Schloss Wildenstein - Johanna Spyri - E-Book

Schloss Wildenstein E-Book

Johanna Spyri

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Beschreibung

In 'Schloss Wildenstein' erzählt Johanna Spyri die Geschichte einer jungen Frau, die unerwartet auf einem idyllischen Schloss in den Schweizer Alpen landet. Der Roman zeichnet sich durch seine detaillierte Beschreibung der Natur und der Charaktere aus, die den Leser in eine malerische Welt entführen. Spyris sorgfältige Beobachtungen und ihr lebendiger Schreibstil verleihen dem Buch eine besondere Tiefe, die den Leser in den Bann zieht. Mit ihrer genauen Darstellung des ländlichen Lebens im 19. Jahrhundert stellt Spyri eine Verbindung zur damaligen Gesellschaft her, die auch heute noch relevant ist. 'Schloss Wildenstein' ist nicht nur ein klassischer Heimatroman, sondern auch eine Studie über zwischenmenschliche Beziehungen und das Streben nach Glück. Johanna Spyri, eine der bekanntesten Schweizer Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, war für ihre einfühlsamen Romane bekannt, die oft in den Bergen spielten. Als passionierte Beobachterin der Natur und der Menschen um sie herum schöpfte Spyri aus ihrem eigenen Leben und ihrer Umgebung, um authentische Geschichten zu erzählen. Ihre Werke sind geprägt von Mitgefühl und einem tiefen Verständnis für menschliche Emotionen, was sie zu einer herausragenden Schriftstellerin ihrer Zeit machte. Durch ihre sensible Herangehensweise an Themen wie Familie, Natur und Heimat hat sich Spyri einen festen Platz in der Welt der Literatur verdient. Für Liebhaber von atmosphärischen Romanen mit einer starken Bindung zur Natur und zum ländlichen Leben ist 'Schloss Wildenstein' ein Muss. Mit seiner poetischen Sprache und den eindringlichen Beschreibungen entführt das Buch den Leser in eine Welt voller Schönheit und Emotionen. Johanna Spyrig schafft es, sowohl das Alltägliche als auch das Besondere des Lebens einzufangen und zu einem fesselnden Erlebnis zu machen. 'Schloss Wildenstein' ist ein zeitloses Meisterwerk, das auch moderne Leser begeistern wird.

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Johanna Spyri

Schloss Wildenstein

Der Kampf der jugendlichen Helden mit dem bösen Geist

Books

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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0904-0

Inhaltsverzeichnis

Nollagrund
Allerlei Unruhe
Schloss Wildenstein
Eine unerwartete Erscheinung
Schwere Luft
Neue Freunde
Was der Mutter Abwesenheit nach sich zieht
Mäzli macht Besuche
Im Schloss

Nollagrund

Inhaltsverzeichnis

Schon seit bald zwanzig Jahren stand das alte Schloss still und verlassen dort auf der Höhe. Kein Ton war weithin zu hören, als das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der alten Föhren rings um das Schloss. Um die runden Ecktürme schwirrten am hellen Sommerabend die Schwalben wie ehemals; aber von den Turmbalkonen schauten keine fröhlichen Augen mehr auf die grünen Wiesen und auf die reichbeladenen Apfelbäume im Talgrund nieder. Zwei lustige Augen aber schauten eben jetzt aus dem Wiesengrund zu dem alten Schloss auf und forschten und spähten, als könnten sie hinter den festverschlossenen Fensterladen etwas ganz Besonderes entdecken.

»Mea«, rief der Späher plötzlich in aufgeregtem Ton, »jetzt, jetzt, komm schnell, nun geht’s auf.« Mea, die auf der Bank unter dem grossen Apfelbaum sass, ein Buch in der Hand haltend, legte dieses hin und kam herbeigerannt.

»Sieh, sieh, nun bewegt es sich«, fuhr der Bruder immer erregter fort, »es ist ein Arm in einem schwarzen Rock, nun stösst er gleich den ganzen Laden auf.« In diesem Augenblick erhob sich der schwarze Gegenstand und schwang sich zum Turm empor. »Ein Vogel war’s, ein grosser, schwarzer Vogel«, sagte Mea enttäuscht. »Nun hast du mich gewiss schon zwanzigmal gerufen, ich solle sehen, wie die Laden sich öffnen, und nie gehen sie auf. Ich komme nicht mehr, du kannst rufen, soviel du willst.«

»Sie gehen doch einmal auf, ich weiss es«, behauptete der Junge fest, »man weiss nur nicht wann; aber es kann jeden Tag sein. Wenn nur der steife, alte Trius antworten wollte, wenn man ihn fragt, der weiss alles, was da oben vor sich geht; aber der alte Brummer sagt nie ein Wort, und wenn man ihm nahekommt und mit ihm sprechen will, kommt er gleich mit dem dicken Stock auf einen los. Er will natürlich nicht, dass man weiss, wie es da oben zugeht; aber in der Schule wissen sie alle, dass es oben nicht sicher ist und dass ein Gespenst umgeht und durch die Föhren heult. Ich glaube es gar nicht; aber der alte Trius könnte doch ein wenig sprechen und einem erklären, was da vorgeht.«

»Nichts geht vor«, fiel Mea ein, » das hat die Mutter nun schon ein paarmal gesagt, und sie will auch nicht, dass du immer von dem Gespenst mit den Schulkindern sprichst und immer zu erforschen trachtest, was sie davon wissen. Und den Schlosswächter musst du Herr Trius nennen, nicht nur Trius, du weisst, dass die Mutter es will!«

»Ja, ja, ich will ihn schon Herr Trius nenne; aber auf den mach ich sicher ein Lied und zeichne ihn deutlich, warte nur«, sagte Kurt drohend.

»Er ist doch nicht schuld, dass es keinen Geist von Wildenstein gibt, von dem er erzählen könnte«, bemerkte Mea.

»Er wüsste aber genug zu erzählen«, fuhr Kurt eifrig fort. »Natürlich sind in dem alten tausendjährigen Schloss da droben die wunderbarsten Dinge vor sich gegangen; die weiss er ja alle und könnte einem davon erzählen; aber er kennt nur eine Antwort auf alle Fragen: Prügel. Weisst du, Mea, ich glaube natürlich gar nicht an Geister und Gespenster und so etwas; aber sich vorzustellen, dass da oben so ein uralter Herr von Wallerstätten im Harnisch auf der Zinne herumspaziert oder unter den alten Föhren steht und mit wilden Augen und drohender Gebärde ins Tal hinabschauen könnte, ist so erfreulich, nur schon, um ihn zu bekämpfen und ihm zuzurufen, dass man sich nicht vor ihm fürchtet.«

»Ja, du würdest schön fortlaufen, wenn der Ritter im Harnisch mit den wilden Augen dir näher käme«, sagte Mea. »Es ist nicht schwer, so furchtlos zu sein, wenn man so weit weg vom Schrecklichen ist wie du hier.«

»Ich fortlaufen, aus Furcht vor einem Gespenst! Oho«, lachte Kurt auf, »da kennst du mich wenig, eher würde der Geist aus Furcht vor mir davonlaufen, wenn ich ihn recht anschreien würde. Jetzt will ich ein Lied auf ihn machen, und dann gehen wir hinauf und singen’s ihm vor. Meine Kameraden aus der Schule müssen mit, die tun es so gern, Marx und Hans, und Clevi, die Schwester , muss auch mit, und dann kommst du auch, Mea, du sollst sehen, wie wir den Geist anschreien und ansingen, dass er sich ganz erschrocken verkriecht.«

»Aber es gibt ja gar keinen, Kurt, wie kann er sich denn verkriechen?« warf Mea ein, »vor lauter Bekämpfen glaubst du zuletzt noch, dass es wirklich einen Geist von Wildenstein gibt.«

»Das ist ja alles nur, um zu beweisen, dass es keinen gibt; so versteh es doch, Mea«, eiferte Kurt. »Wenn es einen gäbe, so müsste er ja zornschnaubend auf uns loskommen, wenn wir ihn so mit Hohn herausfordern. Und du wirst sehen, ob er kommt. Nachher folgt ein grosser Triumph für mich; denn die ganze Schule und der ganze Flecken und alle benachbarten Orte müssen sehen, dass ich bewiesen habe, auf Wildenstein gibt es keinen Spukgeist, der herumgeht und keine Ruhe hat.«

»Nein, ich werde das nicht sehen, ich komme nicht mit, die Mutter will nicht, dass wir mit dieser Spukgeschichte etwas zu tun haben, du weisst es wohl, Kurt. Dort kommt Elvira, die muss ich grüssen.« Mit diesen Worten stürzte Mea plötzlich den Berg hinunter. Von unten kam die Genannte, ein Mädchen von Meas Alter, mit langsamen Schritten herangestiegen. Ob dieser gemessene Gang eine besondere Naturanlage war, oder ob es so sein musste, um die schönen roten und blauen Blumen auf dem Hütchen zu schonen, die gewiss keine starke Erschütterung ertragen konnte, war nicht zu ersehen; aber das war ganz ersichtlich, dass die Herankommende ihn nicht zu ändern im Sinne hatte. Längst musste sie die entgegeneilende Freundin bemerkt haben, beschleunigte aber deswegen ihren Schritt auch gar kein bisschen.

»Die könnte ihre gnädigen Hochmutsstelzen auch ein wenig schneller in Bewegung setzten, wenn sie doch sieht, wie Mea ihr entgegenläuft«, sagte Kurt grimmig. »Mea brauchte das auch gar nicht zu tun; aber auf diese Elvira will ich einmal ein Lied machen, dass sie daran denkt.« Jetzt lief auch Kurt davon, aber nach der anderen Seite hin, dem Garten zu, wo er seine Mutter erblickt hatte. Sie stand vor ihrem Rosenbäumchen und warf von Zeit zu Zeit welke Blüten und Zweige zur Seite. Die Mutter so allein und ruhig an einer Arbeit zu finden, die ihre Gedanken nicht in Anspruch nahm, war gerade, was Kurt sich so häufig erwünschte und selten erreichte; denn wollte er einmal seine besonderen Anliegen recht gründlich und ungestört mit der Mutter besprechen, so konnte er sicher sein, dass die beiden jüngeren Geschwister gerade jetzt mit ihren vielfältigen Angelegenheiten auf die Mutter eindrangen, oder die beiden älteren durchaus einen besonderen Rat von ihr bedurften. So stürzte Kurt dem Garten zu, um die ungewohnt günstige Gelegenheit vollauf zu benutzen. Aber auch heute sollte er seinen Zweck nicht erreichen. Noch bevor er bei der Mutter ankam, war von der anderen Seite her eine Frau an sie herangetreten, die gleich ein eifriges Gespräch mit der Mutter begonnen hatte. Jeder andere, der ihm diese Störung bereitet hätte, würde Kurts Zorn auf sich geladen haben; aber die Frau Apollonie, die da stand, war seine alte und besondere Freundin und hatte überdies den grossen Vorzug in seinen Augen, mit dem alten Wächter auf dem Schlosse bekannt zu sein. So konnte man immer hoffen , von ihr allerlei von den Dingen zu vernehmen, die da droben vorgingen. Zu seiner Befriedigung hörte er auch, als er eben herzutrat, die Frau Apollonie sagen: »Nein, nein, Frau Pfarrer, der alte Trius macht kein Fenster umsonst auf; seit bald zwanzig Jahren hat er kein einziges aufgemacht.«

»Um so eher kann er doch einmal den alten Staub auswischen wollen, nötig wäre es ja«, entgegnete Kurts Mutter; »an die Heimkehr seines Herrn glaube ich nicht.«

»Warum wären denn nur die Turmfenster geöffnet, wo der Herr immer hauste? Da geht etwas vor sich«, sagte Frau Apollonie bedeutungsvoll.

»Vielleicht hat der Geist von Wildenstein sie aufgestossen«, warf Kurt schnell dazwischen.

»Aber Kurt, kannst du denn nicht aufhören, immer wieder von dieser Geschichte zu sprechen, die durchaus eine Erfindung der Leute ist, die an einem Unglück nie genug haben, sondern immer noch etwas besonders Schreckliches dazu erdichten müssen«, sagte die Mutter lebhaft. »Du weisst, dass mir dieses Gerede sehr leid tut, du solltest nichts damit zu tun haben wollen, Kurt.«

»Aber Mutter, ich will dich ja nur unterstützen, ich möchte dir nur helfen, diesen Aberglauben auszurotten«, versicherte Kurt, »ich will einmal den Leuten beweisen, dass es keinen Geist von Wildenstein gibt.«

»Ja, ja, wenn man nur nicht wüsste, wie die Brüder -«

»Nein, Apollonie«, unterbrach sie die Frau Pfarrer, »Sie sollten am allerwenigsten den Glauben an diese erfundenen Erscheinungen unterstützen. Jedermann weiss, dass Sie mehr als zwanzig Jahre lang auf dem Schlosse lebten, und denkt daher, Sie müssten wissen, was da vorgeht, und Sie wissen ja doch, dass das ganze Gerede keinen Grund hat.«

Frau Apollonie zuckte nur leise mit den Achseln; aber sie sagte nichts mehr.

»Aber Mutter, woher kann denn nur ein solches Gerede kommen, wenn es doch keinen Grund hat?« fragte Kurt, dem die Sache offenbar keine Ruhe liess.

»Einen wirklichen Grund für das Gerede gibt es nicht«, entgegnete die Mutter, »keiner von allen denen, die davon erzählen, hat je mit eigenen Augen etwas von der Erscheinung erblickt. Immer sind es andere, die davon berichtet haben, und denen war es wieder von anderen mitgeteilt worden, dass etwas Unbegreifliches auf dem Schloss gesehen worden war. Zuerst hat das Gerede sich an ein sehr trauriges Ereignis angeheftet, das sich vor langer Zeit auf dem Schlosse zugetragen hat, und aufs neue hat es Stoff gefunden, als man später glaubte, ein ähnlicher Vorfall habe sich ereignet, was durchaus unrichtig war. Da wurden alle alten Geschichten wieder hervorgezogen, und das Gerede wurde lebendiger als je. Die Leute, die es besser wissen, sollten aber recht dagegen auftreten, dass es nicht immer weiter geht.«

»Was war denn vor langer Zeit und dann nachher noch einmal auf dem Schlosse so Trauriges geschehen?« forschte Kurt weiter.

»Nein, nun ist keine Zeit zum Erzählen, Kurt«, sagte die Mutter bestimmt, »du hast deine Schularbeiten zu machen und ich habe andere Geschäfte. Wenn ich euch einmal alle ruhig beisammen habe, erzähle ich euch von den vergangenen Zeiten. Es ist besser, als dass ihr nach allen Gerüchten forscht, die hier herumgeboten werden. Du bist darin besonders rührig, Kurt; es ist mir aber gar nicht lieb, und ich hoffe, du lässt die Sache in Ruhe, wenn du verstanden hast, wie grundlos das Gerede ist. Nun kommen Sie, Apollonie, dass ich Ihnen die gewünschten Schösslinge gebe. Mich freut es, von meinen Geranien zu Ihnen zu verpflanzen; Ihr kleiner Blumengarten ist immer in solcher Ordnung gehalten, dass es jeden freuen muss, ihn anzusehen.«

Apollonie hatte während der vorhergehenden Reden der Frau Pfarrer ihr Gesicht öfters in einer Weise verzogen, die keine Übereinstimmung bedeutete; aber sie hatte zuviel Achtung vor der Frau, um ihre Zweifel auszusprechen. Jetzt breitete sich ein heller Sonnenschein über ihr Gesicht; denn ihr Blumengärtchen war ihr Stolz und ihre Freude. »Ja, ja, Frau Pfarrer, Blumenpflegen ist eine schöne Sache«, sagte sie kopfnickend; »die tun auch, wie es sein muss, und will mir eine zu weit auf die Seite, so steck ich ihr ein Stecklein auf, dann wächst sie wieder geradeaus, wie es recht ist. Ja, wenn das Kind so wäre. Ich meine, ich hätte keine Sorge mehr; aber das hat immer seine eigenen Wege im Sinn, und Mücken hat’s im Kopf, es weiss kein Mensch, woher sie es nimmt.«

»Dass es seine eigenen Gedanken hat, ist ja nichts so Schlimmes«, entgegnete die Frau Pfarrer, »es kommt nur darauf an, wie sie sind. Loneli scheint mir aber ein gut geartetes Kind zu sein, das sich leiten lässt, und geleitet zu werden haben sie ja auch alle nötig. Was sollte denn Loneli für besondere Mücken haben?«

»Ja, sehen sie, Frau Pfarrer, was mir das Kind einmal anstellen kann, das weiss kein Mensch«, eiferte die Apollonie. »Kommt es nicht gestern aus der Schule heim und sagt: ‘Grossmutter’ - und macht ganz feurige Augen dazu - , ‘Grossmutter, ich möchte einmal nach Spanien gehen, da wachsen so schöne Blumen von allen Farben, und grosse, funkelnde Weintrauben, und die Sonne scheint so hell auf die Blumen, dass alle leuchten. Ich möchte nur gleich dahin gehen’. Jetzt denken Sie, so etwas von einem zehnjährigen Kind! Was hat man da nur weiter zu erwarten?«

»Das ist eigentlich nichts so Erschreckliches, Apollonie«, sagte die Frau Pfarrer lächelnd. »Sollte das Kind nicht vielleicht zuerst von Ihnen selbst das Land Spanien nennen gehört haben, und in einer Weise, die seine Einbildungskraft schon in Tätigkeit gesetzt hat? Dann wird es ja in der Schule auch von dem Land gehört haben, und sein lebhafter Wunsch dahin zu kommen, ist ja nur ein Zeichen, dass es achtgibt und gut aufpasst. Die kleine Freude, sich auszudenken, wie es einmal dahin kommen könnte, dürfen Sie ihm gewiss lassen, die ist nicht so gefährlich. Sonst bin ich ja mit Ihnen ganz einverstanden, dass die Kinder in Zucht und Ordnung gehalten werden müssen, sonst kommen sie auf ganz verkehrte Wege, und niemand hat solche Kinder gern. Aber Loneli gehört gar nicht zu diesen; wir haben alle das Kind recht lieb. Kein zweites ist in Nollagrund, das ich lieber bei meinen Kindern sehe.«

Das ehrliche Gesicht der Apollonie erglänzte aufs neue. »Das ist mein grösster Trost, und gewiss, ich brauche ihn«, versicherte sie. »Wie mancher sagt mir, dass so eine Alte nicht mehr tüchtig ist, ein junges Kind zu erziehen und zu regieren, und wenn sie einmal mit Recht sagen könnten: ‘Die alte Apollonie hat ihr Tochterkind verzogen und verdorben’, ich könnte es nicht ertragen, die Schande brächte mich um. Aber solange Sie das Kind gern bei den Ihrigen sehen, steht es noch nicht so schlimm, das weiss ich. Jetzt dank ich zum schönsten; das gibt ja ein ganzes Beet voll«, fuhr sie fort, indem sie das grosse Büschel der Blumenschösslinge in Empfang nahm, die Frau Pfarrer unterdessen ausgebrochen hatte, »und wenn ich irgend etwas helfen kann, so rufen Sie nur; Sie wissen, für Sie bin ich immer daheim, Frau Pfarrer!«

Jetzt verabschiedete sich Apollonie mit nochmaligen Danksagungen und ihren grünen Strauss vor sich hertragend. Um die zarten Zweiglein ja nicht zu beschädigen, eilte sie durch den Garten dem Schlossberg zu. Sinnend schaute ihr die Frau Pfarrer nach. Apollonie hing mit ihren frühesten Kindereindrücken, mit den Erlebnissen ihrer Jugendzeit, mit allen den Menschen, die sie geliebt und die ihr nahegestanden hatten, zusammen, so dass ihre Erscheinung immer eine Menge von Erinnerungen im Herzen der Frau Maxa erweckte. »Frau Maxa« wurde sie von ihren Freunden und nahen Bekannten genannt, seit sie ihren Mann verloren und den Pfarrhof unten im Tal wieder mit der alten Heimat vertauscht hatte, um sie von der Frau Pfarrer des Ortes zu unterscheiden. Als kleines Kind war sie gewohnt gewesen, die Apollonie öfters auf dem Pfarrhof, ihrem Elternhause, erscheinen zu sehen. Die damalige Schlossherrin, die Frau Baron von Wallerstätten, hatte den Herrn Pfarrer über vieles zu fragen, und Apollonie, damals ein junges Mädchen, war ihre Botin, die immer gern im Pfarrhaus gesehen wurde. Sie war von ihren braven, sehr arbeitsamen Eltern in aller Ehrbarkeit erzogen und sehr früh von der Frau Baron zu allerlei Diensten angestellt worden. Als es sich zeigte, wie flink und gewandt und in allen Arbeiten tüchtig die junge Apollonie war, wurde ihr auf dem Schlosse immer mehr übertragen und anvertraut. Die Frau Baron unternahm im Hause nichts mehr ohne der Apollonie Rat und Hilfe, und die heranwachsenden Kinder hatten sie zu allen erdenklichen Dienstleistungen nötig, denn sie war immer bereit, zu tun, was sie wollten. Viele Jahre lang gehörte die ergebene, treue Dienerin so ganz und gar zum Schlosse, dass sie allgemein die Schlossapollonie genannt wurde. Frau Maxa wurde plötzlich in ihren Gedanken an die vergangenen Zeiten durch die lauten wiederholten Rufe: »Mama! Mama!« zweier heller Kinderstimmen unterbrochen. »Mama!« ertönte es noch einmal, und nun standen die beiden kleinen Schreier vor ihr: »Der Lehrer hat uns ein Blatt vorgelesen, da stand -«

»Soll ich auch? Soll ich auch?« tönte es dazwischen.

»Mäzli«, sagte die Mutter, »lass Lippo fertig berichten, sonst kann ich nicht verstehen, was ihr wollt.«

»Mama, der Lehrer hat uns ein Blatt vorgelesen«, wiederholte Lippo, »da stand drin, dass in Sils am Berg -«

»Soll ich auch? Soll ich auch?« fuhr Schwester Mäzli wieder dazwischen.

»Nun, Mäzli, sei ganz ruhig, bis Lippo zu Ende geredet hat«, befahl die Mutter.

»Er hat schon zweimal dasselbe gesagt und macht so lange: In Sils am Berg hat’s gebrannt und man muss etwas schicken, soll ich auch, Mama, soll ich auch?« In einem Atemzug hatte Mäzli ihre Sache vorgebracht.

»Du hast nicht recht berichtet, du hast gar nicht vorn angefangen«, sagte Lippo entrüstet, »man muss nicht in der Mitte anfangen, das hat der Lehrer selbst gesagt. Jetzt will ich’s recht erzählen, Mama: Der Lehrer hat uns ein Blatt -«

»Das wissen wir nun wirklich, Lippo«, bemerkte die Mutter, »was stand in dem Blatt?«

»In dem Blatt stand: In Sils am Berg hat eine grosse Feuersbrunst zwei Häuser zerstört, und alles was drin war, ist verbrannt. Dann hat der Lehrer gesagt, alle Schüler von allen Klassen -«

»Soll ich auch? Soll ich auch?« drängte Mäzli.

»Mach fertig, Lippo, nur ein wenig rascher«, sagte die Mutter.

»Dann hat der Lehrer gesagt: Alle Schüler von allen Klassen sollen etwas von ihren Sachen bringe, damit die abgebrannten Kinder -«

»Soll ich auch, Mama? Soll ich gleich gehen und alles zusammentun, was sie haben müssen?« stiess Mäzli nun so eilig heraus, als wäre der letzte Augenblick zum Handeln da.

»Ja, du kannst auch etwas von deinen Kleidern geben, und Lippo soll von den seinen etwas bringen«, sagte die Mutter, »ich helfe euch nachher das Rechte aussuchen, wir haben ja Zeit. Morgen ist’s Sonntag; am Montag werden die Kinder ihre Sachen dem Lehrer überbringen; er wird sie ja selbst versenden wollen.«

Lippo bestätigte diese Vermutung und wollte eben die Worte des Lehrers mitteilen, in denen er die Aufforderung zum Überbringen an die Klasse erlassen hatte; aber er kam nicht mehr dazu.

Kurt kam zurückgerannt und rief, jeden anderen Laut übertönend: »Mutter, ich habe vergessen, dir etwas auszurichten: Bruno kommt nicht zum Abendessen, der Herr Pfarrer ist mit ihm und den zwei anderen nach Hohenems hinaufgeklettert, sie kommen erst um neun Uhr heim.«

Die Mutter sah ein wenig erschrocken aus: »Sind die zwei anderen die beiden Mitschüler, die Amtsrichtersjungen?« Kurt bejahte.

»Wenn da nur alles gut abläuft«, fuhr sie fort. »Jedesmal, wenn die drei ausser den Unterrichtsstunden zusammen sind, kommen sie aneinander. Ich hatte mich so gefreut, als wir hierherkamen, dass Bruno sich die beiden zu Freunden machen konnte, und nun muss ich in steter Sorge sein, wenn sie zusammenkommen.«

»Ja, wenn du die beiden gekannt hättest, so hättest du dich auf diese Freundschaft nie gefreut, Mutter«, versicherte Kurt. »Wo sie jemand etwas zuleide tun können, da tun sie’s sicher und immer hinterrücks. Und Bruno ist ja immer gerade wie ein gefülltes Pulverhorn: nur ein Fünkchen hinein, und gleich feuert er und knallt los.«

»Wir sollen hinein, es ist Zeit«, sagte die Mutter, nahm ihre beiden Jüngsten bei der Hand und ging dem Hause zu. Kurt folgte. Es war ihm nicht entgangen, wie sich nach seinen Worten ein Zug der Bekümmernis über der Mutter Gesicht verbreitet hatte. Das war ihm nicht recht, er sah seine Mutter nicht gern bekümmert.

»Mutter, siehst du, da ist gar kein Grund, dass du dir Sorge machst«, sagte er zuversichtlich, »was Bruno ihnen tut, das geben sie ihm doppelt zurück, nur immer auf heimtückische Weise, im offenen Felde fürchten sie ihn.«

»Meinst du wirklich, das sei ein Trost für mich, Kurt?« fragte sie, sich zu ihm kehrend. Dem Kurt kam es nun auch so vor, als ob sein Trost eigentlich gar keiner für die Mutter sein konnte. Aber einen musste es doch geben. An jedem Übel entdeckte Kurt gleich eine so gute Seite, dass das Übel dagegen fast nicht aufkam. Jetzt ersah er auch hier die gute Seite: »Weisst du, Mutter, wenn Bruno ausgedonnert hat, ist alles wieder gut. In fünf Minuten ist er wie ein ausgeputztes Flintenrohr, alles sauber und friedlich. Ist doch besser, als wenn’s drinnen stecken bliebe, nicht?«

Am offenen Fenster stand Mea und winkte die Herankommenden mit lebhaften Gebärden herbei; das Abendessen stände längst bereit, und die Zeit dazu wäre auch da, meinte sie. Kurt war im Nu an ihrer Seite und teilte ihr mit, heute, wenn alles ruhig und still und die Kleinen unter der Decke seien, werde die Mutter die Geschichte vom Schloss Wallerstätten erzählen: »Pass auf, dann kommt auch der Geist von Wildenstein darin vor, darauf freue ich mich am meisten«, bemerkte er zum Schluss. Kurt hatte sich verrechnet: längst war es still und ruhig geworden, die Kleinen waren zur Ruhe gebracht und die letzten Schularbeiten beendet; aber noch war Bruno nicht heimgekehrt. Die Mutter schaute immer wieder nach der Uhr.

»Du musst nicht Angst haben, Mutter, es wird nicht so hitzig zugehen, der Herr Pfarrer ist ja dabei«, sagte Kurt tröstlich.

Jetzt hörte man rasche Schritte draussen, dann wurde die Tür aufgerissen, Bruno kam herein; er war blass vor Zorn: »Die zwei gemeinen Kerle! Die boshaften Schufte! Die heimtückischen Heuchler! Die, die -«

»Nein, Bruno, nicht weiter«, unterbrach die Mutter, »du bist ja ganz ausser dir. Komm, setzt dich her zu uns, und wenn du ruhig geworden bist, erzählst du, was dir begegnet ist, ohne zu schimpfen.« Es währte eine ziemliche Zeit, bis Bruno so weit beruhigt war, dass er, ohne noch einmal in Zornesausbrüche zu verfallen, erzählen konnte, was ihm begegnet war: In der Unterrichtsstunde war heute das Schloss von Hohenems genannt worden, und der Herr Pfarrer hatte seine Schüler gefragt, ob sie schon oben auf der Ruine des Schlosses gewesen und sie sich recht angeschaut hätten; das hatte nun keiner je getan. Der Herr Pfarrer lud sie zu einem Spaziergang dorthin ein. Es war weit, und nachdem sie die Ruine gründlich angeschaut hatten, führte sie der Herr Pfarrer noch zum nahen Gasthaus, um sie zu bewirten. So war es schon dunkel geworden, als sie auf die Dorfstrasse hinunterkamen. »Dort, wo der Fussweg, von dem grossen Bauerngut kommend, die Strasse kreuzt«, fuhr Bruno fort, »kam eben das Loneli dahergelaufen, eine volle Milchflasche am Arm. Schnell hielt der eine der Knippeljungen, Edwin, seinen Fuss vor, und Loneli stürzte der Länge nach hin, die Milchflasche flog weit weg, und die Milch rann wie ein weisses Bächlein über die Strasse hin. Die zwei Buben wollten ersticken vor Lachen. Dem Edwin konnte ich eine tüchtige Ohrfeige versetzen«, schloss Bruno, neuerdings in Zorn geratend, »dem Feigling! Er lief dann gleich dem Herrn Pfarrer nach, der voraus war und nichts gesehen hatte. Loneli ging ganz still und leise weinend davon. Alle beide hätte man packen sollen und sie tüchtig -«

»Ja, und nun wird das Loneli noch gescholten daheim von der Grossmutter, wenn es die Milch verschüttet hat«, fiel Mea ein; »sie meint immer, es sei leichtfertig und an allem selbst schuld, wenn ihm einer etwas zuleide tut, und für das geringste Fehlerchen wird es gleich abgestraft.«

»Es wert sich aber auch nicht«, sagte Kurt halb grimmig, halb mitleidig. »Die zwei sollten nur dem Clevi einmal etwas tun, die wären bald verkratzt, die Apollonie hat das Loneli verkehrt erzogen.«

»Kurt, sähest du es gerne an Loneli, wenn es einem Buben so ins Gesicht springen und ihn zerkratzen würde?« fragte die Mutter.

Kurt meinte nach einigem Besinnen: »Nein, eigentlich doch nicht.«

»Ist euch nicht allen das Loneli darum so lieb, weil es nie grob wird, immer freundlich und gefällig und auch immer heiter ist? Es ist ja auch der Grossmutter recht lieb; aber sie ist eine sehr ehrbare Frau und hat Sorge um das Kind, dass es auf guten Wegen bleibe. Sollte sie in der Aufregung über die verschüttete Milch dem Kinde die Schelte erteilt haben, die den ungezogenen Jungen gehört hätte, würde es mir ja auch leid tun, und gewiss der Apollonie selbst, wenn sie nachher hört, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhält.«

»So will ich gleich noch hinlaufen und es ihr sagen«, schlug Kurt vor. Aber die Mutter erklärte ihm, dass sowohl die Grossmutter als auch die Enkelin längst im tiefen Schlafe liegen würden.

»So kommt jetzt noch die Geschichte vom Schloss Wildenstein zum Schluss?« meinte er. Aber die Mutter hatte sich schon erhoben und zeigte nach der alten Wanduhr, wo Kurt sehen konnte, wie weit die gewöhnliche Zeit des Schlafengehens schon überschritten war. Da morgen der Sonntag mit seinem ruhigen Abend, frei von aller Schularbeit, folgte, gab er sich zufrieden, in der Aussicht auf eine um so ungestörtere Zeit zum Erzählen. Auch Bruno war beruhigt. Dass die Mutter die Sache, die ihn so aufgebracht hatte, auch schändlich gefunden und für die Gemeinheit der beiden keine Entschuldigung vorgebracht, hatte ihn besänftigt. Dem Herrn Pfarrer hatte er ja keine Anzeige machen können, anklagen war verpönt; aber jemand musste die Sache wissen und mit ihm fühlen und seine Entrüstung teilen, das hatte die Mutter getan. Bald lag das Haus still und friedlich inmitten der duftenden Apfelbäume, und obenüber zog leuchtend der goldene Mond und schaute so freundlich hernieder, als hätte er ein Wohlgefallen daran, das Haus so friedlich still zu sehen, das am Tage von soviel Leben und lärmender Bewegung erfüllt war.

Allerlei Unruhe

Inhaltsverzeichnis

Bevor die Mutter am Sonntagmorgen zur Kirche ging, trat sie immer noch einmal in die Wohnstube ein, um zu sehen, ob sich die Kinder fest und ruhig bei ihren verschiedenen Unterhaltungen niedergelassen hatten, so dass sie hoffen konnte, es bleibe während ihrer Abwesenheit alles in guter Ordnung. So tat sie auch heute. Es sah recht friedlich aus in der Stube. Bruno und Mea sassen jedes in einem Winkel in ein Buch vertieft, Kurt hatte seine Zeichnungen vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, Lippo und Mäzli bauten auf ihrem Tischchen ganz geruhlich eine schöne Stadt mit Kirchen und Türmen und grossen Palästen. Die Mutter war befriedigt und ging. Eine Zeitlang war alles still. Jetzt fiel ein heller Sonnenstrahl auf Kurts Zeichnung und spielte lustig um die Papiere auf dem Tisch. Kurt schaute auf und sah, wie es draussen über die Wiesen leuchtete: »Den zwei boshaften Milchverderbern von gestern gehörte, dass sie für den ganzen sonnigen Sonntag eingesperrt würden«, brach Kurt plötzlich los.

Der Mea musste die Sache auch wieder aufgestiegen sein. Sie stimmte gleich so lebhaft ein, als habe sie sich gerade mit demselben Gedanken und in ganz derselben Weise beschäftigt. Nun mussten sich die beiden noch einmal über die ganze Sache besprechen und ihrer Entrüstung über die Übeltäter, wie ihrem Mitleid für Loneli Luft machen. Bruno blieb schweigend über sein Buch gebeugt. Dem Mäzli musste das Gespräch unterhaltend vorkommen; es guckte zu den Geschwistern hinüber und liess den Lippo alles anstellen, wie es ihm gefiel, was sonst gar nicht der Fall war. Erst als die Geschwister wieder still waren, kam es zu dem Stadtbau zurück.

»Potz tausend, was hab ich vergessen«, rief Kurt, auf einmal wieder von seiner Zeichnung auffahrend, »du hättest aber auch etwas sagen können, Mea, du hast es auch gehört: morgen müssen wir dem Lehrer Kleider für die Abgebrannten bringen, und die Mutter weiss noch nichts davon.«

»Ich habe es auch vergessen«, sagte Mea ruhig und fuhr zu lesen fort.

»Die Mutter weiss es schon lange, ich habe es ihr gleich gesagt«, fiel Lippo ein, »der Lehrer hat ja gesagt, wir dürfen es nicht vergessen.«

»Ganz richtig, kleiner Schulfuchs«, erwiderte Kurt und zeichnete ruhig weiter. Da es nun so stand, dass die Mutter um die Sache wusste, hatte er sich nicht mehr darum zu kümmern.

Mäzli hatte soeben etwas vernommen, das sehr anregend auf seine Vorstellungskraft wirkte. Plötzlich warf es Häuser, Türme und Kirchen übereinander und drängte Lippo: »Komm schnell, wir wollen etwas machen, das viel lustiger ist, und die Mama ist froh darüber.«

Es wunderte Lippo, was es wohl sein könnte, worüber die Mutter so froh sein würde; aber wie auch das Mäzli trieb und drängte, er nahm erst die grosse Schachtel zur Hand und legte ordentlich ein Stück neben das andere hinein.

»So macht man’s nicht, so währt es eine Stunde lang«, rief Mäzli ungeduldig; »man wirft schnell alles hinein und tut den Deckel drauf, und dann ist’s fertig.«

»Das darf man nicht, das darf kein Mensch«, sagte Lippo ernsthaft. »Zuerst muss man immer ganz ordentlich das erste zusammenpacken und wegräumen, ehe das zweite kommt.«

»So lauf ich dir fort«, zeigte Mäzli an und huschte zur Tür hinaus.

Als Lippo in aller Ordnung seine Schachtel gefüllt und an ihren Platz gebracht hatte, lief er schnell dem verschwundenen Mäzli nach. Es wunderte ihn sehr, was es vorhatte. Nicht im Gang, nicht im Garten, nirgends war’s zu finden. Lippo rief laut und noch lauter, es kam keine Antwort. Endlich hörte er den Gegenruf in sonderbar dumpfer Weise; doch merkte Lippo, dass er aus der Schlafstube kam. Er trat ein. Da sass Mäzli am Boden mitten in einem Kleiderhäufchen, den Kopf tief in den Schrank gesteckt, um immer noch mehr Gegenstände herauszukramen.

»Ja, ja, du machst etwas Schönes am Sonntagmorgen«, sagte Lippo, indem er seine grossen Augen auf die Kleider am Boden richtete.

»Das ist etwas Rechtes«, erwiderte Mäzli sehr bestimmt, »Kurt hat gesagt, man muss den Abgebrannten Kleider schicken, und nun muss man alle Kleider, die man nicht mehr braucht, herausnehmen und zusammenlegen; dann ist die Mama froh, weil sie dann nichts mehr zu tun hat, man kann alles morgen früh fortschicken. Du kannst deine Kleider auch holen, man legt alle auf ein Häuflein.«

Lippo schien die Sache etwas zweifelhaft zu sein; er stand nachdenklich vor all den Röckchen und Jäckchen, die vor ihm auf dem Boden lagen. Es kam ihm vor, die Sache sei nicht so ganz nach der Mutter Sinn.

»Aber wenn man etwas mit den Kleidern machen will, muss man doch immer die Mama fragen«, fing er wieder an.

Mäzli gab keine Antwort und zog geschäftig noch ein Häufchen wollener Strümpfe und einen dicken Winterkragen heraus; alles wurde vorerst auf dem Boden ausgebreitet.

»Nein, das will ich nicht tun«, sagte Lippo wieder nach längerer Betrachtung des ungewohnten Anblicks.

»Du willst nur nicht, weil es soviel zu tun gibt«, behauptete Mäzli mit einem vor Eifer ganz roten Gesicht, »ich will dir dann schon helfen, wenn ich hier fertig bin.«

»Ich will es doch nicht tun«, wiederholte Lippo jetzt ganz entschlossen; »ich will nicht, weil man nicht darf.«

Mäzli hatte nicht Zeit, ihn weiter zu überzeugen; es musste durchaus noch die dicken Schuhe hervorkrabbeln, die da drinnen sein mussten. Aber bevor es diese ans Tageslicht gebracht, ging die Tür auf, und entsetzt blickte die Mutter auf die Verheerung:

»Aber Kinder, welche abscheuliche Unordnung!« rief sie aus, »und am Sonntagmorgen! Was ist denn in euch gefahren, Kinder? Was soll überhaupt dieser Markt auf dem Boden bedeuten?«

»Jetzt siehst du, Mäzli«, sagte Lippo nicht ohne Befriedigung, da es so klar zum Vorschein kam, wie recht er hatte. Aber Mäzli suchte mit aller Macht die Mutter zu überzeugen, dass es ihr nur helfen wollte, damit sie gar nichts mehr zu tun habe und nur alles fortschicken könne.

Jetzt erklärte die Mutter dem Mäzli aber sehr bestimmt, dass es solche Hilfeleistungen nie mehr zu unternehmen habe, dass es durchaus nicht zu beurteilen habe, welche Kleider es noch brauchen und welche es verschenken solle, und dass eine solche Hilfe ihr nur gerade die doppelte Mühe mache, die sie sonst gehabt hätte. »Übrigens, Mäzli«, schloss die Mutter, »kann ich bemerken, dass dein grosser Eifer hauptsächlich daher kommt, dass du dich bei der Gelegenheit aller der Dinge entledigen möchtest, die du selbst nicht gern anziehst. Da liegt all dein wollenes Zeug, von dem du behauptest, es kratze dich, das magst du nun anderen Kindern gern gönnen, nicht Mäzli?«

»Vielleicht haben sie es gern, weil sie frieren«, meinte Mäzli.

»Mama, die Frau Amtsrichter kommt die Strasse herauf und gerade auf unser Haus zu, sie kommt gewiss zu uns«, berichtete Lippo, der ans Fenster getreten war.

»Und ich habe noch nicht einmal meine Sachen abgelegt um dieser Unordnung willen«, sagte die Mutter erschrocken. »Geh, Mäzli, und grüsse die Frau Amtsrichter artig und führe sie in die vordere Stube. Sag ihr, ich komme sogleich, ich sei nur gerade aus der Kirche heimgekehrt.«

Mäzli lief erfreut, der Auftrag war ihm sehr angenehm. Ganz manierlich empfing es die Frau Amtsrichter und führte sie nach der vorderen Stube zum Sofa hin, dass sie sich setze; geradeso wie die Mutter es machte, das wusste Mäzli genau. Dann richtete es seinen Auftrag aus, die Mutter werde gleich kommen.

»Schon gut, schon gut, und was willst du tun an dem schönen Sonntag?« fragte die Frau.

»Spazieren gehen«, antwortete Mäzli schnell. »Sind sie noch eingesperrt?« fragte es dann angelegentlich.

»Wer? Wer? Was meinst du denn?« Die Frau Amtsrichter schaute ein wenig verweisend auf die Kleine.

»Der Edwin und der Eugen.«, antwortete Mäzli unerschrocken.

»Es nimmt mich nur wunder, woher du solches Zeug im Kopf hast«, sagte die Frau mit steigender Erregung, »warum sollten denn die Knaben eingesperrt sein, das möchte ich doch wissen.«

»Weil sie dem Loneli soviel zuleide getan haben«, berichtete Mäzli. - Jetzt trat die Mutter ein. Sie begrüsste sehr freundlich ihren Gast, erhielt aber einen kurzen Gegengruss.

»Mich nimmt nur eines wunder, Frau Pfarrer«, begann die Besuchende gleich in gereiztem Ton, »was für eine Bosheit dieses Giftkrötchen von Loneli über meine Knaben ersonnen und verbreitet hat, und noch mehr, dass Leute, denen man es nicht zutraute, daran glauben.«

Frau Maxa war sehr verwundert ihrerseits, dass die Frau Amtsrichter schon etwas von dem gestrigen Vorgang vernommen hatte, ihre Söhne hatten doch kaum davon gesprochen.

»Weil Sie doch schon um diese Sache wissen«, sagte sie dann, »so will ich Ihnen erzählen, was vorgefallen ist; denn Sie scheinen ganz unrichtig berichtet zu sein; es handelt sich nicht um eine Bosheit von Lonelis Seite. - Mäzli«, unterbrach sich die Mutter hier, zu dem Kinde gewandt, das seine Augen erwartungsvoll auf die Frau Amtsrichter geheftet hielt; denn es dachte, nun werde sie gleich berichten, ob die zwei noch eingesperrt seien -, »geh zu den Geschwistern hinüber und bleib dort, bis ich komme.«

Mäzli ging, aber ein wenig langsam; es hoffte die Nachricht komme noch, bevor es bei der Tür anlangen würde; Sie kam aber nicht, Mäzli musste verschwinden. Nun erzählte Frau Maxa der Wahrheit gemäss den Vorgang von gestern abend.

»Das ist ja nichts«, sagte die Frau Amtsrichter, als sie die Sache vernommen; »das sind Kinderscherze, alle Kinder halten sich zum Spass die Füsse vor. So etwas sollte man gar nicht beachten wie grössere Fehlen, bei denen es dann der Mühe wert ist, sie den Kindern vorzuhalten.«

»Ich bin nicht Ihrer Meinung, Frau Amtsrichter«, sagte Frau Maxa; »diese Art von Scherzen grenzt doch ganz nahe an Roheit, und aus kleinen Roheiten werden bald grosse. Dem Loneli ist doch ein Leid geschehen durch solches Tun, da hört doch wirklich der Scherz auf.«

»Wie gesagt, es ist ja der Mühe nicht wert, darüber soviel Worte zu verlieren. Man macht überhaupt zuviel Wesens aus diesem Kinde und seiner Grossmutter. Diese Apollonie hat es immer noch im Kopf, dass sie die Schlossapollonie hiess, und trägt ihn darum heut noch hoch, und das Kind wird’s bald genug auch lernen. Aber ich kam, etwas ganz anderes und viel Wichtigeres mit Ihnen zu besprechen«, und nun begann die Frau Amtsrichter ihre Mitteilungen zu machen, die ihrer Zuhörerin wenig erfreulich sein mussten; denn sie sah immer erschrockener aus. Ihr Mann und sie seien zu der Ansicht gekommen, hatte die Frau zu berichten, dass es nun an der Zeit sei, die Söhne nach der Stadt zu schicken, damit sie dort die höheren Klassen des Gymnasiums besuchen könnten. Der Unterricht beim Herrn Pfarrer sei ja für die ersten Jahre ganz gut gewesen; dem seien die Söhne aber nun doch entwachsen, sie gehörten nun auf eine höhere Schule. so werde es das beste sein, gleich auf den Herbst für alle drei zusammen ein Unterkommen in einem guten Kosthause zu suchen; denn Bruno werde ja natürlich dann auch mitgehen. Es sei auch für alle Zeit gut, wenn die drei zusammenblieben und sich so auf die gleiche Weise weiter entwickelten; denn später würden sie ja doch in ihrer Gemeinde am meisten zu sagen haben. So wäre es ja dann für das ganze Gemeinwesen gut, wenn sie alles so recht übereinstimmend beurteilen und behandeln würden. »So denkt denn mein Mann bald einmal nach der Stadt zu fahren und sich nach einem geeigneten Kosthause umzusehen«, schloss die Besprechung; »es wir Ihnen ja lieb sein, wenn er in dieser Weise auch für Ihren Bruno den Weg auftut, den Sie ja sonst selbst suchen müssten.«

Frau Maxa fielen diese Mitteilungen schwer aufs Herz. Schon sah sie die drei Jungen vor sich unter einem Dache wohnen, und alle die erschrecklichen Szenen, die aus diesem nahen Zusammensein erfolgen würden, stiegen vor ihren Augen auf. »Es wird mir so schwer, daran zu denken, dass ich Bruno schon von zu Hause wegschicken sollte«, sagte sie endlich, »ich kann auch die Notwendigkeit davon nicht einsehen. Unser Herr Pfarrer, der uns aus grosser Gefälligkeit den Unterricht angeboten hat, meinte doch, die Jungen noch bis zum Frühjahr übers Jahr zu behalten, und lernen können sie wirklich noch sehr viel bei ihm. Freilich, wenn Sie entschlossen sind, Ihre Jungen fortzubringen, so muss ich auch für Bruno daran denken. Für ihn allein die Unterrichtsstunden fortzusetzen, wäre ja dem Herrn Pfarrer nicht zuzumuten.« Für das Anerbieten, gleich auch für Bruno Wohnung zu nehmen, dankte Frau Maxa und setzte hinzu, sie habe überhaupt erst die ganze Sache mit ihrem Bruder zu besprechen, der in allen solchen Dingen ihr Berater und ja auch Vormund der Kinder sei.

Die Frau Amtsrichter war nicht recht zufrieden mit dem Bescheid. Sie meinte, soviel werde eine Mutter wohl entscheiden können, sie wollte die Sache offenbar gern gleich abschliessen. »Vernünftig genug sind die Jungen nun wirklich, um sich auch ohne unser Dabeisein in richtiger Weise zu benehmen«, fügte sie hinzu. »Meine beiden sind es, das kann ich sagen, und wo zwei den rechten Weg gehen, da läuft der Dritte auch mit, wenn er zu ihnen gehört.«

»Mein Ältester ist nicht einer, der mitläuft«, entgegnete Frau Maxa lebhaft; »ich würde es auch nicht wünschen, auch in diesem Falle nicht. Solange es mir nur möglich ist, werde ich ihn zu Hause behalten. Geht es nicht mehr, so lasse ich ihn unter Gottes Schutz ziehen.«

»Wie Sie meinen«, sagte die Frau Amtsrichter, indem sie aufstand und sich verabschiedete; »die Wohnungsfrage kann ja immer wieder besprochen werden«, bemerkte sie noch im Fortgehen, »ist erst die Zeit da, so wird Ihnen das Vorarbeiten meines Mannes wohl willkommen sein.«

Als die Mutter, vom Begleit ihres Gastes zurückkehrend, die Tür der Wohnstube öffnete, wo die Kinder wieder zusammensassen, rief ihr augenblicklich das Mäzli entgegen: »Hat sie noch gesagt, ob die zwei noch eingesperrt sind?«

»Was fabelst du, Mäzli?« sagte die Mutter, »vielleicht weisst du selbst nicht recht, was du meinst.«

»O ja, ich weiss ganz gut«, versicherte Mäzli, »weil Kurt das gesagt hat, habe ich die Frau Amtsrichter gefragt, ob sie noch eingesperrt seien.«

Kurt lachte laut auf: »Oh, du arger Maz und frecher Spatz! Weil ich gesagt habe, man sollte die beiden einsperren, läuft dieser Maz hin und stellt eine solche Frage an die Frau Amtsrichter.« Nun wurde der Mutter klar, woher die Frau schon von dem gestrigen Benehmen ihrer Söhne gehört hatte.

»Aber Mäzli«, sagte sie ermahnend, »vergissest du immer wieder, dass du erwachsene Leute, die zu uns kommen, nichts zu fragen hast?«

»Aber doch, was die eingesperrten Kinder machen«, meinte Mäzli, im Tone grossen Erbarmens.

»Nichts, Mäzli, gar nichts«, sagte die Mutter.

»Das listige Mäzli will die Mutter durch sein Mitleid zur Nachgiebigkeit erweichen«, bemerkte Kurt.