Schreiben ist Gold - Hanna Buiting - E-Book

Schreiben ist Gold E-Book

Hanna Buiting

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Beschreibung

Im Schreiben steckt eine besondere Kraft: Wer schreibt, schafft Klarheit und Ordnung, entdeckt neue Perspektiven und kann sogar Antworten auf die großen Sinnfragen des Lebens finden. Wie sie beim Schreiben ihren Ängsten und Zweifeln, aber auch ihrer Freude Ausdruck verleiht, sich mit anderen Schreibenden verbindet und zwischen den Zeilen immer wieder ihre eigene Spiritualität aufspürt, beschreibt die junge Schriftstellerin Hanna Buiting in diesem Buch. Keine Patentrezepte, Anleitungen und Gebrauchsanweisungen, sondern viel mehr: eine poetische Inspiration dazu, voller Neugier schreibend die Welt und sich selbst zu entdecken.

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Hanna Buiting

Schreiben ist Gold

Eine Einladung zu Kreativität und Achtsamkeit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Sabine Hanel, Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: Milatoo/GettyImages

Illustrationen im Innenteil: Feder: Inspiretta/GettyImages

Illustration vor Danksagung: Kate Macate/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-39284-9

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82778-5

Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an das Schreiben.

Und an alle, die mir ihre Worte leihen.

Die Geschichten teilen. Und Leben.

Ihr seid mir ein Segen.

Inhalt

Am Anfang

Liebe Fragen!

Die Fragen leben

Liebe Freiheit!

Das Leben beim Wort nehmen

Liebes Leben!

Nach dem goldenen Kern suchen

Liebe Erinnerung!

Der eigenen Geschichte Wert geben

Liebes Gegenüber!

G*tt entdecken

Am Ende

Meine Inspirationsquellen

Danksagungen Denn zusammen schreibt man weniger allein

Über die Autorin

»Und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.«

Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter

Am Anfang

Ich bin da. Und bin es doch auch nicht. Meine kleine Hand eilt über das Papier. Sie schreibt auf, was mir mein Kopf diktiert. In diesem Moment, in dem ich acht Jahre alt bin. »Geh einfach raus, wenn du fertig bist, Hanna, ja?«, sagt meine Lehrerin und zieht die Tür zum Klassenzimmer hinter sich zu. Nachdem es schon zur Pause geklingelt hat, darf ich ausnahmsweise noch hier bleiben und meine Geschichte zu Ende schreiben. Den letzten Punkt setze ich, als die anderen Kinder schon wieder reinkommen. Ich habe mein Zeitgefühl verloren. War da. Und war es doch nicht. Dafür habe ich Worte gefunden. Oder fanden sie mich?

***

Seit ich schreiben kann, habe ich geschrieben. Aber nicht immer war dieses Schreiben gleich. Je älter ich wurde, desto mehr veränderte es sich. Aus einem unbeschwerten Geschichtenerzählen wurde immer öfter ein kontrollierter Prozess. Ich schrieb oft, weil ich es musste. Klausuren, Aufsätze, Hausarbeiten. Und schließlich kontrollierte ich auch mich selbst dabei immer mehr: Ist das gut genug? Bin ich es?

Bis ich einmal gar nicht mehr schreiben konnte.

Weil da eine große Leere war. Eine Lücke. Eine Krise. Ein Gefühl von Verlorensein. In der Welt und in mir selbst. Ich war erschöpft. Kraftlos. Sehr müde. Hatte große Angst. Wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Wie ich weitergehen sollte. Und wohin. Ich brauchte etwas, an dem ich mich festmachen konnte, was Bestand hatte, auch wenn ich meinen festen Stand verloren zu haben schien.

Und es dauerte eine Weile, bis ich mich erinnerte: an das Schreiben und seine Kraft. An diese Möglichkeit: da zu sein und irgendwie auch nicht. Dass das gehen konnte: Etwas zu verlieren und gleichzeitig zu finden.

Und so fing ich wieder an zu schreiben. Jedoch anders als die Jahre zuvor. Ich erzählte diesmal nicht mehr nur die Geschichten von anderen, sondern auch meine eigene. Ich schrieb sie auf. Tag für Tag. Satz für Satz. Wort für Wort.

In Momentaufnahmen hielt ich fest, was mich in diesen Momenten beschäftigte. Nicht, weil es mir so besonders wichtig oder erzählenswert erschien oder um es anderen zu lesen zu geben, sondern um mir selbst zu versichern, dass es mich immer noch gab. Dass das, was ich erlebte, fühlte, sah, wahrhaftig war.

Das Festhalten von diesen Momenten auf Papier, es zeigte mir buchstäblich mein Leben: Dass ich am Morgen das Bett verlassen hatte, dass die Sonne schien, Kinder Ferien hatten und es im Café um die Ecke grünen Tee gab und in der Eisdiele Zitronensorbet. Das Schreiben in dieser Zeit bedeutete aber auch, dass ich mir selbst einen Raum einräumte für meine Fragen, die mir damals überlebensgroß erschienen, und die ich mich doch laut zu stellen lange nicht getraut hatte. Auf dem Papier aber woben sie sich ein in die kleinen Texte dieser Tage. Mein Kopf diktierte sie mir, machte keinen Unterschied zwischen vordergründig Banalem und offensichtlich Existenziellem. Auf dem Papier war alles erlaubt, nichts peinlich, wurde alles verziehen, war nichts zu klein oder zu groß. Auf dem Papier durfte ich die sein, die ich war.

Und so wurden mir die Worte zu einem neuen Anfang: Durch das Schreiben der Fragen lebte ich allmählich, beinah ohne es zu merken, in die Antworten hinein.

Und ich tue das bis heute. Es ist meine Form, das Leben zu betrachten und mich selbst darin. Ich verorte mich in Worten. Ich merke, dass mir etwas fehlt, wenn ich längere Zeit nichts zu Papier gebracht habe. Das Schreiben, es ist mein Ausdruck für das, was mir eindrücklich ist. Es macht nicht alles heil, es macht nicht alles hell, aber immer wieder mache ich die Erfahrung: Das Schreiben bringt mich auf die Spur zurück zu mir, wenn ich mir wieder mal selbst verloren gegangen bin. Es weist mir eine neue Richtung, schafft eine neue Klarheit, wirft auch neue Fragen auf, aber lässt sie mich besser aushalten. Weil ich mittlerweile weiß: Das Aufschreiben der Fragen trägt immer auch schon die leise, feine Ahnung einer Antwort in sich.

Wenn ich schreibe, dann spüre ich eine ganz starke Verbundenheit. Mit der Welt, mit mir selbst und auch mit anderen Menschen. Denn ich bin überzeugt: Jeder Mensch hat eine Geschichte und die ist es wert, erzählt zu werden. Und manchmal braucht es dafür nur einen Raum, in dem das Platz hat. Einen Anstoß, der zum Erzählen anregt. Eine, die zuhört, nicht wertet, sondern fragt: Was ist deine Geschichte? Erzähl mir von dir. Ich bin hier. Mit dir. Auf dieser Welt. In diesem Moment. Deine Geschichte kann auch zum Teil meiner Geschichte werden. Zwischen den Zeilen begegnen wir uns und teilen Erfahrungen und Erinnerungen, Liebe und Leid, Fantasie und Freiheit. Immer wieder Verbundenheit.

Und schließlich wird durch das Schreiben auch die fein gespannte Saite in mir angeregt und zum Klingen gebracht, die ich als Spiritualität bezeichne. Diese Idee einer Kraft, die über mich selbst hinausweist. Von der ich längst nicht alles weiß und in die ich doch große Hoffnungen setze. Schreiben ist auch meine Form zu beten. In einen Dialog zu treten. Mich selbst und das, was mich ratlos dastehen lässt, in andere Hände zu geben. Im Schreiben finde ich ein Gegenüber. Ich nenne es G*tt.

Das Schreiben, es ist mir Beruf und vielleicht sogar Berufung. Eine Spur in meinem Lebenssoundtrack, die immer irgendwie mitläuft. Wesentlicher Teil meines Alltags. Stärkste Ausdrucksform meiner selbst. Immer wieder eine Suchbewegung.

Das Schreiben, es lässt mich Fragen wagen und Freiheit fühlen. Es ist Ausdruck meiner Lebensfreude, weckt Erinnerungen, verbindet mich mit einem Gegenüber. Und so ist dieses Buch wie eine Liebeserklärung an das Schreiben: Es lässt wahrlich Schätze finden.

Willkommen, davon zu lesen.

Noch ein paar Hinweise zu Beginn:

In diesem Buch bemühe ich mich um eine geschlechtergerechte Sprache. Weil es für mich nicht stimmig wäre, ein Buch über das Schreiben zu schreiben und dann eine entscheidende Sprachentwicklung unserer Zeit nicht aufzugreifen. Dabei benutze ich die mehrgeschlechtliche Schreibweise mit *Sternchen, wenn ich Personen beschreibe. Hierunter mögen sich wirklich *alle* gesehen und sichtbar gemacht fühlen.

Das Wörtchen »man« benutze ich als ein generalisierendes Personalpronomen, weise es also keinem Geschlecht zu. Für den gegenwärtigen Moment ist mir das die vertrauteste und zugänglichste Form und ich hoffe inständig, niemand möge sich davon übergangen oder gar verletzt fühlen. Ich bin und bleibe gerne eine Dazulernende.

In diesem Buch denke ich außerdem auch über Gott nach. Und auch G*tt schreibe ich mit Sternchen. Seit einer Weile tue ich das schon. Seitdem mich kluge Menschen auf die Spur brachten, diese Schreibweise könnte Ausdruck sein für mein letztliches Unvermögen, G*tt im Gesamten zu begreifen. Es ist ein Zeichen der Achtung und des Respekts. Auch eine kleine Anlehnung an die jüdischen Glaubensgeschwister, die den Namen G*ttes bis auf ganz seltene Ausnahmen nie aussprechen. Außerdem zeigt das Sternchen: Hier ist noch mehr möglich. G*tt zum Beispiel nicht nur männlich zu lesen. Auch andere Seinsformen haben unter dieser Schreibweise Platz. Ich habe jedenfalls gemerkt: Für mich macht es einen Unterschied, wenn ich G*tt schreibe und nicht Gott. Es ist auch Gewöhnungssache. Vielleicht werde ich es eines Tages wieder anders oder aber ganz anders tun. Für jetzt jedoch ist G*tt zu schreiben am nächsten dran an dem, was ich zu schreiben versuche.

Liebe Fragen!

Ich liebe es, euch in meinem Leben zu haben. Ihr geht mir einfach nicht aus, sondern werdet vielleicht sogar immer nur noch mehr. Ihr seid wirklich überall zu finden. Vor allem in den Dingen, die zunächst ganz und gar unerklärlich scheinen, da nistet ihr euch ein. Ihr liegt mir auf der Zunge und oft sehr auf dem Herzen.

Manche von euch werden immer wieder gestellt: Wie geht es dir? Warum ist das so? Wann sind wir endlich da? Andere von euch haben Seltenheitswert: Willst du mich heiraten? Wird es je wieder gut? Werden wir uns wiedersehen?

Manchmal seid ihr unbequem. Da kostet es mich Mut, euch laut zu stellen. Oder mir einzugestehen, dass ich euch immer noch habe. Dass mir etwas unverständlich bleibt, ich längst nicht alles weiß.

Und doch will ich nicht auf euch verzichten. Denn ihr haltet mich neugierig. Lasst mich wacher durch die Welt gehen. Nicht alles für selbstverständlich nehmen. Mit euch geh ich mir selbst auf den Grund, versuche zu ergründen, was im Grunde alles zusammenhält. In dieser Welt und mir darin.

Ihr setzt ein Zeichen. An die Enden meiner Sätze. Ihr seid der Anfang vom Ahnen einer Antwort: Ich lebe durch euch in sie hinein.

Die Fragen leben

Ich schreibe mich in den Tag

Seit einigen Jahren beginne ich nahezu jeden Morgen damit, einen Kaffee zu kochen, eine Kerze anzuzünden, mich noch im Schlafanzug an meinen Schreibtisch zu setzen und dann eines von den Blanko-Büchern aufzuschlagen, die mein Vater mir geschenkt hat. Ich öffne den Füller, setze ihn an und von dort geht es los: drei Seiten lang. Schreiben, Schreiben, Schreiben. Morgenseiten – eine Schreibmethode, die auf die Autorin und Leiterin von Schreibgruppen Julia Cameron zurückgeht. Dabei fließen die Gedanken aufs Papier wie Tinte. Ich versuche, sie nicht zu steuern, sie nicht aufzuhalten, nicht zu kontrollieren. Ich lasse sie los und damit auch mich selbst ein Stück. Manchmal ist mir dann, als übernehme jemand anderes die Federführung. Als schriebe jemand anderes wie durch mich hindurch. Und ein Wort folgt auf das andere. Meistens sind es zunächst Beobachtungen. Dass die Sonne scheint. Es in der Nacht geschneit hat. Der Nachbarshund bellt. Unter der Dachrinne Spatzen nisten.

Und ohne, dass ich es so geplant hätte, haben die Dinge, die dort stehen, mehr und mehr mit mir selbst zu tun. Plötzlich steht da, dass ich Hunger habe. Kalte Füße. Dass Donnerstag ist. Bald Weihnachten. Ich noch kein Geschenk für meine Schwestern habe. Dass sie mir fehlen. Dass ich mich frage, was sie wohl gerade machen. Dass es lange her ist, dass wir die Tage gemeinsam verbrachten. Dass es lange her ist, dass wir Kinder waren. Ich erinnere mich auf einmal wieder, wie Weihnachten damals war. Wie sich der Kinderzimmerboden unter unseren kleinen Füßen anfühlte. Wie das Haus roch. Ich frage mich, ob wir damals anders gelebt hätten, wenn uns bewusster gewesen wäre, dass unsere Kindheit irgendwann enden würde. Denke, dass es den Tag gegeben haben muss, an dem wir zum letzten Mal so gemeinsam spielten, wie wir es all die Jahre über getan hatten. Denke weiter, warum man überhaupt irgendwann aufhört zu spielen, wer sich das eigentlich ausgedacht hat, das Spielen. G*tt vielleicht? Ist die Erde im Grunde ein großer Spielplatz? Gibt es Schaukeln, damit wir das Gefühl haben, wir könnten den Himmel berühren, wenn wir uns nur lang genug danach ausstrecken? Schwung holen? Und dann springen wir irgendwann ab? Ich stelle mir vor, dass das Ende des Lebens ja vielleicht so ist wie der Moment in unserer Kindheit, in dem am Abend die Laternen in unserer Straße angingen. Ein verlässliches Zeichen, dass wir nach Hause kommen sollten. Und an der Tür stand schon jemand, der uns rief: »Kommt rein jetzt. Es ist Zeit.«

Mit Morgenseiten schreibe ich mich in den neuen Tag hinein. Noch vor dem Frühstück, manchmal sogar vor dem Zähneputzen, schreibe ich mich nah heran: an das, was offensichtlich scheint, und an das, was oben aufliegt auf meinem Bewusstsein, zu dem ich aber in anderer Form vermutlich nicht so leicht Zugang bekommen hätte. Das automatische Schreiben, wie man diese Schreibtechnik nennt, es dient mir zum Warmwerden und Wachwerden, vor allem aber zeigt es mir etwas von mir selbst. Es holt Verborgenes an die Oberfläche, manchmal gar Verschüttetes oder Verlorengeglaubtes: Erinnerungen, von denen ich nicht gedacht hätte, dass ich sie noch in mir trage, kehren plötzlich zu mir zurück. Ein Gedanke entwickelt sich weiter, wenn ich ihn nur aufschreibe. Eine Idee vom Leben wird sichtbar. Eine Frage. Der Anfang einer Ahnung. Eine Verbindung. Ein neues Bewusstsein. Es knistert und funkelt. Zwischen den Worten, zwischen meinen Lebensseiten.

Ich glaube, heute wird ein heller Tag.

Was ich von hier aus sehen kann

Oft werde ich gefragt, woher mir denn all die Ideen kommen zu den Geschichten, die ich so erzähle. Meine Antwort dazu fällt etwas vage aus. Ich kann es nicht bis ins Letzte erklären. Denn meist habe ich das Gefühl, dass nicht ich die Geschichten finde, sondern die Geschichten mich finden.

Zuerst vielleicht, indem ich eine Beobachtung mache. Zum Beispiel diese:

Ich stehe am Küchenfenster, während ich darauf warte, dass das Nudelwasser kocht. Draußen wird es langsam herbstlich. Der Baum vor unserem Haus erzählt davon. Viermal im Jahr hüllt er sich in ein anderes Gewand. Und auch den Menschen, die da auf dem Gehweg vorüberlaufen, sieht man an: Es wird kühler. Es ist Anorakzeit. Und Zeit für neue Herbstboots, in denen man sich in den ersten Oktobertagen noch Blasen läuft. Außerdem ist Kastanien-aus-dem-Rinnstein-Auflesezeit. Mit etwas verstohlenem Blick tun das auch manche Erwachsene noch. Hoffen scheinbar, dass sie niemand dabei beobachtet, wie sie diesen herbstlichen Handschmeichler in ihre Jackentasche gleiten lassen und zwischendurch mit den Fingern danach tasten und sich vielleicht erinnern, wie sie das als Kinder schon getan haben. Vor langer Zeit. Ich beobachte sie dabei.

Vor allem diese zwei: den alten Mann und die alte Frau, die Händchen haltend unsere Straße entlanglaufen. Sehr langsam gehen sie. Sehr dicht beieinander. Ein bisschen wie ein frischverliebtes Pärchen, dabei sind sie schätzungsweise längst über achtzig Jahre alt. Sie wirken einander sehr vertraut. Ganz so, als hätten sie schon mächtig Strecke miteinander gemacht, als seien sie bereits viele Straßen miteinander entlanggelaufen. Seite an Seite. Hand in Hand. Sie unterhalten sich nicht. Aber auf ihren beiden Gesichtern liegt ein zufriedener Ausdruck. Das ist auch vom Küchenfenster aus zu sehen. Und dann bleiben sie plötzlich kurz stehen. Und der alte Herr bückt sich sehr langsam und hebt dann mit seiner vermutlich parkinsongeschüttelten Hand eine Kastanie vom Boden auf. Und er schaut seine Gefährtin lächelnd an und dann schiebt er diesen kleinen Schatz in ihre Jackentasche. Sie lächelt auch. Sie sprechen nicht. Sondern gehen einfach weiter.

Im Kochtopf auf meinem Herd steigen Wasserblasen auf. Ich stehe unbewegt am Fenster. Fühle mich wie eine Zeugin von etwas sehr Schönem. Einer Alltagsbeobachtung. Von etwas Kleinem, Feinem. Später schreibe ich es auf. Bloß so. Und füge vielleicht noch ein bisschen was hinzu. Weil ich manchmal das Gefühl habe, das Leben haltbarer machen zu wollen, als es ist. Dieser Fenstermoment, er war wohl wie so vieles lediglich ein Wimpernschlag in der Weltgeschichte. Winzig klein. Schon wieder vorbei. Und vielleicht doch oder gerade deswegen erzählenswert.

Das Leben jedenfalls geht längst weiter. Und mit ihm diese zwei. Über die ich im Grunde nichts weiß. Bloß ahne: Dass man auch mit über achtzig noch verliebt durch eine Straße laufen kann. Und sich nach Kastanien bückt, um sie seiner Liebsten in die Jackentasche zu stecken. Vielleicht, weil sie so gern Kastanien mag. Und dabei an ihre Kindheit denkt. Oder an heiße Maronen, auf dem Küchenofen gegart. Oder an die Zeit, als sie mit ihren eigenen Kindern Kastanientiere bastelte. Mit Zahnstocherbeinen. Vielleicht denkt sie beim Fühlen der glatten Schale auch an ihre Haut, die nicht immer so runzlig war wie heute. Und daran, dass eben alles im Leben seine Zeit hat. Auch das.

Wie ich auf Ideen für meine Geschichten komme? So.

Schreiben ist wie Spielen

Es ist 2001. Ich bin neun Jahre alt und mein liebstes Hobby ist es, mich in das kleine Dachgeschosszimmer in meinem Elternhaus zurückzuziehen. Dorthin, wo der Computer steht; ein grauer, klobiger Kasten mit kleinem Bildschirm und Tastatur, die laut klappert, wenn man die Tasten anschlägt. Außerdem gibt es dort eine Tür, die ich hinter mir schließen kann, ein Dachflächenfenster, von dem aus ich den Himmel sehe, dazu Zeit. Und die Freiheit, die mir meine Eltern geben, dort allein sein zu dürfen. Der Computer ist damals noch nicht verbunden mit dem Internet. Er ist im Prinzip nicht viel mehr als eine bessere Schreibmaschine. Es scheint keine Gefahr von ihm auszugehen. Mir erscheint er als großartiger Spielgefährte. Denn wenn ich ihn anschalte und das Word-Programm öffne, geht es gleich los mit dem Spiel, das ich »Geschichten schreiben« nenne. Es braucht dazu nicht viel: nur ein weißes Dokument, eine Diskette, um das Geschriebene später sicher speichern zu können, und meine eigene Fantasie. Da ich davon als Neunjährige eine Menge zu haben scheine, fülle ich die Seiten schnell. Zu Anfang mit nur zwei Fingern, tippe und tippe ich. Worte erscheinen auf dem Bildschirm, Sätze, schließlich ganze Geschichten, die mich mitnehmen, mich eintauchen lassen in andere Welten. Das erscheint mir am schönsten an diesem Spiel: Ich denke mir diese Welten aus und gleichzeitig werde ich selbst ein Teil von ihnen. Während ich schreibe, bin ich selber gespannt, was als Nächstes passieren wird. Was sagt Lea zu ihrem Zwillingsbruder Ben, wenn der sie wieder mal ärgert? Wie ist es für Dora, als sie im Bett liegt und plötzlich der Engel Daniel an ihr Kinderzimmerfenster klopft? Ob Bella in den Sommerferien einen Jungen kennenlernen wird, in den sie sich verliebt? So richtig dolle? Mit Küssen und so?

Wenn ich diese Geschichten von damals heute noch einmal lese, dann sind sie wie ein Zeitzeugnis. Sie erzählen mir von meinem neunjährigen Ich. Sie offenbaren, wie ich damals dachte. Was mich interessierte, was ich spannend fand. Denn diese Geschichten, sie sind im Grunde immer eine Mischung aus meiner eigenen Lebensrealität und dem, was ich in Büchern las oder in Filmen sah, was mir auf der Straße, auf dem Schulhof, auf Reisen begegnete oder wovon mir andere erzählten. Auf dem Papier verband sich alles miteinander zu etwas Neuem. Auf dem Papier erlebte ich durch meine erfundenen Charaktere etwas, wovon ich selbst vielleicht nur träumte oder wovor ich mich in Wirklichkeit sogar fürchtete. Ich selbst war Lea, Dora, Bella. Dabei hatte ich weder einen Zwillingsbruder, noch klopfte ein Engel bei mir, noch wusste ich mit neun Jahren, wie es sich anfühlte, geküsst zu werden. In meinen Geschichten aber war es mir möglich, all das zu erleben, um all das zu wissen.

Diese Erfahrung, sie faszinierte mich. Selber schreiben fühlte sich an wie selber lesen, vielleicht sogar noch ein bisschen besser. Weil ich selbst den Hergang der Geschichte bestimmen konnte. Ich entschied und war doch selbst immer wieder auch überrascht, wenn die Figuren, die ich mir ausgedacht hatte, begannen, ein Eigenleben zu führen. Immer mehr geriet ich so in einen Flow. Nicht mehr wichtig schien die Tageszeit, das Wetter, das Mittagessen. Ich saß dort, in dem sieben Quadratmeter großen Zimmer, und war doch gleichzeitig ganz woanders. Und es ging mir gut dabei.

Denn das Schreiben damals war für mich wirklich wie Spielen. Es bedeutete, mich auch mal in der Zeit zu verlieren. Es gab ein paar Spielregeln – Geschichten lassen sich einfach besser schreiben und vor allem später lesen, wenn man sich zumindest ungefähr an ein paar Gesetze von Rechtschreibung und Grammatik hält –, aber viel mehr gab es Spielideen. Und Spielraum. In dem ich die sein durfte, die ich war. Mit den Füßen fest auf dem Boden, mit dem Kopf oft hoch in den Wolken. So verbrachte ich mehrere Stunden pro Woche in diesem kleinen Schreibraum. Manchmal nach der Schule, wenn die Hausaufgaben erledigt waren und der Regen an das Dachflächenfenster trommelte. Oft am Wochenende, wenn wir nichts anderes vorhatten. Besonders häufig in den Ferien, wenn die Zeit ohnehin ganz anderen Gesetzmäßigkeiten zu folgen schien als normalerweise. Wenn ich schrieb, tauchte ich ab. Verlor mich und war doch so eng mit mir selbst verbunden wie in wenigen anderen Situationen sonst.

Vor einiger Zeit erzählte mir ein Vater auf Instagram in einer Direktnachricht, dass seine elfjährige Tochter so gerne Geschichten erfinde. Sie sei eine richtige kleine Autorin, habe so viel Fantasie. Er fragte, ob ich einen Rat hätte, wie man das Geschichtenerzähler-Gen seines Kindes fördern könnte. Mich freute diese Nachricht sehr und ich antwortete ihm erst einmal, wie großartig ich es finde, dass seine Tochter das Geschichtenerzählen für sich entdeckt habe. Aus eigener Erfahrung könne ich sagen, wie bereichernd das für ein Leben sein kann. Auch wenn daraus vielleicht nicht gleich eine Schriftstellerkarriere entsteht. Viel eher gehe es um die Erfahrung: Da steckt etwas in mir, das es hervorzulocken lohnt. Schon beim Lesen der Instagramnachricht habe ich gedacht, wie schön es doch ist, dass auch Kinder in der heutigen Zeit noch Geschichten schreiben wollen – und das unabhängig von einer Schulaufgabe. Denn es ist nicht verwunderlich, dass so mancher kreative Keim bereits dadurch erstickt worden ist, dass das Schreiben vor allem mit Leistung verknüpft wird, mit richtig und falsch. Es freute mich so sehr zu lesen, dass es da irgendwo ein Mädchen gab, wie ich einmal eines gewesen war, das ihre Tage damit zubrachte, Geschichten zu schreiben. Und so schrieb ich, dass ich es für das Entscheidendste hielt, ihr dafür Raum zu geben. Nicht nur ganz wörtlich genommen, sondern auch im übertragenen Sinne. Raum, in dem es sich kreativ denken, sein, schreiben lässt. Ohne Bewertung à la: Das schreibt man so nicht.

Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, was mir selbst als schreibendes Kind gutgetan und mich zum Schreiben ermutigt hatte: die Tatsache, dass ich Zeit zum Schreiben hatte. Und eine Tür, die ich vor meinen neugierigen kleinen Schwestern schließen konnte. Außerdem Stifte in verschiedenen Farben und Stärken, zum Kritzeln und Gestalten, dazu Papier, ruhig auch mal etwas hochwertigeres, einen Computer, den ich alleine benutzen durfte, Musik, die mir zu Soundtracks meines Schreibens wurden, Bücher, die mich überhaupt erst mit der Großartigkeit des Geschichtenerzählens in Berührung gebracht hatten, sowie Disketten zum Speichern meiner Ideen, als Zeichen dafür, dass es sich lohnte, sie zu speichern.

Daneben war entscheidend, dass es Menschen gab, die gern lasen, was ich schrieb, die zuhörten, mich ernst nahmen, sich berühren ließen, sagten: »Daraus binden wir ein Buch, ja?« Sie waren es, die mir das Gefühl gaben: Deine Geschichten sind es wert, erzählt zu werden. Höre nicht auf damit. Wenn es das ist, was du tun willst, was dich glücklich macht, dann tu es.

Und so tue ich das wirklich bis heute. Weil es da einmal einen Raum gab, der mir eröffnet wurde. In dem ich spielen durfte, mich verlieren konnte – und schließlich herausfand, was ich kann, was mich glücklich macht, was ich tun will. Das wünsche ich jedem Kind. Dass es solche Räume findet. Nicht immer muss darin geschrieben werden. Es kann reichen, einen Spielraum anzubieten, der zeigt: Hier ist Platz für dich. Probiere dich aus. Verliere dich und finde so vielleicht heraus, wer du bist.

Mein Wortschatz

Manchmal habe ich Worte im Ohr, die nicht allein meine eigenen sind. Ich habe sie anderswo gelesen, viele, viele Male vielleicht schon. Sie bringen etwas in mir zum Schwingen. Sie weiten mein Herz und erweitern meinen Wortschatz. Ich setze sie in Beziehung zu mir selbst und meinem eigenen Leben. Manche Worte fühlen sich dadurch an wie Wegbegleiter. Ganz verlässlich sind sie Teil der großen Erzählung, die ich mein Leben nenne. Ich trage sie bei mir. Habe sie innerlich aufgelesen und aufgeschrieben, wie auswendig gelernt. Im Englischen ist eine mögliche Übersetzung des Wortes »auswendig« – »by heart«. Und genau so fühlen sich diese Worte an. Mein Herz kennt sie genau.

»Sei klug und halte dich an Wunder«, sind solche Herzworte für mich. Sie stammen von Mascha Kaléko. Ich las sie in ganz jungen Jahren und versuche seitdem danach zu leben. Und sie manchmal auch mit denen von Hilde Domin zu verweben: »Und doch, wenn du lange gegangen bist, bleibt das Wunder nicht aus.« Die Worte dieser beiden Dichterinnern, sie machen mich wundernd, wachsam, aufmerksam, lassen mich Ausschau halten, nach Wunderbarem in der Welt und nach dem, was auch meine Wunden verbunden hält.

Meine Schwester schenkte mir zu Weihnachten einmal die Worte: »Wer sich sorgt, leidet zweimal.« Kalligrafiert in einem weißen Bilderrahmen. Gehört hatte sie sie im Film »Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind«. Sie kamen für mich genau zur richtigen Zeit, und bis heute versuche ich immer wieder, sie zu beherzigen.

Geflügelte Worte sind für mich auch diese: »Fürchte dich nicht.« Als es einmal vieles gab, um das ich mich sorgte und vor dem mir bange war, schrieb ich diesen Satz fünfzig Mal hintereinander auf ein Blatt Papier. Und es war sehr besonders, dass ich dabei merkte, wie etwas immer ruhiger wurde in mir und ich mich schließlich wirklich ein wenig weniger fürchtete.