Inhaltsverzeichnis
Lob
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Copyright
Das Buch
Der Käsekuchen ist noch warm, als die Tür ins Schloss fällt. Leo hat Eva verlassen. Gerade noch war sie glücklich verheiratet - jetzt ist sie allein mit dreißig Kilo Übergewicht und einem überaus anhänglichen inneren Schweinehund namens Fährmann. Was tun mit dem Scherbenhaufen, der ihr Leben war?
Zahlreiche Riegel Schokolade und mehrere Gläser Champagner später hat Eva den ersten Schock überwunden und ist entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie wird abnehmen und ihr Leben in den Griff kriegen - jetzt! Zwar jammert und schreit Fährmann, probiert es mit List und Schmeicheleien, doch Eva bleibt eisern. Nicht zuletzt, weil sie in einem Chatroom einen höchst interessanten Mann kennenlernt. Okay, sie hat ein wenig geschummelt bei der Angabe ihres Lebendgewichts - aber das muss er ja nicht erfahren …
Pressestimmen
»So leicht und unterhaltsam geschrieben, wie man es von Hera Lind gewohnt ist.« Freundin
Die Autorin
Hera Lind, geboren 1957, studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie gleich mit dem ersten Roman, »Ein Mann für jede Tonart«, sensationellen Erfolg hatte. Es folgte u. a. der Bestseller »Das Superweib«. Mit ihrem Roman »Die Champagner-Diät« eroberte Hera Lind erneut wochenlang die Spiegel-Bestsellerliste. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Salzburg.
1
Nebenan duftete der Käsekuchen im Backofen. Ein frischer Beweis ehelicher Treue und Beständigkeit. Ich sollte ihn rausholen, dachte Eva Fährmann, er ist genau richtig. Der Sahnequark ist so goldgelb und locker, wie er sein muss, und die Vanillestreusel sind kross und warm. Jetzt muss nur noch Leo kommen, das wäre perfekt.
»Liebe geht durch den Magen«, grunzte ihr innerer Schweinehund zufrieden. Er war ein riesiger, fetter Bursche von Furcht erregender Massigkeit. Natürlich konnte ihn nur Eva Fährmann sehen und hören. Wie bei allen Moppeln dieser Welt war ihr innerer Schweinehund ihr dickster Freund und gleichzeitig ihr ärgster Feind.
Er sprach ständig mit ihr, ließ sie nie in Ruhe.
»Probier doch schon mal ein Stückchen!«, drängte er gierig.
»Sitz, Fährmann! Ich warte auf Leo.«
Das massige Tier setzte sich so unwillig, dass es platschte.
»Wenn dein Alter nicht bald nach Hause kommt, fällt die ganze Pracht in sich zusammen«, maulte es. »Außerdem schmeckt der Käsesahnestreuselkuchen kalt nur halb so gut, und aufwärmen kann man ihn nicht, das wissen wir beide ganz genau.«
»Fährmann, ich kann mich beherrschen!«
»Schade«, sagte Fährmann und verzog sich unter die Küchenbank.
Eva schüttete Puderzucker in ein feines Sieb und streute ihn vorsichtig über die duftende Köstlichkeit. Genau in diesem Moment hörte sie das ersehnte Motorengeräusch in der Auffahrt. Eva seufzte erleichtert auf.
»Na also! Da ist er ja!«
Fast schon hätte sie sich Sorgen um ihren Mann gemacht. Er sah unverschämt gut aus für sein Alter und war in letzter Zeit verdächtig viel auf Achse... Doch ihre Sorgen waren überflüssig, denn da war er, und ihre gemütliche Teestunde konnte beginnen.
Hastig putzte Eva ihre Brille und zog die Kittelschürze aus. So. Nun konnte sie Leo gegenübertreten.
Eva starrte durch das Fenster. Leo stand unter der Kastanie und telefonierte. Warum kam er denn nicht herein bei der Kälte?
»Irgendetwas ist anders als sonst«, murmelte sie düster.
Draußen türmten sich dichte Wolken, wie vor einem Gewitter, da braute sich irgendetwas Unheimliches zusammen. Heftige Januarwinde bogen die kahlen Kastanien, die die Auffahrt säumten. Schneeregen tanzte auf den Marmorplatten der Terrasse.
Leo schlug den Kragen seiner karamellfarbenen Kaschmirjacke hoch, als er endlich sein Telefonat beendete und leichtfüßig die Treppenstufen heraufeilte.
»Da bist du ja«, rief Eva erfreut, während sie die Wintergartentür vorsichtig öffnete.
Eiskalter Wind schlug ihr entgegen. Sofort beschlug ihre Brille. Die Palmen und tropischen Gewächse im Wintergarten mit Fußbodenheizung zitterten im plötzlichen ungemütlichen Durchzug. Das Kaminfeuer drohte auszugehen. Hier drinnen war es mollig warm, gemütlich, häuslich und geschmackvoll eingerichtet bis ins letzte Detail.
»Das, liebe Eva, das ist es, was er braucht«, flüsterte ihr innerer Schweinehund ihr freundlich zu. »Es macht nichts, dass du rundlich bist. Nur die inneren Werte zählen! Er weiß genau, was er an dir hat!«
Eva, die Leos Pantoffeln bereits vor seinen Lieblingssessel gestellt hatte, streifte ihrem Mann mütterlich mit dem rechten Handrücken über die Wange.
»Seit wann rasierst du dich zweimal am Tag?«, fragte sie neckisch und spitzte die Lippen zum üblichen Begrüßungskuss. Doch dieser ging überraschenderweise ins Leere.
Von fern ertönte ein leichtes Donnergrollen.
»Ist was passiert?«
Vielleicht hatte Leo wieder ein paar Leute entlassen müssen, und dann war die Stimmung in der Kleinstadt gegen sie hochgekocht. Die Zeiten sind schlecht, dachte Eva. Leo hat mehr Sorgen, als er sich anmerken lässt. Unsicher lächelte sie ihn an.
»Leo, vielleicht willst du dich erst mal ein bisschen ausruhen. Wir können auch später Tee trinken, das macht mir nichts aus!«
Leo sah auf merkwürdige Weise an ihr vorbei. Er durchquerte entschlossenen Schrittes den Wintergarten, ohne der blühenden Pflanzenpracht wie sonst einen Blick zu schenken, und ließ sich auf das schlichte schwarze Biedermeiersofa aus Ebenholz fallen.
Draußen bogen sich die dürren, kahlen Kastanienäste, als wollten sie dem Unvermeidlichen ausweichen.
Ratlos blieb Eva mitten im Raum stehen.
»Doch lieber sofort Tee? Der Kuchen ist noch warm!«
»Eva, ich... Lass doch das Hausfrauengeschwätz einmal sein!«
Leo verknotete, wie Eva verwundert beobachtete, hilflos die Hände. Schließlich öffnete er mit einer fahrigen Bewegung seinen obersten Hemdknopf und lockerte die Krawatte.
»Leo, wenn du Sorgen hast, dann reden wir darüber.«
Mit plötzlicher Entschlossenheit drehte Leo sich weg und sagte, zur Fensterfront gewandt:
»Ich habe eine andere Frau... kennen gelernt. Um es genau zu sagen: näher kennen gelernt.«
»Leo...«, flüsterte Eva, während ihr der Schreck in die Glieder fuhr.
»Ich will ja gar nicht lange drum herumreden: Es ist Svenja.«
»Svenja?! Unser... Kindermädchen?«
Eva griff Halt suchend ins Leere.
»Unser früheres Kindermädchen. Inzwischen ist sie eine erwachsene Frau.«
Eva hatte immer so etwas geahnt, wollte es aber nicht wahrhaben. Wie alle Moppel war sie eine Meisterin im Verdrängen.
Svenja, das hübsche blonde Mädchen mit dem drolligen Akzent, war vor zehn Jahren aus Schweden zu den Fährmanns gekommen, als Leonie noch klein war und Eva halbtags in Leos Firma als Fremdsprachenkorrespondentin gearbeitet hatte. Svenja gehörte zur Familie, fuhr mit in Urlaub, lernte Skifahren und Tischmanieren, wie man sich kleidet, benimmt und spricht. Eva brachte ihr bei, wie man einen Tisch dekoriert, wenn Gäste kommen, sie weihte sie in die Geheimnisse des Kochens und Backens ein. Aber vor zwei Jahren war Svenja dann durch verschiedene Model-Jobs in die Modebranche gekommen und schließlich nach Hamburg gezogen. Leonie war inzwischen vierzehn und brauchte kein Kindermädchen mehr.
Hamburg. Wo Leo seine Filiale aufgebaut hatte.
Ich hätte es wissen müssen, dachte Eva. Ich hätte es wissen müssen.
Unfähig, irgendetwas zu spüren, zu denken, geschweige denn zu sagen, schleppte sich Eva in die Küche, wo der nach Vanille duftende Käsestreuselkuchen kross auf der Gaggenau-Warmhalteplatte stand.
Eva schnitt den Kuchen vorsichtig an, ganz automatisch, wie sie das immer tat, wenn Leo nachmittags im Wintergarten saß und seine Schuhe ausgezogen hatte. Wenn er ihr Zeitung lesend seinen Teller hinhielt.
Der Kuchen war genau richtig, saftig-mürbe von innen und goldgelb-knusprig von außen. Eva war eine perfekte Hausfrau, was Leo bisher immer zu schätzen gewusst hatte. Aber das war jetzt wohl alles nichts mehr wert. Automatisch kehrte sie in den Wintergarten zurück.
Svenja. Die Schlange, die sie am Busen genährt hatte.
Leo und Svenja. In Hamburg. Wusste Leonie davon?
Seit wann lief das schon? Wochen? Monate? Jahre? Hatte es womöglich schon angefangen, als Svenja noch bei ihnen im Haus wohnte?
Die Offenbarung ihres Mannes tat Eva körperlich weh. Es war, als hätte er ihr ein Messer in den Magen gerammt.
Schockiert sank sie auf die Armlehne des Sessels, der Leo gegenüberstand. Der Sessel knarrte bedrohlich, und Eva ließ ihren Hintern, von dem sie auf einmal wusste, dass er so breit war wie die Startbahn West des Frankfurter Flughafens, mitten hineinsinken. Der Sessel war mit sonnenblumenfarbenen Hussen überzogen. Er gab dem Raum einen sonnigen Akzent. In »Schöner Wohnen« hatte Eva gelesen, dass sonnige Akzente einen Raum freundlicher machen, Trost spenden, Wärme und Geborgenheit schenken. Doch das war jetzt alles nichts mehr wert.
Der Raum um Eva wurde zu einer finsteren engen Zelle. Sie war darin gefangen. Vorsichtig holte sie Luft. Sie durfte jetzt nichts Unüberlegtes tun. Nicht schreien, nicht weinen, nicht aufspringen, nicht toben. Nur ganz ruhig sitzen bleiben.
»Bitte... Leo, sag, dass das nicht wahr ist...«
Leo ließ die Zeitung sinken. »Es ist wahr, Eva. Ich hätte es dir schon längst sagen müssen. Svenja und ich, wir... lieben uns schon seit längerem, und es ist nicht fair, dich auf Dauer wie eine Haushälterin zu behandeln.«
»Nein«, flüsterte Eva matt. Mechanisch quälte sie sich aus dem Sessel, griff zur silbernen Teekanne und füllte Leos hauchdünne Royal Dulton mit Darjeeling Black Moon, Leos Lieblingssorte um diese Uhrzeit.
Sie wunderte sich, dass ihre Hand kaum zitterte, als sie die Tasse mitsamt Untertasse und kleinem Silberlöffel vor ihm abstellte.
Da Leo keinen Zucker nahm, schüttete sie ihm automatisch etwas Milch in den Tee. So als hätte er gar nichts Besonderes gesagt, als hätte er sie nicht aus ihrer stoischen Ruhe gebracht, als wäre ihr Herz nicht gerade in tausend Scherben zerborsten, schob sie den silbernen Tortenheber unter den bereits angeschnittenen Streuselkuchen und servierte ihn ihrem Mann. Selbst den kleinen Klecks süßer Sahne tupfte sie mit der gleichen sorgfältigen Art wie immer auf den Kristallteller, mit dem gleichen Silberlöffel wie immer. Dann hielt sie ratlos inne. Sie war tatsächlich seine Haushälterin, erkannte sie jetzt plötzlich. Seine Geliebte war sie schon lange nicht mehr.
»Bitte setz dich wieder, Eva. Das nervt, wenn du stehst.«
Leo rieb sich gereizt den Nacken, so wie er das oft tat, wenn er verspannt und abgearbeitet war.
Eva ließ sich in den Sessel plumpsen - sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Als draußen mitten im klatschenden Schneeregen ein plötzlicher Donner niederkrachte, zuckte sie zusammen. Merkwürdigerweise kam erst jetzt der Blitz.
Ganz so, als könne auch der Himmel nicht begreifen, dass er gerade über mir eingestürzt ist, dachte Eva. Ein Gewitter am zweiten Januar.
Eva versuchte, nicht mehr zu atmen. Sie sank in sich zusammen und lauschte ihrem letzten Atemzug, aber der Körper nahm sich, was er brauchte, und Evas Lungen füllten sich nach einem verzweifelten Aufseufzen wieder mit Luft.
Leo aß den Käsestreuselkuchen mit großem Appetit. »Ich bin froh, dass es endlich raus ist«, murmelte er kauend, »mir hat es schon gar nicht mehr richtig geschmeckt in letzter Zeit.«
Er grinste schief. »Aber dir umso mehr, nicht wahr? Sei mal ehrlich, Eva. Warum futterst du so viel? Da musst du dich gar nicht wundern, wenn sich ein Mann in den besten Jahren lieber nach was Schlankem, Hübschem umsieht!«
Nein, dachte Eva. Genau dasselbe hätte jetzt auch meine Mutter gesagt. Wenn mein Mann fremdgeht, bin ich ja wohl selbst schuld.
»Wir führen doch schon lange keine aufregende Beziehung mehr«, hieb Leo weiter auf sie ein. »Du bist so... träge und... langweilig, und seit du so fett geworden bist, kann man sich mit dir ja auch nirgendwo mehr sehen lassen!«
Eva sagte nichts. Sie war so fassungslos, dass ihr kein einziges Wort über die Lippen kam. Das tat so weh, dass sie nur noch sterben wollte.
»Tja, und dass ich ein sportlicher und aktiver Mensch bin, hast du immer gewusst«, sprach Leo in die schmerzende Stille hinein.
Er machte eine fahrige Handbewegung, »Aber dir reicht es ja, Servietten zu falten, Rosen in Vasen anzuordnen und Tischdecken zu bügeln. Dir reicht dein bescheidener Wirkungskreis um Heim und Herd. Ist ja auch alles ganz nett so weit...«
Er stellte den Kuchenteller auf dem Glastisch ab und pickte mit dem Finger die übrig gebliebenen Butterstreusel auf. Gedankenlos steckte er sie in den Mund und seufzte satt. »Wie gesagt: Kochen kannst du. Und backen. Und das Haus nett herrichten. Aber ein Mann wie ich braucht auch noch etwas anderes.«
Eva spürte einen pochenden Schmerz zwischen den Schläfen.
»Aber du hast doch immer gesagt, dass du keine Selbstverwirklichungs-Emanze haben willst.«
»Nein, eine Emanze brauche ich nicht. Aber auch kein Hausmütterchen. Ich brauche eine unternehmungslustige, sportliche, vorzeigbare Frau. Guck dich doch mal an! Du hast ja gar nichts mehr anzuziehen!«
»Ich werde abnehmen!«, rief Eva verzweifelt aus. »Gib uns doch noch eine Chance!«
Leo zuckte mit den Schultern. »Du hast doch gar nicht den Durchhaltewillen! Wie willst du denn da zwanzig oder dreißig Kilo abnehmen?«
»Ein Model war ich nie, das weißt du. Als wir vor fünfzehn Jahren geheiratet haben, hatte ich auch schon meine siebzig Kilo. Das fandest du immer weiblich...«
»Aber jetzt wiegst du fast zwei Zentner!«, unterbrach Leo sie lieblos. »Du gehst ja gar nicht mehr aus dem Haus! Svenja geht mit mir in die Berge, mountainbiken und skifahren... Mit der Frau kann man was anfangen!«
Leo hielt inne, weil er verschnaufen musste. Wie zum Hohn nahm er sich ein zweites Kuchenstück, bestrich es extradick mit Sahne und schob es sich heißhungrig in den Mund.
Danach kratzte er die Krümel auf dem Teller zusammen und zerquetschte sie zwischen den Zinken seiner Kuchengabel. Wie erbarmungslos er die Krümel zerdrückt, dachte Eva, genau so, wie er gerade unsere fünfzehnjährige Ehe zerdrückt.
Stoisch schenkte sie ihm Tee nach. Ihr kam gar nicht in den Sinn, wie aberwitzig es war, ihn während seiner Ausführungen über die Vorzüge der anderen weiter zu bedienen.
Das Unwetter draußen schien sich noch steigern zu wollen. Dicke Hagelkörner tanzten wie Irrwische vor dem Wintergarten herum. Sie waren in Form und Größe nicht mehr von den weißen Kieselsteinen zu unterscheiden, die die hochherrschaftliche Auffahrt bedeckten.
Das ist der Weltuntergang, dachte Eva. Mein ganz persönlicher Weltuntergang.
Leos Stimme erreichte Eva wie aus weiter Ferne:
»Svenja ist wach und wissbegierig und kreativ. Sie reist, sie will was erreichen, sie hat sich hohe Ziele gesteckt, sie lebt nicht einfach so planlos in den Tag hinein wie du...«
»Aber ich sorge seit fünfzehn Jahren für dich und unsere Tochter! Das ist doch nicht planlos!«
»Sie trägt hohe Absätze, knappe Kostüme und schöne Unterwäsche. Das braucht ein Mann! Meinst du, deine Leberwurstkorsetts machen mich noch an?«
Eva fühlte sich plötzlich so klein, als steckte sie in einem Schuhkarton, der nun auch noch zusammengedrückt wurde. Zertreten wie jene Kartons, die man in den Altpapiercontainer stopft, damit sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Er will mich entsorgen, dachte sie, unauffällig und umweltfreundlich, weil ich für ihn Altpapier bin, wertlos, für ihn nicht mehr wieder verwertbar. Es reicht, dachte sie. Ich muss mich jetzt wehren, sonst wird er immer ausfallender. Wo ist mein letztes bisschen Würde?
»Leo, du solltest jetzt gehen!«
Leo erhob sich sofort. »Ja. Jetzt habe ich mehr gesagt, als ich wollte. Ich hab mich in Rage geredet, tut mir Leid.«
»Ja.«
»Ich wollte dir nicht wehtun.«
»Nein.«
»Du hast mich aber auch provoziert!« Das schlechte Gewissen stand ihm auf die Stirn geschrieben. »Ich werde fürs Erste bei Svenja in Hamburg wohnen.«
»In der Wohnung, die wir für sie eingerichtet haben...?«
Eva schlug das Herz bis zum Hals. Konnte das Schicksal so grausam sein? Sie sah sich noch für Svenja die Gardinen nähen.
»Die Firma in Kerpen-Horrem muss ich über kurz oder lang sowieso schließen«, unterbrach Leo ihre schmerzlichen Gedanken. »Es läuft einfach nicht mehr.«
»Und was wird aus mir?«
»Du kannst hier mit Leonie wohnen bleiben, bis sie ihr Abitur hat. Ich werde alles unverändert lassen. Finanziell soll es dir vorerst an nichts fehlen.«
Eva starrte Leo fassungslos an. War das hier alles vielleicht nur ein Albtraum?
Und wenn ja, wann würde sie endlich daraus erwachen?
»Aber dafür erwarte ich, dass du dich ruhig verhältst. Kein Scheidungsstress, keine üble Nachrede.« Er grinste schief. »Aber dafür fehlt dir sowieso die Energie, wie ich dich kenne.«
»Du bist so gemein...« Eva kamen die Tränen. »Das habe ich wirklich nicht verdient!«
Leo streckte ihr die Hand hin: »Ist das ein Angebot? Du kannst dein sorgenfreies Leben behalten. So leicht haben es andere Frauen nicht!«
Eva nahm mechanisch seine Hand. »Ja. Wahrscheinlich hast du Recht.«
»Brav«, sagte Leo. »Ich wusste, dass du nicht aus der Ruhe zu bringen bist. Im Grunde ändert sich für dich ja gar nichts. Du hast Leonie, du hast die Villa, den Garten mit Swimmingpool, und wenn du Zeit und Lust hast, kannst du dich ja ein bisschen weiterbilden und schauen, was du beruflich machen könntest. Besuch doch mal einen Computerkurs oder so was. Den Computer lass ich dir hier, ich habe in Hamburg einen moderneren.«
Leo riss seine Jacke aus dem Garderobenschrank und grinste sie noch einmal verlegen an. »Mann, bin ich froh, dass ich es dir endlich gesagt habe! Ich hatte schon Angst, du würdest es von Leonie erfahren... Grüß sie schön. Ich hol sie am Freitag ab!«
Eva zupfte ihm mechanisch ein blondes Haar von der Jacke, während sie ihm die Tür aufhielt.
Dann war Leo weg. Für immer.
2
»Mama, was ist los? Warum darf ich nicht reinkommen?« Leonie klopfte an die Tür zum Bad, in das sich ihre Mutter seit Stunden eingeschlossen hatte. Eva saß auf dem Badewannenrand und starrte fassungslos in den Spiegel. Die Frau, die ihr da aus rot verweinten Augen entgegensah, war fett, hässlich und verquollen. Sie sah genauso aus wie ihr innerer Schweinehund, mit dem sie seit Stunden Zwiegespräche hielt: ein abstoßendes Doppelkinn, über das nun auch noch Tränen des Selbstmitleids rannen. Im Nacken befand sich eine Speckrolle, und ihre Oberarme schwabbelten. Sie war sich noch nie so hässlich vorgekommen. Leos Worte hallten unbarmherzig in ihren Ohren nach.
»Ich werde eine radikale Diät machen«, versprach Eva ihrem verheulten Spiegelbild.
»Leo wird sich noch wundern!«
Ihr innerer Schweinehund badete in Selbstmitleid. »Nein, das kannst du uns unmöglich antun!«
»Und ob ich das tue! Neun hart gekochte Eier am Tag, und das über ein halbes Jahr. Du wirst noch staunen, wie schlank ich werde und wie klein du sein wirst!«
»Nie im Leben hältst du das durch«, begehrte Fährmann auf. »Außerdem habe ich mal gelesen, dass man davon Blähungen bekommt!«
»Dann eben Ananasdiät«, trumpfte Eva auf. »Das ist eine sehr appetitliche Angelegenheit. Entwässern tut es auch noch. Sehr praktisch.«
»Weißt du, wie fürchterlich man davon unterzuckert?«, widersetzte sich Fährmann. »Diese Hungerattacken wirst du nie und nimmer ertragen!«
»Kohlsuppe«, überlegte Eva. »Füllt den Magen und schmeckt bestimmt total lecker.«
»Das schaffst du nicht mal zwei Tage.«
»Aber die ganzen Schauspielerinnen schwören drauf...«
»Die müssen ja auch nur zweihundert Gramm abnehmen, wenn sie mal auf einer Party ein kleines Bier getrunken haben«, widersprach Fährmann. »Aber du hast dreißig Kilo zu viel! Guck dich doch bloß mal an!«
»Dann faste ich eben. Ich esse einfach gar nichts. Trinke nur Wasser. Bis ich aussehe wie Svenja.«
»Und was wird dann aus mir?«, fragte der innere Schweinehund. »Hast du mich etwa nicht mehr lieb?«
Eva starrte fassungslos auf ihr Spiegelbild. Ein hoffnungsloser Fall.
»Da kannst du dich besser gleich erschießen«, heulte Fährmann, »aber eine Kugel wird nicht reichen. Sie wird in deinen Fettmassen stecken bleiben und kein einziges inneres Organ erreichen. Du bist sogar zu fett, um dir das Leben zu nehmen.« Jetzt wurde Fährmann richtig böse: »Vergiss es also und hol endlich das Brathähnchen aus der Röhre, dessen Duft hier schon die ganze Zeit unter der Türritze durchzieht.«
Ja. Fährmann hatte Recht. So ein krosses Brathähnchen war im Moment der beste Trost. Mit leerem Magen kann man ja keinen vernünftigen Entschluss fassen, dachte Eva.
»Mama, ist alles in Ordnung?« Aus Leonies anfänglichem Klopfen wurde nun ein ungeduldiges Hämmern.
Ich darf mich nicht gehen lassen, dachte Eva. Das Kind braucht mich. Das Kind kann nichts dafür. Das Kind hat sein Leben noch vor sich.
Mechanisch drehte Eva den Schlüssel herum, da wurde die Tür auch schon von außen aufgerissen.
»Na endlich! Ich dachte schon, es ist was passiert!« Leonie stürmte herein und betrachtete sich im Spiegel. Sie war schlank und sehnig, genau wie ihr Vater. Ohne ihre Mutter auch nur eines Blickes zu würdigen, begann sie, sich einen Pickel im Gesicht auszudrücken: »Mama, der bescheuerte Mathelehrer hat mir für die binomischen Formeln nur eine Vier plus gegeben, obwohl ich wie wahnsinnig dafür geübt habe, na also, du hast mit mir geübt, und du hast selbst gesagt, dass ich es kann...« Sie hielt inne, als sie ihre Mutter im Spiegel sah.
»Was ist los, Mama? Heulst du etwa?«
Eva nickte. Der Blick in den Spiegel löste eine erneute Tränenflut aus. Eine Woge der Verzweiflung überrollte sie. Selbst als Nachhilfelehrerin hatte sie versagt. Sie war zu nichts nütze!
»Ist jemand gestorben?«
»Ja«, heulte Eva. »Ich.«
Dann sank sie auf den Badewannenrand und vergrub das Gesicht in beiden Händen. Hemmungslos gab sie sich ihren Tränen hin. Das Weinen tat gut.
»Jawohl«, feuerte Fährmann sie an. »Jetzt lass dich mal so richtig gehen vor dem Kind! Das macht Eindruck!«
»Mama, spinnst du? Hast du Krebs oder was?« Leonie zupfte ihre Mutter unbarmherzig am Bademantelärmel.
Eva hob den Kopf, sah ihrer Tochter mit tropfender Nase und verheulten Augen direkt ins Gesicht: »Dein Vater hat uns verlassen.«
»Also Mama, wenn du das mit Svenja meinst, dann hat er vielleicht DICH verlassen, aber nicht Uns. Hat er es dir endlich gesagt, ja? Wurde ja auch langsam Zeit.«
»Du hast es die ganze Zeit gewusst und mir nichts gesagt?«
»Spinnst du jetzt oder was!«, schrie Leonie aufgeregt. »Ist doch nicht meine Aufgabe!«
»Du hast mir nichts gesagt, weil du mir nicht wehtun wolltest, stimmt’s?« Eva konnte ihrer Tochter einfach nicht böse sein.
»Ach Mama, das ist doch nur so’ne Phase«, versuchte Leonie Land zu gewinnen, »der Papa braucht das halt mal im Moment, weil du so unsportlich bist und irgendwie auf nichts Bock hast, und die Svenja hat eben auf alles Bock, worauf der Papa auch Bock hat, damit meine ich jetzt nicht Sex oder so...« Leonie plapperte sich um Kopf und Kragen. »... sondern ganz normale Unternehmungen. Du bist immer so müde, liegst auf dem Sofa und liest Romane... Da kann ich den Papa auch irgendwie verstehen...«
»Seit wann weißt du von der Geschichte?«
Leonie konzentrierte sich voll und ganz auf ihren Pickel.
»Ooch, so genau weiß ich das gar nicht mehr...«
»WIE LANGE???«, brüllte Eva ihre Tochter an. Sie kam sich so verraten vor!
»Schrei doch nicht so! Was kann ich denn dafür?!«
Leonie verzog selbstmitleidig das Gesicht und produzierte ein paar Tränen. »Ich liebe Papa genau wie dich! Und der Rest ist eure Sache, verdammt noch mal!« Sie trat gegen die Badewanne.
Eva legte beruhigend den Arm auf ihre Schulter. »Aber warum hast du mir nichts davon erzählt? Du hättest mich doch warnen können!«
Leonie riss sich los. »Ist das mein Job oder was? Den Papa verpetzen? Ja glaubst du denn, ich find das toll?«
»Nein, natürlich nicht, du sitzt da zwischen den Stühlen...«
»Du bist eben total blind! Was Papa mit Svenja macht, ist doch nicht meine Schuld! Höchstens deine!«
»Aber Leonie, ich wollte dich wirklich nicht dafür verantwortlich machen...«
»Tust du aber! Ist doch voll eure Angelegenheit!«
»Hallo, dicke Eva?«, fragte der innere Schweinehund mitten in das Geschrei hinein. »Merkst du eigentlich nicht, dass das Gör den Ball schon auf seiner Seite hat? Willst du Leonie nicht endlich mal eine hauen?«
»Nein«, sagte Eva. »Ich haue mein Kind nicht. Und außerdem hat Leonie sogar teilweise Recht.«
»DU hast doch die Svenja mit Papa und mir auf Reisen geschickt!«, hielt Leonie sich dran. »Weil DU keinen Bock auf Skifahren und Bergsteigen hast! Was sollte ich denn machen?!«, brüllte Leonie sie tränenblind an. »Du regst dich ja immer gleich so auf! Hätte ich dir was erzählt, hättest du dich aufgeregt, hab ich dir nichts erzählt, regst du dich auch auf! Meinst du, mir macht das Spaß, dich leiden zu sehen, oder was?« Peng! Mit einem scheppernden Knall schmiss Leonie die Tür hinter sich zu. »Jetzt hab ich die Arschkarte, was?!«, brüllte sie von draußen, bevor sie polternd die Treppe runterlief.
»Jetzt bin Ich auch noch schuld, ja?! Steck mich doch ins Heim! Dann bist du uns beide los!«
Tagelang war Eva wie gelähmt. Sie wollte mit keinem Menschen reden; am allerwenigsten mit ihrer Mutter. Die hatte ihr ja schon immer vorhergesagt, dass Leo sie eines Tages verlassen würde, und endlose Predigten wollte sie sich ersparen. Freundinnen hatte Eva nicht viele, denn als Ehefrau des Hauptarbeitgebers hier im Dorf hatte sie immer Abstand zu den anderen Frauen gehalten. Die Einkäufe und Besorgungen erledigte Leos Chauffeur. Eva hatte für Leo und Leonie gesorgt, das große Haus in Ordnung gehalten, im Garten gewerkelt und sich das Leben ansonsten mit seichten Fernsehserien und ebenso seichten Romanen versüßt. Versüßt hatte sie sich das Leben auch mit dem grenzenlosen Naschen von klebrigen, fettigen Knabbereien. Keiner hatte ihr das je verwehrt - bis zum bösen Erwachen vor ein paar Tagen. Eva konnte es immer noch nicht fassen, dass Leo sie verlassen hatte. Der Einzige, mit dem ich mich unterhalten kann, ist mein eigener innerer Schweinehund, dachte sie. Ich habe gar nicht gemerkt, wie präsent der Bursche ist. Er hatte schon immer viel Macht über mich, aber jetzt bin ich ihm vollkommen hörig.
Einsam und traurig wie sie war, saß sie mit Fährmann auf dem Sofa und stopfte Pralinen in sich hinein, die ihr der Schweinehund mit haariger Pfote anreichte. »Mann, bin ich froh, dass du nicht mit dieser Diät ernst gemacht hast«, grunzte Fährmann und leckte sich die Schokolade von den Lefzen.
Es tat gut, jemanden zum Reden zu haben, auch wenn es nur ihr innerer Schweinehund war.
»Nee, das pack ich jetzt nicht«, jammerte Eva. »Erst vom Ehemann betrogen und verlassen zu werden, dann der Verrat von der eigenen Tochter, und jetzt auch noch Diät?«
»Du Arme«, sagte Fährmann und strich ihr mit seiner plüschigen Pranke pausenlos über den Kopf. »Du Arme, Arme, Arme aber auch. Lenk dich ein wenig ab und zieh dir einen Cornwall-Schinken rein. Im Fernsehen ist das Leben noch schön.«
»Genau, das mach ich.« Gehorsam starrte Eva in den Fernseher. Es lief eine der hundert Verfilmungen ihrer hundert Lieblingsromane, die alle in Cornwall spielten und in denen die Heldinnen entweder blond und noch Jungfrau waren oder dunkelhaarig und schuldlos verwitwet, aber niemals übergewichtig oder gar fett. Die Heldinnen verbrachten ihre Semesterferien gern bei gutmütigen Erbtanten, die im Garten stets eigenhändig Tomaten und Zwiebeln ernteten, so ging das ja schon mal los.
In den gemütlichen Wohnküchen der gutmütigen Erbtanten pflegte nach nicht allzu langer Zeit ein männliches Wesen im grob karierten Hemd aufzutauchen, das entweder draußen ein Pferd angebunden oder einen Sportwagen geparkt hatte. Ein männliches Wesen, das vorzugsweise eine Panne hatte oder wenigstens vorgab, eine zu haben, und das die blonde Heldin seit Kindertagen nicht mehr gesehen hatte und deshalb nicht wiedererkannte. Der gut aussehende Held war entweder charakterlich einwandfrei - dann war sein gutes Aussehen aber auch wirklich ohne jede Spur von Verschlagenheit, Herbheit, Dreitagebart oder etwas ähnlich Verdächtigem. Dafür war noch ein Hindernis zu überwinden, zum Beispiel in Form eines frühkindlichen Traumas, verursacht durch das versehentliche Rausschubsen der Heldin aus einem Boot oder durch das ebenso unabsichtliche Stoßen der Protagonistin von einem Pferd, was dann erst mal tränenreich im Schuppen neben dem Erbtantenhaus aufgearbeitet werden musste. Oder aber der männliche Hauptdarsteller, der so plötzlich in der gemütlichen Wohnküche der gutmütigen Erbtante auftauchte, war charakterlich bedenklich, was im Verlauf der nächsten neunzig Minuten noch der dämlichsten Zuschauerin aus Mollseifen oder Quadrath-Ichendorf klar werden würde, wenn sich der charakterlich Bedenkliche nämlich durch beispiellose Geldgier, Machtgier, Sexgier oder eine andere Form von Gier selbst ins Aus katapultieren würde. Solch abgebrühte Typen outeten sich etwa durch das widerliche Ansinnen, auf Gwyneth Hall oder wie diese Erbtantengutshöfe eben so hießen, einen Golfplatz oder etwas ähnlich moralisch Verwerfliches bauen zu wollen. Dann hätten die Rosen- und Tulpenzwiebelbeete der Erbtante womöglich einem Putting-Green weichen müssen, oder der Herrenumkleide eines Clubhauses - den Autoren dieser Serien konnte schon so manch Menschlich-Abgründiges einfallen. Im besten Fall ließen die Autoren solch einen Widerling in der neunundachtzigsten Minute noch einen Felsen hinunterstürzen oder vom Pferd fallen, vorzugsweise indem er mit dem Kopf gegen einen herabhängenden Ast knallte oder mit dem Gesäß auf einen spitzen Zaunpfahl flog, sodass sich Sexgier, Geldgier, Machtgier oder das unmenschliche Ansinnen, einen Golfplatz zu bauen, von selbst erledigte. Oder aber ihn traf ein Golfball zwischen die Augen, woraufhin sich die blonde Heldin - unter dem wissenden Lächeln der Bohnen zupfenden Erbtante, die inzwischen selbst mit einem gut aussehenden Kleingärtner glücklich geworden war - endgültig dem charakterlich Unbedenklichen zuwenden würde, der wiederum keine Zeit zum Golfspielen hatte, weil er mit seiner südenglischen Fischzucht und dem Anstreichen von Fischkuttern vollauf ausgelastet war.
»So ist es gut, Eva. Lenk dich nur ab«, grunzte Fährmann träge. Er war während des Films eingeschlafen, aber als der Abspann kam, musste Eva wieder weinen.
»Nimm noch von den Pralinen, die müssen alle weg«, hauchte ihr der dicke Schweinehund tröstend zu und strich ihr um die weich gepolsterten Schenkel. »Ich hab dich lieb! Und wenn der blöde Leo mit deinem Kindermädchen durchbrennt, dann hast du immer noch mich. Ich koch dir Grießbrei oder Bratkartoffeln mit Speck, ganz wie du willst.« Mit seiner klobigen Pfote schob er ihr die Pralinenschachtel wieder unter den Busen. »Nimm noch, die müssen alle weg. Halb volle Pralinenschachteln sehe ich gar nicht gern über Nacht hier rumstehen.«
Fährmann ist mir treu, dachte Eva dankbar, er tröstet mich, er macht mir gute Vorschläge, wie ich die schwarze Leere in mir wieder füllen kann. Im Grunde genommen ist Fährmann für mich wie eine der gutmütigen Erbtanten: Er kann zuhören, kocht mir heißen Kakao und wischt mir die Tränen ab.
»Starr nicht immer aufs Telefon, Liebes«, schmeichelte der dicke fette Schweinehund. »Beschäftige dich. Koch dir was Schönes. Gulasch mit Knödeln zum Beispiel. Das hat dir noch in jeder Situation Kraft gegeben.«
»Gute Idee«, sagte Eva und schleppte sich gehorsam in die Küche. Beim Zwiebelschneiden musste sie wieder weinen.
Seit vierzehn Tagen und Nächten wartete Eva nun schon darauf, dass Leo zurückkam, sich bei ihr entschuldigte und sie, wie in ihrer Vormittags-Lieblingsserie »Reich und Schön«, ein zweites Mal zum Traualtar führen würde. Auch bei den Forresters kam es mal vor, dass man sich trennte, eigentlich kam es dort ständig vor. Aber das war doch keine große Sache, dachte Eva, dann traf man sich eben am Swimmingpool oder in Venedig oder auf einer karibischen Insel zufällig wieder, weinte ein bisschen, strich sich gegenseitig das seidige Haar aus der Stirn und versicherte einander, wie sehr man sich liebte und dass man ohne einander nicht leben konnte. Anschließend sank sich das Paar in die Arme, und dann kam der Abspann. Eva weinte noch immer, obwohl sie mit dem Zwiebelschneiden bereits fertig war.
»Vergiss es«, sagte Fährmann sachlich. Er konnte auch richtig Klartext sprechen, wie das innere Schweinehunde ja so an sich haben. »Wenn dein Leben eine Fernsehserie wäre, die, sagen wir mal »Reich und Dick« heißen würde, dann müsste aber langsam mal was passieren. Es passiert aber nichts. Der Alte macht sich mit Svenja in Hamburg ein feines Leben, Leonie steckt mit ihnen unter einer Decke, und du versauerst hier. Mach dir nichts vor.«
Eva kostete die Gulaschsauce, die ihr wieder einmal hervorragend gelungen war. Für wen soll ich noch kochen?, fragte sie sich verzweifelt. Dabei tropfte eine Träne auf den Löffel.
»Nicht weinen«, tröstete der massige Schweinehund. »Für solche Fälle ist der Eierlikör da!« Er erhob sich schwerfällig, tappte zur antiken Wohnzimmertruhe, entnahm ihr die gelbe Flasche und entkorkte sie mit den Zähnen. »Hier, Schätzchen. Trink aus der Flasche. Sieht ja keiner.«
Eva gehorchte ihrem inneren Schweinehund. Wie immer. Aber auch nach vielen Schlucken des süßlich klebrigen Gebräus wollte sich kein euphorisches Gefühl einstellen. Am liebsten hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst. Aber wie löst man sich in Luft auf, dachte Eva, wenn man hundert Kilo wiegt?
»Na, Mama, haste dich wieder beruhigt?« Mit Gepolter stürmte Leonie ins Wohnzimmer. Soeben hatte Leo sie vor dem Gartentor abgesetzt, und der Wagen war mit quietschenden Reifen wieder weggefahren. Die Begrüßung von Leonie war genauso herzlich, als hätte sie ihr einen Eimer Eiswasser ins Gesicht geschüttet.
»Ich habe mich nie aufgeregt«, antwortete Eva stoisch. Der Eierlikör hatte seine Wirkung nicht verfehlt.
»Das hättest du aber besser mal tun sollen«, stichelte Leonie. »Was guckst du denn da für’n Schmalz?« Sie gönnte dem Bildschirm ein paar Sekunden. Gerade lief eine Serie über eine Domina, die schlecht erzogene Kinder in sozial schwach gestellten Haushalten mit drastischen Maßnahmen zur Räson brachte. Soeben wurde ein zweijähriger Trotzkopf zum hundertsten Mal auf eine Treppenstufe gesetzt, auf der er genau null Komma dreiundvierzig Sekunden sitzen blieb, bevor er brüllend und um sich schlagend wieder zu seiner Mutter lief, die daraufhin ihrerseits brüllte und um sich schlug, weshalb sie kurzfristig ihre Zigarette ausdrücken musste. Der Vater saß teilnahmslos mit einer Bierflasche auf dem abgewetzten Sofa und starrte in die Glotze, während der Zweijährige seiner Wut dahingehend Ausdruck verlieh, dass er sein Töpfchen auf dem Wohnzimmertisch ausleerte. Die Domina schüttelte den Kopf und sagte: »So geht das nicht, Vanessa, du musst ihm Grenzen aufzeigen! Wichtig ist auch, dass du ihm beim Gutenachtlied keinen Rauch ins Gesicht bläst.« Die Mutter nickte zerknirscht, und der Zweijährige biss die Domina ins Bein.
»Total bescheuert, voll der sinnlose Scheiß«, merkte Leonie an.
Eva, die ihr nicht widersprechen konnte, nahm die Fernbedienung und schaltete den Großbildfernseher aus. So müsste ich meinen inneren Schweinehund auch mal erziehen, dachte sie. Ihm mit Konsequenz Grenzen setzen. Der macht ja mit mir, was er will.
Sie straffte die Schultern: »Vielleicht hast du Recht, Leonie. Ich bin viel zu passiv. Aber... ich weiß einfach nicht, was ich jetzt mit mir anfangen soll!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Überrascht von ihrem unerwarteten Erfolg, baute sich Leonie vor ihrer Mutter auf. »Mama, du bist fast vierzig, da kannst du das Leben doch noch nicht abhaken! Der Papa ist zehn Jahre älter als du, aber wenn ich ganz ehrlich bin, sieht der Papa aus wie vierzig und du wie fünfzig.«
Das wirkte. Eva ließ ihren Tränen wieder freien Lauf.
Leonie war sich der grausamen Wirkung ihrer Worte voll bewusst.
Plötzlich kniete sie vor ihrer Mutter, verbarg ihr Gesicht in der Wolldecke auf deren Schoß und schluchzte: »Glaubst du, ich finde das nicht total gemein vom Papa, dass er dich zu Hause sitzen lässt und draußen mit dieser Svenja angibt? Aber was soll ich denn machen? Mich zu dir aufs Sofa setzen und Schmalzfilme angucken, nur weil ich zu dir halte?« Sie sah Eva mit verweinten Augen an: »Ich will leben, Mama, und Spaß haben!«
Eva strich ihr über die Rastalocken, mit denen sie aussah wie ein wild gewordener Staubwedel: »Leonie, ich glaube, ich brauche jetzt deine Hilfe.«
»Nee. Im Ernst?« Leonie hob den Kopf. Aus erstaunten Augen sah sie ihre Mutter an, hoffnungsvoll, misstrauisch, ein bisschen frech.
»Seit wann brauchst DU meine Hilfe?«
Eva zuckte die Schultern. »Seit jetzt?«
»O.K.«, sagte Leonie erfreut. »Und was soll ich für dich tun?«
Eva sah ihre Tochter lange ernsthaft an. »Hol mich zurück ins Leben.«
3
»Siehst du, Mama, so’n Computer ist was für ganz normale Menschen! Wenn ich das schaffe, kannst du das doch auch!«
Mutter und Tochter saßen einträchtig in Leos Arbeitszimmer und surften im Internet.
»Dass du dich damit so auskennst«, sagte Eva mit ungespieltem Erstaunen. »Da eröffnen sich ja ganz neue Perspektiven!«
»Mama, das kann heute jedes Kind! Nur du lebst noch total hinterm Mond!«
Sie kann das alles, dachte Eva, sie lebt in einer Welt, zu der ich überhaupt keinen Zugang habe. Ich war einfach zu faul, mich mit solchen Dingen zu beschäftigen.
»Aber Mama! Wer heute keinen Computer bedienen kann, ist doch ein Neandertaler!«
Trotz allen Kummers musste Eva lachen.
»Sag das bitte nicht! Es gibt Millionen von gebildeten, modernen Menschen, die ihre Briefe immer noch lieber mit der Hand schreiben!«
»Das ist genauso bescheuert, wie einen Rasen immer noch mit der Sense zu schneiden, wenn es längst schon elektrische Rasenmäher gibt! Viel Spaß, ich geh in mein Zimmer!«
Leonie drückte Eva einen Kuss auf die Wange und verdrückte sich.
Gebannt starrte Eva auf den Bildschirm. Was sich da alles tat! Welche bisher unbekannten Welten sie sich da ins Zimmer holen konnte! Mit wachsendem Interesse las sie, was sich die verschiedenen Teilnehmer im Chatroom so zu erzählen hatten. Da wurde geflirtet, was das Zeug hielt. Eva lächelte zum ersten Mal, seit Leo sie verlassen hatte.
»Eigentlich eine feine Sache, diese Chatterei«, sagte sie zu Fährmann, der unter dem Schreibtisch eingeschlafen war. »Man kann den anderen erzählen, was man will, und sie können es glauben oder auch nicht. Man kann sich als Claudia Schiffer oder Heidi Klum ausgeben, schließlich kann das keiner nachprüfen, das muss ja jeder als gegeben hinnehmen, was ich da behaupte.«
Fährmann grunzte teilnahmslos. So ist das mit den inneren Schweinehunden, dachte Eva, wenn man in einer Sache völlig aufgeht, schlafen sie. Aber kaum macht sich Langeweile oder Frust breit, kommen sie aus ihren Löchern und haben Hunger.
Eva seufzte. »Keiner von denen da im Chatroom zeigt sein wahres Gesicht, Fährmann, das ist der Reiz an der Sache.«
»Komm mir bloß nicht auf abwegige Ideen«, brummte Fährmann schläfrig.
»Solange ich mich nicht raustraue in die Welt, muss ich sie mir eben nach Hause holen«, entschied Eva. »Dazu ist ja so ein Computer hervorragend geeignet. Ach wäre ich doch schlank.«
»Bist du aber nicht, hähähä. Dafür habe ich schon gesorgt.«
Eva googelte sich das Wort ihrer Träume: schlank.
Und traute ihren Augen nicht! Tausende von Eintragungen!
Bei einer blieb Eva fasziniert hängen.
Schlank! Bald! Sie schaffen es! Mit uns!
»Lass den Scheiß«, grunzte Fährmann. »Geh in die Küche und mach endlich was Sinnvolles.«
»Nee, warte mal, ich lese das gerade!«
Ein neues modernes Fitnesscenter warb mit bunten Farben und ansprechenden Fotos auf seiner eigenen Internetseite.
»Nee! Lies das bloß nicht! Mir wird schlecht!«
»Fährmann: Sitz!«
»Die Sportinsel, das neu eröffnete Freizeit- und Fitness-Studio in Köln sucht noch neue Mitglieder.«
»Viel zu weit weg!«
»Ruhe! Hier, hör mal! Sind Sie reif für die Sportinsel?«
»Nein. Kein bisschen. Blödsinn.«
»Doch, Fährmann, ich bin absolut reif für die Sportinsel! Ich will mein Leben ändern!«
»Schaffst du nicht. Du und Sportinsel. Hahaha.«
»Schaff ich wohl! Hör zu!«
Eva las mit wachsender Begeisterung:
Schlank! Bald! Sie schaffen es! Mit uns!
Der beste Entschluss Ihres Lebens:
Nicht schwer, aber immer leichter!
Erst Ihre Entscheidung. Und dann Sie.
Tun Sie’s. Jetzt. Worauf warten Sie noch?
Mehr Genuss. Mehr Wohlbefinden. Mehr Lebensqualität.☺
»Glaub ihnen kein Wort! Die wollen nur dein Geld!«
Ernährung, Bewegung und Motivation sind die drei tragenden Säulen unseres Konzepts. Dabei geht es um eine langfristige Umstellung der Gewohnheiten - ohne dass Sie dabei auf irgendwas verzichten müssen.
»Das glaubst du ja wohl selbst nicht! Pralinen, Pudding, Kuchen, Schnitzel, Pommes rot-weiß... Von wegen nicht verzichten!!«
Drei bis sechs Monate Ihrer Zeit müssen Sie schon investieren. Aber Sie werden Ihr schweres Leben von Grund auf ändern. Für immer. Vertrauen Sie sich uns an. Vertrauen Sie sich selbst.
Sie werden es schaffen. Sie werden leicht sein. Sie werden lernen, sich selbst Glücksgefühle zu verschaffen. Durch Hormone, die Sie freilegen werden. Durch eigene Kraft. Das ist nicht schwer, aber immer leichter. Genau wie Sie.
»Das ist eine gefährliche Sekte!«, schrie Fährmann in Panik. »Mach sofort dieses neumodische Teufelsding aus!«
Aber Eva starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Einmal leicht sein, frei sein, schlank sein, rennen können, schicke Klamotten tragen...
Das las sich wie ofenwarmer Streuselkuchen mit frisch geschlagener Sahne, wie knuspriges, noch warmes Brot mit streichfähiger Butter und fingerdicker Leberwurst, wie krosse Bratkartoffeln mit glasig gedünsteten Zwiebeln und Speck und zwei Spiegeleiern, wie lauwarmer Schokoladenpudding mit wollüstig zitternder, zarter Haut. Das war das Stichwort für Fährmann. Der Schweinehund stand auf, reckte und streckte sich und leckte sich das Maul. »Chefin? Jetzt wäre mal wieder ein kleiner Imbiss angesagt!«
Doch Eva schob das hechelnde Speichelmaul einfach mit dem Knie weg.
Lernen Sie, warum Sie essen müssen, um abzunehmen. Wie Sie neue Ernährungsmuster spielend leicht in Ihr Leben integrieren. Welche Sportart für Sie die richtige ist. Und wie leicht Sie Ihre Lebensfreude verdreifachen können! Nehmen Sie sich diese Lebenszeit nur für sich, gewinnen Sie Ihre Selbstachtung zurück und gönnen Sie sich eine lebenslustige Intensivbetreuung mit 100%iger Zufriedenheitsgarantie!
»Du kannst deine Lebensfreude verdreifachen, indem du jetzt eine Pizza mit extra viel Käse und Schinken ins Rohr schiebst!«
Vergessen Sie all die Wunderdiäten! Es gibt sie nicht! Sie selbst sind der lebende Beweis dafür. Wenn Sie dauerhaft schlank werden und bleiben wollen, brauchen Sie ein persönliches Fitness-Coaching. Leisten Sie es sich! Sie sollten es sich wert sein! Worauf warten Sie noch...?
Auf Ihre »leichte Zukunft«? - Nur zu, wenn Sie uns mailen, hat sie schon begonnen!
Der Schweinehund hatte seine Schnauze abwartend auf die Vorderpfoten gelegt und beobachtete Eva aus zusammengekniffenen Augen. »Lass dich bloß nicht verarschen, dicke Eva!«
»Ob ich ihnen schreiben soll?«
»Nein.«
»Ob diese Leute von der Sportinsel mich wohl rausziehen...«
»Nein.«
»... aus dem grauenvollen Sumpf der Trägheit, Einsamkeit und Selbstaufgabe?«
»Sicher nicht.«
»Guck mal, wie toll die alle aussehen auf den Fotos! Schlank und rank und gut gelaunt!«
»Das ist alles getürkt«, maulte der Schweinehund. »In Wirklichkeit quälen die sich fürchterlich.«
»Glaube ich nicht.« Eva klickte neue Fotos an.
Da tummelten sich einige völlig fettfreie Damen in knappen Sport-BHs und Höschen, die einen Waschbrettbauch und tadellose Oberschenkel freigaben, fröhlich lächelnd an Furcht erregend anmutenden Sportgeräten. Andere marschierten mit Stöcken ausgerüstet und in anregende Gespräche vertieft durch Wald und Wiesen, wieder andere radelten strahlend einen Hügel hinauf.
»Ätzend! Bescheuert! Albern! Neumodischer Firlefanz!«
»Also wirklich, Fährmann. Die haben doch Spaß!«
»Haben sie NICHT!«
»Na klar, Fährmann, ist doch logisch, wenn man erst mal zu hundert Prozent aus Muskeln besteht und zu null Prozent aus Fett! Dann macht das bestimmt Spaß.«
»Aber du bestehst zu hundert Prozent aus Fett. Und dir macht das keinen Spaß. Dir macht das Muskelkater, und solange es mich gibt, deinen inneren Schweinehund, kommt so eine Sportinsel überhaupt nicht in unsere rechte Gehirnhälfte. Und jetzt heb deinen Bratarsch und mach mir den Kühlschrank auf. Ich brauch’ne Woooaaaaast.«
Frustriert begab sich Eva in die Küche. In der Kühlschranktür lauerte listig die frische Fleischwurst, die sie heute Morgen beim Metzger erstanden hatte.
»Ich hätte gern zweihundertfünfzig Gramm von der groben, dicken.«
»Tut mir Leid, die ist heute in der Berufsschule.«
Ja, so grausame Witze musste Eva über sich ergehen lassen.
Ärgerlich kauend begab sie sich an den Computer zurück. Dass sie schon wieder auf ihren inneren Schweinehund gehört hatte und schwach geworden war!
Fettverbrennung mit Humor, Herz und Hirn!
Laufen, Lachen und Leben!
»Ist doch lächerlich, dieser Stabreim! Kann ich auch. Suppe, Sauerbraten, Süßspeise. Leberknödel, Lammkeule, Lieblingspudding.«
»Mann, Fährmann! Du gehst mir auf den Geist!«
Hier kriegt jeder sein Fett ab!
»Hahaha. Welch heiteres Wortspiel.«
Bei uns treffen sich Frust-Moppel aus dem ganzen Rheinland.
»Aber keiner aus Quadrath-Ichendorf. Vergiss es.«
Unter fachkundiger Anleitung unserer diplomierten Ernährungsberaterin Brigitte Brandt, die selbst über zwanzig Kilo weggegessen, -gelaufen und -gelacht hat, lernen Sie, Ihr Essverhalten dauerhaft zu verändern. Sie erfahren alles über schlechte Kalorien, überflüssige und versteckte Fette und den Diätwahnsinn unserer Zeit.
Wir sprechen hier nicht von einer neuen, sensationellen Diät.
Wir machen Ihnen nichts vor.
»Doch! Die lügen! Alle!«
»Sitz!«
Aber machen Sie es uns ruhig nach!
»Nein danke. Kein Bedarf.«
»Fährmann, du nervst mich!«
»Das will ich auch. Innere Schweinehunde sind dazu da, gute Vorsätze im Keim zu ersticken!«
Und ersetzen Sie Gutes durch Besseres.
Gut ist alles, was Ihnen schmeckt.
Besser ist, was Ihnen schmeckt, gut tut und zugleich schlank macht!
»Wooaaaaaaaaast!«
Ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied.
Trauen Sie sich, ihn kennen zu lernen.
Das ist nicht schwer - aber immer leichter.
»Eierlikööööööaaaaaaa!«
Der innere Schweinehund tobte inzwischen genauso wie das Trotzkind in der RTL-Serie. Eva ignorierte ihn, wie sie es von der Domina gelernt hatte.
Neben der Theorie kommt natürlich auch die Praxis nicht zu kurz: Auf harmonische Weise werden Sie an natürliche Bewegungen herangeführt, die Fett verbrennen und Muskeln aufbauen.
»Keeekkseeeee! Schokolaaaaaade! Marzipaaaaaaaaan! Ich will kein Fett verbrennen und keine Muskeln aufbauen! Das ist langweilig und tut weh!!«
Kein Hochleistungssport, sondern lachendes, lockeres, leichtes Training, Tag für Tag. Kursdauer sechs Monate - mit garantiertem Erfolg.
»Für dich fette Tonne gilt das nicht.«
»Meinst du nicht?«
»Nein. Du würdest Jahre brauchen, das hältst du nie im Leben durch. Und davon kommt Leo auch nicht wieder.«
»Ich würde es gar nicht für Leo machen, sondern für mich!«
»Du bist doch in Ordnung, so wie du bist! Bleib doch einfach so!«
Eva beugte sich zu dem ständig an ihrem Stuhl kratzenden Kameraden: »Guck mal, was hier steht!«
»Ich kann nicht lesen, das weißt du genau!«
»O.K., ich lese es dir vor!«
Lassen Sie Ihren Schweinehund nicht zu Hause - bringen Sie ihn ruhig mit!
»Das stimmt nicht! Das steht da nicht! Du lügst! Ich geh da nicht hin, ich geh da nicht hin!« Fährmann rammte die Beine trotzig in den Boden. »Du bist so gemein, so gemein, so gemein...«
»Ist ja schon gut«, tröstete Eva ihren treuen Kameraden und tätschelte ihm den rosaroten Schwabbelbauch. »War ja nur so ein dummer Gedanke!«
Sie griff zur letzten der köstlichen Pralinen aus der goldgelben Packung.
»Du bist nicht die erste«, sagte Eva zärtlich, als sie die Praline in den Mund steckte, »du musst schon verzeih’n, aber meine letzte, die könntest du sein.«
»Das wollen wir erst mal sehen«, grunzte Fährmann, der immer das letzte Wort haben musste.
Am nächsten Abend saß Eva schon wieder vor dem Computer. Fährmann nahm das mit Argwohn zur Kenntnis.
»Du schreibst da jetzt nicht ernsthaft hin, oder?«
»Lass mich doch. Ich muss es ja nicht abschicken.«
»O.K. Mach dich ruhig lächerlich. Ich warte so lange.«
»Jetzt halt doch mal das Maul! Ich muss mich konzentrieren!«
»Hallo, Ihre Anzeige spricht mich an. Halte mich für eine gelungene Mischung aus Spaß- und Kalorienbombe und möchte gern etwas über das leichte Leben lernen. Habe mir mein Leben viel zu schwer gemacht... Stehe schon lange auf dem Abstellgleis und sehe die Schnellzüge an mir vorbeifahren! Wer hilft mir, wieder aufzuspringen? Der feste Wille ist da, aber allein schaffe ich es nicht...«
»O.K., und jetzt lösch das.«
»Ja, gleich. Ich lese es nur noch mal durch.«
»Scheiße, ich habe gesagt, du sollst das löschen!«
Eva fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits kostete es sie nur eine winzige Fingerbewegung, und schon hatte sie den ersten Schritt in ein neues, vielleicht schlankes Leben gemacht.
Andererseits hielt Fährmann sie mit allen Mitteln davon ab. Der Schweinehund sprang mit Schwung auf ihren Schoß und kläffte ihr ins Gesicht: »Wenn du das nicht löschst, lösche ich es!«
»Bäh, du hast Mundgeruch, Fährmann!«
»Ja, weil ich nichts im Magen habe! Lass den Blödsinn und mach uns was zu essen! Und dann setzt du dich auf dein Sofa und machst die Glotze an! Wie immer! Was sind denn das für neue Sitten! Wo die Kekse liegen, weißt du ja!«
»Jetzt warte doch mal...« Eva wollte den Schweinehund beiseite schieben und noch einen Blick auf den Computer werfen, ja, sie wollte ihr Schreiben noch mal neu formulieren, nicht ganz so forsch vielleicht, aber Fährmann geriet in Panik, und durch das sich daraus ergebende Hand- und Fußgemenge drückte Fährmann aus Versehen mit seiner linken Hinterpfote auf »Senden«.
Der Computer machte erfreut pling-plong, und weg war die Mail.
Der Schweinehund starrte fassungslos auf den Bildschirm.
»Sag mal, bist du jetzt komplett Banane?« Die Spucketröpfchen flogen ihm nur so von den Lefzen.
»Hab ich das jetzt gesendet...?«
»Du kannst das jetzt nicht mehr zerreißen und in den Papierkorb schmeißen. Das Ding ist gelaufen. Wohin auch immer! Du dämlicher Trampel.«
»Tut mir Leid...« Eva war vor Verwirrung ganz zerknirscht.
»Du isst jetzt sofort eine Fleischwurst. Aber sofort!!«
Das musste ihr der Schweinehund nicht zweimal sagen. Eva rannte mit wild klopfendem Herzen zum Kühlschrank, riss ihn auf und stopfte sich mit den Resten vom Abendessen voll.
Der Schweinehund stand mit verschränkten Vorderpfoten daneben. Sein Schwanz klopfte unbarmherzig auf den Küchenfußboden.
»So. Du hast das jetzt abgeschickt, ja?«
»Ja«, kaute Eva mit vollen Backen. »Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Boh, schmeckt die lecker.«
»Ist das die dicke Grobe?«
»Ja.«
»Dann iss noch eine. Weg ist weg.«
»Gern.«
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Ich hab das noch nie gemacht, Ehrenwort, noch nie im Leben hab ich was irgendwo hingesendet, und dann gleich so einen peinlichen Unsinn, ich... äh...«
»Man spricht nicht mit vollem Mund. Und jetzt gehst du hin und guckst, ob da etwa jemand geantwortet hat.«
»Ich trau mich nicht.«
»Dann iss den Schinken auch noch. Und den Käse. Am besten, du lässt gar keine Reste übrig.«
»Ja.«
Eva stand vor dem Kühlschrank und stopfte alles in sich hinein, was der Vorrat hergab. Dabei tobte es in ihrem Inneren.
Sie hatte es abgeschickt! Sie hatte es wirklich abgeschickt!
Eva starrte auf den Bildschirm. Kam da jetzt was zurück? Hallo? Ist da jemand? Am liebsten hätte sie am Computer gerüttelt.
»Da passt noch’ne Mokkasahne rein«, mahnte Fährmann. »Während du wartest, brauchst du nicht untätig davor zu sitzen.« Er schob ihr die angebrochene Tafel Schokolade hin, die Leonie hatte liegen lassen. »Reine Nervennahrung. Das weiß doch jeder.«
Gehorsam griff Eva in das Silberpapier und schob sich die Schokoladenrippchen in den Mund, die der Schweinehund für sie schon passend vorbereitet hatte. Kauend und lutschend starrte sie auf den Bildschirm. Es war noch keine Antwort da.
So muss das Paradies ausgesehen haben, überlegte Eva zerstreut. Adam und Eva sahen bestimmt genauso aus wie diese makellosen Figuren hier, und überall hingen Äpfelchen herum und Birnen und Gurken und Tomaten, aber nein, Eva wollte unbedingt ein Sahnebaiser, und dann noch eins und noch eins.
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Taschenbucherstausgabe 10/2007
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