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#speakup Dies ist die Geschichte eines Mädchens, dem die Stimme geraubt wurde und das sich selbst eine neue schrieb. ›Schrei!‹ ist Andersons Autobiografie in Versform, in der sie fortführt, was sie in ihrem Debüt ›Sprich‹ weltweit erfolgreich begonnen hatte: die schonungslos offene Auseinandersetzung mit Missbrauch in einer Gesellschaft, die im Umgang damit noch ganz am Anfang steht. Und deshalb umso dringender von Werken wie diesem lernen, verstehen und handeln muss.
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Seitenzahl: 162
»Sie ist ausgerastet, hieß es,
konnte es eben nicht mehr verkraften,
hatte ihre Sollbruchstelle erreicht.
Wir sollten unseren Mädchen beibringen,
dass es vollkommen okay ist
auszurasten,
auf alle Fälle besser,
als von anderen
kaputt gemacht zu werden.«
Diese beeindruckende Autobiografie in Versform ist gleichermaßen eine Anklage an die Wegschaugesellschaft und ein Liebesbrief an alle, die in Zeiten von #MeToo und #TimesUp das Schweigen brechen.
Für die Überlebenden
Den Mut zu finden, fünfundzwanzig Jahre nachdem ich vergewaltigt worden war, meine Stimme zu erheben, Sprich zu schreiben und Gespräche mit unzähligen Überlebenden von sexueller Gewalt zu führen, hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.
Dieses Buch erzählt nun, was davor und danach geschehen ist. Seine Seiten sind randvoll mit all dem, was mich bisher geprägt hat: Widrigkeiten, glückliche Zufälle, Verwandtschaftsbeziehungen, Sturmwogen, Sonnenaufgänge, Katastrophen, Stempel in meinem Pass, Verbrecher, Cafeterien, Albträume, Hoffnungen, meine Leser*innen, böse Omen und weitergeflüsterte Wahrheiten.
Auch mein Vater schrieb Gedichte. Seine Grundregel, die er mir mit auf den Weg gegeben hat, lautete: Sei nachsichtig mit den Lebenden, die Toten aber besitzen ihre eigene Wahrheit; sie sind ohne Furcht. In seinem Sinne habe ich – so aufrichtig, wie ich konnte – aufgeschrieben, was meine Eltern in ihrem Leben durchzumachen hatten und wie sich ihre äußeren und inneren Kämpfe auf mich ausgewirkt haben. Es finden sich in dem Buch auch Gedichte, die nicht von mir oder meiner Familie handeln, sondern von anderen Menschen, die mir ihre Geschichten anvertraut haben. Um sie als Überlebende zu schützen und ihre Anonymität zu wahren, habe ich Details verändert.
Dies ist die Geschichte eines Mädchens, das seine Stimme verloren und sich eine neue erschrieben hat.
Dieses Buch
duftet so wie ich,
Rauch vom Lagerfeuer,
Salz,
Erdbeeren und Honig,
Sonnencreme, Büchereien,
Wünsche, Misserfolge und Schweiß,
grüne Nächte in den Bergen,
kalte Sonnenaufgänge am Meer.
Dieses Buch
riecht
nach meiner Angst,
nach den schwarzen, jaulenden Hunden der Depression
und der alten Scham, die mir
im Nacken sitzt, ihre Klauen
tief eingegraben.
Dieses Buch
ist der Morast von gestern,
verkrustet auf dem Dance Floor,
die Schrittmuster
behutsam ausgebreitet
für eure Spurensuche
danach, wie es sich tief drinnen
bei mir
wohl so anfühlt.
Als er achtzehn war, musste mein Vater mit ansehen,
wie der Kopf seines Freundes in zwei Hälften
zerteilt wurde, knapp über den Augenbrauen, durch
eine explodierende Trommelbremse. Sein
Freund erzählte da gerade einen Witz.
Mein Vater reparierte Jagdflieger, P-51 Mustangs,
auf einem Stützpunkt in England, wollte ein Gewehr
in die Hand bekommen, keinen Schraubenschlüssel,
zimmerte in seinem Kopf eine feste Truhe für alles,
was mit der Armee zu tun hatte, und verstaute das Bild
vom letzten Atemzug seines Freundes ganz unten.
Dann schickten sie ihn nach Dachau.
Nicht nur ihn, seine ganze Einheit,
und nicht nur nach Dachau, sondern in alle
Konzentrationslager,
weil der Krieg zu Ende war.
Aber das war er nicht wirklich.
Daddy redete mit mir vierzig Jahre lang nicht
darüber, was er in Dachau gesehen, gehört, gerochen hatte,
und darüber, was es mit ihm machte.
Ein Jahr des Schweigens für jeden Tag der Sintflut,
ein Jahr des Schweigens für jeden Tag zwischen
Aschermittwoch und Ostern.
Die Luft in Dachau war durchwölkt von der Asche
unzähliger Körper, als er sie einatmete, infizierte
die Agonie der Sterbenden meinen Vater
und alle seine Freunde. Sie versuchten den Leidenden
zu helfen, befolgten Befehle, ließen ihrer Wut
auf unerlaubte Weise freien Lauf, während die Offiziere
sich abwandten. Mein Vater füllte die Truhe
in seinem Kopf mit marschierenden Leichnamen,
die ihm jede Nacht
für den Rest seines Lebens
ihre Lieder vorsangen.
Eines Tages beobachtete Daddy eine Schwangere,
die in Dachau die Straße in der Nähe der Lagertore
entlangtrottete. Er passte seine Schritte den ihren an,
blieb stehen, als sie im Straßengraben niederkam
und ein Kind zur Welt brachte.
Mein Vater, selbst noch ein Kind, an Tod und Zerstörung gewöhnt,
halb verrückt von der Gewalt, die er gesehen hatte,
darauf gedrillt, zu töten, zu schlachten, zu verstümmeln,
sah dabei zu, wie dieses Baby zwischen den blutverschmierten
Schenkeln seiner Mutter in die Welt hineinschlüpfte,
und wurde dadurch gerade so weit geheilt,
dass ihm die Tränen kamen.
Er wickelte das Neugeborene in die Schürze seiner Mutter
und half den beiden zum Rotkreuzzelt,
das für die Überlebenden errichtet worden war.
Veteran des D-Day, vertraut mit Depression,
Krieg gegen Deutschland und Gräueltaten,
ein hübscher Junge, der ein groß gewachsenes Mädchen
heiratete, das aussah wie Katharine Hepburn,
zwei Jugendliche in einer Stadt weit weg von zu Hause,
zwei Schiffe, die ohne Anker auf hoher See trieben.
Mom erzählte mir die Geschichte, als ich in der
Highschool war, an einem Abend, an dem
Daddys Trinkerei unsere Familie
auf eine sehr harte Probe stellte.
»Er musste mich damals ohrfeigen«, sagte sie.
»Es war lang vor deiner Geburt.«
Das Bild meines Vaters, wie er meine Mutter
schlug, formte und verformte sich vor mir,
wie sonntägliche Sonnenstrahlen, die durch die bunten
Kirchenfenster hereinscheinen, die Wahrheit zerschneiden
und auf dem Boden neu zusammensetzen.
Sie lebten damals in Boston,
Daddy studierte, um Prediger zu werden,
Mom übte sich darin, seine Frau zu sein.
»Er musste mich damals ohrfeigen«, wiederholte sie,
»weil ich nicht zu schreien aufhören wollte.«
Ein Aufschrei der Verzweiflung
aus zahllosen Gründen.
Wie Brotkrumen, fallen gelassen,
um mir den Weg zu weisen,
so erzählte sie mir stockend
die ganze Geschichte.
Nach dem Nervenzusammenbruch, dem Ausraster
blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit dem Zug
nach Hause zu fahren, um ihr Gesicht
wiederzuherstellen, zurück in die Berge, zu den Eltern,
in eine schnatternde Kleinstadt voller Bosheit.
Ihr pochten die zerschlagenen Zähne
schmerzhaft im blutigen Zahnfleisch,
ihr Mann war von Grauen gepackt, dass er
seiner Liebsten den Krieg erklärt hatte,
er drehte den Kopf zum Gang,
überlegte zu fliehen.
Moms Rücken krümmte sich
vom Gewicht ihres Herzens.
Sie starrte auf den finstern
Wald hinter der Scheibe.
»Ich wollte nicht aufhören zu schreien«,
sagte sie. »Er konnte nicht anders.«
Für Nachbarn und Freunde hatten sie die Lüge parat,
dass sie die Treppe heruntergefallen sei,
wie ungeschickt und dabei so viele Zähne ausgeschlagen,
armes Ding, solche schlimmen Sachen
passieren eben in großen Städten.
In Wahrheit hatte die krampfhafte Anstrengung,
die Gespenster in seinem Kopf niederzukämpfen,
meinen Vater in dieser Nacht
total ausrasten lassen
und bei ihrem Streit
hat er meine Mutter nicht bloß geohrfeigt.
Er hat sie geschlagen.
Aber dass er sie geschlagen hatte, passte nicht
in die frommen Märchen,
die sie sich gern erzählte,
deshalb verzuckerte sie die bittere Pille,
damit sie leichter zu schlucken war.
Der Zahnarzt der Stadt, ein Freund der Familie,
nahm kein Geld für die Behandlung,
entschuldigte sich sanft bei jedem Zahn.
Sie lebten den ganzen Sommer bei ihren Eltern,
während ihr Mund heilte,
warteten auf die falschen Zähne, schlichen
auf Zehenspitzen umeinander herum,
aber berührten sich nicht.
Nachdem die Fäden gezogen waren,
nachdem sie gelernt hatte, aus Zahnpulver
und Wasser eine Paste herzustellen,
die ihren Mund verklebte,
nach fünf Fehlgeburten,
fünf ungeborenen Söhnen,
versuchten meine Eltern es noch einmal
und zeugten mich.
Er hat sie nie wieder geschlagen,
aber sie lebte stets in der Angst,
dass er es wieder tun könnte,
was auch der Grund war
für das Schweigen, das sie
sich angewöhnt hatte.
Vor allen Damen der Kirchengemeinde,
die in unserer Küche
bei Kaffee und Doughnuts versammelt waren,
hab ich laut scheiße gesagt.
Als Dreijährige, kartoffelförmig,
stämmige Beinchen, wie ein Papagei
alles nachplappernd.
Ich war hingefallen, hatte mir das Knie
aufgeschlagen und dann kam aus
meinem Mund das Wort scheiße,
bei meiner Mutter gehört,
die zu einem strengen, steifen Leben
als Pfarrersfrau verurteilt war,
in dem sie nicht scheiße sagen durfte,
auch wenn ihr oft danach war.
Aber allein
mit mir
durfte sie und machte
es auch häufig.
Damals in der Küche,
als die Damen der Kirchengemeinde
die handgenähten Vorhänge meiner Mutter
beäugten, daran Maß nahmen für das Urteil
über ihre Befähigung zur Pfarrersfrau,
sprach ich als Kleinkind dieses unflätige Wort aus
und wurde sofort gepackt.
Kindern ein Stück Seife in den Mund zu stecken,
um damit die schmutzigen Wörter aus den Köpfen
zu schrubben, war damals gängige Praxis,
von den Damen der Kirchengemeinde bestens
erprobt, die Gewalt des Schweigens,
von Generation zu Generation
brutal weitergereicht.
Rillen im Elfenbein, tief eingeritzt
von meinen Milchzähnen,
Mommys fest zupackende Hände,
die mich gegen die Küchenspüle pressen.
Meine Schluchzer wurden von Seifenschaum
erstickt, hörbar erst, nachdem die Blasen zerplatzt
waren, als ich in mein Zimmer eingesperrt war,
während die Damen der Kirchengemeinde und meine
Mutter von Bitterkeit nippten und unter sich
die Brotkrumen teilten.
Damals lernte ich, dass Worte
eine große Macht haben,
so groß, dass manche von ihnen nie
ausgesprochen werden dürfen,
und mit der Zunge wurde ich
zugleich der Wahrheit beraubt.
Als ich vier war, nahm mich meine Mutter
zu einem Teich mit, damit ich Schwimmen lernte.
Dort gab es so etwas wie einen Strand,
übersät mit Tannennadeln und Müttern,
die auf Handtüchern saßen und Zigaretten rauchten,
sie hatten Pullis und warme Socken an:
Sommer im kalten Norden.
Mom zog mir mein Sweatshirt aus und scheuchte mich
zu den anderen Kindern, die sich am Ufer drängten.
Die Herrin des Sees, unsere Schwimmlehrerin,
eine Riesin mit einer mit Plastikblumen geschmückten
Gummibadekappe, begann mit dem Unterricht.
Alle auf dem Bauch, Gesicht zum Strand, Hände im
Schlamm, Beine im Wasser. Meine Füße strampelten
gehorsam, Wassertreten machte mir nichts aus, so lange
ich mich am Ufer festhalten konnte. Aber dann winkte
die Lehrerin uns ins tiefe Wasser, Kind für Kind.
Ich weigerte mich, obwohl mich alle anstarrten, und
schließlich packte die Lehrerin mich unter den Armen
und zog mich hinein.
Trau niemals jemandem mit Plastikblumen auf dem Kopf.
Ich brüllte so laut, dass die Lehrerin sich fragend
an meine Mutter wandte, während die anderen
Mütter gluckten und zischelten.
Mein Sieg
bestand darin, dass ich an die seichteste Stelle
des Teichs verbannt wurde,
wo ich mich mit beiden Händen
fest auf der Erde
durchs Wasser voranhangelte.
Ab und zu reckte ich einen Arm in die Luft,
als würde ich schwimmen,
eine störrische Kaulquappe,
die den Untiefen nicht traut.
In der ersten Klasse haben meine Eltern mich
als Landmaus in die Stadt verpflanzt,
zitternde Tasthaare, die Augen weit geöffnet.
Zwei Tage später setzte Mom meine Schwester
in den Kinderwagen und wir spazierten
zu dritt durch einen Sprühregen aus goldenen
und rubinroten Blättern erst einen Hügel hinauf,
dann einen anderen hinunter
zu meiner neuen Schule aus Backstein.
Nach der Anmeldung im Sekretariat drückte mir Mom
meine Lunchbox in die Hand und winkte
kurz zum Abschied.
Ich saß in der letzten Reihe, spielte in der Pause
mit ein paar Mädchen Himmel-und-Hölle und rannte,
als die Schulglocke nach der letzten Stunde klingelte,
die Hände jubelnd hochgereckt, hinter allen anderen her
zum Tor hinaus, wo ich an unserem weiß behandschuhten
Verkehrsengel vorbei in die falsche Richtung ging.
Ich blieb stehen.
Ging zurück zur Kreuzung, drehte mich um
neunzig Grad, marschierte den Hügel hoch,
was sich erst besser anfühlte,
so lange, bis es sich nicht mehr richtig anfühlte,
weil die Häuser nicht mehr zu unserer Familie passten.
Ich blieb stehen.
Ging zurück zur Kreuzung, bog dann in die dritte
Straße ein, das dritte Mal der falsche Weg.
Ich blieb stehen.
Ging zurück zur Kreuzung, bog in
die vierte Radspeiche möglicher
Heimwege ein, wieder falsch.
Ich war das letzte Kind weit und breit,
Landmaus, fünf Jahre alt,
kreiselte in der Mitte meines Kompasses,
bei dem ich nicht mehr wusste, wo Norden war.
Ein weißer Handschuh winkte, der Engel war eine Frau.
Sie kauerte sich vor mich hin, die Flügel fein säuberlich
hinter dem Rücken gefaltet, ihre Engelsaugen hatten
alles gesehen, sie wischte mir die Tränen ab
und nahm mich bei der Hand
und führte mich
den Hügel mit den goldenen und rubinroten Blättern
ein weiteres Mal hinauf, weiter als ich mich
auf meinen winzigen Landmauspfoten getraut hätte,
so lange, bis wir oben angekommen waren,
dann auf der anderen Seite wieder hinunter,
ich trippelte neben ihr her, die Häuser
veränderten sich und ganz unten am Fuß
des Hügels stand unser neues Zuhause,
wo meine Mutter vor der Tür auf mich wartete.
Mr Irving wusch, legte und toupierte das Haar
meiner Mutter, stellte sie den anderen Damen vor,
dauergewellt, parfümiert, über ihre Ehemänner
herziehend beim Friseur, ihrem Beichtvater,
der über alle privaten Details Bescheid wusste.
Meiner Mutter empfahl er, sie solle mich doch zum
Schwimmen schicken, die anderen Kinder seien da auch,
und danach wäre ich so müde, dass ich abends gleich
einschlafen und ihr nicht auf dem Kopf rumtanzen würde.
Ich musste erst noch lernen, in Wasser, das tiefer als
fünfzehn Zentimeter war, zu schwimmen. Aber danach
vertauschte ich unseren schlammigen Teich gegen
auszementierte Becken in Schulen und Parks überall,
in der Stadt,
trainierte in der Schwimmmannschaft kaulquappiges
Rückenschwimmen, Schmetterling und Kraulen,
bis mein Körper kräftig, schlank und geschmeidig war,
ein glänzender Wasserpfeil
mit einem schiefzahnigen Lächeln.
Gewinnen war mir nicht wirklich wichtig,
aber auf keinen Fall wollte ich Letzte sein,
besonders wohl fühlte ich mich auf Bahn 7,
lange, langsame Meilen,
Schwimmzug für Schwimmzug,
unterbrochen von Rollwenden.
Wumm!
Unter Wasser war ich
als Meerjungfrau in meinem Element.
Ich spürte, wie mir Kiemen wuchsen,
brauchte für meinen Atem keine Luft mehr.
Schwimmbad
Unterwasserwelt
Ein Schwarm glitschiger Jungs,
elf, zwölf Jahre alt,
mit haifischzahnigen Fingern
und Zahnlückengrinsen,
schießt auf
die nichts ahnenden Mädchen zu,
acht, neun Jahre alt,
ins Wasser gestoßen,
wie ein Eimer voller Köder
über Bord gekippt wird.
Die Jungs umkreisen sie, schnappen
gierig zu, grapschen zwischen die Beine,
kneifen in die Brüste, spucken sie an
füllen das aufgewühlte Wasser
mit Gier, Hass und Zerstörung.
Danach halten sich die Mädchen
lieber im seichten Wasser auf,
nach dieser Feuertaufe
als Köder,
der ersten schmerzhaften Lektion,
dass die Retter am Beckenrand
immer in die andere Richtung
schauen.
Lesen habe ich gehasst. Wie habe ich die Ameisen
verabscheut, die über die Buchseiten krabbelten.
Ich verlor die Lust an der Schule, kämpfte,
auf ein Puzzle reduziert, bei dem Stücke fehlten.
Einmal gebrandmarkt, verblasst das
Gefühl der Blödigkeit nie,
egal wie viele Medaillen du gewinnst.
Wir sind dann mit dem Bus in die Stadt gefahren,
ich und Leslie, die Musik studierte und bei uns
unterm Dach wohnte,
meine Mary Poppins aus New Jersey,
wir sind mit dem Bus in die Stadt gefahren,
die Münzen waren heiß von meiner Hand,
pling pling
in das Kästchen neben dem Fahrer,
die ganze Strecke
bis zu unserer Carnegie-Bücherei,
von einem Einwanderer
vor vielen Jahren erbaut,
damit alle Bücher lesen konnten,
frei und ungehindert von politischen Systemen,
die sie in Unwissenheit halten
und für immer ans Rad ketten wollten.
Leslie versprach mir, dass sie mir die Bücher
vorlesen würde, deshalb brauchte ich keine Angst
vor Fehlern zu haben, und ich schrieb in großen
Buchstaben meinen Namen und bekam meinen ersten
Ausweis, eine Ausleihkarte mit meinem Namen.
Als ich die Bibliothekarin fragte:
»Kann ich alle diese Bücher ausleihen?«,
antwortete sie ernst:
»Natürlich, mein Liebes, nur
nicht alle gleichzeitig.«
Und so kam es dank Leslie und einer Engelschar,
verkleidet als Lehrerinnen und Bibliothekarinnen,
die mich jahrelang mit ihrer nimmermüden
Liebe und stundenlangem Lesenüben unterstützten,
dass die Ameisen geradeaus marschierten,
Wörter formten, Sätze bildeten, Welten erbauten
für das Mädchen, das endlich lesen konnte.
Ich hatte das Sesam-öffne-dich
für die Schatztruhe gefunden
und gab den Schlüssel nicht mehr her.
für meine Lieblingslehrerin Mrs Sheedy-Shea
Sie lehrte Haiku.
Suche nach Worten für das,
was ungesagt ist.
Indoktriniert durch Zeitschriftencover
mit dürren Angehörigen der weißen Oberschicht
wie den Kennedys
(nur Landeier aßen zu viel),
erwiesen sich
meine emporstrebenden Eltern
als ganz auf der Höhe der Zeit und erstickten
meinen Hunger,
indem sie mich in die Hüften kniffen
und nach dem Fett unter meinem Kinn grapschten,
als ich acht, zehn,
vierzehn, fünfundzwanzig
hungrige Jahre alt war,
da grapschten und kniffen sie mich
und nannten mich dabei Miss Piggy,
mit einer Stimme, die als liebevoll
verkaufen wollte, was kränkend und
beleidigend war.
Andere, sagten sie zu mir,
würden mich später hänseln,
weil ich so dick und fett sei,
besser, ich würde mich
gleich daran gewöhnen.
Als wir Mädchen waren, ritten wir auf
als Fahrräder verkleideten Pferden
und jeder, der Augen im Kopf hatte,
konnte sehen, dass wir uns an sie schmiegten,
ihre Mähnen bürsteten und mit ihnen
über die Prärie galoppierten. Wir mussten
dafür die Dorset Avenue nicht verlassen.
Ja, unsere Räder waren in Wirklichkeit
Pferde und wir waren Mädchen voller Magie
und atmeten die Weite inmitten einer Welt
langweiliger Fußgängerzonen.
Nach einem harten Ritt durch die Prärie,
führten wir unsere Pferde noch eine Weile am Zügel
durch die Straßen, fütterten sie mit Zuckerstückchen,
pumpten ihnen die Reifen auf, bogen die Spielkarten
in den Speichen gerade, die mit rattata-rattata-rattata-tat
unser Kommen ankündigten.
Immer hatten wir aufgeschürfte Knie, mit Schorf bedeckt,
vom Sturz auf dem buckeligen Gehsteig, der sich
durch den starken Frost bei uns im Winter gehoben hatte
und nur noch durch die Wurzeln längst
abgestorbener Bäume zusammengehalten wurde,
dennoch wurde nichts repariert,
wie um die Kinder zu lehren,
auf ihre Schritte zu achten.
Mein Springseil benutzte ich als Zügel für mein Pferd,
als Lasso für ausgebrochene Kälber
und als wirbelnden Derwisch für unsere Mädchenspiele,
in den Himmel hoch gesprungen, die Erde berührt,
in schnellem Rhythmus und dazu unsere Reime
gesungen. Oft verhedderten wir uns und strauchelten,
schlugen uns unsere halb verheilten Knie auf,
leckten uns die blutenden Wunden
und begannen wieder von vorn.
Mein Fahrrad hatte hinten einen Gepäckträger,
mehr zur Zierde vermutlich, aber aus Metall.
Eines Tages ließ ich die kleine Schwester
eines Mädchens aus der Nachbarschaft
hinter mir auf meinem Pferd mitreiten,
ihre Schnürsenkel verhedderten sich
in den Speichen, ihr Fuß verdrehte sich
grauenhaft, war gebrochen.
Die Schreie der kleinen Schwester drangen
bis zu mir in den Wäscheschrank, wo ich mich
stundenlang versteckte, schluchzend und
von Entsetzen gepackt, weil ich daran schuld war,
nein, war ich nicht, doch,
ich war schuld daran, ich ganz allein,
monatelang musste sie
einen schweren Gips tragen.
Das Pferdchenspiel war danach für mich beendet.
Scham steckt dir widerspenstig
wie Erbrochenes in den Haaren,
bleibt kleben, egal wie oft du sie wäschst.
Manchmal musst du dich am Schädel
kahl scheren
und neu anfangen
wie ein frisch geschlüpftes Küken,
den schwachen Fäulnisgeruch
kaputter Magie
in verstreuten Eierschalenscherben
hinter dir lassend.
Nach Wilbur und Charlotte,
aber vor Betty und ihre Schwestern
klaute meine Schwester
den Schlüssel zu meinem
grün eingebundenen
Tagebuch.
Sie hat es gelesen
und mich mit ihrem Wissen
erpresst.
Wir teilten uns ein Zimmer, das
durch einen Streifen Klebeband
auf dem Boden und im Kleiderschrank
in zwei Hälften zertrennt war,
die rote Linie
durfte nicht überschritten werden.
Irgendwelche Verbrechen oder schweren
Verstöße hatte ich nicht begangen, ich war
erst in der fünften Klasse, doch sie verpetzte
mich, dass ich in Mathe gespickt hätte und
vorhabe, es wieder zu tun.
Aber das habe ich ihr heimgezahlt,
indem ich ihr im Dunkeln,
vor dem Einschlafen,
Gruselgeschichten erzählte.
Ich sei nämlich in Wirklichkeit ein Vampir,
wie die Muttermale an meinem Hals bewiesen,
und manchmal würde ich mich auch
in einen Werwolf verwandeln.
Im Mondschein schmiedete ich so meine
Geschichten, bis sie laut nach Mom rief,
von der ich dann angebrüllt wurde,
ich solle meiner Schwester keine solche
Angst einjagen. Für die nächsten Tage
bekam ich Hausarrest, deshalb machte ich
es nie wieder, aber ich drohte damit,
sobald meine Schwester die rote Linie
verletzte.
Eigentlich schulde ich ihr
noch etwas, meiner Schwester,
dafür, dass sie mir den Schlüssel
zu meinem Tagebuch geklaut
und meine Geheimnisse