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Internationale Studien, Forschungsprojekte und Statistiken belegen, dass viele Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gehen. Dieses Phänomen der "Schulverweigerung" ist in "Zeiten von Corona" aktueller denn je. Im vorliegenden Buch wird es aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet und aus systemisch-lösungsorientierter Sicht vielschichtig behandelt. Hierbei geht es einerseits um Schulverweigerung als Lösung, andererseits um Schulverweigerung als zirkulärer Lösungsfindungsprozess und innerer bzw. sozialer Konflikt. Im zweiten Teil des Buches werden die Ergebnisse einer länderübergreifenden qualitativen Studie vorgestellt, an der sich Schulverweigerer:innen aus Österreich, Italien, Deutschland und der Schweiz beteiligten. Das daraus abgeleitete "Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung" zeigt innovative und wirkungsvolle systemisch-lösungsorientierte Möglichkeiten der Prävention, Intervention und Rehabilitation bei Schulverweigerung auf. Es bietet damit eine Chance für vielschichtige und vielfältige Weiterentwicklung und Transformation.
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Seitenzahl: 219
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Johanna Kiniger
Ein systemisch-lösungsfokussierterAnsatz – Das Neun-Phasen-Modellder Schulverweigerung
Mit Geleitworten vonRomana Schneider & Stefan Ruetzund Elfie Czerny & Dominik Godat2021
Der Verlag für Systemische Forschung im Internet:
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Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel
Printed in Germany 2021
Erste Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-9049-3 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-9050-9 (ePub)
© 2021 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt bei der Autorin.
Diese Publikation beruht auf der Masterthesis „Schulverweigerung als Entwicklungschance? Eine empirische Untersuchung aus systemisch-lösungsorientierter Sicht, mit systemisch-lösungsorientiertem Entwicklungskoffer für Schulverweigerer*innen“ zur Erlangung des akademischen Grades Master of Science (MSc) an der Karl-Franzens-Universität Graz, Universitätslehrgang „Psychosoziale Beratung“, 2020.
Danksagung
Geleitwort von Romana Schneider und Stefan Ruetz
Geleitwort von Elfie Czerny und Dominik Godat
1 Einleitung
1.1 Ausgangssituation und Forschungszugang
1.2 Der Weg hin zur Forschungsfrage – Ein Abbild von unvorhersehbaren Dynamiken
1.3 Forschungsfrage und Ablauf der systemisch-lösungsorientierten Interviews
1.4 Aufbau der Arbeit und Einblick ins Buch
2 Vorwort von „Max, dem Schulverweigerer“
3 Schulverweigerung – „Ich bleib dann mal weg“
3.1 Begriffsdiffusion und Trennschärfenproblematik
3.2 Anfänge und Entwicklung der Schulabsentismusforschung
3.3 Theorien über Schulverweigerung
3.3.1 Kontrolltheorie
3.3.2 Anomietheorie
3.3.3 Subjektive Theorie
3.3.4 Systemtheorie
3.4 Schultheoretische Aspekte und Schulverweigerung
3.5 Interdisziplinärer Forschungszugang
3.6 Aktuelle Studien
3.6.1 Studien über Mehrfachschwänzer*innen (2007–2012)
3.6.2 Explorative Pilotstudie (2016) Häufigkeit und Begründungen für Fehlzeiten
3.6.3 Pisa Studie (Programme for International Student Assessment) 2012: Vergleich der Studienergebnisse Europäischer Staaten
3.7 Problemaufriss: Studien zur Schulverweigerung
4 Schulverweigerung: Prävention, Intervention und Rehabilitation
4.1 Bedeutsamkeit schulischer Prävention
4.2 Präventive Ansatzpunkte auf pädagogischer Ebene
4.2.1 Gegenstandsverständnis und Haltung
4.2.2 Fokus auf Fehlzeiten – Fallklärung und Warnsignale
4.2.3 Mentoring
4.2.4 Beratung
4.2.5 Expert*innen im Kollegium
4.2.6 Intensive Elternkooperation – Vernetzung
4.3 Präventive Ansatzpunkte auf unterrichtlicher Ebene
4.3.1 Partizipation
4.3.2 Beziehungsarbeit, soziale Einbindung und Sicherheit
4.3.3 Kompetente Klassenführung – hochwertiger Unterricht
4.3.4 Förderung der Sozialkompetenzen
4.3.5 Förderung der Selbstkompetenz
4.3.6 Förderung der Sachkompetenz und Lernerfolge
4.3.7 Förderung der Lebenskompetenzen
4.4 Präventive Ansatzpunkte auf organisatorischer Ebene
4.4.1 Monitoring von Abwesenheiten
4.5 Schulische Interventionen und Handlungskonzepte
4.5.1 Aufmerksamkeitskontrolle – Dokumentation – unverzügliche Reaktion
4.5.2 Beratung – Gespräche
4.5.3 Planung und Umsetzung schulischer Maßnahmen
4.5.4 Kooperative Förderung
4.6 Rückkehrgestaltung – Rehabilitation
5 Alternative Beschulungseinrichtungen – Projekte
6 Verknüpfung von Schulverweigerung und Entwicklung
6.1 Entwicklungsmodelle zur Schulverweigerung
6.1.1 Entstehungsmodell von Schulverweigerung (Barth)
6.1.2 Zyklus aus Schulabsentismus und Schuldropout (Seeliger)
6.1.3 Schulabsentismus – ein sich zuspitzender Entwicklungsprozess (Ricking)
6.2 Schulverweigerung als Entwicklungsphase – typisches Handeln
6.2.1 Die Konzeption der Entwicklungsaufgaben
6.2.2 Entwicklungsverlauf und Entwicklungspotential
6.2.3 Schulverweigerung als Entwicklungshandeln
6.2.4 Entwicklung durch Passung
6.3 Schulverweigerung und Aktivierung von Entwicklung durch Passung
6.3.1 Aktivierung der Entwicklungsprozesse durch Partizipation und Mitbestimmung
6.3.2 Aktivierung der Entwicklungsprozesse durch Bedürfnisorientierung
6.3.3 Aktivierung der Entwicklungsprozesse durch Verzicht auf Frustrationen
6.3.4 Aktivierung der Entwicklungsprozesse durch Berücksichtigung der individuellen Lebensrhythmen
6.3.5 Aktivierung des Entwicklungsprozesses durch ein enges Netz an Vertrauenspersonen
6.3.6 Aktivierung des Entwicklungsprozesses durch Öffnung und Vernetzung
6.3.7 Aktivierung des Entwicklungsprozesses durch aktivierenden und kompetenzorientierten Unterricht
6.4 Schulverweigerung und Entwicklungsvisionen von Schule – Was wäre, wenn …?
7 Verknüpfung von Schulverweigerung und Lösung
7.1 Vielfältige Lösungswege und individuelle Lösungen
7.2 Entwicklung von Lösungen durch Analogiebildung und Wissenstransfer
7.3 Entwicklung von Lösungen durch menschliche Würde (Hüther)
7.4 Entwicklung von Lösungen aus der Zukunft (Theorie „U“ nach Scharmer)
8 Verknüpfung von Schulverweigerung mit dem systemisch-lösungsorientierten Ansatz
8.1 Die systemisch-lösungsorientierte Sichtweise
8.1.1 Grundbausteine der systemisch-lösungsorientierten Sichtweise
8.1.2 Die Grundannahmen der systemisch- lösungsorientierten Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Entwicklung von Lösungskompetenz
8.2 Schulverweigerung ein Signal für Entwicklung und Veränderung
8.3 Schulverweigerung ein Lösungsfindungsprozess
8.3.1 Lösungen erster und zweiter Ordnung
8.4 Schulverweigerung ein innerer und äußerer Konflikt
8.4.1 Systemisch-lösungsorientiertes Konfliktmanagement
9 Systemisch-lösungsorientierte Beratung mit Schulverweigerer*innen
9.1 Problemaufriss Beratungsgespräche an Schulen
9.2 Gesprächsformen im Setting Schule
9.3 Tipps für Beratungen mit Schulverweigerer*innen
10 Systemisch-lösungsorientiertes Kurzzeit-Coaching mit Schulverweigerer*innen
10.1 Systemisch-lösungsorientierte Grundhaltungen im Coaching
10.1.1 Prinzipien des systemisch-lösungsorientierten Coachings
10.1.2 Das Kokosnuss-Modell
11 Die systemisch-lösungsfokussierte Forschungstätigkeit
11.1 Kritischer Diskurs und grundlegende Informationen zum qualitativen Forschungsansatz
12 Forschungsdesign
12.1 Das Erhebungsinstrument
12.2 Das systemisch-lösungsorientierte Leitfadeninterview
12.2.1 Ablauf des systemisch-lösungsorientierten Leitfadeninterviews
12.2.2 Warum systemisch-lösungsfokussierte Fragestellungen im Leitfadeninterview?
12.2.3 Aufbau des Leitfadeninterviews
12.3 Der systemisch-lösungsfokussierte Interviewleitfaden – „Schulverweigerung als Entwicklungschance“?
13 Durchführung des Interviews
14 Stichprobe
15 Auswertung des Interviews
15.1 Die Transkription der Interviews
15.2 Auswertungsmethode: Qualitative Inhaltsanalyse
15.2.1 Deduktive Kategorienbildung
15.2.2 Induktive Kategorienbildung
15.2.3 Qualitative Datenauswertung durch MAXQDA
15.3 Kategorienbildung
16 Strukturierte Ergebnisse und Auszüge aus den Transkripten nach den Kategorien
16.1 K1 – Dauer der Schulverweigerung
16.2 K2 – Entscheidungen
16.3 K3 – Rechtfertigungen für schulische Abwesenheiten
16.4 K4 – Schulverweigerung ein zirkulärer Prozess mit unterschiedlichen Phasen
16.5 K5 – Lösungswege, Bewältigungsstrategien und neue individuelle Lösungen in der Zeit der Schulverweigerung
16.6 K6 – Lösungswege, Bewältigungsstrategien und individuelle Lösungen aktivieren Weiter-Entwicklung
16.7 K7 – Kompetenzentwicklung, Ressourcennutzung, Potentialentfaltung und Sinnfindung in der Zeit der Schulverweigerung
16.8 K8 – Lösungsvisionen und die perfekte Zukunft der Schulverweigerer*innen
17 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
17.1 Dauer der Schulverweigerung
17.2 Die Entscheidung
17.3 Die Rechtfertigungen der Schulverweigerer*innen für ihre Abwesenheiten
17.4 Das „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“
17.5 Lösungswege, Bewältigungsstrategien und neue individuelle Lösungen in der Zeit der Schulverweigerung
17.6 Kompetenzentwicklung, Ressourcennutzung, Potentialentfaltung und Sinnfindung in der Zeit der Schulverweigerung
17.7 Lösungsvisionen und die perfekte Zukunft der Schulverweigerer*innen
18 Fazit
19 Praxisempfehlung: Der systemisch-lösungsorientierte Entwicklungskoffer
19.1 Tool: Die wundervolle Ideenstraße
20 Schlussworte von Max, dem Schulverweigerer
Literaturverzeichnis
Durch meine Lehr- und Beratungstätigkeit sowie als lösungsfokussierter Coach bin ich häufig mit dem Phänomen Schulverweigerung konfrontiert. Es ist mir als Vorstandsmitglied des ASC (Austrian Solution Circle) ein Anliegen, das Phänomen Schulverweigerung vom systemisch-lösungsorientierten Blickwinkel her zu erforschen und durch diese länderübergreifende qualitative Sozialforschung, einen wesentlichen Beitrag zur systemisch-lösungsorientierten Forschung zu leisten.
Ich möchte mich an dieser Stelle herzlichst bei allen Personen bedanken, die mich bei der empirischen Untersuchung unterstützt haben. Ein großes Dankeschön geht an die Schulverweigerer*innen aus Deutschland, Italien, Österreich und Italien, für ihr großes Engagement, ihre Bereitschaft zur Partizipation, ihre Ideen und Visionen.
Bedanken möchte ich mich beim ASC (Austrian Solution Circle) für die Verleihung des Forschungsförderpreises 2019. Mein besonderer Dank geht hierbei an Doz. Mag.a Elfie Czerny, Doz. lic.rer.pol. Dominik Godat, Mag.a Birgit König und Mag.a Marlies Titak.
Mein großer Dank gilt meiner Familie, meinen Töchtern Annalena und Valentina, meiner Mutter Anna und meinem Partner Andreas für die Unterstützung, das große Verständnis und die anregenden, motivierenden Impulse. Bedanken möchte ich mich auch bei Christl Mair und Sonja Schiller.
Besonders wichtig war für mich die kompetente wissenschaftliche Begleitung. Ein besonderes Dankeschön geht hierfür an Univ. Doz. Dr. Dr. Barbara Friehs, Mag. Prof. Maximilian Pürstl, MMMag. Stefan Ruetz, Mag.a Romana Schneider sowie an Dr. phil. Eva Maria Waibl.
In einem Gespräch, das wir beide, Romana Schneider und Stefan Ruetz, mit Johanna Kiniger nach dem Abschluss ihrer Masterthesis führten, fragte sie, ob wir uns noch an das Gefühl ihrer Verzweiflung nach den ersten Probeinterviews erinnern konnten. Wir konnten es nicht, denn wenn wir heute an die Masterthesis von Johanna Kiniger und das vorliegende Buch, das daraus entstanden ist, denken, ist es aufrichtige Bewunderung, die wir empfinden! Gerne denken wir an dieser Stelle an den erfolgreichen Weg zurück, den sie gegangen ist:
Johanna Kiniger war eine der ersten Studierenden des Masterupgrades für psychosoziale Beratung, das seitdem unser Institut in Kooperation mit der Uni for Life/ Universität Graz in Schwaz in Tirol veranstaltet und das mit dem Titel Master of Sience (MSc) abschließt. Dieses Masterupgrade ermöglicht es psychologischen Berater*innen, an ihre Ausbildung ein Masterstudium anzuschließen und ihre Expertise wissenschaftlich zu untermauern.
Während einer Lehrveranstaltung berichtete sie uns – ihren eigenen Worten nach „ganz verzweifelt“ – über ihre ersten Probeinterviews, in denen wider Erwarten Jugendliche ihr gesagt hatten, dass diese ihre Schulverweigerung nicht als problematisch ansahen, sondern ganz im Gegenteil als einen wichtigen Entwicklungsschritt in ihrem Leben. Aufgrund dieser Aussagen musste Johanna Kiniger ihre gesamte Masterthesis umgestalten, was für sie einen ungeheuren Aufwand darstellte – doch der Preis für diesen Aufwand hat sich gelohnt. Entstanden sind eine herausragende Masterarbeit und das vorliegende Buch. Beide wissenschaftlichen Werke sind in vielerlei Hinsicht bewundernswert und wir möchten einige Aspekte exemplarisch herausgreifen, um Ihnen die lösungsorientierte Haltung der Autorin in Zusammenhang mit ihrer Fachexpertise und Umsetzung in die Praxis aufzuzeigen.
Der erste Aspekt, den wir hervorheben möchten, ist das Umdenken, auf das sich die Autorin durch die Sichtweise der Jugendlichen auf das Thema Schulverweigerung eingelassen hat. Nämlich die Abwendung von einer problemorientierten Sichtweise hin zu einer stärkenorientierten Sichtweise, was aus fachlicher Sicht nichts weniger als einen Paradigmenwechsel darstellt.
Ein weiterer Aspekt ist, dass mit dem Einbeziehen der Schüler*innen die Autorin den eigenen Expertenstatus verlassen und die Jugendlichen selbst als Expert*innen ihrer Situation fortan angesehen hat. Sie hat sich im System der Jugendlichen kundig gemacht und aus dieser Position heraus einen neuen Fragenkatalog entwickelt. Dies bedeutet ein Arbeiten auf Augenhöhe und ist Ausdruck von Partizipation sowie der damit verbundenen Wertschätzung. Das gegenständliche Werk ist somit auch Abbild der Wechselwirkung zwischen den Schüler*innen und der Autorin und der Nutzung der Potentiale der Schüler*innen.
Die beiden erwähnten Aspekte drücken eine Haltung aus, die hinter der Fachexpertise der Autorin steckt. Zusätzlich ist es ihr gelungen, einen fachlich herausragenden Schritt zu machen, nämlich die Theorie der Lösungsorientierung in Zusammenhang mit dem Themengebiet der Schulverweigerung zu setzen, eine Leistung, die die Fachwelt wesentlich bereichert.
Neben diesem wesentlichen Schritt setzt Johanna noch einen weiteren wichtigen Schritt, nämlich die gewonnen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen und einen Methodenkoffer für die praktische Anwendung zu entwickeln. Damit gibt sie Fachleuten hilfreiche Werkzeuge für die Zusammenarbeit mit Schulverweiger*innen in die Hand. Diese werden zusammen mit den neuesten Entwicklungen im Bereich Schulverweigerung in einem weiteren Buch erscheinen.
Allein die Tatsache, dass dieses erste Buch schon wertvolle Beiträge im Bereich Schulabsentismus setzt, lässt uns gespannt auf weitere Ergebnisse von Johanna warten. Wir durften sie ein Stück ihres wissenschaftlichen Weges begleiten und wünschen ihr alles Gute und weiterhin viel Erfolg!
Mag.a Romana Schneider und MMMag. Stefan Ruetz,
Ausblicke – Institut für lösungsorientierte Beratung
Schwaz im April 2021
Stellen Sie sich vor, alle Menschen würden einander als Expert*innen für ihr eigenes Leben ernstnehmen und einbeziehen. Stellen Sie sich vor, alle hätten Interesse an den guten Gründen, die auch abweichendem Verhalten zugrunde liegt. Und dies nicht nur zwischen Erwachsenen, sondern vor allem auch mit Kindern und Jugendlichen. Stellen Sie sich vor, was wir voneinander lernen könnten, wenn wir so im Gespräch wären. Aus einem hierarchischen Verhältnis würde ein wahrhaftiges miteinander.
Johanna Kiniger macht genau dies in ihrer Arbeit: Sie hört zu. Sie nimmt die Jugendlichen ernst. Sie möchte mehr über die guten Gründe erfahren. Sie entwickelt ihre Arbeit gemeinsam mit den Jugendlichen. Und Sie lässt sie zu Wort kommen. Aus „Schulverweigerung als Problem“ wurde so in Gesprächen mit den Jugendlichen „Schulverweigerung als Entwicklungschance“. Aus einem Problem wird eine mögliche Lösung. Aus destruktivem Verhalten werden Entwicklungschancen. Und wenn wir ernsthaft zuhören, dann merken wir, dass Jugendliche – auch die, die nicht zur Schule gehen – lernen möchten. Sie möchten sich entwickeln. Oder wie Max es ausdrückt: „Ich will (…) wieder neugierig sein dürfen auf das Leben und die Zukunft.“
Dieser unkonventionelle Blickwinkel mag einige Leser*innen vielleicht verwirren. Uns begeistert er. Wir erinnern uns noch gut an die Jahrestagung des Austrian Solution Circle (ASC) 2019, an dem Johanna als Gewinnerin der ASC Forschungsförderung aufgezeigt hat, wie sich Jugendliche während ihrer Zeit der Schulverweigerung entwickeln. Jugendliche lernen in dieser herausfordernden Zeit mit Aufs und Abs das, was viele Erwachsene im Erwachsenenalter anstreben. Sie machen sich übers Leben Gedanken. Sie entdecken, was sie wirklich wollen. Sie entwickeln Strategien. Sie merken, was ihnen wichtig ist. Sie setzen sich mit sich und ihrer Umwelt auseinander.
„Für mich sind Schulverweigerer*innen erstmals junge Menschen, die längere Zeit nicht zur Schule gegangen sind“, antwortet unser geschätzter Kollege Michael Eisele, Schulleiter des LZB St. Anton, auf die Frage, ob sie in ihrer Schule einen speziellen Begriff gebrauchen, für Jugendliche, die Schule verweigern. Seine Aussage verdeutlicht, dass es immer zuerst um den Menschen gehen sollte. Schulverweigerung wird dann nicht nur für die Jugendlichen eine Entwicklungschance, sondern auch für die Schule.
Wir stellen uns gerne vor, wie die Welt aussehen würde, wenn alle Erwachsenen Jugendliche und Kinder so ernst nehmen. Wie ein Bildungssystem aussehen würde, in dem Lehrer*innen und Schüler*innen wirklich gemeinsam von- und miteinander lernen. Aus vorgegebenen Lerninhalten entstünde ein gemeinsamer Lernraum. Aus Ein- und Unterordnung würde ein gemeinsamer Dialog. Aus passend und unpassend würde ein Erkennen und Ernstnehmen von Unterschiedlichkeiten. Aus einem Einheitsbrei entstünde eine wahrhafte Vielfalt. Auseinandersetzen miteinander, Zuhören, Ernstnehmen, im Dialog bleiben und gemeinsam nach guten Möglichkeiten suchen, wären die Folge. Und sind dies nicht genau die Fähigkeiten, die wir in der Welt in Zukunft benötigen?
Wir erhoffen uns, dass die vorliegende Arbeit von Johanna Kiniger anregt, Jugendliche und Kinder ernster zu nehmen und mit ihnen gemeinsam heute die Schule von morgen zu entwickeln.
Elfie Czerny & Dominik Godat
Zentrum für Lösungsfokussierte GesprächsFührung
Internationale Studien, Forschungsprojekte und Statistiken belegen, dass viele Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gehen. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die Schulverweigerung als Problem sehen. In dieser Arbeit wird Schulverweigerung von einem neuen Blickwinkel her erforscht. Durch Reframing soll ein UM- und NEUDENKEN in Gesellschaft und Schule angeregt werden. Es gilt und galt zu erforschen, ob die systemisch-lösungsorientierte Betrachtungsweise zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führt und wie die systemisch-lösungsfokussierten Fragestellungen des Interviewleitfadens auf die befragten Personen wirken. Öffnen sich durch den Lösungsfokus neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten? Macht Lösungsfokus einen Unterschied?
Im Sinne des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes wurde die Eigendynamik von Prozessen als kreative Lösungsmöglichkeit und als Entwicklungsimpuls wahrgenommen und genutzt. Meine ursprüngliche Forschungsfrage war problemorientiert und lautete: „Schulverweigerung ist ein großes Problem. Warum verweigern Jugendliche den Schulbesuch?“ In den ersten drei Probeinterviews kritisierten die Schulverweigerer*innen übereinstimmend den Zugang zur Thematik. Für die Befragten waren die Fragestellungen des Interviewleitfadens zu „normal“, negativ behaftet und einseitig. Sie wünschten sich ein Reframing, ein Umdenken und mehr Wertschätzung den Schulverweigerer*innen gegenüber. Darum änderte ich, gemeinsam mit den drei Jugendlichen, mit welchen ich die Probeinterviews durchgeführt hatte, den Interviewleitfaden ab. Wir entwickelten gemeinsam die systemisch-lösungsorientierten Fragestellungen weiter und passten sie an das Weltbild, an die Vorschläge und Erfahrungen der Betroffenen an. Anschließend wurden die 20 Interviews mit Schulverweigerer*innen aus Deutschland, Italien, Österreich und der Schweiz durchgeführt.
Die Forschungsfrage der empirischen Untersuchung lautete am Ende folgendermaßen: Schulverweigerung als Entwicklungschance?
Die partizipierenden Schulverweigerer*innen bezeichneten sich während der Befragung öfters als Expert*innen ihres Lebens und somit auch als Expert*innen für Schulverweigerung. Ihr größter Wunsch war, die Ergebnisse dieser Forschung zu veröffentlichen, um Breitenwirkung zu erzielen und um durch Verstörung bestehende Strukturen zu durchbrechen und ein Umdenken in der Gesellschaft einzuleiten. Mehrere Schulverweigerer*innen äußerten im Laufe des Gespräches zudem den Wunsch, einen systemisch-lösungsorientierten Entwicklungskoffer von Schulverweigerer*innen für Schulverweigerer*innen mit wirkungsvollen Tools zu entwickeln. Dieser Entwicklungskoffer ist in Ausarbeitung und wird bald veröffentlicht. Ein Tool des Entwicklungskoffers wird in diesem Buch vorgestellt.
Zu Beginn der Arbeit werden die Begriffsdiffusion und Trennschärfenproblematik des Begriffes „Schulverweigerung“ thematisiert. Die Annäherung an das Phänomen Schulverweigerung erfolgt im Sinne des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes vielschichtig. Nach einem kurzen Einblick in die Entwicklung der Schulabsentismusforschung, werden grundlegende Theorien zur Schulverweigerung sowie schultheoretische Aspekte aufgezeigt und die Möglichkeit des interdisziplinären Forschungszugangs thematisiert. Aktuelle und vergleichende Studien geben Einblick in neuere Entwicklungen. Anschließend werden interdisziplinäre Handlungsansätze und neueste Erkenntnisse in Prävention, Intervention und Rehabilitation vorgestellt. Ein inhaltlicher Schwerpunkt ist die Verknüpfung von Schulverweigerung, Entwicklung und Lösung in ihrer Vielfalt. Schulverweigerung wird einerseits als ein sich zuspitzender Entwicklungsprozess ergründet und anhand von Phasenmodellen veranschaulicht, andererseits aber auch als ein entwicklungsphasentypisches Handeln thematisiert. Im nächsten Abschnitt des Buches wird der Bogen gespannt zwischen Schulverweigerung und Nutzung des Entwicklungspotentials. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass durch Passung, d. h. durch Generierung von „passenden“ Bedingungen, neue Entwicklungen und Veränderungen hervorgebracht werden (vgl. Dreher 2015, o. S.). Durch Passung entsteht Flow und Flow ist der wichtigste Anreiz, um das Entwicklungspotential zu entfalten und zu nutzen. Diese Erkenntnisse sind im Umgang mit Schulverweigerer*innen wichtig und eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten.
Im nächsten Abschnitt wird eine Verknüpfung zwischen Schulverweigerung und dem systemisch-lösungsorientierten Ansatz hergestellt. Hierbei geht es einerseits um Schulverweigerung als Lösung, andererseits aber auch um Schulverweigerung als zirkulärer Lösungsfindungsprozess und innerer bzw. sozialer Konflikt. Abgerundet wird dieser Abschnitt mit systemisch-lösungsorientierten Handlungsmöglichkeiten und Hilfestellungen bei Schulverweigerung. Hierbei wird konkret auf die systemisch-lösungsorientierte Beratung und das systemisch-lösungsorientierte Kurzzeitcoaching mit Schulverweigerer*innen Bezug genommen.
Ein innovativer Schwerpunkt dieser Forschungsarbeit ist die Erprobung des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes in der qualitativen Sozialforschung. Zu Beginn wird die angewandte Methode der Forschung vorgestellt, dann das Forschungsdesign, das Erhebungsinstrument und die grundlegenden Inhalte zum systemisch-lösungsorientiert Leitfadeninterview. Die Kategorienbildung erfolgte induktiv und deduktiv. Die Auswertung der Interviews wurde mit MAXQDA durchgeführt.
Im nachfolgenden Kapitel werden die bahnbrechenden Forschungsergebnisse vorgestellt. In diesem Zusammenhang stellen die Interviewpartner*innen ihre kleinen Schritte hin zur perfekten Zukunft vor und sprechen über ihre Lösungsvisionen. Ein interessantes Forschungsergebnis ist das „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“. Im Verlauf der Forschungsarbeit wurde eine sich ständig wiederholende Dynamik des Schulverweigerungs-Prozesses ersichtlich. Das „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“ wird in diesem Buch genauer erklärt und veranschaulicht. Abgerundet wird die Arbeit mit einem Einblick in den systemisch-lösungsfokussierten Entwicklungskoffer von Schulverweigerer*innen für Schulverweigerer*innen. Der Entwicklungskoffer baut auf dem „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“ auf und ist für Prävention, Intervention und Rehabilitation von Schulverweigerer*innen geeignet. Der systemisch-lösungsfokussierte Entwicklungskoffer ist das Ergebnis und zugleich das Abbild der Eigendynamik dieser Forschungsarbeit und von Systemen.
Im Sinne des Perspektivenwechsels, der Vielschichtigkeit, des Expertentums und der Partizipation äußert sich Max, der Schulverweigerer, zur Schulverweigerung. Max ist ein Interviewpartner.
Liebe Leser*innen,
ich finde, dass den Expert*innen für Schulverweigerung viel mehr Gehör geschenkt werden sollte. Sie haben diese Erfahrung selbst durchlebt. Sie wissen, was Schulverweigerer*innen wirklich brauchen. Nachfolgende Tagebuchaufzeichnungen habe ich in der Zeit der Schulverweigerung geschrieben. Die Ausschnitte spiegeln offen und ehrlich meine innersten Gedanken und Gefühle zur Zeit der Schulverweigerung. Meine Tagebuchaufzeichnungen sind eine Chance für die Leser*innen das Phänomen mit den Augen eines Betroffenen zu sehen.
Donnerstag, 09.11.
Liebes Tagebuch,
guten Morgen. Ich habe heute keine Lust, Schule zu gehen. Immer dasselbe. Ich habe keinen Bock mehr, mich mit sinnlosen Dingen zu beschäftigen. Ich habe keine Lust mehr, das zu tun, was andere von mir verlangen. Ich habe keine Lust mehr, immer zu funktionieren und freundlich zu sein, obwohl es mir nicht gut geht. Ich will nicht mehr. Ich möchte ehrlich sein, zu mir selbst und zu den anderen. Ich will mein Leben wiederhaben, das mir die Schule genommen hat. Ich will Spaß und Freude haben, wieder neugierig sein dürfen, auf das Leben, auf die Zukunft. Ich sehne mich nach Glück und Lebensfreude, nach Sinn und Wertschätzung. Ich will nicht mehr. So … aus …. ich bleibe heute zu Hause. Ich schlafe aus. Verkackte Schule.
Mittwoch, 15.12.
Liebes Tagebuch,
was für eine geniale Idee von mir, nicht zur Schule zu gehen. Es geht mir blendend. Nur weiter so. Das Leben ist schön.
Montag, 5.02.
Gestern, die Fete, die war richtig cool und das Ausschlafen heute auch. Wer braucht denn schon die Schule. Ich habe jetzt viel mehr Zeit für mich und für meine Freunde, die auch schwänzen. Wir sind ein Team. Ich lerne so viel, viel mehr als in der Schule. Endlich lerne ich das Leben kennen. Spannend, was es alles so gibt. Ich tu, was ich will. Das Leben ist schön.
Mittwoch, 21.03.
Liebes Tagebuch,
in letzter Zeit habe ich es wohl übertrieben, mit dem Schule schwänzen. Ich habe viel verpasst und es wird für mich immer schwieriger, die versäumten Inhalte nachzuholen. Morgen werde ich wieder zur Schule gehen, aber nach der 3. Std. bin ich fast gezwungen, nach Hause zu gehen. Wir haben Test und ich kann nichts. Gott sei Dank haben wir eine Klassen-WhatsApp Gruppe, so weiß ich immer, wann die Tests sind und kann mir die Unterlagen ausdrucken. Natürlich helfen mir auch meine Freunde und meine große Schwester. Sie war auch einmal in einer ähnlichen Situation und versteht mich. Ich werde morgen nach der 2. Std. einfach in Ohnmacht fallen und dann nach Hause gehen. Gute Nacht, liebes Tagebuch. Großer Schmerz. Das Leben ist nicht so schön.
Freitag, 06.04.
Liebes Tagebuch,
ich habe Angst, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Ich bin verwirrt. Das, was ich so sehr wollte, ist nicht perfekt. Ich will den Weg zurückfinden, aber zugleich das Neue in mir weiter entfalten. Ich brauche eine Lösung. Das Leben ist so nicht schön.
„An Begriffe werden Kriterien (Merkmale) geknüpft, sie
erhalten damit einen Zuschreibungscharakter. Sie sind ein
gedankliches Konstrukt. Begriffe treten hierarchisch in
Beziehung zueinander und trennen einander ab.
Die Trennschärfe ist jedoch nicht immer gegeben.“
(Beinke et al. 2008, S. 91)
In der Forschung und Fachliteratur existieren unterschiedliche Bezeichnungen für das Phänomen Schulverweigerung. Die Differenzierung ist unscharf (vgl. Weckel 2017, S. 51).
Thimm und Ricking betonen beispielsweise, dass es vor allem bei der Verwendung und Abgrenzung der Begriffe Schulverweigerung, Schulschwänzen, Schulabwesenheit, unregelmäßiger Schulbesuch, Schulverdrossenheit, Schulphobie, oder schuldistanziertes Verhalten keine konsensfähige Begriffsverwendung und sehr große Uneinigkeiten gibt.
Für Ricking umfasst der Oberbegriff Schulabsentismus alle Verhaltensweisen und -muster, bei denen die Schüler*innen zur Unterrichtszeit in alternativen Räumen aufhalten (vgl. Ricking 2014, S. 8).
Schulverweigerung ist für ihn eine Erscheinungsform des Schulabsentismus. Die Klassifikation in unterschiedliche Erscheinungsformen basiert auf den ursächlichen Faktoren (Ricking/Albers 2019, S. 11).
Rickings Definitionen können sich nicht durchsetzen können, weil die Begrifflichkeiten im allgemeinen Sprachgebrauch nach wie vor als Synonyme gebraucht werden und nicht im hierarchischen Verhältnis gesehen werden (vgl. Fahrenholz 2015, S. 10).
Abb. 1: Unterschiede zwischen schulaversiven Verhaltensweisen und Schulversäumnissen (nach Ricking 2014, S. 38)
Für Seeliger ist Schulverweigerung ebenso wie für Ricking eine Unterkategorie des Schulabsentismus. Schulverweigerung ist für sie durch eine prozesshafte Entwicklung charakterisiert. Die Autorin unterscheidet zwischen der aktiven und der passiven Schulverweigerung. Die passive Schulverweigerung steht für körperliche Anwesenheit in der Schule, aber bewusstes Verweigern von Arbeitsaufträgen, gezieltes Stören des Unterrichts oder fehlende Teilhabe. Unter aktiver Schulverweigerung versteht Seeliger hingegen das bewusste Fernbleiben (vgl. Seeliger 2016, S. 26 ff.).
Für die Unterscheidung zwischen Schulschwänzen und Schulverweigerung gilt in der Schulabsentismus-Forschung u. a. auch die quantitative Komponente. Wenn jemand öfter als fünfmal im Schuljahr der Schule unentschuldigt fernbleibt, so handelt es sich nicht mehr um Schulschwänzen, sondern um Schulverweigerung (vgl. Samjeske 2007, S. 185).
Auch Barth bemängelt die unzureichende begriffliche Klärung. Er bringt Schulverweigerung mit der Adoleszenz in Verbindung. Für ihn ist Schulverweigerung ein übliches Verhalten der Jugendzeit. Schulverweigerung kann jedoch bereits in der Grundschule beginnen und sich bis zur Pubertät steigern (vgl. Barth 2015, S. 115).
Für Dunkane und Ricking entwickelt sich Schulverweigerung als Reaktion auf subjektiv empfundene Bedrohung. In ihrer Studie (2017) wird deutlich, dass Schulverweigerung mit internen internalisierenden Angstsymptomen sowie mit sozialen oder leistungsbezogenen Problemlagen in der Schule zusammenhängt. Schulverweigerer*innen leiden häufig an Prüfungsangst, werden gemobbt oder befinden sich in Klassen mit schlechtem Klassenklima. 23 % der Schüler*innen gaben in der Studie an, häufig an Ängsten zu leiden (vgl. Dunkake/ Ricking 2017, S. 97).
In der begrifflichen Annäherung bleiben weiche Formulierungen bestehen. Im wissenschaftlichen Diskurs ist man sich mittlerweile darüber einig, dass es die typische Schulverweigerer*in nicht gibt, ebenso wenig wie ein typisches Profil für Schulverweigerer*innen. Für Seeliger wird Schulverweigerung im schulischen Alltag oft über subjektive Einschätzung sowie Interpretation der Lehrpersonen, Eltern, Pädagogen*innen definiert (vgl. Seeliger 2015, S. 28).
Wenn Lehrpersonen nicht zum Unterricht erschienen, so nannte man dieses Phänomen in der Studentensprache Schulschwänzen (vgl. Müller, 1990, S. 16).
Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurde dieser Begriff für die Abwesenheiten von Schüler*innen verwendet. Erste empirische Untersuchungen stammen aus der Verwahrlosungsforschung. Parallel dazu gab es psychologische Erklärungsansätze (vgl. Dunkake 2010, S. 30 f.).
Beide Zugänge befassten sich mit den Ursachen dieser Schulpflichtverletzung. Der Fokus lag auf der Persönlichkeitsebene. Nach 1950 weitete sich der Untersuchungsraum um den soziologischen Aspekt. Die Sozialisationsinstanz Familie kam als mögliche Mitverursacherin hinzu. 1963 lag die erste empirische Studie aus der Pädagogik vor. Klauer untersuchte hierbei Schulpflichtverletzungen auf der motivationalen Ebene (vgl. Fahrenholz 2015, S. 14 f.).
Ab 1970 setzte ein Paradigmenwechsel in der Forschung ein und es entwickelte sich die Erkenntnis, dass Schulpflichtverletzungen multifaktorielle Ursachen zugrunde liegen (vgl. Dunkake 2007, S. 22).
„Die sachliche Struktur des Gegenstandes ist mit vier Dimensionen einzugrenzen: die theoretische Einordnung, die Untersuchungsebene, die theoretische Reichweite und die Methodik.“
(Simonis/Elbers 2011, S. 102)
Die Theorie ist ein System, das aufeinander bezogene Aussagen, Definitionen und Begriffe beinhaltet, Sachverhalte und Erkenntnisse ordnet, Tatbestände analysiert und erklärt sowie wissenschaftliche Prognosen trifft (vgl. Simonis/Elbers 2011, S. 103). Nachdem jede Theorie ihre Wirklichkeit anders konstruiert, ergeben sich konkurrierende Theorien, die sich entweder ergänzen oder gegenseitig in Frage stellen. Dissens und Konsens sind Faktoren, die dialektisch wirken und zu neuen Erkenntnissen führen (vgl. Zima 2004, S. 149).
Diese Forschungstheorie geht von der Annahme aus, dass die Bindung zu primären Bezugspersonen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung von abweichenden Verhalten, abweichenden Werten und Normen spielt. Ein bedeutender Kontrolltheoretiker war Hirschi. In seinem Werk „Causes of Delinquency“ (1969) entwickelte er die Annahme, dass das Ausmaß der Bindung eines Individuums an die Gesellschaft eine tragende Rolle spielt. Durch Präsenz und die indirekte Kontrolle der Eltern wirkt das „schlechte Gewissen“ im Hinterkopf des Jugendlichen. Dieses hält von abweichendem Verhalten ab (vgl. Dunkake 2010, S. 122 ff.).
Kinder und Jugendliche mit verweigerndem Verhalten brauchen eine klare Grundstruktur und klare Präsenz, auch von Seiten der Lehrpersonen (vgl. Ricking o. J., S. 13).
Michael Wagner, Imke Dunkake und Bernd Weiß führten im Jahre 2004 empirische Analysen durch, bei denen sie Hirschis Annahmen weiterentwickelten und überprüften. Sie stellten hierfür sechs Hypothesen auf. Schulverweigerung zeigt sich vermehrt, wenn:
• die emotionale Bindung zu den Eltern gering ist
• der Erziehungsstil der Eltern inkonsistent oder gewalttätig ist
• die Eltern kaum Supervision mit den Kindern durchführen
• die Eltern wenig in die Schullaufbahn investieren
• das Kind kaum an außerschulischen Aktivitäten teilnimmt
• konventionelle Normen oder Werte kaum internalisiert sind (vgl. Wagner/Dunkake/Weiß 2004, S. 460 ff.).