Schön ist die Jugend ... bei frohen Zeiten - Bender, Ida - E-Book

Schön ist die Jugend ... bei frohen Zeiten E-Book

Bender, Ida

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Beschreibung

Nicht zufällig wählte die Autorin die Zeilen aus dem alten deutschen Volkslied zum Titel ihres Buches. Das Kulturgut, die Volkslieder halfen den Russlanddeutschen trotz allen Betrugs, aller Schikanen, Verbote und Deportationen von der Ankunft ihrer Vorfahren in der Mitte des 18. Jahrhunderts in der wilden Steppe an der Wolga an bis zur Heimkehr der zehnten Generation Ende des 20. Jahrhunderts in ihre historische Heimat Deutschland, in guten wie in schlechten Zeiten zu überleben. Liebevoll beschreibt die Autorin das Leben und Leiden ihrer Volksgruppe. Besonders detaillierte Informationen liefert das Buch über den Literaten Dominik Hollmann und sein lebenslanges Bemühen um den Erhalt beziehungsweise die Wiederbelebung des Kulturerbes in der sibirischen Verbannung nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Wohl kaum ein anderes Buch enthält eine solch umfassende Darstellung der Geschichte der Russlanddeutschen in erzählter Form. Für die Betroffenen eine Wiederbegegnung mit ihrer Historie, für den bundesdeutschen Leser eine fesselnde Auseinandersetzung mit der ihnen zumeist unbekannten Geschichte der Russlanddeutschen über zwei Jahrhunderte.

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Ich danke all meinen Enkeln,

die mich immer zum Schreiben dieses Buches angehalten haben.

Ich danke meinen Töchtern Ljudmila und Frieda

für ihre Ermutigung und Unterstützung

an den trüben Tagen meiner Zweifel.

Besonderer Dank gilt meinem Sohn Rudolf

für dessen tägliche Hilfe bei Computerproblemen

und Unterstützung bei meinen Stimmungstiefen,

dass er mir aus mancher Sackgasse herausgeholfen hat,

wenn ich mich festgefahren hatte.

Geehrte Leser!

Es sind nun 13 Jahre vergangen, seit 2010 die erste Ausgabe des Buches „Schön ist die Jugend … bei frohen Zeiten“ von Ida Bender erschienen ist. Über zehn Jahre, lange Zeit nach Ableben der Autorin, hatte der Geest Verlag dieses erfolgreiche Buch in seinem Programm, hatte immer wieder weitere Exemplare des Buches nachgedruckt. Nach dieser Zeit kam die Entscheidung, das Buch aus dem Verlagsprogramm rauszunehmen.

Doch die Anfragen von Interessenten kamen weiter, sowohl an den Geest Verlag als auch direkt an mich, den Erben. Und ich habe beschlossen die zweite Auflage vorzubereiten. Der Geest Verlag hatte mir freundlicherweise das Druckrecht zurückgegeben, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

In der Zwischenzeit wurde eine russische Variante des Buches unter dem Namen „Сага о немцах моих российских» (Saga über meine Russlanddeutsche) veröffentlicht.

In dieser neuen deutschen Ausgabe hat das Buch ein neues Umschlagsbild bekommen und es wurden einige, nach neuen genealogischen Erkenntnissen, Ungereimtheiten korrigiert.

Da die Leser der russischen Variante, wo wir mehrere Bilder und Fotos als Illustrationen hinzugefügt hatten, diese sehr schön und hilfreich fanden, habe ich mich entschlossen auch in die neue deutsche Ausgabe diese Illustrationen aufzunehmen.

Das ist z.B. die Karte der Wolgadeutschen Republik mit den deutschen Siedlungen, eine Karte des Gebiets des großen sibirischen Fluss Jenissej, wo die Autorin ihre Jugend in der sogenannte „Trudarmee“ verbringen musste. Auch Zeichnungen, die zeigen wie junge Frauen barfuß die schwerbeladene Kähne mit dem Seil Fluss abwärts ziehen. Das sind die Fotos der Familie aus den verschiedenen Jahren, und auch Zeichnungen der Autorin, wie das Gehöft und der Innerbereich des Hauses der wolgadeutschen Bauern Anfang des 19. Jahrhunderts aussahen.

Die Autorin ging am 12.11.2012 im Alter von 90 Jahre von uns. Sie hinterließ uns das Vermächtnis, die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen zu bewahren und zu pflegen.

Das vorliegende biographische Werk von Ida Bender ist ein wesentlicher Beitrag dafür.

Herausgeber,

Im Juni 2023.

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Geehrte Leser!

Vorwort

Man kann seiner Vergangenheit nicht entfliehen – Ein Wort zum Leser

„Schön ist die Jugend …

I. Rothammel. Appelhans

II. Marienfeld, Hollmann

III. Rothammel. Der Lehrer

IV. Marienfeld. Domnik-Lehrer

V. Engels

VI. Krieg

VII. Am Jenissej. Trudarmee

VIII. Erste Nachkriegsjahre

IX. Kasachstan

X. ‚Freundschaft’

XI. Wieder an der Wolga

XII. Klassentreffen

XIII. Der deutsche Klub in Kamyschin

XIV. Enttäuschung. Wir wandern aus

Illustrationen

Impressum

Vorwort

Je weiter wir uns von unserer Geschichte in Russland, von der Zeit der zerschmetternden sozialen, politischen, Zivilisationskataklysmen entfernen – dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution, dem Bürgerkrieg, den Repressalien der 1930er Jahre, der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges und der schweren Nachkriegszeit – desto mehr erscheint selbst das Überleben des Landes, seiner Völker und sogar eines einzelnen ehrlichen Menschen unter jenen Bedingungen als Heldentat.

Als eine noch größere Heldentat erscheint der Lebensweg unseres russlanddeutschen Volkes in jenen Jahren. Weil zu den Tragödien, die allen im Lande zuteil waren, noch die Tragödie ungerechter Beschuldigungen kam, die Tragödie der Deportation, der Zerstörung unserer autonomen Republik und dadurch die Aufhebung aller notwendigen Bedingungen zum Erhalt der Kultur, der Muttersprache, zum physischen Überleben des Volkes überhaupt. Mehr noch: alle Russlanddeutschen, ab 15 bis 55 Jahre, wurden in die Trudarmee, die Zwangsarbeitslager gesteckt, wo Tausende und Abertausende durch schwere Arbeit, Hunger und sibirische Fröste für immer blieben.

Und nach dem Krieg wurde für sie noch die Sonderkommandantur eingeführt, wodurch die Zerstreuung des Volkes, Zerstörung der Familien strafzugemessen gesichert wurde. Jahrzehnte wurden sie, ihrer deutschen Volkszugehörigkeit wegen, diskriminiert, so dass ein ganzes Volk bis auf den heutigen Tag keine einzige nationale Schule hat, keine einzige nationale Kulturstätte, kein einziges nationales Verwaltungsorgan, nicht mal einen Vertreter in den Regierungsorganen. Diese Diskriminierung ermöglichte den Russlanddeutschen auch nicht, im Berufsleben entsprechend ihrer Talente und Arbeitsleistungen vorzurücken, und warf unser Volk, vor dem Krieg seinem Bildungsgrad nach an einer der ersten Stellen im Lande, faktisch auf die letzte Stelle zurück.

All das hat unser Volk durchgemacht.

Ehrlich über so einen Weg zu schreiben, fordert viel Mut. Da ich die Autorin als Person kenne, der das Schicksal ihres Volkes sehr zu Herzen geht, kann ich mir gut vorstellen, was es sie gekostet hat, dieses Buch, mit Schmerz und Leid überfüllt, zu schreiben.

Ich verneige mich vor der Autorin und danke ihr auch dafür, dass einer der besten Vertreter unseres Volkes – der wahre Volkslehrer und Volksschriftsteller der Russlanddeutschen, Dominik Hollmann –, in diesem Buch so lebendig, so unzertrennlich vom Schicksal seines Volkes gezeigt wird.

Darüber, wie alles war, wie die Heldentat des Überlebens unserem Volke gelungen ist und wie die Russlanddeutschen, in beliebigen Lebensbedingungen, selbstlos alles Mögliche für den Erhalt ihres Volkes geleistet haben, kann der Leser in diesem Buch lesen. Im Buch, das zu schreiben allein schon eine Heldentat ist.

Hugo Wormsbecher

Moskau, den 13. April 2010

Man kann seiner Vergangenheit nicht entfliehen – Ein Wort zum Leser

Viele Jahre habe ich die Idee in mir getragen, solch ein Buch zu schreiben. Viele Jahre habe ich daran gearbeitet. Endlich habe ich es geschafft.

Viele Schwierigkeiten habe ich erlebt, auch viel negatives Verhalten mir gegenüber. Aber immer schickte mir Gott Auswege, gute Menschen – Deutsche, Russen, Juden, Kasachen, die mir mit Rat und Tat geholfen haben. Ich habe gelernt, dass nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, Nationalität, sondern die Einstellung eines jeden Menschen, sein Verhalten zu den Mitmenschen entscheidend ist.

Ich habe bei der Arbeit an diesem Buch jene schweren Ereignisse meines Lebens immer wieder erlebt, bin davon nachts mit einem Schrei aus dem Schlaf gefahren, oder am Tag haben sich beim Schreiben meine Augen mit Tränen gefüllt, und ich musste Pausen einlegen, manchmal für einige Tage. Dann ging ich aus dem Haus, gleichsam weg von den Erinnerungen, fort, weg in eine andere Umgebung. Oft in Blumengeschäfte, um beim Bewundern der Blumen meine Seelenruhe wieder zu erlangen.

Vor über 200 Jahren waren unsere Vorfahren, dem Ruf der Zarin Katharina der Zweiten folgend, nach Russland gekommen. Nicht auf Abenteuersuche, die Not hatte sie getrieben. Wie viel Not, Elend hatte unser Volk zu ertragen in all der Zeit ihrer Siedlung an der Wolga! Mit wie viel Schweiß und Blut ihrer schwieligen Hände haben sie das Steppenland getränkt, haben es bearbeitet, gepflegt, verschönert, fruchtbar, nutzbringend gemacht und die unbearbeiteten Ländereien zu einer ‚Perle an der Wolga’ (so hatte Stalin die Wolgadeutsche Republik kurz vor dem Krieg genannt), verwandelt – nicht nur zum eigenen, sondern auch zum Wohle des ganzen Russlands.

Als ich über das Schicksal meiner Vorfahren, meiner Großeltern, Eltern und schließlich mein eigenes, meiner Generation nachdachte, sah ich, dass es alles andere als schön war. Doch wir haben nicht aufgegeben, fleißig die Hände gerührt, gearbeitet und unsere Kultur gepflegt. Auch in Zeiten totalen Verbots …

Von klein auf hörte ich viele deutsche Volkslieder und immer wieder dieses Lied ‚Schön ist die Jugend‘, das sehr beliebt war bei unserem Volk. Später, in der Trudarmee-Baracke im hohen Norden in dem sibirischen Taiga-Urwald, fernab von jeglicher Zivilisation, stillten wir hungrigen und erniedrigten russlanddeutschen Mädchen unsere Trauer und Sehnsucht nach den teuren Lieben und nach unserer Kultur dadurch, dass wir unsere deutschen Volkslieder sangen, und unbedingt jedes Mal das Lied ‚Schön ist die Jugend’. Damit schöpften wir Mut zum Weiterleben, Nichtverzagen, schöpften Hoffnung auf bessere Zeiten.

Auch viele Jahre später in den 80er-Jahren in unserem ‚Neues-Leben'-Leserklub haben wir bejahrte Russland-Deutschen unsere deutschen Volkslieder gesungen und immer wieder dieses Lied: ‚Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten …‘

Möge es in Zukunft immer frohe Zeiten geben ohne Kriege und Missverständnisse zwischen Völkern, Nationen und Staaten, damit die Jugend, und nicht nur die Jugend, jegliche Generation jedes Landes, jedes Volkes frohe Zeiten leben kann.

Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich ausgewertet:

1. Einige Angaben aus dem Buch „David Schmidt. Studien über die Geschichte der Wolgadeutschen. Erster Teil. Seit der Einwanderung bis zum Imperialistischen Weltkriege.“ Herausgegeben vom Zentral-Völkerverlag der Union der Soz. Räte-Republik. Abteilung in Pokrowsk, ASSR der Wolgadeutschen. Pokrowsk. 1930. Charkow.

2. Das Buch von Dr. Igor Pleve „Deutsche Kolonien an der Wolga in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, Verlag Gotika, 1998.

3. Vieles aus den Erzählungen meiner Großmutter Susanna Hollmann und meiner Eltern Emilia (Appelhans) und Dominik Hollmann.

4. Und noch mehr meine eigene Erlebnisse, Gefühle, Gedanken.

Ida Bender (geb. Hollmann)

4. Dezember 2008, Hamburg

I. Rothammel. Appelhans

Zur selben Zeit waren mehrere Ansiedlergruppen in dieser Region angekommen, die hier ihre Siedlungen errichteten. Die am rechten Ufer der Wolga weit in der Steppe gebauten Siedlungen wurden zum Glück nicht von Kirgisenhorden überfallen, wie die deutschen Kolonien am linken Wolgaufer. Doch weil sie so weit vom großen Strom entfernt lagen, waren sie im Sommer der brennenden Hitze, den heißen, alles austrocknenden Winden, im Winter den heftigen Schneestürmen ausgesetzt.

Die ersten zehn Jahre waren äußerst schwer für die Neuankömmlinge, vor allem wegen des ungewohnten Klimas. Die Saaten gediehen nur selten, weil die Neusiedler sich noch nicht an die Saatzeiten angepasst hatten. Die jungfräuliche Steppe zu Ackerland bearbeiten, war nicht leicht. Allmählich, Jahr um Jahr, pflügten die fleißigen Menschen Neuland hinzu, vergrößerten ihr Ackerland. Doch wenn der Regen im Frühjahr nach der Aussaat ausblieb, was oft passierte, und im Sommer außerordentliche Hitze die Saaten ausbrannte, ernteten die Siedler kaum so viel, wie sie im Frühjahr ausgesät hatten. Es wurde ein Kampf ums Überleben.

Neunzig Jahre später, 1857, wurde meine Großmutter mütterlicherseits, Elisabeth Frank, geboren. Sie hatte drei Brüder: Andreas, Leo und Josef, keine Schwestern. Ihre Eltern besaßen zu dieser Zeit schon eine relativ große Bauernwirtschaft. Da bei den damals in Russland üblichen Wirtschaftsregeln das Gemeindeland nur den männlichen Personen (Seelen) der Familie zugeteilt wurde, so besaßen die Eltern meiner Großmutter vier ‚Dusch2‘ Land. Sie hatten vier Zugochsen, vier Pferde, drei Kühe, viele Schafe, einige Schweine unterschiedlichen Alters, viele Gänse und Hühner.

Schon mit sechs bis sieben Jahren mussten die Jungen den Eltern bei der Arbeit helfen, die Mädchen mussten ihre jüngeren Geschwister betreuen. Doch mit 13 war auch Elisabeth schon bei den Feldarbeiten der Erwachsenen dabei. Früher war sie die Kindsmagd und half der Mutter im Haus. Ihre Familie war in der Dorfgemeinde für ihren Fleiß geachtet. Ging es im Frühjahr aufs Feld zum Pflügen und Säen, da waren die noch nicht erwachsenen drei Brüder, aber auch die Tochter Elisabeth dabei und halfen dem Vater. Nur die Mutter blieb im Dorf, um die Kühe, Schweine, Hühner und Gänse zu versorgen, das Essen zu kochen und aufs Feld zu bringen.

Nachdem Weizen, Roggen, Mais, Sonnenblumen gesät, Rüben und Kartoffeln gepflanzt waren, kam das Kohlpflanzen an die Reihe. Die Setzlinge waren im Hausgarten vorgezogen worden, hatten nun sechs gesunde Blättchen und wurden am Hang näher zum Bach ausgesetzt. Gewöhnlich setzten mehrere benachbarte Frauen gleichzeitig ihre Kohlsetzlinge aus. Dabei sprach jede ihren Zauberspruch oder ihr Gebet. Bei jedem Pflänzchen, das in die gegrabene und mit Wasser aus dem Bach gut bewässerte Vertiefung gesetzt wurde, sagte man: „Wachse in Gottes Namen.“ Doch manche korpulente Frau mit Humor sprach: „Blätter wie meine Schürze, Kohlköpfe wie mein Arsch.“

Den Hausgarten mit Zwiebeln, Knoblauch, Gurken, Möhren zu bestellen war gleichfalls Arbeit der Frauen. Direkt hinter dem Hof wuchsen die Obstbäume – Äpfel-, Birnen-, Kirsch- und Pflaumenbäume, die Johannisbeer- und Himbeersträucher, die vom Vater gepflegt wurden.

Kaum war die Saat bestellt, war die Zeit der Heumahd schon herangerückt. Wieder stand Elisabeth mit Rechen neben den Brüdern. Der Vater und die ältesten Brüder mähten das Gras mit Sensen, Elisabeth und ihr jüngster Bruder wendeten das am Vortag Gemähte.

In den drei Generationen, die die Deutschen mittlerweile im Wolgagebiet lebten, hatten sie gelernt, sich dem Klima anzupassen, jede Stunde günstiges Wetter für die bevorstehende Feldarbeit zu nutzen. Ob Werktag oder Sonntag, eiligst, solange das Wetter günstig war, wurde gesät oder Gras gemäht. Nur manchmal spannte der Vater an einem Samstagabend nach der Arbeit die Pferde an den Leiterwagen und alle fuhren ins Dorf, wuschen sich, um am nächsten Morgen in Sonntagskleidern zum Gottesdienst in die Kirche zu gehen. Nach dem Gottesdienst und dem Mittagessen ging es sofort wieder aufs Feld, zur Arbeit.

Kaum war das Heu geschafft, geschobert, reifte die Getreideernte heran. Verwandte halfen einander bei der Ernte. Manchmal gelang es noch, eiligst das trockene Heu von der Wiese heim in die Scheune auf den Heuboden zu bringen. Im Winter gab es oft starke Schneestürme und nicht selten verirrten sich Bauern samt Pferd und Schlitten, die nach Heu in die Steppe gefahren waren. Deshalb war man bestrebt, alles Heu im Sommer unter Dach im Hof zu bringen. Im Juli herrschte starke Hitze bis 39, sogar 45 Grad.

Das Getreide wurde mit speziell gearbeiteten Sensen gemäht, die man Reff nannte. Ich habe selber solche noch gesehen, obwohl es später schon Mähmaschinen gab. Die Vorrichtung sollte wohl mehr Getreidehalme zusammenraffen zu einer Garbe. Die Russen schnitten damals ihr Getreide noch mit Sicheln. Die Frauen folgten den Mähern und banden das Getreide zu Garben. Sie mussten flink sein, um den Mähern nachzukommen. Meine Mutter erzählte oft davon, wie sie und ihre Schwester auf den Feldern des Vaters bei der Getreideernte Garben binden mussten, bei außergewöhnlicher Hitze. Am Abend wurden die Garben zu Hocken, etwa 6-8 Garben wie eine Hütte, die Ähren nach oben, zusammengestellt.

War das Getreide abgemäht, wurde es zur Tenne gefahren und das Dreschen begann. In den ersten Jahren an der Wolga gebrauchten unsere Ahnen zum Dreschen noch die Dreschflegel. Doch bald hatte ein findiger Neusiedler in der Nähe der deutschen Siedlung Dobrinka einen Berg mit besonders festem Fels entdeckt. Hier wurden Steine gebrochen, die zu Dreschwalzen (Ausreitesteinen) bearbeitet wurden. Die Getreidegarben wurden auf der Tenne im Kreis ausgelegt, das Pferd mit der angespannten Dreschwalze im Kreis herumgeführt, die Walze drückte die Körner aus den Ähren. Das war weniger kraftaufwendig als mit dem Dreschflegel das Korn aus den Ähren zu schlagen.

Diese Dreschwalzen wurden in viele Gebiete Russlands verkauft, der deutsche Neusiedler hatte einen guten Verdienst mit seiner Erfindung. Solche Dreschwalzen habe ich in meiner Kindheit (1926-28) im Dorf Marienfeld in vielen Bauernhöfen liegen sehen. Später, ab 1930 waren schon Dreschmaschinen, die von Traktoren in Gang gesetzt wurden, im Einsatz. Noch später, etwa ab 1939, waren auf den Kolchosfeldern die Vollerntemaschinen, die das Getreide mähten und sofort droschen, im Einsatz.

Zurück zu den ersten Siedlungsjahren der Deutschen an der Wolga. Auch zum Dreschen wurden die Frauen eingesetzt. Die Kohlpflanzen mussten im Sommer oft begossen werden, auch das war Aufgabe der Frauen. Wie viel tausend Eimer Wasser die fleißige Elisabeth vom Bach den Hang hinaufgetragen hat, ist wohl nicht zu zählen. Und dazu das Haus in Ordnung halten, kochen und Brot backen.

Elisabeth war mit 18 Jahren eine hohe, stark gebaute und schöne Frau. Sie hatte immer Einfälle, um die Sommerküche zu verschönern, betupfte die Wände der Küche mit rotem oder gelbem Lehm so wunderbar, als ob irgendwelche unbekannten Blumen und Kräuter aus einem Zauberland dort wuchsen. Und der Herd, der immer weiß wie eine Braut dastand, wies keinerlei Rauchfahne, keinen Aschefleck oder gar einen Kohlerest auf. Die Kanten des Herdes ebnete Elisabeth beim Tünchen mit einem großen Messer von allen Seiten so, dass die Herdkanten selber wie eine Messerschneide gerade, eben und fein waren. Auch an den Rauchfang, den Kamin, malte Elisabeth wunderbare Figuren, jedes Mal andere. Wo sie nur all die Einfälle hernahm und wo sie sich die Zeit dafür nach ihrer täglichen Feldarbeit vom Schlaf abzwackte?

Dann kam der Herbst. Schon war die Ernte eingebracht, das Vieh wurde nicht mehr auf die Weide getrieben, blieb im Stall. Die Männer verrichteten ihre Morgenarbeit – die Ställe ausmisten, das Vieh füttern, tränken – bereits vor dem Frühstück. Die Hausfrau kochte derweil die Morgensuppe.

Elisabeth spann jeden Tag von früh bis spät in die Nacht die Schafwolle. Bis Lichtmess – 2. Februar – musste alle Wolle gesponnen sein, dann Strümpfe, Fäustlinge, Schals für alle und Röcke für die Frauen gestrickt werden. Letztere wurden aus mehreren einzeln gestrickten Bahnen zusammengenäht, hielten in den frostigen Wintern warm. Elisabeth nähte ihre Kleidung – die Röcke und Blusen – alle selber.

Das Nähen hatte sie von ihrer Mutter gelernt, die auch Hosen und Hemden für die Dorfeinwohner nähte, das hatte diese wiederum von ihrer Mutter gelernt – und so war die Familie Frank als Schneiderfamilie bekannt. Hier in der Wolgakolonie trugen die deutschen Kolonisten im Winter Pelze aus Schafsfellen. Und die Familie der Elisabeth Frank nähte auch diese.

Mit kaum 18 Jahren wurde Elisabeth Frank von dem hageren, schlanken, immer zu heiteren Scherzen aufgelegten Jorch – Georg – Appelhans gefreit. Georg hatte drei Brüder und so hatte die Familie Appelhans fünf Dusch Land und war relativ wohlhabend. Sie hatten mehrere Pferde, Zugochsen, zwei Kühe, Schafe, Schweine und Geflügel. Im Herbst, nachdem die Feldarbeiten vollendet waren, saßen Georgs drei Schwestern Margarete, Barbara und Katharina ganze Tage lang an ihren Spinnrädern, spannen die Wolle und strickten. Die Männer hatten genug Arbeit mit dem Vieh. Das Einspanngeschirr, die Kummete, Wagen, Eggen, Pflüge usw. mussten überholt und repariert werden für den Einsatz im Frühling.

Die Appelhanssippe war groß, schon gab es mehrere Familien mit diesem Namen, und um nicht zu verwechseln, von wem man sprach, hatte jeder einen Beinamen. Georg wurde der Weiße genannt und seine Familienmitglieder – die Weißers. Er hatte besonders weißes Haar, besonders weiße Hautfarbe. Von ihm hatten nur meine Mutter und ihre ältere Schwester Anna-Maria, kurz Ammrie genannt, diese besonders weiße Hautfarbe und besonders weißes Haar geerbt, und von meiner Mutter nur mein jüngster Bruder. Der Beiname blieb bis in meine Generation bis zu unserer Deportation 1941 erhalten.

Der Jorch hatte Elisabeth Frank jeden Tag vor Augen, sah sie bei der Arbeit auf dem Feld, sah welch geschickte Hände sie beim Nähen hatte. Und singen konnte sie wunderbar. Ihre Stimme erkannte er unter allen anderen im Kirchenchor. Im Herbst, nach Vollendung aller Feldarbeiten wurde die Hochzeit gefeiert.

In einer Ecke der großen Stube im Haus der Appelhanses stellten Georg und Elisabeth ihr Ehebett auf, das fast wie ein kleines Schlafzimmer war. Aus Holz gearbeitet vier fast bis zur Zimmerdecke hohe Bettstollen (Bettpfosten), an die aus buntem Baumwollgewebe ein Vorhang um das ganze Bett herum befestigt war. Am Tag wurde der Vorhang auf der längeren Vorderseite des Bettes zurückgezogen, und die bunte Tagesdecke, die hoch aufgeplusterten Kissen aus Gänsefedern wurden zur Schau gestellt. Als Matratze lag langes Stroh im Bett, darüber kam ein aus Hanf selbst gewebtes Laken. In der kalten Winterzeit deckte man sich mit einer Federdecke zu. Dazu hielten die Bauern viele Gänse, und die Braut war stolz auf ihre Mitgift, die großen Kissen und die Federdecke mit Gänsefedern. Manche anderen hatten auch Decken aus Baumwollgewebe, gefüttert mit Schafwolle und mit Ziernähten gesteppt.

Drei Jahre nach der Heirat von Georg und Elisabeth, als das Gemeindeland neu verteilt wurde, wie es alle sechs Jahre Brauch war, wurde Georg mit seiner Familie vom Vater abgeteilt. Es waren ja noch drei Söhne und die Töchter da und das Elternhaus war viel zu klein für alle. Elisabeth hatte bei ihrer Heirat von ihren Eltern als Mitgift eine Kuh, fünf Schafe, ein Schwein und Geflügel mitbekommen. Jetzt hatten sie von der Kuh schon ein Rind und ein Mutterkalb.

Die Weißers-Familie baute gemeinsam ein kleines Haus aus ungebrannten Lehmsteinen für Georgs Familie. Nun bekam Georg von seinem Vater zwei Pferde, zwei Zugochsen und die üblichen landwirtschaftlichen Geräte: Wagen, Pflug, Egge, Sense, Spaten, Rechen.

Das erste Kind war bereits auf der Welt. Die Tochter Paulina (1878). Zwar hatte Georg sich einen Sohn gewünscht, da hätte die Familie bei der nächsten Landverteilung zwei Dusch Land zugeteilt bekommen. „Na ja, das sind noch fünf Jahre bis dahin und ein Mädchen als erstes Kind ist nicht schlecht, es wird die Kindsmagd sein für ihre jüngeren Geschwister“, dachte er sich dann aber.

Jahre flossen dahin, schon waren es vier Töchter in Georgs Familie: nach der Paulina die Anna-Maria (1879), Barbara (1881), Elisabeth (1884) und immer noch nur ein einziger Landanteil. Georg und Elisabeth arbeiteten fleißig, doch von ihrem einzigen Dusch Land reichte das Brot nicht über den Winter, zumal es oft Missernten gab. Und die Steuern mussten bezahlt werden. Denn 1871 hatte der Zar Alexander II. alle Privilegien der Kolonisten aufgehoben, die von der Zarin Katharina II. in Ihrem Dekret verankert worden waren. Aber Georg verzagte nicht. Er war ein gewitzter, gescheiter Kopf.

Die Einwanderer, die in den ersten Jahren in dem fremden Land mit ungewohntem rauen, stark kontinentalen Klima so viel Not gelitten, hatten die jungfräuliche Ursteppe in dem Halbwüstengebiet an der unteren Wolga urbar gemacht. Die Neusiedler hatten bald erkannt, dass hier bei den Frösten bis 40 oder gar 45 Grad, häufigen starken Schneestürmen, wenn der Wind den Schnee vor sich her blies, hoch in die Luft aufwirbelte und das Tageslicht verdunkelte und man die eigene Hand vor den Augen nicht sehen konnte, dass für diese Gegend Schafspelze her mussten. So hatten sie angefangen, Schafe zu züchten. Und die fünfte Generation der Einwanderer hatte es schon viel leichter. Die Dorfeinwohner besaßen allesamt viele Schafe. Die Wolle reichte für Filzstiefel, Strümpfe, Schals. Und Georg erinnerte sich an den Webstuhl, den schon seine Urgroßeltern hier zum Weben von Bettwäsche aus Hanf nutzten. Elisabeth spann aus Hanf die Zwirnfäden zum Zetteln, Georg spannte diese als Längsfaden auf das Gerüst des Webstuhls und sie knüpften aus weißer und schwarzer Wolle einen Teppich. Für den Boden in der Stube, damit die Kleinkinder es warm hatten, die auf dem Boden des niedrigen Lehmhauses herumkrabbelten. Das war ein guter Einfall. Elisabeth nähte fleißig, doch sie kam den ganzen Tag nicht ans Nähen, nur spät am Abend, wenn die Kinder schliefen, konnte sie die Näharbeit machen. Die 1851 von Singer patentierte Nähmaschine war nun auch in Russland zu kaufen, Georg und Elisabeth hatten sich eine angeschafft.

Schon der ersten Generation der Kolonisten wurde bewusst, dass nur Schafspelze sie in den harten Wintern vor dem Frost retten können. Nicht jeder konnte diese allerdings zuschneiden. Georg hatte das bald gut im Griff. Er verstand es, die Pelze aus den gegerbten Schafhäuten so zuzuschneiden, dass es kaum Reste gab. Sparsamkeit war bei unseren Ahnen groß geschrieben. Georg und Elisabeth Appelhans waren in Rothammel als beste Näher der Pelze bekannt, denen es mit dem Knüpfen von Teppichen und dem Nähen von Pelzen gelang, ihre größer gewordene Familie zu ernähren.

Eigentlich hatten viele Frauen schon früher weiße Wolle mit Wurzeln und Kräutern rot, blau, gelb gefärbt, um sich aus der bunten Wolle Ringelstrümpfe zu stricken. Jetzt färbte Elisabeth mehr Wolle und im Winter knüpfte die ganze Familie Teppiche aus der bunten Wolle. Die Teppiche mit großen roten Rosen und grünen Blättern auf schwarzem Grund fanden Gefallen bei den Dorfbewohnern. Auf einem Foto von etwa 1912, auf dem meine Großeltern Elisabeth und Georg Appelhans abgebildet sind, kann man zwei solcher von ihnen geknüpften Teppiche sehen, einer an der Wand, der andere auf dem Fußboden. Die Dorfbewohner kamen zu Georg, denn nur er verstand das Aufzetteln, viele Jahre lang war er der einzige Mensch in Rothammel, der das konnte.

Meine Mutter hatte einen Webstuhl zum Teppichknüpfen als Mitgift bekommen. Ich erinnere mich, als Mutter etwa 1927 in Marienfeld einen Teppich knüpfte. Mein Vater hatte die Zettelfäden aufgespannt, das Muster gezeichnet: einen Rahmen aus bunten kleinen Knospen, im Zentrum des Teppichs auf schwarzem Grund eine große rote Hagebuttenblüte, von der aus in beide Richtungen des zwei Meter langen Teppichs Zweige mit grünen Blättern und roten Knospen liefen. Ich mit meinen fünf Jahren habe manchmal auch knüpfen geholfen, auch mein Bruder Alfons. 1934 in Engels knüpfte unsere Familie – Mutter und wir Kinder – den letzten Teppich 2,5 x 3m, der unserer Familie bei der Deportation nach Sibirien und an den Jenissej gefolgt ist und warm gehalten hat. 1934 gab Vater den Webstuhl in das Heimatkundemuseum Engels ab.

Durch die Deportation aller Deutschen nach Sibirien 1941 wurde das Museum liquidiert und die Spur vieler Exponate ist verschwunden, auch die des Webstuhls. Ich hatte während meines Besuchs in Engels 1979 danach geforscht, konnte aber keine Spur davon finden. Man sagte mir, alle Exponate des Engelser Heimatkundemuseums seien nach der Liquidierung der Wolgadeutschen Republik 1941 dem Saratower Heimatkundemuseum übergeben worden. Auch dort fand ich keine Spur von dem Webstuhl. Demontiert bestand der Webstuhl aus einigen etwa 20 Zentimeter breiten und zwei Meter langen Holzplatten, die zusammengebündelt wohl damals 1941-42 von unaufmerksamen Museumsarbeitern als ‚Bündel Holz’ weggeworfen wurden. Schade darum! 1981-82 sammelte das Museum Altes Sarepta bei Wolgograd Exponate über das Leben der Wolgadeutschen. Damals gab ich das Foto meiner Großeltern Georg und Elisabeth Appelhans dorthin. Die Museumsarbeiter wurden dabei auf die beiden Teppiche auf dem Foto aufmerksam. Ich erzählte von diesen selbst geknüpften Teppichen, machte eine genaue Zeichnung aller Bestandteile des Webstuhles und gab das zusammen mit der Beschreibung dem Museum.

Von den ersten Jahren der deutschen Siedlungen im Wolgagebiet an war es bestimmt, dass alle Kinder ab acht Jahre die Schule besuchen mussten. Der Unterricht begann ohne festes Datum im Herbst, nachdem alle Feldarbeiten abgeschlossen waren, und wurde im Frühling eingestellt, sobald die Feldarbeiten begannen. Die Schule war damals ein großes Zimmer, oft ein Anbau an der Kirche, in dem mehrere lange Bänke standen. Die Kinder unterschiedlichen Alters saßen zusammen in diesem Zimmer. Der Unterricht begann mit dem Gebet, dann wurde das Einmaleins gesungen – das war Mathematikstunde. Lesen lernten sie mit dem Buchstabieren, etwa so: De – A – DA – eS - DAS; Be – U – BU, Ce – Ha – BUCH.

Heute kann man nur staunen, warum den Kindern das Lesen durch das Buchstabieren so erschwert wurde. Nebenbei gesagt, meine Mutter lernte noch um 1910 so lesen und konnte mir 1930 das Buchstabieren demonstrieren. Kein Wunder, dass bei solcher Lehrmethode manchem Buben die Geduld ausging und er sich durch Nebensächlichkeiten ablenken ließ. Doch dafür gab es Rutenhiebe vom Lehrer.

Im Allgemeinen lernten die Kinder so viel, dass sie ihren Namen schreiben, im Katechismus und im Gebetbuch lesen und für ihre Bauernwirtschaft genug rechnen konnten. Der eine brauchte dazu drei bis vier Jahre, ein anderer begriff es in einem Winter.

Der findige Weißers Jorch hatte seinerzeit das Lesen schnell begriffen. Der Schulmeister und der Pfarrer förderten das, gaben Georg öfter den Kirchenkalender – ein Journal, das in Saratow in deutscher Sprache herausgegeben wurde, mit Erzählungen zu den Kirchenfesten, Geschichten über das Leben der Heiligen, aber auch über Naturerscheinungen, auch Bauernregeln und so manch Unterhaltsames wurde darin abgedruckt.

Georg Appelhans hatte nicht viel Zeit zum Lesen, da er die immer größer werdende Familie zu ernähren hatte. Doch an den Feiertagen, wenn es Sünde war zu arbeiten, holte Georg den Kirchenkalender und las laut vor. Nachbarn oder Verwandte kamen gelegentlich an solchen Abenden zu Georg und lauschten mit Vergnügen. So wuchs die Autorität von Georg. Er galt als fleißig, ehrlich, sparsam und als ein kluger, findiger Kopf.

Sechs Kinder – und alles Mädchen – hatten Georg und Elisabeth. Die Familie brauchte dringend ein größeres Haus. Und mehr Land. Das siebte Kind war ein Sohn, doch mit drei Jahren nahm Gott ihn zu sich. Nicht mal bis zur fälligen Landzumessung hatte er gelebt, und Georg musste sehen, wie er die achtköpfige Familie mit dem einen Dusch Land ernährte. Gut, dass es immer genug Pelze zu nähen gab. Die ältesten Töchter halfen mit ihren 11, 12 und 13 Jahren bei der Heumahd, beim Garbenbinden, Heutransportieren und natürlich bei allen Arbeiten im Gemüsegarten. Stricken lernten sie schon mit fünf oder sechs Jahren, (auch ich habe mit fünf Jahren das Stricken gelernt und konnte diese Kenntnisse viele Jahre später – 1942-44 in der Trudarmee – gut gebrauchen). Die ältesten Töchter konnten auch spinnen und alle halfen beim Knüpfen der Teppiche, die auf dem Markt guten Absatz fanden.

Im Kreiszentrum, in Dittel, gab es das Jahr hindurch samstags Märkte. Dahin fuhren Georg und andere Dorfeinwohner ab und zu, um ein Beil, einen Spaten, Zwirn oder Knöpfe, auch Kerzen und andere Haushaltsware zu kaufen. Doch zu Jahrmärkten im Herbst fuhr man weiter, sogar in die 70 Kilometer entfernte deutsche Siedlung Seelmann, die direkt am Wolgaufer lag, und zwar am östlichen Ufer, sodass man über den großen Fluss hinüberfahren musste. Dort fanden im Herbst große Viehmärkte statt. Und die deutschen Kolonisten kauften und verkauften dort Ochsen, Rinder, Pferde.

Etwas näher, auf der Bergseite lag eine große deutsche Siedlung, Balzer. Hier konnten die Bauern ihr überschüssiges Getreide günstig verkaufen. Gelegentlich fuhren die Kolonisten auch bis in die große Stadt Saratow.

Georg besaß kein überschüssiges Getreide, aber Teppiche, aus Schafwolle gestrickte Röcke, auch Schafpelze fanden guten Absatz. Für das erlöste Geld kaufte Georg das, was in seiner Wirtschaft im nächsten Jahr nötig war: einen Pflug, Kummete, Leinen, Metallrechen, Spaten. Auch buntes Baumwollgewebe, für jede der Töchter ein Kleid, und etwas für die Aussteuer der ältesten Tochter, zu der wohl bald die ersten Freier kommen werden. Einmal kaufte er in Balzer einen großen warmen Umhängeschal mit roten und grünen Streifen längs und quer, so dass er ‚ecksteinig’ kariert war. Für seine Frau. ‚Die wird sich freuen!’, freute er sich selber auch.

Der quadratische Schal war so groß, dass die drei Zipfel des zusammengefalteten Schals ihr von den Schultern bis an die Knie reichten. Und warm und weich war er! Für den Frühherbst, wenn es für den Schafspelz noch zu warm war, hängte sie diesen Umhängeschal beim Gang zum Gottesdienst in die Kirche immer um die Schultern. Er war auch aus Wolle, aber in der Fabrik gewebt.

Man erzählte, in Balzer hatte ein Deutscher sich aus Deutschland mechanische Webstühle bringen lassen und eine Weberei eröffnet, in der solche Schals, aber auch Baumwollgewebe, hergestellt wurden. Elisabeth freute sich über das Geschenk, doch ermahnte sie ihren Gatten: „So viel Geld auszugeben! Wir brauchen das Geld doch für das neue Haus. Ich weiß schon nicht mehr, wo ich die Kinder alle hinbetten soll in dem kleinen Zimmer des Lehmhäuschens.“

Einen solchen großen karierten Wollschal besaß auch meine Mutter als lediges Mädchen und auch später noch bei ihrer Heirat. Er wurde nicht oft gebraucht, und 1933, als mein Vater an der Hochschule studierte und unsere Einnahmen sehr knapp waren, jede Kopeke dreimal umgedreht werden musste, hat Mutter mir aus diesem Wollschal einen Wintermantel genäht.

Von den Jahrmärkten brachten die Bauern Sarpinkastoffe3 für Sonntagskleider für die Frauen, Tonkrüge verschiedener Größe: Milchkrüge und eimergroße Krüge zum Aufbewahren des Sonnenblumenöls mit. Die Sonnenblumen gediehen hier gut und fast in jedem Dorf gab es eine Ölmühle. Auch Rüben gediehen nicht schlecht.

Im Herbst kochten die Frauen Rübensaft. Zerkleinert wurden die Rüben ausgepresst, der Saft auf kleiner Flamme so lange gekocht, bis er geleeartig wurde. Das war das Schlecksel, die Süßigkeit, auch die wurde in großen Tonkrügen aufbewahrt. Zucker war teuer, den konnten die Bauern sich nicht leisten. Auch Spinnräder konnte man auf dem Jahrmarkt kaufen. Jede Tochter musste ein Spinnrad haben, das sie später bei der Heirat als Mitgift mitbekam.

Eine solche Fahrt zum Jahrmarkt war ein großes Ereignis und dauerte zwei bis drei Tage. Zu solch einer Fahrt fanden sich immer drei oder vier Bauern zusammen. Unterwegs mussten sie in einem Einkehrhof einer Siedlung übernachten, um die Pferde zu füttern und rasten zu lassen. Man nahm einen Brotsack mit Brot und Speck für 3-4 Tage mit. Lieber mehr, als zu wenig, denn: „Man weiß die Ausfahrt, aber die Einfahrt nicht“, sagten die bedachtsamen Bauern. Im Einkehrhof blieben die Männer auf ihren Wagen, bei der Fracht und den Pferden. Die Frauen fanden im Haus Unterkunft. Solche Einkehrhöfe gab es genügend in den Dörfern im Umkreis von Balzer, Seelmann, Saratow. Aber es kam auch vor, dass sie bei solchen Fahrten in freier Steppe übernachteten. Dabei galt als feste Regel, dass der Wagen nach dem Ausspannen so gedreht wurde, dass die Deichsel die Richtung zeigte, aus der sie gekommen waren, damit sie sich am nächsten Morgen bei der Weiterfahrt orientieren konnten. Das weiß ich aus den Erzählungen meiner Großmutter Susanna.

Auf diesen spätherbstlichen Reisen zum Jahrmarkt zog Georg über seinen knielangen Pelz den Tulup – einen Pelz aus Schaffellen, der so groß war, dass man ihn über den gewöhnlichen Pelz ziehen konnte und der bis zu den Fußsohlen reichte. Der Tulup – wohl ein russisches Wort – hatte einen so hohen Kragen, dass, wenn man ihn hochstellte, er über die Mütze reichte und bei Frost und Unwetter schützte.

Nicht jeder Bauer nahm seine Frau mit auf den Jahrmarkt, schon ganz selten seine Tochter. Gewöhnlich kam der erwachsene Sohn mit, damit der lernen konnte, die Ware günstig zu verkaufen und günstig einzukaufen. Georg Appelhans war ein Sonderling und hatte eine Schwäche für seine Töchter. Er nahm seine Töchter mit, immer die, die als nächstes gefreit werden konnte. Sie durfte sich selber das Gewebe für ihren Bettvorhang, die Kissenbezüge und die Sonntagskleider für ihre Aussteuer auswählen. Georg gönnte seinen Töchtern die Freude einer solchen ‚weltweiten’ Reise bis an den großen Fluss, auf dem Schiffe schwammen, die so groß waren wie drei oder vier Häuser zusammengenommen. Und da konnte man Fische auf dem Markt kaufen! Getrocknete, geräucherte und im Winter frische eingefrorene.

Fische waren in Rothammel eine Seltenheit. Nur selten brachte ein Bauer vom Markt Fische mit, die kosteten Geld. Die Bauern waren sparsam beim Geldausgeben. Hier kann ich nicht umhin, eine kleine Sprachbesonderheit zu erwähnen. Man sagte bei den Bauern Fisch, wenn man allgemein über den Fisch sprach, aber bei einem einzelnen Fisch sagte man Fusch. Ich erinnere mich, wie Vater den Leuten dazu erklärte, dass auch ein einziger Fisch in Wirklichkeit Fisch heiße.

Endlich hatten Georg und Elisabeth Appelhans etwas Geld zusammengespart, um ein neues Haus zu bauen. Ein Haus aus Holz, auf hohem Fundament, das aus großen Feldsteinen gemauert war. Vor meinem geistigen Auge sehe ich es vor mir. Ein nach damaligen Dorfmaßen großes Haus mit drei Fenstern zur Straße und dreien zum Hof. Eine Freitreppe mit sieben Stufen führte auf eine kleine halboffene, überdachte Veranda, von der man in das Haus gelangte.

Drinnen gab es ein kleines Zimmer – das der Eltern – und ein großes Zimmer der Töchter, die alle in diesem einen Raum schliefen. Und ein großer Raum, der größte des Hauses, der Wohnraum, der Küche, Essraum und Wohnzimmer in einem vereinte. Hier standen an einem Fenster zum Hof die Nähmaschine und der große lange Tisch, auf dem die Pelze zugeschnitten wurden. Eine lange Bank befand sich hinter dem Tisch, eine zweite wurde davorgestellt, wenn sich die Familie zum Essen versammelte.

Von der Veranda geradeaus konnte man in den Abstellraum gelangen und von da in den Keller, der mit gebrannten Ziegeln schön ausgebaut war und eigentlich unter der halboffenen überdachten Scheune neben dem Haus lag. Hier unter der Scheune gab es eine zweite Kelleröffnung. Die Kartoffeln und Rüben wurden im Herbst vom Hof durch diese Öffnung auf einer Rutsche aus Brettern direkt in den Keller geschüttet.

Vom Wohnhaus rechts bis zum Kuhstall zog sich diese Scheune. Sie hatte nur eine Außenwand und war überdacht, von der Hofseite war sie offen. Unter diesem Dach standen die landwirtschaftlichen Geräte, der Leiterwagen, an der Wand hingen Sensen, Rechen, Leinen. Hier lagerte das Brennholz akkurat aufgestapelt. Am Ende des Hofes neben dem Kuh- und Schafstall befand sich der Pferdestall. Die Ställe grenzten den Hof vom Hinterhof ab.

Zwischen zwei Ställen war das Türchen zum Hinterhof, von dem man in den Garten gelangte. Von der Straße aus mit dem Gesicht zum Tor stehend, sah man links das alte kleine Lehmhaus, Georgs erstes Wohnhaus, das mit dem Giebel zur Straße stand, ein Fenster auf die Straße und eins zur Hofseite hatte. Jetzt wurde dies als Sommerküche und Backhaus genutzt. Im Sommer verbrachte die Familie nach der Arbeit ihre Zeit im Backhaus, hier wurde das Essen gekocht und gegessen. Einmal in der Woche wurde hier im Backofen das Brot gebacken. Wenn die Äpfel heranreiften oder die Pflaumen, stellte Elisabeth einige Kuchenbleche mit Obst in den noch heißen Ofen, nachdem das Brot herausgenommen war, und die gebackenen Äpfel schmeckten den Kindern gut. Das waren ihre Süßigkeiten, ihre Leckereien. Im Spätherbst waren die im Ofen gebackenen roten Rüben die Leckerei. Im zweiten Raum des ehemaligen Hauses war nun der Lagerraum, in dem Milch und andere Lebensmittel aufbewahrt wurden. Ich kann mich gut an die mit Blech beschlagene Tür dieses Häuschens erinnern, darin war es im Sommer sogar bei großer Hitze kühl.

Aber kehren wir zurück zum Gehöft des Weißers Georg.

Weiter nach dem Backhaus im Hof, genau auf der Grenze des Nachbarhofs, befand sich der Brunnen, der von beiden Nachbarn gemeinsam gegraben worden war. Die Drehwalze über dem Brunnen hatte eine Kette mit einem Eimer aus Holz und von beiden Seiten eine Drehkurbel. So konnte jeder der Nachbarn von seinem Hof aus Wasser ziehen. Der Brunnen war mit einem Deckel zugedeckt, damit nichts und niemand hineinfallen konnte.

Das Haus und das hohe Tor, die zwei großen Torflügel mit Verzierungen waren gelb gestrichen. Vor dem Haus stand eine Torbank, auf der sich abends in den Dämmerstunden die Männer der Nachbarschaft versammelten, ihre Pfeifen rauchten und ihre Wirtschaftsfragen besprachen und sich beieinander Rat holten oder auch mal einen Witz erzählten. Doch da rasselte Elisabeth bereits mit dem Melkeimer. ‚Aha, sie ist fertig mit dem Melken’, wusste Georg dann, ‚hat die Milch in die Tontöpfe geseiht, den Melkeimer gewaschen und auf einen Zaunpfahl gestülpt. Jetzt ist es Zeit zum Abendbrot essen’. „Bis morgen, Männer, ich hab noch zu tun“, verabschiedete er sich von den Nachbarn.

Sechs Töchter hatten Elisabeth und Georg Appelhans und nur einen Dusch Land. Das neue Haus hatte Schulden gebracht und Georg hatte Sorgen. Er überlegte: ‚Wenn er doch mehr Land hätte, mehr Aussaat machen könnte! Der Kaisers Hannes hat fünf Söhne, einer kleiner als der andere, kleine Esser, keine Arbeiter, aber sechs Dusch Land, die er nicht bearbeiten konnte.

So überlegte Georg und sprach eines Abends den Hannes an: „Verpachte mir zwei Landanteile auf zwei/drei Jahre.“ Sie wurden einig. Georg würde den Pachtlohn mit geerntetem Getreide bezahlen. Mit einem Handschlag bekräftigten sie den Vertrag. Es war Ehrensache sein Wort, den Handschlag, einzuhalten.

Im nächsten Frühjahr mietete Georg sich einen Tagelöhner für einige Tage zum Pflügen und Säen, alle anderen Feldarbeiten mussten die Töchter verrichten, ihren Mann stehen bei der Frühjahrsbestellung, bei der Heumahd, bei der Ernte. 1892 war eine gute Ernte herangereift und die Weißers freuten sich über viel Getreide.

Im März 1893 kam die siebente Tochter zur Welt, die Elisabeth und Georg auf den schönen Namen Emilia taufen ließen.

Zu dieser Zeit war die älteste Tochter schon ein heiratsfähiges Mädchen und Joseph Pascal schickte bald Freier, die Pauline Appelhans zu freien. Er wurde als Tochtermann in die Familie des Georg Appelhans aufgenommen. Viele Rechte hatte ein Tochtermann in der Familie allerdings nicht. Warum der Joseph in die Weißersfamilie hineingeheiratet hat, ist mir unbekannt. Aber es ist wohl zu denken, dass er als männliche Arbeitskraft viel zum Wohlstand dieser Familie beigetragen hat. Und wahrscheinlich auch zum Bau des Hauses und des Wirtschaftsgehöfts.

Kaum hatten die Eltern für die Mitgift der Ältesten gesorgt, wurde auch die zweite Tochter Anna-Maria gefreit.

Elisabeth erzog ihre Töchter zu Bescheidenheit und Fleiß und die Väter der erwachsenen Burschen des Dorfes machten ihre Söhne auf sie aufmerksam: „Das wäre eine Braut für dich: aus guter Familie, stark gebaut, fleißig, steht in allen Bauernarbeiten ihrem Vater bei“. Viel Freizeit hatten sie nicht. Doch an den langen Winterabenden versammelten sich die Mädchen mit ihren Strickarbeiten bei der einen oder anderen Freundin. Die Burschen kamen hin, erzählten Märchen, heitere Geschichten, Witze. Man sang Volkslieder. Manchmal, an Feiertagen, wenn es Sünde war zu arbeiten, ging es lustig zu, wurde getanzt.

Doch lange durften die jungen Leute nicht bleiben. Am nächsten Morgen hieß es früh aufstehen. Gingen die Burschen nicht rechtzeitig, kam der Vater aus seiner Stube und sagte: „Buben, wenn ihr fortgeht, vergesst nicht unser Hoftürchen gut zuzumachen“. Das genügte, man wusste, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Mancher Vater sagte: „Buben, tragt mal schnell eure Kappen nach Hause, dann könnt ihr wieder kommen“.

Manchmal versammelten sich die ledigen Mädchen bei einer Freundin und spielten Wahrsagen. Still musste es sein in der Stube, alle saßen um den Tisch, der ohne Metallnägel gezimmert sein musste, legten beide Hände auf die Tischplatte und eine fragte: „Tischchen, Tischchen, sag uns wahr: wird der Hannes die Malchen freien? Ja?“ Das Tischchen hob eine Ecke und stampfte laut mit dem Tischbein auf den Fußboden. Heiterkeit. Die Betroffene errötete: „Ihr da, hebt selber das Tischchen! Ich spiel so nicht mit!“ Alle verneinen: „Guck doch unsere Hände liegen ruhig auf dem Tisch. Frag selber“. Und sie fragt: „In wieviel Tagen kommen die Freiersleute?“ Tuck, tuck, tuck! Alle lachten.

Davon erzählte mir meine Mutter Emilia Appelhans-Hollmann an den schweren traurigen Abenden im hohen Norden am Jenissej, während unserer Trudarmee-Zwangsarbeit. Es war eine Art Vergessen von Hunger und den Erniedrigungen, die uns in den Jahren des Zweiten Weltkrieges und unserer Verbannung zuteil wurden. Und es war Erinnerung an die Heimat, die Jugendjahre, an die Familienmitglieder. Aus Mutters Erzählungen weiß ich, wie unserer Ahnen in den Wolgadörfern damals gelebt und gearbeitet haben.

Der Fußboden im Haus wurde nicht gestrichen. Er war aus dicken Bohlen. Samstags wurden diese beim Reinmachen mit einem kurzen Reisigbesen geschrubbt, sodass sie gelblich leuchteten. An Festtagen, wenn Besuch erwartet wurde, streuten die erwachsenen Töchter oder die junge Hausfrau speziell aus der Sandgrube gebrachten weißen grobkörnigen Sand ringförmig oder Blumen auf den Fußboden. Das hatte einen praktischen Zweck, denn der an den Stiefeln haftende Straßendreck wurde nicht so fest in die Dielen getreten, der Sand verhütete das. Auch von der Freitreppe bis zum Hoftürchen streute man an besonderen Tagen Sandblumen. Sonst wurde der Hof rein gefegt und in Ordnung gehalten. Im Winter wurde jeden Morgen früh die Haustreppe sauber gefegt, sodass kein Schneeflöckchen darauf lag. Alle Wege von der Haustür zum Hoftürchen, die Ausfahrt aus dem Tor, die Wege zu den Ställen, zum Backhaus wurden mit Holzschippen vom frischgefallenen Schnee freigeräumt und gefegt. Auch auf der Straße vor dem Tor und der Weg zu den Nachbarn wurde gründlichst vom Schnee gesäubert. Niemand wollte hinter dem anderen zurückstehen.

Schon in den ersten zwei, drei Jahren im Wolgagebiet bauten die deutschen Kolonisten ihre Dorfkirchen, obwohl viele von ihnen selber noch in Lehmhütten wohnten. Aus einfachen Feldsteinen gemauert, waren diese Kirchen die Wahrer der deutschen Muttersprache, der Kultur, der Sitten und Bräuche unserer Ahnen in dem fremden Land. Vieles war von der Initiative des Pfarrers abhängig. Zu Weihnachten wurden Weihnachtslieder nicht nur in der Schule eingeübt. Auch die Jugendlichen hatten außer dem Gottesdienst Unterricht in Religion und Singstunden. Der Pfarrer übte hier mit ihnen die Inszenierung des Geschehens des Heiligen Abends und der Weihnacht ein. Und wenn dann am Heiligen Abend vom Balkon der Kirche eine helle Engelsstimme sang: „Gehet hin, ihr Hirten, euer Erlöser ist geboren, in der Krippe liegt er auf Stroh“, lauschten die versammelten Dorfbewohner wie bezaubert. Anna-Maria Appelhans hatte wohl die helle Stimme von ihrer Mutter Elisabeth geerbt und der Schulmeister Kreiner wurde auf sie, die schöne Anna-Maria, aufmerksam. Ob er sie mit 17 oder 18 geheiratet hat, weiß ich nicht genau.

Nach einigen Jahren zog die Familie Kreiner mit drei Kindern von der Wolgasiedlung in die deutsche Siedlung Josephstal bei Odessa, wo der Bruder Kreiner lebte, der einen Verkaufsladen besaß, in dem man alles – vom feinsten Nädelchen bis zur landwirtschaftlichen Maschine – kaufen konnte. Er machte gute Geschäfte.

1895 brachte Elisabeth Appelhans die achte Tochter Christina und 1901 ihre neunte Tochter Brigitta zur Welt. Groß war die Familie, doch jetzt begann sie schon sich zu verkleinern. Kaum hatte der Weißers Georg so große erwachsene Töchter, dass sie alle Bauernarbeiten gleich Burschen verrichteten, wurde eine nach der anderen gefreit. Da mussten die Eltern für Mitgift sorgen. Jeder Tochter eine Kuh, ein Dutzend Schafe, Geflügel. Jede bekam ihr Spinnrad mit. Und Kleider: drei bis vier Sonntagskleider, den Schafspelz. Und die Kleidertruhe.

Ach, die Truhe! Der Stolz einer jeden Braut. Die Truhe wurde von einem Tischlermeister gebaut, mit Leisten verziert und bemalt. Doch ein besonderer Stolz galt dem klangvollen Innenschloss. Jedes Dorf hatte einen Schmied, der nicht nur Hufeisen anfertigte und die Pferde beschlug, er fertigte auch andere Gegenstände aus Metall wie Spaten, Hacken, usw. für die Arbeit der Bauern. Und die Schlösser für die Kleidertruhen.

Es gab besonders kunstfertige Schmiede, die wunderbar melodisch klingende Truhenschlösser anfertigten. Jedes Schloss sollte seinen eigenen Klang haben, sich von den Schlössern der anderen Truhen unterscheiden. Wenn die Inhaberin einer solchen Truhe mit ‚Musik’ ihre Kiste aufschloss, versammelten sich alle im Zimmer Anwesenden um die Truhe, horchten und bewunderten diesen melodischen Klang. Das habe ich in Marienfeld selbst in den Jahren 1927-28 noch miterlebt.

Manchmal bat eine kleinere Schwester die Braut: „Schließ doch mal die Truhe auf, ich möchte den Klang des Schlosses hören“. Nicht immer erfüllte diese den Wunsch der Kleinen, um das Schloss nicht übermäßig zu strapazieren. Man war von Kind auf dazu erzogen, sparsam und behutsam mit allen Sachen umzugehen.

Zum Essen versammelte sich die ganze Familie. Jeder hatte seinen Platz. Mutter Elisabeth stellte die große Tonschüssel mit dampfender Fleischsuppe oder Klößen in die Tischmitte. Als die Familie größer wurde, stellte Mutter zwei oder drei Schüsseln auf den Tisch. Eine Tochter holte die bunt bemalten Holzlöffel aus dem aus Weiden geflochtenen Löffelkörbchen, das neben dem Schüsselbrett an der Wand hing.

Waren die Familienmitglieder am Tisch versammelt, erhoben sich alle zum Tischgebet, das der Vater vorsprach und die Kinder mitsprachen. Dann nahm die Mutter den großen runden Brotlaib, machte mit dem Messer in ihrer Rechten ein Kreuzzeichen auf den Laib Brot und sprach „In Gottes Namen“, schnitt jedem eine Schnitte Brot, die sie jedem einzelnen reichte. Man aß das Brot und löffelte die Suppe dazu. Hatte jemand sein Brot aufgegessen, bat er den Vater um noch eine, oder der Vater fragte den Betreffenden „Willst du noch?“, und schnitt ihm noch eine Schnitte Brot ab. Solche Ordnung habe ich selber noch in den Jahren 1928-29 miterlebt. Sogar erwachsene Söhne, die noch in der Elternfamilie lebten, wagten es nicht, sich selber Brot abzuschneiden. Vater und Mutter waren hoch geehrt. Und das liebe Brot, jeder Krümel wurde wie ein Heiligtum behandelt, nicht verschwendet. Und schon gar nicht auf den Boden fallen gelassen. Es war kein Geiz, es war Achtung vor dem durch schwere Arbeit erworbenen Brot.

In der vorderen Stubenecke befand sich die Herrgottsecke, dort hingen das Jesusbild und das Muttergottesbild. Zudem stand dort ein kleines Ecktischchen mit einem selbst gehäkelten Tischtuch, darauf das Kruzifix, Weihwasser, die Gebetbücher und aus buntem Papier gefertigte Blumen. Abends vor dem Schlafengehen wurden die Kinder vor diesem Tischchen versammelt, um das Nachtgebet zu sprechen, danach mit Weihwasser gesegnet.

Oft versammelte sich die ganze Familie zum Abendgebet. Da wurde Gott gedankt für den vergangenen Tag, die Verstorbenen und die in weiter Welt entfernten Familienmitglieder erwähnt, die ausgewandert waren oder die im Ersten Weltkrieg an die Front beordert worden waren.

Ich, aus meiner heutigen Sicht, bin überzeugt, diese gemeinsamen Abendgebete mit Erwähnung der Ureltern, der Verwandten – das war etwas sehr Wesentliches in der Erziehung der Kinder, das hielt die Familie zusammen, erzog zur Güte und zu Hilfsbereitschaft untereinander, zu Dankbarkeit den Eltern und älteren Geschwistern gegenüber. Zwar ist aus unserer heutigen Sicht die absolute Strenge gegenüber den erwachsenen Kindern damals zu verurteilen, denn ihre eigene Initiative wurde dadurch zu stark unterdrückt.

Mit den Jahren erwarb Georg Appelhans immer mehr Achtung bei den Dorfbewohnern. Als ein neuer Kirchenvorsteher der Gemeinde gewählt werden sollte, stimmten alle für den Weißers Jorch. Gerecht war er, ehrlich, fleißig, sparsam und hatte einen klugen Kopf. Er las fleißig den Kirchenkalender und man konnte sich bei ihm jederzeit Rat holen.

Georg und Elisabeths Töchter galten im Dorf als würdige Bräute, so mancher wohlhabende Bauer wäre froh gewesen, eine für seinen Sohn zu freien, sodass es den Weißers Töchtern nicht an Freiern fehlte. Und bald waren sechs von ihnen aus dem Elternhaus ausgeflogen, verheiratet. Jorchs großes Wohnhaus war fast menschenleer geworden. Nur noch die drei jüngsten Töchter, Emilia, Christina und die noch nicht erwachsene Brigitta, verblieben im Elternhaus.

Wie zuvor hatte Georg Appelhans nur einen Dusch Land. Er pachtete zwei Landanteile hinzu, dingte für einige Tage einen Tagelöhner zu der Frühjahrsbestellung der Felder und Ernte, alle anderen Arbeiten verrichteten Georg und Elisabeth mit Hilfe ihrer Töchter Emilia, Christina, Brigitta. Die Tochtermänner, die älteren Töchter hatten mit ihren eigenen Familien und eigenen Wirtschaften genug Arbeit und Sorgen.

1905 wuchsen in Russland schwere Unruhen. Die Politiker lenkten geschickt den Zorn der unzufriedenen russischen Bauern und Arbeiter auf die Auswärtigen, die deutschen Bauern. Selbst der Zar Alexander der Dritte sagte: Russland für die Russen. So wurde den Deutschen der Gebrauch ihrer Muttersprache in der Öffentlichkeit verboten, auch die Selbstverwaltung ihrer Kolonien. Das löste bei den deutschen Siedlern Unzufriedenheit aus, und viele Kolonisten zogen nach Amerika.

1905 war die fünfälteste Tochter Elisabeth mit ihrem Ehegatten Johann Distel und ihren zwei Söhnen Frank (zwei Jahre) und Johann (sechs Monate) nach Amerika ausgewandert. Sie waren einer Auswanderungswelle der Wolgadeutschen gefolgt, die mit der Lage im russischen Zarenreich unzufrieden waren und bessere Lebensbedingungen in dem noch wenig erschlossenen Land Brasilien erhofften.

Meine Mutter erzählte nie vom Abschied von dieser Familie bei ihrer Ausreise. Doch in ihren Gebeten erwähnte sie immer diese ihre Schwester, bat Gott um Segen für die Familie derselben. Zweimal jährlich – zu Weihnachten und zu Ostern – kamen kurze Briefe aus Amerika an die Eltern.

Die Schneiderarbeit wurde nur im Winter betrieben und ging gut voran. Oft sprachen Georg und Elisabeth darüber, wer wohl ihr Handwerk eines Tages weiterführen würde. Immer wieder kamen sie überein, dass Emilia die Geeigneteste dazu wäre. Sie hatte schon in frühster Kindheit oft unter dem großen Tisch gesessen, aus kleinen Abfällen, die beim Zuschneiden vom Tisch fielen, Puppen für sich und ihre kleineren Schwestern gebastelt und Pelze und Kleider für diese genäht. Stundenlang war sie damit beschäftigt, das war ihr Spiel. „Die hat das Zeug zu diesem Handwerk“, sagten sich Vater und Mutter. Jetzt waren die Dorfbewohner wohlhabender geworden, von den Jahrmärkten brachten die Bauern nicht nur einfache Baumwollgewebe – Kattun, Satin – sondern auch bunte Seidensarpinka (halb Baumwolle und halb Seide) und feine Kaschmirgewebe für Sonntagskleider mit. So mancher Bauer, wenn er sein Getreide günstig verkauft hatte, kaufte Tuch für einen ‚Geisch’, einen kurzen Wintermantel für Frauen. Für das Nähen solcher benötigte man gelernte Zuschneider.

Georg und Elisabeth Appelhans beschlossen, Emilia zu einem Schneidermeister in die Lehre zu schicken. Auf dem Jahrmarkt in Balzer hatte Georg erfahren, dass es in der Stadt Saratow eine Deutsche Straße gibt, wo einige hundert Deutsche leben und ihre eigenen Geschäfte haben. Und die nehmen auch Lehrlinge. Georg fuhr nach Saratow zum Jahrmarkt und suchte den deutschen Schneidermeister auf. Sie wurden sich einig: Für drei Silberrubel pro Monat würde Emilia ein Jahr in der Familie des Schneidermeisters leben, den Schnitt und das Nähen lernen. „Für ein Jahr, vorläufig, mal sehen, wie geschickt deine Tochter ist“, meinte der Meister.

„Mit kaum 18 Jahren so weit in die Welt hinein! O Gott steh mir bei!“, jammerte Mutter Elisabeth, als der Vater zurückkehrte.

„Aber wir hatten uns doch dazu entschlossen“, parierte Georg. „Und sie wird bei deutschen ehrbaren Leuten wohnen, essen, arbeiten und lernen!“.

„Ach, was wird sie dort in der Stadt zu essen kriegen!“, machte Elisabeth sich Sorgen.

„Wir geben ihr gesalzenen Schinken mit, Mehl, Kartoffeln – das wird wohl einige Zeit reichen. Dann zu Weihnachten besuch ich sie mal“.

Im März 1912 war Emilia 19 geworden und im Herbst nach Beendung der Ernte schickte der Philipps Joseph Freier, um Emilia für seinen ältesten Sohn Jakob zu freien. Aber Emilia sagte resolut ab. Sie wolle nicht heiraten, sie wolle ins Kloster gehen, sagte sie den Eltern und den Freiern.

Georg und Elisabeth überlegten. Emilia war ein ruhiges bescheidenes Mädchen, und der Sohn des Philipps Joseph gefiel ihr nicht. Dazu wurden die jungen Leute damals eigentlich nicht gefragt. Aber ein bisschen Zuneigung sollte doch zwischen den beiden sein, wenigstens sollten sie einander gefallen. Die Philipps Familie war eine sehr große Familie, in die hineinheiraten ... Gott bewahre! Doch als älteste Schwiegertochter würde sie die rechte Hand der Mutter sein, viel mehr Rechte als die jüngeren Schwiegertöchter haben, die eines Tages hinzukommen würden. Vielleicht würde der älteste Sohn auch bald abgeteilt, eine selbstständige Bauernwirtschaft haben.

So überlegten Emilias Eltern. Aber Emilia wolle auf keinen Fall heiraten, sie wolle unbedingt in ein Kloster gehen, ihr Leben Gott weihen, ihm allein dienen, wiederholte sie immer wieder. „Das ist das Resultat der schönen Predigten des jungen Priesters“, meinte Mutter Elisabeth.

Nicht alle Töchter hatten von der Mutter Elisabeth die schöne Singstimme geerbt. Nur Anna-Maria und Emilia. Alle Appelhanstöchter sangen gern Volkslieder und im Kirchenchor. Aber nur Anna-Maria und Emilia hatten besonders melodische und klare Stimmen, konnten die höchsten Noten sauber singen.

Anna-Maria lebte schon lange nicht mehr in Rothammel. Inzwischen war Emilia herangewachsen und der junge Priester hatte nun ihr die Engelsrolle in der Weihnachtsfeier gegeben. „Die Stimme ist eine Gabe Gottes“, sagte er immer. „Es ist Sünde, sie zu verschwenden. Sie muss gebraucht werden, Gott zu loben, ihm zu dienen.“

Andere Sänger aus dem Kirchenchor ließen sich von solchen Worten nicht beeindrucken. Christina, nur ein Jahr jünger als Emilia, war anderer Meinung als der Priester. Wozu sich so einengen lassen? Warum so viel Verbote! Ihr heiterer Geist, die Lach- und Scherzlust sprudelte nur so aus ihr heraus und kaum hatte sie das Gotteshaus verlassen, trällerte sie ein lustiges „Gassenlied“, ein Volkslied. Abends sang sie lauthals verschiedene Liebeslieder beim Melken oder bei anderer Arbeit.

Emilia war stiller, bescheidener, gehorsamer. Sie schonte ihre Stimme für die Gotteslieder. Bei den Arbeiten auf dem Feld und im Garten betrachtete sie oft die verschiedenen Blüten, Blätter, Gräser. Wie wunderbar Gott diese alle gestaltet hatte! Jedes Gräschen, jeden Halm fand sie schön, bewundernswert. Für eine Bauerntochter war sie ein Sonderling, eine Träumerin. Und vielleicht fand sie deshalb keinen Gefallen an der Rolle einer Schwiegertochter, wenngleich als älteste Schnerch, in dieser großen wohlhabenden Bauernfamilie. Alle Überredungskünste der Freier blieben an diesem Abend erfolglos. Emilia blieb bei ihrer Antwort: „Ich will nicht heiraten, ich will ins Kloster gehen.“