und ich ihre auch nicht!), mit der mich Leonore aber ständig verglich.
Wenn es nach MIR ginge, wäre ich mit Volker und unseren beiden Töchtern vollauf zufrieden gewesen. Wir hätten es friedlich und gemütlich gehabt. Aber es mussten ja auch noch Nathan, Emil und Schwiegermonster Leonore jedes Wochenende bei uns sitzen. Und dabei von Wiebke schwärmen.
So gesehen sehnte ich mich regelrecht nach netten Nachbarn. Was mir fehlte, war eine richtige Freundin, eine, mit der ich lästern und lachen konnte. Eine, die mal eben auf ein Schwätzchen zu mir kommt, »Hast du mal Zucker?« fragt und dann auf eine ganze Flasche Prosecco bleibt, um gemeinsam mit mir sämtliche Mitmenschen durchzuhecheln. So wie bei den Desperate Housewives.
»Wir haben hier die älteren Rechte«, brummte Nathan, als wäre er der Hausbesitzer.
»Aber wieso denn? Du bist doch nur am Wochenende hier!« Charlotte stemmte beide Hände in die Hüften und streckte die Brust raus.
»Ja, kleine Prinzessin. Und du wohnst immer hier. Toll.« Emil zwickte seine Halbschwester liebevoll in ihren letzten Rest Babyspeck.
»He! Das ist sexuelle Belästigung«, quietschte Charlotte und schlug nach ihm.
»Also, dieses Vokabular bei Tisch!« Leonores Augen wurden schmal. »Volker, jetzt sag DU doch mal was!«
»Kinder, BITTE.« Volker reckte misstrauisch den Hals und spähte hinüber.
»Bestimmt blöde Spießer!« Nathan hatte sein Urteil bereits gefällt. »Wenn die nicht Bridge spielen, interessieren sie mich sowieso nicht.«
»Boah, du Lackaffe! Andere Menschen haben auch noch eine Daseinsberechtigung!« Emil schnappte sich eine Semmel und schmierte sich fingerdick Leberwurst darauf. Ihm schien diese Unterhaltung Spaß zu machen. Mir gefiel, wie er da mit seiner Strickmütze am Tisch saß und seine Großmutter provozierte.
»Ich finde, dass gerade Bridgespieler Spießer sind.«
»Ach, du hast ja keine Ahnung, du Prolet! Bridgespieler sind die Denker-Elite. Bill Gates spielt leidenschaftlich Bridge!«
»Aber zwischen dir und Bill Gates liegen Welten, Bruderherz.«
»Kinder, BITTE!« Ich rutschte verlegen auf meinem Stuhl hin und her und sprang schließlich auf: »Volker, Liebster? Noch Kaffee?« Nicht dass mir Leonore wieder zuvorkam! Genau wie bei Hase und Igel. Eine grauenvolle Vorstellung, dass es noch einen KLON von Leonore geben könnte.
Volker reichte mir schweigend seine Tasse. Seine Denkerstirn war in Falten gezogen. Ihm schien das mit den neuen Nachbarn ganz und gar nicht zu behagen. Die Streitereien seiner Söhne prallten völlig an ihm ab.
»Und ich hätte gern noch Kakao«, rief Pauline.
»Damit du noch mehr rumschlabbern kannst!«, ätzte Charlotte.
»Barbara? Wo du gerade stehst …« Nathan reichte mir sein leeres Glas, ohne mich anzusehen. »Ist noch was frisch gepresster Orangensaft da?«
Okay. Tief einatmen und ausatmen. Lächeln. Die Notausgänge befinden sich dort drüben und sind durch Leuchtstreifen kenntlich gemacht. Die Schwimmwesten befinden sich unter Ihrem Sitz.
»Natürlich.« Ich eilte in die Küche und füllte die Tassen und Gläser, die man mir in Auftrag gegeben hatte. Leonore sollte keinerlei Anlass haben, sich zu beschweren. Ich WAR eine tolle Hausfrau und Mutter. Und ich OPFERTE mich auf, jawoll! Meine Karriere als Reiseleiterin HING an einem Nagel. Warum WOLLTE Leonore mich dann kein bisschen gern haben? Ich TAT doch alles für ihren einzigen Prachtsohn!
Zum Glück waren Volkers Söhne aus erster Ehe nur am Wochenende da. Doch dann machte ich es mir zur Aufgabe, sie nach Strich und Faden zu verwöhnen. Volker hatte sich wiederholt beklagt, wie dröge und fantasielos ihre Mutter Wiebke war. An ihr war weder eine gute Köchin noch eine liebevolle Hausfrau verloren gegangen. Bei ihr gab es immer nur Reformhausaufstrich von der grünlich-bräunlichen Sorte. Geschmacksneutral, aber nicht gesundheitsschädlich. Morgens Magerquark, mittags Grünkernbratlinge, abends Graubrot mit grauem Aufstrich. Ich tat mein Bestes, ebenso farbenfrohe wie schmackhafte Speisen und Getränke auf den Tisch zu bringen. Trotzdem wurde Leonore nicht müde, von ihrer ersten Schwiegertochter zu schwärmen.
»Achtung, neue Nachbarn!«, rief Emil fröhlich. »Bitte melden Sie sich zum Intelligenztest! Sonst können Sie unserem Nathan nicht unter die Augen treten!«
»Nathan der Weise, hahaha.« Charlotte las gerade Lessing im Deutschunterricht. Das gelbe Reclamheft neben ihrem Frühstücksei wies zahlreiche Eselsohren auf.
»Blöde Ziege, halt du dich da raus!«
»Ich bin nicht blöder als du. DU bist sitzen geblieben – ICH nicht.«
»Er ist NUR sitzen geblieben, weil seine Eltern sich getrennt haben.« Leonore warf mir einen eisigen Blick zu. »Weil es ihm an Nestwärme fehlte.«
Na ja. Die einen sagen so, die anderen sagen so.
»Wie oft habe ich euch gesagt, dass wir sonntags in Ruhe frühstücken wollen.« Volker schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich habe so viel Stress mit meinen Patienten, dass ich wenigstens heute meine Ruhe haben will!«
»Wir schaffen das.« Besänftigend legte ich meine Hand auf seine Schulter, während ich ihm vorsichtig den frischen Kaffee hinstellte. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz und nahm Paulinchen die voll geschmierte Serviette ab. »Ohne Zank und ohne Streit.«
»Das ist ja wohl das Mindeste«, grollte Volker. »Zank und Streit hatte ich mit Wiebke genug. Hier will ich ein harmonisches Familienleben!«
»Aber das haben wir doch, Liebster.« Ich schenkte meinem Mann mein liebevollstes Lächeln, so nach dem Motto »Gemeinsam sind wir stark«. »Entspann dich mein Schatz.«
»Voll die Harmonie!«, brummte Emil in seine Leberwurstsemmel hinein. »Voll die Nächstenliebe. Kaum Zickenkrieg, kaum Pubertätsterror.«
Kaum Schwiegermutterterror, dachte ich bei mir und rempelte ihn verschwörerisch unter dem Tisch an. Er grinste spitzbübisch zurück.
Emil war seinem Vater aber auch aus dem Gesicht geschnitten! Er hatte die gleichen Grübchen und das gleiche volle rötlich blonde Haar. Er war immer gut gelaunt, und seine hellwachen Augen blitzten übermütig in seinem sommersprossigen Gesicht.
»Die Frau ist nett!«, verkündete Pauline, nachdem sie sich erneut eine Schaufel Cornflakes einverleibt hatte. »Sie hat mir heute Morgen an der Hecke schon Hallo gesagt.«
»So, hat sie das.« Volker schlachtete ein bisschen zu brutal sein Frühstücksei.
»’ne affengeile Alte«, stellte Emil fachmännisch fest. Leonore fiel fast der Löffel aus der Hand.
»Auf dich fährt die garantiert nicht ab!« Nun ließ sich auch Nathan dazu verleiten, sich fast den Hals auszurenken. »Die Blonde mit den engen True-Religion-Jeans? Geschmack hat sie offensichtlich. Und einen geilen Arsch. Hoffentlich kann die Bridge spielen. Und wenn nicht, bringe ich es ihr bei.«
»True Religion? So heißt eine HOSE?«, entrüstete sich Leonore. »Da soll sich noch einer wundern, wenn die Welt gottlos zugrunde geht.«
Volker schaute auch wieder hinüber. Schweigend kaute er auf seiner Semmel herum.
»Und ein Klavier haben die auch«, verkündete Pauline neunmalklug. Leonore reckte erfreut den Kopf in Richtung Fensterfront. Der schiefe Turm von Pisa rutschte leicht zur Seite. »Sicher musikalisch gebildet. Ich werde gleich mal rübergehen und fragen, ob sie vierhändig spielen wollen. Da gibt es ganz hübsche leichte Czerny-Etüden für Anfänger.«
Oh, lieber Gott, mach, dass sie vorher im Garten ausrutscht und sich ein Bein bricht!
»Nee, Oma, bitte nicht!«, jaulte Emil auf. »Bitte, Papa, sag ihr, dass sie unsere neuen Nachbarn nicht sofort vergewaltigen soll!«
»Also BITTE! Was ist das denn für ein Vokabular!«
»Sie werden DANKBAR sein, dass ich ihnen musikalische Tipps gebe. Vielleicht möchten sie auch Unterricht.«
»Vielleicht auch nicht«, murmelte ich in meine Semmel hinein. »Das wäre immerhin eine Möglichkeit.«
Plötzlich wurde mir ganz mulmig. Ich durfte nicht zulassen, dass Leonore als Erste Kontakt zu den neuen Nachbarn aufnahm und mir damit eine mögliche Freundin vergraulte. Ich konnte Leonore nicht ansehen. Hatte sie denn so gar kein Feingefühl? »Lassen wir die armen Leute doch erst mal ankommen«, schlug ich so harmlos wie möglich vor. »Wenn sie Zeit und Lust haben, werden sie sich schon bei uns blicken lassen.«
Ich merkte, wie meine Stimme immer angespannter wurde.
Ich sah Volker flehentlich an. Dass er es aber auch nie schaffte, seiner Mutter mal die Stirn zu bieten!
»Einverstanden, Liebster?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Jetzt sah ich auch, wie ein braunes Kleinklavier in das neue Haus gerollt wurde. Es ging alles blitzschnell und fast lautlos vonstatten.
»Na ja, ein Steinway ist es nicht gerade«, sagte Leonore enttäuscht. »Eher so ein japanisches Billiginstrument.«
»Dafür sieht die Frau hammergeil aus«, stellte Emil erneut fest. »Da ist das Klavier doch Nebensache.«
»Können wir jetzt bitte in Ruhe frühstücken und das Thema wechseln?«, wiederholte Volker gequält. »Sonst nehme ich meine Bergschuhe und bin weg.«
Ja, das tat Volker leider oft: einfach abhauen, wenn es stressig wurde. Dann konnte er Stunden, ja sogar ganze Wochenenden wegbleiben. In den Bergen. Deshalb versuchte ich ja, solche Situationen zu vermeiden! Manchmal kam ich mir vor wie eine der Frauen von Stepford.
Bereits am selben Abend machten unsere neuen Nachbarn einen Antrittsbesuch.
Ich räumte gerade den Abendbrottisch ab, während Volker seine Söhne wieder zu Wiebke und Leonore in ihre Seniorenresidenz an der Hellbrunner Allee fuhr, als sie klingelten. Leicht nervös strich ich mir die Haare aus der Stirn, als ich öffnete.
»Sekunde, ich habe gerade keine Hand frei …« Lächelnd bat ich das sympathisch wirkende Ehepaar in unsere gemütliche Wohnstube. Hastig stellte ich die schmutzigen Teller in der Küche ab, wischte noch eilig die Krümel vom Tisch und warf die Schürze über eine Stuhlkante: »Bitte. Kommen Sie herein! Ich bin Barbara Wieser.«
»Sven Ritter«, sagte der gut aussehende Mann, den ich auf Anfang vierzig schätzte. Er hatte blondes, volles Haar, ein offenes, freundliches Gesicht und eine durchtrainierte Figur. Mein erster Eindruck war der eines nordischen Hünen. Er überreichte mir, was ich bezaubernd fand, einen kleinen Blumenstrauß, den ich vor lauter Verlegenheit fast zerdrückte.
»Ich bin Lisa Ritter«, sagte das Fräuleinwunder strahlend und drückte mir fest die Hand. Ihre Hand war fein und glatt, aber kräftig. Soeben hatte sie damit noch ordentlich zugepackt, Möbel geschleppt und geputzt. Dass sie jetzt so fantastisch aussehen konnte, machte mich fast neidisch. Sie war hinreißend, wie ein aprilfrischer Frühlingstag. Ihre schulterlangen blonden Haare fielen seidig glänzend auf die perfekt sitzende weiße Bluse, die ihre zart gebräunte Haut betonte. Ihre Augen waren so raffiniert geschminkt, dass es völlig natürlich wirkte, sie aber noch mehr strahlen ließen als ohnehin schon, und der kleine Saphir, den sie um den Hals trug, betonte ihr Blau umso intensiver. Schade eigentlich, dass Nathan und Emil schon weg sind, dachte ich. Die hätten erst gestaunt! Sie sah aus der Nähe noch besser aus als von Weitem! Wie Leonore auf das Paar reagiert hätte, versuchte ich mir lieber erst gar nicht vorzustellen. »Wissen Sie, wie viele Vorzeichen A-Dur hat?«, wäre noch die harmloseste Frage gewesen, mit denen sie die Neuen gleich mal ausgetestet hätte. »Nachdem Sie ein Kleinklavier haben, müssten Sie EIGENTLICH den ganzen Quintenzirkel in Moll rückwärts aufsagen können!« Wie gut, dass Leonore schon in ihr Senioren-Adlernest zurückgeflogen war!
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, versuchte ich ganz damenhaft meinen Hausherrinnenpflichten nachzukommen. »Willkommen in unserer Nachbarschaft.«
»Sonnenblumenweg ist ja wirklich eine tolle Adresse«, sagte der Mann.
»Früher haben wir in der Bahnhofstraße gewohnt!« Lisa ließ ein Lachen hören, das wie eine glockenreine Tonleiter klang. Ihre weißen kleinen Zähne blitzten wie aufgereihte Perlen. Instinktiv presste ich die Lippen aufeinander und bereute, in den letzten drei Stunden keinen frischen Lippenstift aufgelegt zu haben. Vielleicht konnte ich das kurz nachholen? Ich spähte über die Schulter und überlegte, wo sich mein allerneuester, angesagtester Lippenstift wohl gerade befinden mochte. Mir fiel aber nur der halb aufgegessene bräunliche ein, der im Gästeklo lag.
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