Schönheitsfehler - Heike Wolpert - E-Book

Schönheitsfehler E-Book

Heike Wolpert

4,7

Beschreibung

Das ist nicht Kater Sockes Tag. Erst wird er in einer Katzenbox ausgesetzt und kaum befreit, findet er eine Leiche. Ausgerechnet bei der Feier zur Präsentation eines neuen Antifaltenmittels wird der Schönheitschirurg Dr. Karl-Heinz Finkenburg erschossen - gibt es da einen Zusammenhang oder liegt das Motiv eher im Privaten? Neben Hauptkommissar Peter Flott und seinem Team stellt auch der Kater samt tierischer Nachbarn Ermittlungen an. Schnell stoßen sie auf einen vergangenen, aber nicht vergessenen Skandal.

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Heike Wolpert

Schönheitsfehler

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Mit scharfer Kralle Das ist nicht Kater Sockes Tag. Erst wird er in einer Katzenbox ausgesetzt und kaum befreit, findet er im Park eines Hotels eine Leiche. Ausgerechnet bei der Feier zur Präsentation des neuen Antifaltenmittels eines großen Pharmakonzerns wird der Schönheitschirurg Dr. Karl-Heinz Finkenburg erschossen. Hauptkommissar Peter Flott und sein Team nehmen die Ermittlungen auf und auch der Kater kann das Schnüffeln nicht lassen. Der Ermordete war in einen Skandal wegen defekter Brustimplantate verwickelt. Nach einem belauschten Gespräch ist Kater Socke überzeugt: hier liegt das Motiv.

Unterdessen nehmen die Kommissare das private Umfeld des Toten unter die Lupe und finden eine wenig erschütterte Witwe, eine junge Geliebte und deren eifersüchtigen Exfreund vor. Letzterer avanciert schnell zum Hauptverdächtigen, war er doch am Mordabend als Bodyguard auf der Präsentationsfeier tätig. Aber hat der Medizinstudent tatsächlich den tödlichen Schuss abgegeben? Oder hat der überraschende Tod einer reichen Patientin Finkenburgs etwas mit dessen Ermordung zu tun?

Heike Wolpert, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Hannover. Abwechslung von ihrem Alltag als Businessanalystin bei einer großen Landesbank findet sie im Schreiben von Krimis und Kurzgeschichten. Der vorliegende Band ist bereits der vierte in ihrer Reihe rund um den tierischen Schnüffler Kater Socke, die sich sowohl bei Katzen- als auch Krimifreunden gleichermaßen großer Beliebtheit erfreut. Dass ihr die Ideen nicht ausgehen, dafür sorgt der echte Socke – der schwarz-weiße Kater lebt nun seit fast zehn Jahren bei der Autorin.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Marc Walter / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4662-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Es war aus. Genau genommen hatte es eigentlich nie angefangen. Es bedurfte eines Biers und zwei doppelter Wodkas, bis Uwe sich das eingestand. Als er Alexa vor knapp zwei Monaten kennengelernt hatte, war ihm alles so leicht erschienen. Er machte ein bisschen auf Frauenversteher, als sie ihm von ihrer Arbeit beim Tierschutz erzählte. Und nach einigen Prosecco stimmte sie freudig einem Wiedersehen zu.

Vor dem zweiten Treffen hatte er sicherheitshalber sein Bett frisch bezogen, aber soweit war es leider bis heute noch nicht gekommen. Dabei begann es dieses Mal noch vielversprechender. Auf seinen Vorschlag hin waren sie in einer angesagten Cocktailbar gelandet, und Alexa ließ es zu, dass er ihr einen ›Sex on the Beach‹ bestellte. Doch schon bald erzählte sie ihm wieder von all den armen Kreaturen im Tierheim. Die meisten Menschen wollten ja nur die jungen, niedlichen und gesunden Tiere, die in die Jahre gekommenen oder gar behinderten mussten ihr Dasein meist bis zum Ende ihres kurzen Lebens im Tierheim fristen. Er starrte, entsetzt über so viel Gefühlskälte, in ihren Ausschnitt und überlegte krampfhaft, wie er das Thema wechseln konnte. Doch auch bei einem weiteren Cocktail gelang ihm das nicht, und irgendwann hatte er dann zu viel getrunken – und so war außer einer freundschaftlichen Umarmung auch an diesem Abend wieder nichts passiert.

Umso mehr freute er sich, als sie am nächsten Tag plötzlich vor seiner Tür stand mit einem Katzentransportkorb unterm Arm. Dieses Requisit hätte ihn stutzig machen sollen, aber er sah nur eine zierliche, schutzbedürftige junge Frau, die schwer an einer unförmigen Plastikbox schleppte, und bat sie in seine Wohnung. Sie stellte ihre Last auf den Couchtisch und öffnete ein Gitter an der Vorderseite der Kiste. Vorsichtig lugte ein schwarzer Katzenkopf heraus. Das sei der Kater mit dem gelähmten Schwanz, erklärte Alexa ihm, kein Baby mehr und deshalb – nach Meinung der meisten Menschen – Ausschuss. Das Tier hatte währenddessen offensichtlich die Lage in Uwes Wohnzimmer erfasst und verließ jetzt blitzschnell sein Gefängnis, um sich unter dem Sofa zu verschanzen.

»Im Tierheim herrscht momentan akute Platznot, die ganzen Maikätzchen«, Alexa war den Tränen nahe, als sie das erzählte.

»Ach ja …«, nickte er bedeutsam, dabei rasten seine Gedanken: Was um Himmels willen waren Maikätzchen? Und was hatte sie ihm gestern noch alles erzählt, an das er sich jetzt nicht mehr erinnerte?

»Ich dachte, du könntest ihn aufnehmen – du warst gestern so verständnisvoll. Nur vorübergehend?«, putzte Alexa geräuschvoll ihre Nase. »Für Futter und Katzenstreu kommt das Tierheim auf – wir bringen es dir sogar einmal die Woche vorbei.«

Tränen hatte er noch nie sehen können, und die Aussicht auf einen wöchentlichen Besuch Alexas gab schließlich den Ausschlag. Noch am selben Abend bereute er seine Zusage. Als nämlich seine Kumpel über den Krüppelkater und vor allem über ihn lästerten. Hatte er sich doch von seiner Angebeteten ausgerechnet einen ›schwanzlahmen‹ Kater aufschwatzen lassen. Ob sie da wohl gewisse Vergleiche gezogen habe? Müsse man sich um ihn etwa Sorgen machen? Das Gelächter nahm kein Ende. Auch die wöchentliche Lieferung von Futter und Streu war eine Enttäuschung. Entweder hatte Alexa nur wenig Zeit oder sie schickte gleich einen anderen Vertreter des Tierheims.

Und seit zwei Wochen herrschte nun ganz Funkstille. Davor hatte er sich überreden lassen, an einer Demo gegen Tierversuche teilzunehmen, obwohl ihm dieses Thema eigentlich herzlich egal war. Als dann der Vertreter irgend so einer Pharma-Firma dort aufgetaucht war mit seinem schicken Anzug und dem überheblichen Getue, war es mit ihm durchgegangen und er hatte zugeschlagen. Aber dieser eingebildete Schnösel hatte es wahrlich verdient. Seither erreichte er nur noch Alexas Anrufbeantworter oder ihre Mailbox. Der Besuch des Tierheimvertreters blieb aus, der Kater hatte seit drei Tagen nichts mehr zu fressen gekriegt, und das Katzenklo verschmähte er, seit Uwe die Streu nicht mehr wechselte. Aber so viel brauchte er das ja eh nicht, wenn er kein Futter bekam, und fürs ›kleine Geschäft‹ benutzte er den Badezimmervorleger. Angeekelt kippte Uwe den Rest des dritten Wodkas hinunter. Seine Wohnung stank wie ein öffentliches Pissoir – das Vieh musste verschwinden. Und in seinem alkoholumnebelten Kopf entwickelte sich auch schon ein Gedanke wohin … Er musste grinsen.

»Komm Katerchen, es gibt Fressi Fressi!«

*

Heute war es ein Jahr her. Vor exakt zwölf Monaten hatte ER ihr Leben beendet. Ein Leben als normale Frau in einem schönen Körper.

Die Brustvergrößerung war ihr Traum gewesen, sie hatte lange gespart und den Tag der Operation herbeigesehnt. Aber kurz danach, der Verband war noch nicht entfernt, begannen die Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen. ER untersuchte sie und behauptete dann, alles sei normal, sie solle sich etwas mehr Zeit geben. Doch die Schmerzen wurden immer schlimmer, sie konnte nicht mehr schlafen. Verzweifelt flehte sie IHN an, ihr zu helfen. Aber ER redete dauernd von einem psychischen Problem und riet ihr zu einer Therapie, nannte sogar Adressen. Wahrscheinlich machte ER das immer so, um seine Fehler zu verschleiern. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und bestand auf eine erneute Operation. ER führte auch diesen Eingriff durch, die Implantate wurden wieder entfernt. Danach riet ER ihr wieder, dringend einen Therapeuten aufzusuchen. Diesmal vereinbarte er sogar einen Termin für sie. Selbstverständlich nahm sie diesen Termin nicht wahr. Sie verzichtete auch darauf, ihr Geld zurückzufordern. ER saß am längeren Hebel, seine Komplizen waren sicher längst eingeweiht. Ab diesem Moment ging sie nirgends mehr hin. Drei Monate war sie für niemanden zu sprechen. Ihre Freunde zogen sich zurück, keiner hatte Verständnis. Ihre Stelle als Verkäuferin in einem Dessousladen kündigte sie. Nie könnte sie mit einem derart entstellten Körper einer Kundin Unterwäsche verkaufen. Stattdessen verbrachte sie ihre Zeit damit, alles über den Mann herauszufinden, der ihr Leben zerstört hatte. Ihr einziger Luxus, den sie sich noch gönnte, war ihr PC. Ihn benötigte sie, um IHN auszuforschen. ER war so eitel, dass ER sein Leben in der digitalen Welt ausbreitete, nicht nur sein Berufliches. Jeden Tag suchte sie nach Neuigkeiten über IHN.

Doch die virtuelle Beobachtung genügte ihr bald nicht mehr. Sie musste IHN mit eigenen Augen sehen. Sie veränderte ihr Äußeres. Ließ sich die Haare schneiden, färbte sie, kaufte sich eine Brille mit Fensterglas, veränderte ihre Statur durch Polster in der Kleidung. Aus dem Internet erfuhr sie, wo sie IHN fand. IHN wieder zu sehen, waren Demütigung und Genugtuung gleichzeitig. Demütigung, weil ER so unbeschwert sein Leben genoss, mit einer unverschämt jungen Geliebten, während ihr eigenes Leben zerstört war. Genugtuung, weil ER nicht ahnte, wie nahe sie IHM kam. Mit geändertem Namen gelang es ihr sogar, eine Stelle als Putzhilfe in seiner Klinik zu bekommen. Als sie die Zusage bekam, fühlte sie sich zum ersten Mal seit ihrer OP wieder glücklich.

Sie putzte abends. IHN traf sie selten an und wenn, nahm ER sie nicht wahr, aber sie hatte Zugang zu seinem Büro. Und seine Sekretärin war nicht besonders vorsichtig, was seinen Terminkalender anging. Jetzt wusste sie immer, wo ER sich befand. Und wenn möglich war sie auch da. Heute Abend war ER von diesem Pharma-Riesen zur Einweihung des neuen Luxushotels an der Messe eingeladen. Sie hatte sich bereits vor Ort umgesehen. Sie war vorbereitet.

*

›Eine Prämie für besondere Leistungen‹ – so stand es in dem Schreiben, das Anton Killian gerade von seinem Chef, Klaus Zuber, Leiter der PharmaBel AG erhalten hatte, zusammen mit einer Flasche eines wahrscheinlich sündhaft teuren Cognacs. Blumen für die Dame, die persönliche Assistentin des Chefs, eine Flasche für den Herrn und für beide ein diskreter Umschlag. Man feierte die Einweihung des neuen Luxushotels, das Zuber direkt an der Messe hatte bauen lassen. Schon das Grundstück musste ein Vermögen gekostet haben. Geladen war nur ein kleiner auserwählter Kreis von Gästen, der hannoverschen Prominenz aus Politik, Wirtschaft und ein paar handverlesene Pressevertreter. Den eigentlichen Grund zum Feiern aber offenbarte der Chef der PharmaBel erst im zweiten Teil seiner launigen Rede: die Zulassung des neuen Antifaltenmittels, gegen das Botox angeblich nur ein Schönheitspflästerchen war.

So, oder so ähnlich würde die Presse hoffentlich morgen berichten. Dafür wurde ordentlich was geboten: Zunächst speiste man fürstlich, der Champagner floss in Strömen, und auch beim Wein ließ sein Chef sich nicht lumpen. Nach dem Essen dann die unvermeidliche Rede, die Vorstellung des neu zugelassenen Produkts und als Abschluss ein grandioses Feuerwerk. Zum Ende der Rede dankte der, ach so sozial eingestellte Herr Zuber noch seinen Mitarbeitern, ohne die das alles nicht möglich gewesen wäre. Er bat, »stellvertretend für die vielen fleißigen Kollegen«, Killian und die Assistentin zu sich auf die Bühne.

Anton Killian arbeitete seit beinahe zehn Jahren als Chefchemiker für den bekannten Pharmariesen, und genauso lange kannte er Klaus Zuber. Der Manager höchstpersönlich hatte ihn, den vielversprechenden Wissenschaftler, eingestellt. ›Gekauft‹ war wohl der richtige Ausdruck. Als Mitglied eines Forschungsprojekts der Uni Hannover hatte es Killian zwar bereits zu gewissem Ansehen, mitnichten aber zu finanziellem Wohlstand gebracht. Das Angebot Zubers lautete über das Dreifache seines bisherigen Gehalts. Killian hatte nicht lange gezögert. Schon lange verachtete er sich selbst dafür.

Auch heute zeigte sich der Chef des Pharmariesen generös. Auffällig unauffällig drückte er seiner Assistentin und seinem Chefchemiker den Umschlag in die Hand, seine Gäste sollten sehen, was für ein großzügiger Arbeitgeber die PharmaBel AG war. Immerhin war Zuber so schlau, ihnen nicht das Mikrofon zu reichen. Killian hatte schon reichlich getankt und seine Aussprache war etwas verwaschen. Sein Chef hatte missbilligend die Augenbrauen hochgezogen. Das zeigte wieder mal, wie verlogen die PharmaBel war: Beim Essen wurde ständig nachgeschenkt, aber vor drei Wochen hatten sie ihm diese Sozialtante vorbeigeschickt. Von Alkoholproblemen war die Rede, dass er doch auch mal an seine Arbeit im Konzern denken solle und man ihm gerne helfen würde. Wie genau diese Hilfe aussehen sollte, kam nicht zur Sprache, sowieso blieb das Gespräch eher unverbindlich – eine Pflichtübung. In der Branche war schon lange durchgesickert, dass Killian Alkoholiker war. Aber er würde es ihnen zeigen, er würde aufhören, und dann konnten Zuber und die PharmaBel sich einen neuen Chefchemiker suchen, den sie ausbeuten und um seine Patente betrügen würden. Zuber war es doch nur recht, wenn Killians Ruf ruiniert den Bach runterginge – denn dann würde er woanders nichts werden können. Es war der blanke Hohn, ihm eine Flasche hochprozentigen Alkohols zu schenken. Er ballte seine Faust, er musste hier weg. In einer halben Stunde begann das große Abschlussfeuerwerk hier im Park des Hotels, da wollte er nicht dabei sein. Er hatte sich ein Zimmer genommen, die Firma bezahlte. Er würde sich dort noch ganz in Ruhe ein Glas des Super-Cognacs genehmigen. Und morgen würde er aufhören. Heute hatte er sowieso schon zu viel getrunken, und es wäre ja schade um den guten Tropfen. Das Feuerwerk konnte er sich auch vom Balkon seines Zimmers anschauen …

*

»Ein wunderbarer Abend, Schatz! Und deine Rede war einfach klasse!!«, schaute Elena Zuber, geborene Wyczkowski, mit pflichtschuldiger Bewunderung ihren Mann an.

Klaus Zuber winkte ab. Seine dritte Frau ging ihm bereits nach zwei Monaten Ehe auf die Nerven. Sie sah toll aus, aber auf Dauer war das nicht alles. Er hatte um sie, das gefeierte Model, geworben und viele gutaussehende, aber weniger reiche Männer ausgestochen. Die Jagd hatte ihm gefallen. Jetzt, da er die Beute sicher hatte, verlor er das Interesse. Und dieses ganze Getue und wie sie ihn anhimmelte, war doch ein bisschen ›too much‹. Je mehr sie um seine Aufmerksamkeit buhlte, umso mehr verachtete er sie. Er wedelte mit der Hand, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen.

»Sei doch so gut und kümmere dich um den Bratlinger von der HAZ*, der soll noch ein paar schöne Bilder von dir machen.« Er kniff ihr in den Hintern, »damit wir morgen in der Presse eine gute Figur machen.« Mit einem Klaps entließ er sie.

Elena Zuber zog zwar einen Schmollmund, besagter Pressemann war ein dicker, unattraktiver Kerl, trollte sich aber ohne Widerrede. Zuber schloss die Bürotür hinter ihr ab. Bevor das Feuerwerk anfing, hatte er noch etwas zu erledigen, ungestört.

Seine Frau hatte recht. Bisher war der Abend nach Plan verlaufen. Aber der Abschluss, das Wichtigste, fehlte noch. Nervös schaute er auf seine Armbanduhr, eine Rolex, die ihm Elena zum Geburtstag geschenkt hatte – natürlich von seinem Geld. Er hätte diese Frau nicht heiraten sollen, sie war dumm und langweilig. Immerhin war er so geistesgegenwärtig gewesen, einen Ehevertrag zu machen, so würde er sie wenigstens ohne große Verluste loswerden.

Er schüttelte den Kopf, jetzt galt es erst einmal andere Probleme zu lösen. Ein erneuter Blick auf die Uhr. In fünfundzwanzig Minuten würde das Feuerwerk beginnen …

*

Es wurde gerade dunkel, als Uwe hinter der Messe ankam. Das Gelände war wirklich ideal. Er stoppte hinten auf der Wendeplatte und schnappte sich den Katzenkorb. Lautstarkes Miauen, Fauchen und Zappeln war die Folge. Er beeilte sich, in den Park zu gelangen. Dort kannte Uwe sich einigermaßen aus, hier hatte er sich bei der Tierversuchsdemo vollends zum Deppen gemacht.

Die Erinnerung an diese demütigende Aktion machte ihn wütend. Er, der diese Weicheier, diese Jutetaschenträger und Vegetarier immer verachtet hatte, fand sich plötzlich auf einer Demo gegen Tierversuche wieder. Und das alles wegen einer Frau, bei der er nicht landen konnte. Plötzlich tauchte dann auch noch der oberste Boss der Pharma-Firma, gegen die sie demonstrierten, auf. Seine Mitdemonstranten machten daraufhin einen auf ›Peace and Love‹, und bei Uwe brannten die Sicherungen durch. Mit einem Ziegelstein ging er auf den Anzugträger los und lieferte sich eine Prügelei mit dessen Bodyguards. Die hielten ihn in Schach, bis die Polizei kam. Das letzte Mal, dass er Alexa gesehen hatte, war, als ihn die Polizei genau hier, wo er sich jetzt befand, in den Streifenwagen beförderte.

Dieser hintere Teil des Parks war mit Büschen und Bäumen bepflanzt und konnte vom Hotel aus nicht eingesehen werden. In diesem schien gerade eine Veranstaltung im Gange zu sein. Wahrscheinlich war Alexa und ihr Gefolge auch in der Nähe. Der Gedanke amüsierte ihn. Er ging mitten durch das Unterholz und gelangte zu der kleinen Lichtung mit der Bank. Darauf deponierte er den Katzenkorb. Das Vieh gab einfach keine Ruhe, deshalb ließ er den Korb verschlossen zurück. Er hatte keine Lust, nachdem er es bis hierher ohne Blessuren geschafft hatte, sich jetzt noch beißen oder zerkratzen zu lassen.

Irgendwann in den nächsten Tagen wird wohl mal jemand vorbeikommen und den Kater sehen, beruhigte er sein Gewissen.

Bei der Vorstellung, dass dieser Jemand den Kater ins Tierheim und damit möglicherweise zu Alexa bringen könnte, musste er grinsen. Bevor er in seinen Wagen stieg, schaute er den Karl-Schurz-Weg entlang, und da hätte er beinah laut losgelacht. Neben dem Hotel stand tatsächlich eine kleine Gruppe Tierschützer mit ein paar Transparenten. Und wenn ihn nicht alles täuschte, war Alexa dabei. Wenn die wüsste, dass ihr armer behinderter Kater sich gerade nur wenige Meter entfernt von ihr befand und sich die Seele aus dem Leib miaute.

Hah, Rache war eben doch süß. Beschwingt fuhr er die Spittastraße entlang. Jetzt würde er feiern gehen. Mit quietschenden Reifen nahm er die Kurve, gab Gas und drehte mit der rechten Hand das Radio lauter. In diesem Moment sah er das Blaulicht …

*

Es war eine laue Sommernacht. Aus den umliegenden Gärten hörte man Gemurmel und vereinzelt Gelächter. Der Duft von Gegrilltem lag in der Luft. Als Hauptkommissar Peter Flott seinen Motorroller vor seinem Reihenendhaus im Karl-Schurz-Weg abstellte, löste sich die kleine Gruppe von Tierschützern, die vor dem Hotel Wache gehalten hatten, gerade auf. Seine Nachbarin, Frau Bilgur, stand dabei und unterhielt sich mit den jungen Leuten. Als sie in dem großen, sportlichen Rollerfahrer ihren Nachbarn erkannte, winkte sie ihm und beendete das Gespräch. Dann kam sie langsam auf ihn zu. Peter betrachtete kurz und etwas wehmütig ein paar graue Haare in seinem Helm, die seit seinem 50. Geburtstag im Februar leider immer häufiger wurden, dann wandte er sich der alten Dame zu.

»Guten Abend, Frau Bilgur«, grüßte er.

»Guten Abend, Herr Flott, ach, das sind so nette junge Menschen. Und so engagiert für den Tierschutz.« Die Nachbarin war eine große Tierliebhaberin, Mitglied im Tierschutzverein und hatte ein Herz für sämtliche Tiere, allen voran für ihre eigenen vier Katzen.

»Heute Abend hatten die von diesem Pharmakonzern mal wieder eine Veranstaltung da drüben«, klärte sie Peter auf. »Als es dunkel geworden ist, haben sie sogar noch ein Feuerwerk abgebrannt. Meine vier Tiger hatten natürlich Stubenarrest.«

Peter schmunzelte, außer der Katze mit dem eigenwilligen Namen Clooney waren die pelzigen Hausgenossen seiner Nachbarin bisher sowieso Hauskatzen. Frau Bilgur hatte die offensichtlich heimatlose und genauso offensichtlich schwangere Clooney vor einiger Zeit bei sich aufgenommen. Nach deren Niederkunft in Frau Bilgurs Kleiderschrank forderte die junge Mutter schnell wieder ihren Freigang ein. Frau Bilgur sorgte als überzeugte Tierschützerin für Kastration und Impfung und schickte sie dann ins Unvermeidliche. Die ›Kleinen‹ aber sollten zunächst im Haus bleiben, kannten sie doch die böse Welt noch nicht. Und so war es geblieben, es hatte sich bis jetzt noch nicht der richtige Moment gefunden. Gismo allerdings, ein besonders vorwitziger Sohn Clooneys, zeigte immer mehr Interesse für die Welt außerhalb seiner bekannten vier Wände und war, sehr zu Frau Bilgurs Kummer, auch schon das ein oder andere Mal entwischt.

Heute Abend aber wohl glücklicherweise nicht. Und so war seine Nachbarin entspannt und zum Plaudern aufgelegt: »Die jungen Leute waren vom Tierheim und haben eine Mahnwache vor dem Hotel gehalten. Ich finde es gut, wenn junge Leute sich für ihre Umwelt interessieren!«

Da musste Peter ihr recht geben.

»Bei der Demo gegen die Tierversuche neulich waren die auch dabei«, erklärte sie weiter. »Schade, dass das so ausgeartet ist, aber schwarze Schafe gibt’s halt leider überall.«

Peter nickte, wer wusste das besser als ein Hauptkommissar der Mordkommission.

»Die Zeitungen haben sehr negativ berichtet und diesen Leiter von dem Konzern in Schutz genommen. Aber ich denke, wo Rauch ist, da ist auch Feuer! Es ist auch so, dass der Staat Tierversuche subventioniert, auch wenn es andere Methoden gäbe, die Medikamente zu testen. Auf so was muss man als mündiger Bürger doch aufmerksam gemacht werden, man will schließlich wissen, was mit unseren Steuergeldern passiert.«

Peter gab ihr abermals recht, und gemeinsam gingen sie zu ihren nebeneinander liegenden Haustüren. Seine Nachbarin setzte ihr Plädoyer gegen die Tierversuche und für die jungen Tierschützer fort.

»Was war das eigentlich für eine Veranstaltung?«, fragte Peter dazwischen, als sie kurz Luft holte.

»Die Einweihung von dem Riesenkasten, den sie uns vor die Tür gesetzt haben«, entrüstete sich Frau Bilgur und deutete auf den Gebäudekomplex, der in einiger Entfernung zu erkennen war. »In der Zeitung stand, dass es ein Hotel für die Angestellten dieser PharmaBel sein soll, also eine Unterkunft für Vertreter oder so was. Na, und wenn Messe ist, ist das auch für die Öffentlichkeit zugelassen.« Sie seufzte. »Das war so ein schönes Freigelände für die Tiere, und jetzt?«

»Wenigstens haben sie den vorderen Teil als Park angelegt und fast so gelassen, wie er war«, versuchte Peter halbherzig, den Pharma-Riesen in Schutz zu nehmen.

Aber das konnte seine Nachbarin nicht recht überzeugen. »Sonst hätten die wahrscheinlich auch keine Genehmigung bekommen hier zu bauen, das waren sicher die Auflagen.«

»Ja, da könnten Sie natürlich recht haben. Aber es hätte wirklich schlimmer kommen können, hier gegenüber mit den Büschen und Bäumen, das ist doch ganz schön geworden.«

»Zum Glück, so kann meine Clooney wenigstens ihren Auslauf genießen.« Frau Bilgur öffnete ihre Tür und – als hätte sie gehört, dass man von ihr redet – spazierte die rundliche Katze heraus. »Na Mäuschen, hast du Hunger?«

»Miau.« Es schien, als habe Clooney auch das verstanden, denn sie drehte sich auf der Pfote um und verschwand im Haus.

»Dann auf zur Fütterung der Raubtiere«, schmunzelte die Nachbarin, und mit einem »Schönen Abend noch« verschwand sie ebenfalls im Inneren ihrer Wohnung.

»Danke, für Sie ebenfalls«, schickte Peter nach, dann betrat er sein eigenes kleines Häuschen.

Es war ein schöner Abend und morgen war Sonntag. Er ging in die Küche und goss sich ein Glas Wein ein. Anschließend setzte er sich auf seine Terrasse und schaute nachdenklich in den Sternenhimmel.

* Hannoversche Allgemeine Zeitung

Kapitel 2

Ruhig bleiben, nur nicht die Nerven verlieren, beschwor sich Socke. Inzwischen war es totenstill um ihn herum. Nicht mal einen Vogel hörte man zwitschern, und nur ab und zu raschelte eine Maus durchs Unterholz. Dann knurrte sein Magen. Aber die kleinen Nager hielten sich wohlwissend fern, und er schaffte es einfach nicht aus dieser blöden Box raus.

So einen schlimmen Abend hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Zunächst hatte Uwe ihn mitsamt der Katzenbox auf einer Bank abgestellt, und der schwarze Kater mit den weißen Pfoten hatte sich die Seele aus dem Leib gemaunzt. Und es dauerte auch gar nicht lange bis er daraufhin Schritte hörte.

»Miaumiau!!!« Ohne, dass jemand sich für deren lautstarken Inhalt interessiert hätte, wurde die Box hochgehoben und im Gebüsch deponiert.

Socke versuchte es noch einige Dezibel lauter. Keine Reaktion, aber die Schritte entfernten sich auch nicht. Wahrscheinlich hatte sich die Person – dem Geruch nach war es ein Mann – auf die Bank gesetzt, von der er Socke gerade unsanft entfernt hatte.

Plötzlich setzte lautes Donnern und Zischen ein. Socke erschrak beinah zu Tode. Mit klopfendem Herzen drängte er sich ganz hinten in die Box. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, kombinierte er, dass das, was er gerade zu hören bekam, ein Feuerwerk sein musste. Zum ersten, und bisher glücklicherweise einzigen Mal hatte er so was im Winter erlebt. Die Menschen nannten es Silvester. Ob Silvester oder sonst was, es war nicht besonders angenehm für einen Kater. Ruhig bleiben, beschwor sich Socke an diesem Abend. Trotz des Lärms hörte er wieder Schritte. Er setzte erneut zu seinem Katzenjammer an: »Miaumiaumiau!!!«

Das Geknalle wurde sogar noch lauter, und jetzt roch es auch noch unangenehm nach Verbranntem. Socke ließ sich nicht beirren und maunzte weiter gegen den Krach an. Als plötzlich jemand die Box, und damit auch ihn, hochhob und hineinschaute, war er so überrumpelt, dass er reflexartig mit der Pfote ausholte und zuschlug. Keine gute Reaktion, wie der Kater feststellen musste. Scheinbar hatte er die Person getroffen, denn der – es war ein Mann, aber nicht der Gleiche wie vorher – fluchte und warf die Box noch tiefer ins Gebüsch. Leider war dieser Plastikkasten so stabil, dass er dadurch weder nennenswert beschädigt wurde, noch sich die vergitterte Klappe öffnete. Die Schritte entfernten sich. Ob der erste Mann noch da war, konnte der Kater in seinem Gefängnis nicht feststellen, er hörte nur Donnern und Zischen. Danach wurden die Geräusche immer weniger und die Nacht immer dunkler.

Morgen … nachher, wenn es hell werden würde, da mussten doch irgendwann Menschen vorbeikommen, und dann würde er ein Katzenkonzert anstimmen, das hatte die Welt noch nicht gehört. Er versuchte, bis dahin etwas zu schlafen.

Ein Rascheln ließ ihn aufhören. Das war keine Maus, das war etwas Größeres. Je näher es kam, desto sicherer wurde er, ein Artgenosse.

»Miaumiaumiau!!!!«

»Ruhe! Mit diesem Krach verscheuchst du ja alle Mäuse, du Blödmann. Häh, was ist denn das?« Ein getigerter Katzenkopf erschien auf der anderen Seite des Gitters. »Was machst du denn da drin?«

Socke schnaufte mühsam beherrscht durch. »Ein Mensch hat mich eingesperrt und hierher gebracht.«

»Und wo ist dein Mensch jetzt?«

»Also, erst mal ist das nicht mein Mensch – und außerdem, woher soll ich das wissen? – Und es interessiert mich auch gar nicht«, setzte Socke trotzig hinzu.

»Der kommt nicht wieder, du bist ausgesetzt worden«, stellte die Grautigerin ungerührt fest.

»Kannst du mich bitte rauslassen? Du musst nur den Hebel auf der Seite runterdrücken, dann geht das Gitter auf.« Zum x-ten Mal versuchte Socke, mit seiner Pfote den begehrten Hebel zu erwischen.

»Vielleicht könntest du dich erst mal wie ein wohlerzogener Kater vorstellen?«

»Ich wusste gar nicht, dass der Katzenknigge solche Situationen überhaupt abhandelt. Genau genommen weiß ich nicht mal, ob es einen Katzenknigge gibt.« Erneutes tiefes Durchschnaufen. »Aber gut, also ich bin Socke, ich komme aus dem Tierheim.«

»Und die haben dich ausgesetzt? Das ist aber komisch.«

»Nee, die haben mich bei einem Menschen untergebracht, weil im Tierheim nicht genug Platz war und ich sowieso schwer vermittelbar bin, weil behindert.«

»Behindert?«

Langsam ging die Fragerei Socke auf die Nerven. »Weißt du nicht, was das ist?«

»Doch schon, aber du siehst so normal aus.«

»Meinst du, Behinderte haben alle zwei Köpfe oder was?«, fauchte der Kater entnervt.

»Ist ja schon gut.« Verlegen machte sich die Grautigerin endlich an dem Hebel zu schaffen. Das Gitter sprang auf und Socke schnellte heraus, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Die Katze maß den schwarzen Kater mit den vier weißen Pfoten und dem weißen Latz. Socke seinerseits musterte die rundliche Tigerin. Die druckste herum, aber schließlich war die sprichwörtliche kätzische Neugier größer.

»Was hast du denn jetzt für eine Behinderung?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

Socke drehte ihr das Hinterteil zu. »Ich bin gelähmt, glücklicherweise erst ab dem Schwanz, die Hinterpfoten funktionieren noch. Aber du brauchst kein Mitleid haben, ich komme gut damit klar – kann springen und klettern wie jede Katze.« Socke erinnerte sich nicht gerne an den Unfall, bei dem er nur knapp mit dem Leben davongekommen war. »Und wer bist du?«, wechselte er deshalb schnell das Thema.

»Ich heiße Clooney, ich wohne hier in der Nähe. Mich haben sie auch ausgesetzt, da war ich tragend, aber ich habe ein super Zuhause gefunden, für mich und meine Kinder. Die Verpflegung ist fantastisch!«, schwärmte die Katze.

»Meinst du, ähm, ich meine könnte ich da vielleicht auch ein bisschen was bekommen?«

Clooney betrachtete den mageren Kater. »Du bist wirklich dürr. Eigentlich teile ich ja nicht so gerne, aber heute kannst du mal mitkommen.«

Socke spitzte erfreut die Ohren.

»Aber dann musst du dir schon ein eigenes Zuhause suchen … ich bin kein Hotel«, setzte die Tigerin streng hinzu.

Socke gab ihr ein spontanes Nasenküsschen.

»Nun, nun«, brummte die rundliche Katze verlegen. »Komm mit, wir werfen meine Menschin aus dem Bett.« Sie drehte sich um und ging auf die Lichtung zu.

Socke folgte ihr, doch plötzlich prallte er auf ihr Hinterteil.

»Großer Mäuseköttel, was ist denn das?« Langsam bewegte Clooney sich auf die Bank zu. Socke trat neben sie.

»Na, der braucht jedenfalls nichts mehr zu fressen.« Sie sprang neben den Mann, der leblos vornübergesackt auf der Bank saß. »Tot, mausetot«, stellte sie fest.

Socke näherte sich ebenfalls der Leiche. »Also der ist keines natürlichen Todes gestorben. Der riecht so angekokelt. Und den kenn ich, also ich meine, ich habe ihn heute schon mal gerochen. Da lebte er aber noch. Er hat meine Box ins Gebüsch befördert.«

Clooney war inzwischen hinter die Bank gesprungen. »Kein Wunder, dass der so komisch riecht, schau doch mal.«

Auf dem oberen Teil seines Rückens hatte der Mann ein rundes Loch, dessen Rand verbrannt war.

»Erschossen«, konstatierte Socke.

Clooney schüttelte angewidert ihre rechte Vorderpfote. »Was machen wir jetzt, den können wir doch nicht liegen lassen?«

»Hast du ’ne bessere Idee?« Socke inspizierte die Umgebung der Leiche. Neben dem Mann auf der Bank lag ein Handy, von einer Waffe keine Spur, das hätte er gerochen.

»Wir müssten einen Menschen darauf aufmerksam machen.« Die Grautigerin schien angestrengt nachzudenken.

»Du kennst die Leute hier besser als ich. Wenn wir keinen hierher kriegen können, müssen wir halt warten, bis sie ihn von selbst finden.«

»Mir fällt aber was ein, vielleicht klappt das.« Clooney war plötzlich ganz aufgeregt. »Ich könnte meinen Sohn Gismo hierher schicken. Der darf eigentlich nicht raus, und wenn er entwischt und unsere Menschin sieht ihn, läuft sie ihm immer hinterher. Vielleicht kann er sie so hierher locken.«

Socke hatte seine Untersuchung inzwischen ohne weitere Entdeckungen abgeschlossen. »Einen Versuch wäre es wert.«

*

Sie erwachte schweißgebadet. ER war tot. Der Mann, der seit Monaten ihre Gedanken beherrschte, war heute Nacht gestorben. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. ER hatte seine gerechte Strafe erhalten. Mühsam stand sie auf, ging ins Badezimmer, schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

»ER ist tot!«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, aber das erwartete Glücksgefühl stellte sich nicht ein.

Sie ging in ihr Wohn- und Schlafzimmer, stellte den PC an und rief seine Facebook-Seite auf. Lachend sah ER ihr entgegen. Nein, ER lebte – hier stand nichts davon, dass ER tot war. Sie hatte nur geträumt. Heute Abend würde er seine Geliebte vom Flughafen abholen, das wusste sie aus seinem Kalender. Sie würde dabei sein.

*

Ein Sonntagmorgen wie aus dem Bilderbuch. Und sein erster freier Tag seit Langem. Hauptkommissar Peter Flott schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, nahm die Zeitung vom Sonnabend und machte es sich auf der Terrasse gemütlich. Bis gestern war er noch mit der Fertigstellung seines Berichts über einen Eifersuchtsmord am Steintor beschäftigt gewesen. Aber jetzt waren alle Beweise zusammengetragen und konnten am Montag dem Staatsanwalt vorgelegt werden. Für ihn und seine Kollegen war vorerst nichts mehr zu tun. Vielleicht würde einer von ihnen noch beim Prozess als Zeuge auftreten müssen, aber bis dahin war es noch eine Weile. Der heutige Sonntag war also frei.

Natürlich hatte er Bereitschaft. Als Leiter der Mordkommission war er quasi immer im Dienst. Eine Tatsache, die ihn schließlich seine Ehe gekostet hatte. Vor einem Jahr war er geschieden worden und lebte seither in dem kleinen Häuschen in Mittelfeld, direkt an der Messe. Inzwischen war er darüber sehr froh. Die dauernden Vorwürfe seiner Frau, seine Arbeit sei ihm wichtiger als sie, hatten ihn zermürbt. Eigentlich hatte sie gewusst, worauf sie sich einließ, als sie ihn vor gut 18 Jahren heiratete, denn ihr Vater war bis zu seiner Pensionierung ebenfalls Hauptkommissar bei der Mordkommission gewesen. Dadurch hatten sie sich ja erst kennengelernt. Damals war seiner Frau ihre Arbeit bei einer Werbeagentur genauso wichtig gewesen wie ihm seine bei der Polizei. Genau aus diesem Grund klappte es am Anfang auch so gut. Als dann die Aufträge in der Werbebranche weniger wurden und seine Frau plötzlich doch einen Kinderwunsch verspürte, war es zu spät. Zu spät für ein Kind und erst recht zu spät für ihre Ehe. Zu diesem Zeitpunkt hatte Peter gerade seine Beförderung zum Hauptkommissar erhalten und verbrachte seine Abende lieber im Büro als mit endlosen Diskussionen über verpasste Chancen. Die Eröffnung seiner Frau, sie wolle ihn verlassen, nahm er dann eher mit Erleichterung zur Kenntnis. Die Scheidung war problemlos über die Bühne gegangen. Seine Ex tröstete sich inzwischen mit einem hannoverschen Geschäftsmann, der besaß ein gutgehendes Schmuckgeschäft, hatte drei Angestellte und viel Zeit. Peter war nach wie vor Single, mangels Gelegenheit. Aber das Alleinsein hatte auch sein Gutes, so konnte er nach eigenem Gutdünken über seinen freien Sonntag verfügen. Wahrscheinlich würde er gleich mal eine kleine Tour mit dem Motorrad machen und später noch bei seinem Kumpel Tom vorbeischauen. Tom hatte sein Hobby zum Beruf gemacht und besaß eine kleine Autowerkstatt, die auf Oldtimer spezialisiert war. Dort hielt sich sein Kumpel auch sonntags gerne auf und schraubte an seinem eigenen, nicht unbeträchtlichen antiken Fuhrpark. Seit seiner Scheidung half Peter bei Tom mit, sofern es seine knapp bemessene Freizeit zuließ, und träumte davon, einmal seinen eigenen Oldie zu restaurieren.

Es klingelte. Mit der inzwischen leeren Kaffeetasse stand er auf und öffnete die Tür.

»Herr Flott, ach es ist furchtbar!« Eine völlig aufgelöste Frau Bilgur stand ihm gegenüber.

»Ja, was ist denn passiert, Sie sind ja ganz aufgeregt, kommen Sie doch erst mal rein«, versuchte Peter sie zu beruhigen.

»Nein«, sie schrie es fast, »Sie müssen mitkommen, Gismo hat … ach es ist furchtbar!«

»Ist Ihrem Kater etwas passiert, soll ich ihn zum Tierarzt bringen?«